9
Grace konnte sich nicht erinnern, je einen schöneren Abend verlebt zu haben. Khalil mit den Kindern zu sehen war ein atemberaubendes Erlebnis; ein kleiner, wundervoller Moment entfaltete sich nach dem anderen.
Ja, seine fremdartige Erscheinung und Stärke betonte die menschliche Zerbrechlichkeit der Kinder, aber ihre strahlende Freude über seine Gesellschaft betonte wiederum seine Behutsamkeit und Fürsorge ihnen gegenüber, und sie blühten unter seiner Zuwendung auf. Grace sagte sich, dass sie ihn deshalb so genau im Auge behielt, weil sie sichergehen wollte, dass sich etwas so Unangebrachtes wie der Hündchen-Katzen-Vorfall nicht wiederholte. Aber das war eine faustdicke Lüge, die sie sich selbst nicht abkaufte. Sie behielt ihn so genau im Auge, weil er ein so angenehmer Anblick war.
Im Umgang mit den Kindern lernte er schnell dazu, und inzwischen stellte er Fragen, wenn er sich einer Sache nicht sicher war, statt hochmütig davon auszugehen, dass er die Antwort schon kannte. Es war so unerwartet schön, einen lachenden Blick mit ihm zu wechseln, wenn Max oder Chloe etwas Lustiges oder Albernes machten. Mit dieser Schönheit kehrten bittersüße Erinnerungen daran zurück, wie Petra und Niko über den Köpfen der Kinder belustigte Blicke gewechselt hatten.
Die Gewöhnung an seine Gesellschaft ging mit dem Gefühl einher, dass sie regelrecht in seine männliche Gegenwart eintauchte. Manchmal kam es ihr vor, als wäre seine magische Energie ein Meer, in dem sie schwamm, das sie trug und aufrecht hielt. In diesen Momenten wurde all ihre Müdigkeit von seiner dynamischen Energie fortgespült. Dann legte er dieses stille Bekenntnis über seine Tochter ab, und darin lag so viel Schmerz, dass sie ihm ihr Herz öffnete.
Irgendetwas von dem, was sie tat – vielleicht, dass sie die Frechheit besaß, ihn zu umarmen – hatte ihn wütend gemacht. Aber vielleicht war es auch sein eigener Schmerz, der ihn wütend machte.
Wahrscheinlich war es gefährlich, wenn sie glaubte, sie könnte ihn verstehen. Er war gefährlich, als er sie mit solcher Kraft festhielt und sie so wütend ansah, und sie wusste, dass er sie vernichten konnte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Und gleichzeitig wusste sie, dass er es nicht tun würde. Er sah sie an, als würde er sie vielleicht hassen; seine Augen loderten, und seine in Marmor gemeißelten Züge waren starr wie Stein.
Und dann. Dann.
Du kannst es nicht zurücknehmen, sagte er. Nichts davon.
Michelangelos Meisterwerk nahm sie in die Arme. Mit unmenschlicher Geschwindigkeit beugte er den Kopf zu ihr herab, tiefe Gefühle spiegelten sich in seinen gemeißelten Zügen. Sie hatte keine Chance zu reagieren, bevor sein Mund auf ihrem lag.
Er hielt sich nicht mit tastenden, vorbereitenden Erkundungen auf, wie es praktisch jeder andere Mann (oder vielmehr Junge) getan hatte, den sie bisher geküsst hatte. Khalils Kuss war, als würde er sich hastig und kopfüber in ihren Mund stürzen. Der Schreck und die Fremdartigkeit raubten ihr den Atem, sie klammerte sich an seine Schultern.
Sein Mund und sein Körper fühlten sich heiß an, seine magische Energie schien zu kochen. Die Empfindung jagte ihr einen Schauer über den Leib, und ihre Beine begannen zu zittern. Seine leidenschaftliche Energie strich über ihre, ein unvergleichlich erotisches Gefühl, beinahe intimer als eine körperliche Zärtlichkeit. Am ganzen Körper war ihre Haut hochempfindlich, an den Armen, den Brustwarzen, an den schweren, vollen Unterseiten ihrer Brüste und der intimen, feuchten Stelle zwischen ihren Beinen, die von ihrer Kleidung so unzulänglich bedeckt wurden.
Sie grub die Fingerspitzen in das rabenschwarze Haar an seinem Hinterkopf und hielt sich fest. Ihre Lippen bewegten sich in dem ungeschickten Versuch, seinen Kuss zu erwidern. Bruchstücke von Gedanken und Eindrücken wirbelten durch ihren Kopf und wurden von einem Zyklon vernichtet. Seine vertraute Energie, die exotische Berührung seiner Lippen, der tosende Ausbruch von Schmerz, Wut und Sex. Sein Verlangen, sein Begehren.
Er hielt ihren Hinterkopf in einer Hand, den anderen Arm legte er um ihre Taille. Er zog sie immer enger und fester an sich, bis sie den Boden unter den Füßen verlor.
Sie fühlte sich schwerelos, als würde sie in ihm treiben. Das Band, das sein Haar zusammenhielt – es war nur ein einfacher Lederstreifen – löste sich unter ihren Fingern. Die seidig schwarze Fülle fiel auf seine Schultern herab.
Er hob den Kopf und sah auf sie herab. Sein Gesichtsausdruck war angespannt und unnahbar. Das kristallene Strahlen seiner Augen loderte in der Dunkelheit wie das Signalfeuer eines Leuