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Am Donnerstag und Freitag hatte Grace noch mehr zu tun als sonst. Neben ihren üblichen Aufgaben für die tägliche Versorgung von Chloe und Max war die Vorbereitung auf den Freiwilligen-Arbeitstag mit fast ebenso viel Arbeit verbunden wie der Tag selbst.

Am Morgen nach ihrem Gespräch mit Khalil wachte sie noch vor den Kindern auf und hatte im Kopf schon einen Ablaufplan ausgearbeitet. Die neunzigtägige Schonfrist für ein neues Orakel war ein Brauch, kein Gesetz der Natur oder der Magie und auch kein heiliges Abkommen mit einem Gott. Es war nicht mal ein Tauschhandel, und nachdem sie die Kraft des Orakels bei Tageslicht zu sich gerufen hatte, konnte sich Grace keinen Grund vorstellen, warum sich nicht auch an dieser Frist etwas ändern lassen sollte.

Es war Isalynn LeFevre in ihrer Eigenschaft als Oberhaupt der Hexen gewesen, die den Babysitterplan mit freiwilligen Hexen eingerichtet hatte. Isalynn war eine große, imposante Afroamerikanerin von altersloser Schönheit; dem Aussehen nach hätte sie in den Dreißigern sein können, doch Grace schätzte, dass sie eher auf Mitte fünfzig zuging, da sie nicht nur zu den dienstältesten und beliebtesten Senatoren Kentuckys gehörte, sondern auch seit über zwölf Jahren Oberhaupt des Hexenreichs war.

»Das Orakel«, hatte Isalynn nach dem Gedenkgottesdienst für Petra und Niko zu Grace gesagt, »gehört schließlich zu den Ressourcen und Stärken unseres Reichs und ist zudem unser Erbe, also liegt es in unserer Verantwortung, dich zu unterstützen.«

Bevor sie noch einmal darüber nachdenken und eventuell einen Rückzieher machen konnte, schrieb Grace noch bevor die Kinder aufwachten eine E-Mail an Isalynn LeFevres Büro.

Sehr geehrte Senatorin LeFevre,

aufgrund unvorhergesehener Komplikationen wird es mir noch mindestens einen Monat lang nicht möglich sein, Befragungen als Orakel entgegenzunehmen. Daher möchte ich Sie bitten, diesbezüglich eine öffentliche Mitteilung zu machen. Außerdem werde ich ein Schild an der Auffahrt zu meinem Haus anbringen. Es tut mir leid, wenn den Befragern dadurch Unannehmlichkeiten entstehen.

Obwohl ich sehr dankbar für die Babysitterliste bin, die Ihr Büro aufgestellt hat, benötige ich darüber hinaus Referenzen von jedem, der auf dieser Liste steht, bevor ich meine Pflichten wieder aufnehme.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung.

Mit freundlichen Grüßen,

Grace Andreas

Danach saß sie einige Minuten lang zusammengekauert da und konzentrierte sich auf die Kraft, die so tief in ihrem Inneren ruhte. Wenn sie sich irrte, konnte diese Kraft sie immer noch verlassen und auf Chloe übergehen. Ich erhebe Anspruch auf dich, und ich werde an dir festhalten, sagte sie, als sie die Kraft zu sich rief. Du wirst bei mir bleiben. Du gehörst mir.

Wie zuvor stieg das dunkle Meer auf ihren Befehl hin bereitwillig empor, noch immer gewaltig, noch immer gefährlich, aber es sträubte sich nicht mehr gegen ihre Kontrolle.

Okay. Langsam entspannte sie sich, und die Kraft legte sich wieder zur Ruhe. Wieder eine Hürde genommen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder und das Frühstück.

Grace hatte erwartet, dass jemand von LeFevres Helfern ihre E-Mail beantworten würde, doch als um zwanzig nach acht das Telefon klingelte, war Isalynn persönlich am Apparat. »Hallo, Grace.« Die Senatorin hatte eine kräftige, warme Stimme. »Ich hoffe, ich rufe Sie nicht zu früh an.«

»Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte Grace. Das Oberhaupt des Hexenreichs besaß keinen eigenen Ehrentitel. »Oder soll ich Senatorin sagen?«

»Bitte nennen Sie mich Isalynn«, sagte die Senatorin. »Ich war besorgt, als ich Ihre E-Mail las. Wie geht es Ihnen und den Kindern?«

Grace holte tief Luft. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Vorsichtig sagte sie: »Es ist eine Herausforderung.«

»Das kann ich mir vorstellen«, befand Isalynn. »Sie haben ziemlich viel um die Ohren. Mein Büro wird sich noch heute um eine offizielle Bekanntmachung kümmern.«

»Vielen Dank.«

»Bis dahin – gibt es ein Problem mit dem Babysitterplan? Ich war davon ausgegangen, dass alle Namen auf der Liste bereits überprüft wurden.«

»Ja, es gab ein Problem«, sagte Grace offen. »Die letzte Babysitterin hat meine Unterlagen durchwühlt und war ohne Erlaubnis an meinem Computer. Vielleicht gibt es dafür eine harmlose Erklärung, aber mir ist nicht wohl bei dieser Sache, und ich will sie nicht noch einmal in meinem Haus haben. Und ohne weitere Informationen habe ich im Moment auch kein gutes Gefühl dabei, eine der anderen Hexen anzurufen.«

»Verstehe«, sagte Isalynn. Die Wärme in ihrer Stimme war eisigem, knappem Zorn gewichen. »Was für ein bedauerlicher Vorfall. Es tut mir leid, Grace, und ich verspreche Ihnen, dass ich mich persönlich darum kümmern werde. Sagen Sie mir, wer sich so unangemessen verhalten hat?«

Ich bin ein rachsüchtiges Miststück, dachte Grace, und ich werde zur Hölle fahren, weil mir das hier gerade Spaß macht. »Therese Stannard.«

»Danke«, sagte die Senatorin. »Ich werde mich bald wieder bei Ihnen melden. Ist das der Grund, weshalb Sie sich nicht in der Lage fühlen, Befragungen anzunehmen?«

»Es ist einer der Hauptgründe«, räumte Grace ein. »Außerdem habe ich einige Verschiebungen in der Orakelkraft festgestellt. Ich sollte mir etwas mehr Zeit nehmen, damit zu arbeiten, bevor ich andere damit konfrontiere.«

»Verschiebungen in der Kraft«, sagte Isalynn langsam. »Interessant. Wussten Sie, dass ich das Orakel im Laufe der Jahre schon mehrfach befragt habe? Ich war bei Ihrer Großmutter, als ich zum ersten Mal daran dachte, als Senatorin zu kandidieren, und dann später noch einmal, als ich Oberhaupt des Hexenreichs wurde. Auch Ihre Schwester habe ich befragt, als sie vor fünf Jahren das neue Orakel wurde.«

»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Grace. Max hielt sich an ihrem Bein fest und hatte sich hingestellt; mit den Fingerspitzen strich sie durch seinen babyweichen Haarschopf. »Aber Sie wissen ja, dass wir die Konsultationen vertraulich behandeln sollen.«

»Ja.« Der Zorn war aus Isalynns Stimme gewichen, und nun lag wieder Wärme darin. »Die Stimme Ihrer Schwester war ganz anders als die Ihrer Großmutter. Ich glaube, jedes Orakel bringt einen anderen Aspekt der Kraft zum Vorschein. Auch Sie werden Ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten mit einbringen.«

»So sieht es wohl aus«, murmelte Grace und kratzte sich am Hinterkopf. Bisher hatte sie nicht viel mit Isaylnn zu tun gehabt. Die Senatorin war nicht nur viel älter als sie, sondern auch eine wichtige Machtfigur auf der Bühne der Welt und bewegte sich nicht in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen wie sie. Aber Grace mochte sie.

»Ich habe vor, auch Sie als Orakel zu befragen, sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen«, sagte Isalynn. »Da Ihre drei Monate abgelaufen sind, hatte ich ehrlich gesagt geplant, nächste Woche zu Ihnen zu kommen.«

»Verstehe«, sagte Grace und biss sich auf die Lippe. Und wenn sie überhaupt keine Befragungen mehr annahm? Wenn sie ihre Funktion aufgab und die Kraft trotzdem bei ihr blieb? Was würde sie dann mit ihrem Leben anfangen? Sie widerstand dem Impuls, sich der anderen Frau anzuvertrauen, und sagte stattdessen: »Es tut mir leid.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, sagte Isalynn. »Lassen Sie uns einfach in Verbindung bleiben, und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie wieder für Befragungen bereit sind. Da sich die Kraft verändert hat, wäre es vielleicht ohnehin gut, wenn bei der nächsten Befragung eine erfahrene Hexe anwesend wäre. Ich könnte das persönlich übernehmen oder jemand anderen für Sie finden, wenn Sie möchten.«

»Vielen Dank.« Diese Idee überraschte Grace. »Das könnte wirklich eine gute Idee sein.«

»In der Zwischenzeit werde ich mich um das Problem mit der Liste kümmern und mich dann wieder bei Ihnen melden.«

Als das Gespräch beendet war, legte Grace nachdenklich auf. Max sah sie an, und sie sagte: »Dieses Gespräch war gar nicht so übel.«

»Ffffft«, sagte er.

»Richtig.« Sie nahm das Baby auf den Arm. »Du bist ein kluger junger Mann.«

Später am Vormittag kam sie endlich dazu, eine Ladung ihrer eigenen Wäsche zu waschen. Dabei fand sie den Umschlag wieder, den sie von Don und Margie bekommen hatte. Über Khalils Besuch und den unerwarteten Konflikt mit Therese hatte sie ihn ganz vergessen. Als sie den Umschlag öffnete, fand sie fünf Zwanzigdollarnoten darin. Während sie das Geld betrachtete, biss sie sich auf die Lippe. Was auch geschah, ob sie weiter als Orakel fungierte oder ganz damit aufhörte, das Versprechen, das sie den beiden gegeben hatte, würde sie halten müssen.

Der Nachmittag brachte einen weiteren überraschenden Anruf. Als das Telefon klingelte, hatte sie die Kinder gerade schlafen gelegt, und sie stürzte zum Apparat, um abzunehmen, bevor das Klingeln sie weckte. Es war Jaydon Guthrie, der mit ihr die Einzelheiten für die Freiwilligen-Arbeit am Samstag besprechen wollte. Sie hatte Jaydon ein paar Mal getroffen, allerdings bewegten sich auch die Guthries nicht in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen wie Grace. Jaydon und seine Frau – Melinda oder Melissa – hatten den Gedenkgottesdienst für Petra und Niko besucht, ebenso wie praktisch alle Würdenträger des Elfenreichs und zahlreiche hochrangige Vertreter aus anderen Alten Reichen. Das meiste von dem, was sie über Jaydon wusste, hatte sie von Petra erfahren, die ihn von einigen offiziellen Anlässen her etwas besser kannte. (Auf diese Feiern hatte Grace überhaupt keine Lust. Sie trug abgeschnittene Shorts, keine Cocktailkleider oder Kostüme.)

Jaydon war ein großer, dunkelhaariger, schlanker Mann Ende dreißig; er war Staatsanwalt, Erbe eines mehrere Millionen Dollar teuren Hauses im wohlhabenden Mockingbird Valley und hatte eine blonde Frau, die aussah wie ein Fotomodell. Darüber hinaus war er Vorsitzender in einem der ältesten, etabliertesten Hexenzirkel im Reich. Ein paar Mal hatte er vergeblich gegen Isalynn LeFevre als Oberhaupt des Hexenreichs kandidiert, aber diese hatte sich als unschlagbare Gegnerin entpuppt.

Jaydon stammte aus einer betuchten Familie und war Harvard-Absolvent, während Isalynn an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Kentucky studiert hatte. Sie war selbst eine mächtige Hexe, die ihr Handwerk in einer ärmlichen Kleinstadt im Süden Kentuckys erlernt hatte, wo sie auch aufgewachsen war. Sie wirkte sehr bodenständig und hatte dabei einen ausgeprägten Juraverstand, und so hielt sie mit augenscheinlicher Leichtigkeit die verschiedenen Ebenen ihrer doppelten parlamentarischen Funktion im Gleichgewicht.

Den jüngsten Gerüchten zufolge, die Grace von Petra gehört hatte, sollte Jaydon es fürs Erste aufgegeben haben, Isalynn bei den Wahlen im Hexenreich schlagen zu wollen, und stattdessen bei der nächsten Wahl zum Bezirksstaatsanwalt für Jefferson County kandidieren, während Isalynns Anhänger sie drängten, bei den nächsten Gouverneurswahlen anzutreten.

Einige Wochen nachdem Isalynn den Babysitterplan für Grace aufgestellt hatte, war von Jaydon die Initiative für den vierteljährlichen Freiwilligen-Arbeitstag zu ihren Gunsten ausgegangen. Als Grace davon erfuhr, glaubte sie zunächst, Jaydons alte Rivalität mit Isalynn sei doch noch lebendig. Doch dann schämte sie sich und kam sich kleinlich vor, schließlich dienten beide Pläne ihrem Wohl. Und die Guthries waren dafür bekannt, sich für gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Jaydons Frau sammelte aktiv Spenden für den örtlichen Tierschutzbund und saß im Kuratorium des Bibliotheksverbands von Jefferson County.

Dennoch hatte Grace nicht erwartet, dass sich Jaydon persönlich mit ihr in Verbindung setzen würde. Er bestätigte ihr, dass sich für Samstag achtzehn Hexen aus unterschiedlichen Zirkeln angemeldet hätten. Ein vollständiger Zirkel bestand aus dreizehn Mitgliedern, also hatte Jaydon, ebenso wie Isalynn für ihren Babysitterplan, zirkelübergreifende Unterstützung bekommen. Achtzehn Personen waren eine tolle Beteiligung für einen freiwilligen Arbeitstag.

»Leider werden Melissa und ich es nicht schaffen«, sagte er. »Wir müssen zu einer anderen Veranstaltung, ein Wohltätigkeitsmittagessen der Bibliothek, für die Melissa arbeitet. Sie hat drei Gastautoren zu Lesungen und Signierstunden einfliegen lassen. Ich fürchte, sie hat uns als freiwillige Gastgeber für die Autoren eingetragen, ohne mich vorher zu fragen.«

Leicht aus der Fassung gebracht, sagte Grace: »Verstehe.« Eigentlich verstand sie es nicht. Am ersten Arbeitstag hatten weder Jaydon noch seine Frau teilgenommen, und Grace hatte sie auch nicht erwartet. Rasenmähen, Unkrautjäten, Möbelrücken und Zäune reparieren klang nicht ganz nach ihrem Repertoire. »Trotzdem vielen Dank.«

»Brandon wird dabei sein.« Brandon war ein Hexer aus Jaydons Zirkel und hatte beim letzten Freiwilligen-Arbeitstag die Aufsicht geführt. »Er kann Ihnen helfen zu organisieren, wer was macht.«

»Das ist toll«, sagte Grace. »Ich dachte, ich kaufe Zutaten für Sandwiches und bereite einen Salat zum Mittagessen vor. Ein bisschen Obst, etwas zum Nachtisch, Eistee und Eiskaffee für alle. Außerdem könnte ich einen Auflauf oder Spaghetti machen.«

Jaydon sagte: »Am Samstag sollen es wieder fünfunddreißig Grad werden. Den Leuten wird heiß sein, sie werden viel zu tun haben und schwitzen, und Sie haben ohnehin schon alle Hände voll zu tun. Da brauchen Sie Ihre Küche nicht noch zusätzlich aufzuheizen und sich zu belasten, indem Sie für alle kochen. Sandwiches, ein Salat und viele Kaltgetränke sollten völlig ausreichen.«

Das klang vernünftig, und Grace war überaus froh, einen weiteren Punkt von ihrer Liste streichen zu können.

Am Freitagabend, nachdem sie endlich alles für Samstag vorbereitet hatte, fand sie sich im Gästebad wieder, wo sie vor sich hin summend Make-up auflegte. In Gedanken bedachte sie sich mit diversen wohlgewählten Ausdrücken. »Hirnverbrannte Idiotin« führte die Liste an. Schließlich hatte Khalil sie geküsst, als sie überhaupt nicht zurechtgemacht gewesen war. Zweimal.

Sie hielt inne, die Mascara-Bürste noch in der Hand. Das war etwas Gutes, oder?

Es war ohnehin zu warm, um viel Make-up aufzutragen. Sie begnügte sich mit einem Hauch Rouge, einem getönten Lipgloss und ein paar Strichen Mascara. Und vielleicht würde sie ihr Haar ein bisschen aufschütteln und einen leichten, bunten Sommerrock anziehen, zusammen mit einem frühlingsgrünen Tanktop.

War der Rock übertrieben? Sie glaubte schon, aber sie konnte nicht anders.

Schließlich bedeutete »mal sehen«, dass man einen langen, ausgiebigen Blick auf … die Möglichkeiten warf, nicht wahr?

Nein. Der Rock war übertrieben. Zu hoffnungsvoll. Sie war nicht hoffnungsvoll, sie war vorsichtig. Nicht ohne Grund hatte sie Khalil gesagt, keine Küsse und kein … kein irgendwas mehr.

Sie zog den Rock aus und stieg wieder in ihre Shorts. Dann wusch sie sich das Gesicht. Als Khalil kam, war das Haus sauber, die Kinder hatten gegessen und waren gebadet, und Grace war frisch geschrubbt und schlecht gelaunt. Chloe und sie waren damit beschäftigt, Spielsachen in die Spielzeugkiste zu räumen, während sich Max am Rand der Kiste festhielt und mit großem Interesse auf deren Inhalt starrte.

Khalils Gegenwart drang ins Wohnzimmer ein, bevor seine körperliche Gestalt erschien. Stark, männlich und sinnlich wand er sich betont gemächlich um sie. Die kleinen Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Armen richteten sich auf. Sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Wie erstarrt stand sie mitten im Wohnzimmer, während Chloe, die von alldem wieder nichts mitbekam, plappernd durchs Zimmer tappte.

Unsichtbare Arme umfingen sie. Ihr Kiefer klappte herunter, und ihre Gedanken gerieten ins Stottern. Große, unsichtbare Hände strichen über ihre Arme und Schultern, um dann ihren Nacken hinaufzugleiten. Lange, kräftige Finger fuhren ihr durch die Haare. Er bog ihren Kopf zurück und liebkoste sie zart mit seinen heißen Lippen. Dann schob sich seine Zunge in ihren Mund. Er küsste sie innig, und seine von gemächlicher Erregung aufgeheizte Energie schmiegte sich eng an sie.

Grace starrte blicklos an die Decke. Dieser Moment hatte etwas verstohlen Verruchtes, das alles übertraf, was sie sich je hatte vorstellen können. Es ließ sie am ganzen Körper zittern.

»Warum machst du das, Gracie?«, fragte Chloe.

Langsam und ohne Eile ließ der Druck auf ihren Lippen nach, und Khalils Berührung verlor sich. Grace brachte es fertig, den Mund zu schließen, und schluckte schwer.

»Hm?«, fragte Chloe. Kleine Finger pikten Grace in den Bauch. Das Mädchen stand vor ihr und spähte neugierig an die Decke. »Warum schaust du so nach oben?«

»Nur so«, keuchte Grace. Er hatte ihre Denkfähigkeit vollkommen zunichte gemacht, und sie schaffte es nicht, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. In ihrem Kopf erklang ein tiefes Kichern.

»Rachel hat Wolken in ihrem Zimmer. Können wir auch Wolken haben?«

Grace versuchte sich zu konzentrieren. Abgesehen davon, was blaue und weiße Farbe kosten würde, wusste sie nicht, wie man Wolken malte. Und selbst wenn sie es sich beibrachte, würde sie für dieses Projekt stundenlang auf einer Trittleiter stehen müssen.

»Ich glaube nicht, Süße.« Sie sah die Enttäuschung auf Chloes Gesicht, und ihr zog sich das Herz zusammen. So vieles konnte sie den Kindern nicht geben. Dann kam ihr eine Idee. »Ich sag dir was. Wir kaufen ein paar Sterne, die im Dunkeln leuchten. Davon habe ich neulich eine Packung im Spielzeugladen gesehen, als wir die Malbücher gekauft haben. Möchtest du beim Einschlafen Sterne sehen?«

»Ja!«, rief Chloe fröhlich.

Während Grace mit Chloe sprach, materialisierte sich Khalil vor Max, der sich noch immer an der Spielzeugkiste festhielt. Der Dschinn trug wieder ungefärbtes Leinen, und der weiche Beigeton betonte seine blassen, eleganten Züge und den tiefschwarzen Schimmer seiner Haare. Über seine breite Schulter hinweg warf er Grace einen sündhaft funkelnden Blick zu.

Grace’ Puls begann wie wild zu rasen, das Blut rauschte durch ihre Adern. Max krähte überrascht auf, den kleinen Mund zu einem runden O geformt. Dann fing er vor Freude an zu quietschen.

Das Baby ließ die Spielzeugkiste los und machte zwei schwankende Schritte auf Khalil zu, bevor er auf seinen windelgepolsterten Hintern fiel. So schnell er konnte, krabbelte er auf Händen und Füßen zu Khalil hinüber.

»Oh mein Gott«, sagte Grace. »Oh mein Gott! Hast du das gesehen

Drei sehr unterschiedliche Augenpaare richteten sich auf sie und betrachteten sie mit gelinder Überraschung. Khalil hatte sich schon hingekniet, um Max zur Begrüßung den Rücken zu tätscheln. Auf Grace’ Ausruf hin legte er die Stirn in tiefe Falten und sah sich um, als suchte er nach versteckten Gefahren.

Grace eilte zu ihnen und zog Max unter Khalils Hand weg, um ihn auf den Arm zu nehmen. »Was für ein kluger, großer Junge du bist!«, rief sie aus. Sie schwang das Baby hoch in die Luft, dass es vor Lachen quietschte. »Das hast du gut gemacht!«

Khalil erhob sich. Er und Chloe blickten noch immer verwirrt drein. »Was ist passiert?«

»Er ist gelaufen! Er hat die Spielzeugkiste losgelassen und hat seine ersten beiden Schritte in deine Richtung gemacht!«

Ein begeistertes Lächeln legte sich auf Khalils Gesicht. »Ich habe es gesehen, aber mir war nicht klar, dass es seine ersten Schritte waren. Ist das früh für sein Alter?«

»Er ist neuneinhalb Monate«, erklärte Grace. Sie strahlte Max an, als sie ihn in die Höhe hielt. »Das ist ein bisschen früh, um mit dem Laufen anzufangen, aber wir sind alle früh gelaufen. Von Niko weiß ich es nicht, aber Petra, Chloe und ich haben alle mit etwa neun oder zehn Monaten angefangen. Bis Max richtig in die Gänge kommt, wird er noch eine Weile brauchen.«

Chloe, die sich keine gute Party entgehen ließ, hüpfte durchs Zimmer und rief: »Juhu, juhu, juhu!«

So plötzlich, wie Grace’ Euphorie eingesetzt hatte, verzerrte sich ihr Gesicht nun. Sie zog das Baby zu sich heran und nahm es fest in die Arme, in ihren Augen schwammen Tränen.

Mit einem Mal war Khalil direkt neben ihr und sah sie scharf an. Was ist?

Petra und Niko sind nicht hier, um das zu sehen, sagte Grace.

Mitgefühl überschattete Khalils Blick. Er legte einen Arm um Grace und zog sie und das Baby an sich. Grace legte das Gesicht an seine breite Schulter. Sie sagte sich, dass sie nur ihr Gesicht verbarg, um die Kinder nicht zu verstören, aber vielleicht lehnte sie sich auch ein ganz kleines bisschen an seinen großen, starken Körper.

Khalil nahm sie fester in den Arm, und während sich Grace wieder zusammenriss, sprach er mit Max, um ihn abzulenken.

Chloe war offenbar der Ansicht, dass es beim nächsten erfreulichen Ereignis wieder um sie gehen sollte; sie rannte durchs Zimmer und schrie: »Geschichtenzeit! Geschichtenzeit!«

Grace richtete sich auf und entzog sich Khalils Umarmung. Nach einem weiteren prüfenden Blick ließ er sie los. Behutsam nahm er Max aus ihren Armen. »Hol deine Bücher«, sagte er zu Chloe.

Sie hörte auf, im Kreis zu rennen. »Würdest du mir als Pferdchen beim Lesen helfen?«

»Nein«, sagte Khalil.

»Als Hündchen oder Katze?«

»Nein«, sagte er wieder.

Chloe zog die Brauen zusammen. »Ich wüsste nicht, was dagegenspricht«, sagte sie trotzig.

Oh-oh, dachte Grace, während sie sich die Augen wischte. Chloe und Khalil maßen einander mit den Blicken wie zwei Duellanten in einem Westernfilm. Grace sah sie direkt vor sich, wie sie auf einer staubigen Straße standen, im Hintergrund ein weißer Kirchturm. In ihrem Kopf pfiff jemand die Titelmusik aus Zwei glorreiche Halunken. Sie hätte schwören können, einen Steppenläuferbusch vorbeirollen zu sehen. Es würde eine Schießerei am O.K. Corral geben, und es würde kein schöner Anblick werden.

Aber Khalil erwies sich in diesem Wettstreit der Willenskraft als durchaus würdiger Gegner. Mit einem angelegentlichen Schulterzucken wandte er sich von Chloe ab und sagte: »Es ist schon in Ordnung, wenn du nicht möchtest, dass ich dir heute Abend beim Lesen helfe. Ich kann auch Max etwas vorlesen.«

Vor Empörung stand Chloe der Mund offen. Die kleine Revolverheldin zog ihre Pistole und eröffnete das Feuer. »Nein! Das ist nicht fair! Er ist doch noch ein Baby!«

»Du hast die Wahl«, sagte Khalil ruhig. Er setzte sich in den Sessel und platzierte Max auf einer Seite seines Schoßes. Dann sah er Chloe mit erhobenen Brauen an. »Holst du nun deine Bücher oder nicht?«

Chloe ballte die Fäuste. Sie schien unter Khalils kühl herausforderndem Blick einen mächtigen inneren Kampf auszufechten; er währte ganze drei Sekunden. Dann knickte sie ein und lief ihre Bücher holen.

Es war perfekt, dachte Grace. Mit einem einzigen Schuss zur rechten Zeit hatte er Chloe erledigt.

Beinahe hätte Grace lachen müssen, als sie sah, wie sich Chloe auf der anderen Seite von Khalils Schoß zusammenrollte. Khalil sagte nichts weiter dazu, sondern suchte nur ein Buch aus dem Stapel aus, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.

Grace ging in ihr Schlafzimmerbüro und setzte sich an den Schreibtisch. Ihre Erheiterung schwand.

Erschrockene Erregung. Überraschung und Euphorie. Aufwallende Trauer und anschließend Lachen, und all das innerhalb von – sie sah auf die Uhr an ihrem Computer – einer Viertelstunde. Kein Wunder, dass sie benommen war.

Im Laufe der Woche hatte sie ein paar Stellenausschreibungen gefunden, auf die sie sich bewerben sollte. Sie klickte auf den elektronischen Ordner mit ihren Bewerbungsunterlagen und öffnete den Entwurf für ein Anschreiben, doch der Versuch, sich auf die Details zu konzentrieren, erwies sich als Zeitverschwendung. Schließlich saß sie still im dunklen Zimmer, die Hände in den Schoß gelegt, blickte hinaus ins abendliche Zwielicht und hörte Khalil zu, während er den Kindern mit seiner vollkommenen Stimme vorlas.

Dann verstummte er und sagte telepathisch zu Grace: Die Kinder sind eingeschlafen.

Okay. Vielen Dank. Sie wollte aufstehen.

Mach dir keine Umstände, sagte er. Ich kann sie ins Bett bringen.

Die Sprungfedern im Sessel quietschten, dann waren seine Schritte zu hören, als er die Kinder in ihr Zimmer trug.

Sie hätte sich bewegen oder irgendetwas tun sollen, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, was das sein könnte, und wenn es um ihr Leben gegangen wäre.

Dann spürte sie, wie sich Khalils Aufmerksamkeit auf sie richtete. Diesmal kam er nicht als formlose Energie ins Zimmer, sondern kam zu Fuß durch den Flur auf sie zu. Grace lauschte auf seine Schritte. Jetzt bog er um die Ecke zum Wohnzimmer. Jetzt betrat er das Büro, war nur noch fünf Meter entfernt, dann nur noch drei. Dann anderthalb. Sie strich sich den Pony aus der Stirn. Ihre Finger zitterten.

Als sie sich auf dem Bürostuhl zu ihm umdrehte, hüllte seine Gegenwart sie ein. Über ihre Schulter hinweg warf er einen Blick auf das geöffnete Anschreiben auf dem Bildschirm. Er hielt inne und runzelte die Stirn. Sein Blick sprang zu dem Stapel rot eingefärbter Rechnungen in einer Ecke des Schreibtischs. Sie verspürte den Impuls, sich zu winden, und rang ihn nieder. Sie hatte ihm schon gesagt, dass sie schwere Zeiten durchmachte, und nichts auf ihrem Schreibtisch brauchte ihr peinlich zu sein oder war ein Grund, sich zu schämen.

Er ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder, wodurch sie wieder auf Augenhöhe waren. Einen Arm legte er auf die Armlehne ihres Stuhls, mit der anderen Hand stützte er sich auf dem Schreibtisch ab. Er sah ihr tief in die Augen. Seine elfenbeinfarbenen Züge waren düster, die kristallinen Augen tiefernst.

»Ich würde es sehr bedauern«, sagte er leise, »wenn ich es irgendwie geschafft habe, deinen Tag heute wieder schwieriger zu machen.«

Sie war völlig überrascht. Fühlte er sich aus irgendeinem Grund dafür verantwortlich, wie nahe sie den Tränen vorhin gewesen war? Sie lächelte ihn an. »Du hast meinen Tag heute nicht schwieriger gemacht, Khalil«, sagte sie. »Du hast ihn schöner gemacht. Es war wirklich wunderbar zu sehen, wie Max heute seine ersten Schritte gemacht hat. Und es war so süß, wie er sich gefreut hat, dich zu sehen. Max und Chloe freuen sich so sehr über deine Besuche. Ich wünschte nur … ich wünschte, Petra und Niko …« Ihre Stimme versagte. Sie machte eine hilflose Handbewegung.

Er sah sie prüfend an. Seine Nähe verunsicherte sie, und trotzdem wollte sie nicht, dass er wegging. Nach einem kurzen Moment sagte er: »Lethe war Phaedras Mutter – Phaedra ist meine Tochter. Lethe war ein Dschinn der ersten Generation, sie wurde geboren, als die Welt geboren wurde. Ich bin ein Dschinn der zweiten Generation, das heißt, ich bin alt und mächtig, aber nicht so alt und mächtig wie Lethe. Wir stammten beide aus dem Geschlecht der Marid. Ich fand heraus, dass sie ihren Eid gegenüber jemandem gebrochen hatte, der nicht über die nötigen magischen Kräfte verfügte, um sie zur Verantwortung zu ziehen. Ich habe ihre Ehrlosigkeit offengelegt und dafür gesorgt, dass sie aus unserem Hause verbannt wurde. Sie wurde also eine Ausgestoßene. Um es mir heimzuzahlen, hat sie Phaedra entführt und gefoltert.«

Während sie Khalil lauschte, verspannte sich Grace immer mehr. Seine Worte waren ruhig und schlicht, was das Grauen, das sich in seiner Geschichte entwickelte, seltsamerweise noch verstärkte. »Wie konnte sie das nur tun? Ihr eigenes Kind foltern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Khalil. »Für mich ist das geisteskrank, aber wenn wir Dschinn böse werden, dann werden wir sehr böse.«

»Das gilt auch für Menschen«, flüsterte Grace.

Er fuhr fort: »Ich war nicht stark genug, um gegen Lethe zu kämpfen, deshalb suchte ich mir so viele mächtige Verbündete, wie ich finden konnte. Unter ihnen war auch Carling. Das alles ist vor langer Zeit geschehen, als in Ägypten noch die Pharaonen herrschten.« Sein Gesicht war ernst und entrückt, als er an die uralte Schlacht zurückdachte. »Als ich neulich Nacht Carling und Rune zu dir brachte, habe ich meine Schuld Carling gegenüber endlich vollends beglichen.«

»Deshalb warst du bei ihnen«, sagte Grace.

»Ja«, erwiderte er.

»Und du bist an diesem Abend hiergeblieben, weil es hätte gefährlich werden können«, sagte sie, als sie endlich alle Teile im Kopf zusammensetzen konnte. »Du bist wegen der Kinder geblieben.«

Ein kleines Lächeln. »Ja.«

Der Kloß in Grace’ Hals war wieder da. Natürlich hatte sie nichts von alldem wissen können, und Khalil hatte sich arrogant und grob verhalten. Es war nutzlos und dumm, jetzt zu bereuen, wie sie in jener Nacht aneinandergeraten waren. »Was ist dann passiert?«

»Wir sind gegen Lethe in den Krieg gezogen.« Sein Gesicht nahm einen kämpferischen Ausdruck an. »Bei unserer letzten Schlacht wurde ein Gebirgszug niedergerissen und eine Übergangspassage in ein Anderland zerstört. Letzteres war nicht beabsichtigt, und es ist das Einzige, was ich bereue. Wer oder was in diesem Anderland gelebt hat, ist jetzt für immer vom Rest der Welt abgeschnitten.«

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Die Geste kam ihr nutzlos vor, wo die Ereignisse doch schon so lange zurücklagen – wahrscheinlich genauso nutzlos, wie es ihre Umarmung gewesen war, und trotzdem konnte sie nicht anders. »Du hast gesagt, deine Tochter hätte überlebt?«

Er blickte auf ihre Hand hinab, als wäre sie ein fremdartiges Phänomen, das er nicht begriff. Dann legte er seine Hand auf ihre. »Das hat sie«, sagte er. »Wir haben Lethe umstellt und vernichtet, dann haben wir Phaedra befreit, aber sie hat Schäden davongetragen. Jetzt ist sie die Ausgestoßene. Sie will mit keinem der Dschinn-Häuser Bündnisse eingehen, und sie wird aggressiv, sobald ich ihr zu nahe komme – oder sonst jemand. Bisher gibt es noch keine Anzeichen dafür, dass sie jemandem Schaden zugefügt hat.« Als er weitersprach, waren seine Worte so leise, dass sich Grace vorbeugen und genau hinhören musste, um sie zu verstehen. »Ich hoffe sehr, dass ich nicht auch sie eines Tages jagen und vernichten muss.«

»Es tut mir so leid«, sagte Grace, so sanft sie konnte.

»Wie gesagt, das alles ist vor sehr langer Zeit geschehen«, sagte er. »Du bist so temperamentvoll, dass ich manchmal vergesse, wie kurz der Verlust zurückliegt, den du selbst erlitten hast.«

»Wir alle haben jemanden verloren«, sagte Grace. »Ich, Chloe und Max, Petra und Niko.«

»Ja«, sagte Khalil. »Aber du musst für alle anderen die Last auf deinen Schultern tragen.« Er hob ihre Hand an und küsste ihre Fingerspitzen. »Wenn du einverstanden bist, werde ich morgen wiederkommen.«

Sie lächelte. »Das wäre wunderv… nein, warte, das geht nicht. Morgen sind die Kinder nicht hier. Weißt du noch, dass ich sagte, am Samstag wäre Freiwilligen-Arbeitstag? Chloe und Max sind morgen bei Katherine und übernachten auch da.«

Er sah sie stirnrunzelnd an. Sein Schweigen dauerte so lange, dass auch sie verstummte und sich fragte, was sie da gerade gesagt hatte.

»Grace«, sagte Khalil.

Noch nie in ihrem Leben hatte jemand ihren Namen so klar und rein ausgesprochen. Das verlieh ihm eine gespenstische Schönheit. Allein dieser Klang weckte in ihr den Wunsch, besser zu sein, es wert zu sein, mit einem so wundervollen Wort angesprochen zu werden. Wenn er jemals singen sollte, dachte sie, wäre dieses Lied so unerträglich schön, dass es sich über alle Türme aus Stein und Stahl erheben und die Herzen der Menschen und aller anderen Kreaturen durchdringen würde. Er würde die Welt beherrschen.

Wenn er jemals für sie singen sollte, würde sie ihm überallhin folgen. Wirklich überallhin.

Er hatte eine Pause gemacht. »Warum siehst du so ergriffen aus?«

»Mach dir keine Gedanken«, flüsterte sie. »Sprich weiter.«

»Ich komme nicht nur wegen der Kinder, weißt du?«, sagte er. »Wann sind die Leute morgen wieder weg?«

»Ich … ich weiß nicht, vielleicht gegen fünf oder sechs«, stammelte sie.

»Du wirst mich rufen, wenn sie weg sind«, sagte er mit eindringlichem Blick.

Der Gedanke daran, mit ihm allein im Haus zu sein, weckte in ihr eine träge, sinnliche Hitze, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Verdammt, er konnte es spüren, und das Lächeln, das sich auf seine elfenbeinfarbenen Züge legte, war genauso träge und sinnlich und unglaublich lasterhaft.

Sie befand sich auf gefährlich abschüssigem Gelände, wenn sie von »keine Küsse« und »mal sehen« dazu überging, ihn einzuladen, wenn die Kinder nicht im Haus waren. Sie kramte in ihrem Kopf nach etwas, irgendetwas, das sie daran hindern konnte, kopfüber in die Tiefe zu stürzen.

Sie platzte heraus: »Haben Dschinn Dates?«

Er blinzelte. »Darüber habe ich mir noch nicht sonderlich viele Gedanken gemacht«, sagte er. »Vielleicht gehen manche Dschinn … manchmal … mit manchen … Geschöpfen aus. Bisher haben derartige Verabredungen nicht zu meinen Gewohnheiten gehört.«

Sie nickte – viel zu schnell – und musste sich zwingen, damit aufzuhören. »Ich hab mich nur gefragt.«

»Menschen gehen gern aus«, sagte Khalil nachdenklich. Dann schien er sich zu etwas entschlossen zu haben. »Das machen wir morgen. Wir haben ein Date.«

Plötzlich glaubte Grace, sie müsste sterben. Sie wusste nicht genau, woran – ob an unterdrücktem Lachen oder an Demütigung, oder vielleicht an einer Mischung aus beidem. Mühsam brachte sie hervor: »Du kannst ein Date nicht anordnen.«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspricht«, sagte Khalil, dessen Energie die ihre mit gemächlicher Erheiterung liebkoste. Er stupste sie auf die Nase. »Menschen brauchen Luft. Atme jetzt.«

Sie tat es, und ihr entschlüpfte ein Kichern. »Wenn du ein Date anordnest, ist es kein Date mehr. Es ist, ich weiß nicht, ein Termin, eine Entführung oder so.«

»Wie ist der richtige Ablauf?«, frage er. »Für ein Date?«

Die Sinnlichkeit in seiner leisen Stimme beschwor in ihrem Kopf alle möglichen heißen Bilder von Dates und Abläufen herauf. Jetzt versuchte er definitiv, sie zu ärgern. Mit fester Stimme sagte sie: »Wenn man daran interessiert ist, Zeit mit jemandem zu verbringen, dann fragt man denjenigen. Man schreibt es ihm nicht vor.«

»Möchtest du mit mir ausgehen?«, fragte er prompt.

Sie wollte ihn sehen, und das lieber nicht allein bei ihr zu Hause. Das wäre einfach nicht gut. »Klar«, sagte sie. »Was machen wir?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Du bist die Dating-Expertin. Ich bin sicher, dir wird etwas einfallen.«

Sie? Eine Dating-Expertin? Sie schüttelte den Kopf. Diese Unterhaltung war surreal. »Ich lasse mir etwas einfallen«, erklärte sie. Was in aller Welt mochte das sein? »Es wird nichts Schickes. Du kannst also etwas Zwangloses anziehen.«

Er nickte. »Ruf mich, wenn du so weit bist.« Er verschwand.

Ein Date. Während seine Gegenwart verblasste, starrte Grace auf die leere Stelle, an der Khalil gerade noch gestanden hatte. »Ich werde es wohl nie nach Damaskus schaffen, was?«, flüsterte sie vor sich hin. »Nicht in diesem Leben.«

Dann kehrte seine Gegenwart zurück und umfing sie zärtlich.

»Ich habe vergessen, mich zu verabschieden«, raunte er ihr ins Ohr.

Instinktiv hob sie die Hände und tastete suchend in der Luft, doch seine körperliche Gestalt erschien nicht.

Nicht ganz.

Stattdessen strichen unsichtbare Finger über ihr Gesicht, streichelten ihren Hals und den Saum am Ausschnitt ihres T-Shirts. Sie konnte ihn nicht sehen oder anfassen. Sie war sehnsüchtig, verwirrt und geblendet.

Also griff sie auf die einzige Weise nach ihm, die ihr zur Verfügung stand: mit ihrem Geist. Wieder spürte sie, wie sie sich an seine Gegenwart anglich. Magische Energie an magischer Energie, Geist an Geist. Weiblich und männlich.

Tosend brachen Überraschung und Hitze aus ihm hervor. Es war, als würde eine Feuerwand über Grace hinwegrollen. Ihre Brüste waren hochempfindlich, ihre Brustwarzen richteten sich auf, und zwischen ihren Beinen meldete sich sexuelles Verlangen, stärker und wilder als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Sie ließ den Kopf auf die Lehne des Bürostuhls zurückfallen.

Eine Art Schauer durchlief Khalils Energie. Er flüsterte: »Gute Nacht.«

Dann war er wirklich fort, und sie konnte nur noch flüstern: »Heilige Scheiße.«

Und denken konnte sie nur noch: Wir müssen morgen wirklich aus dem Haus gehen.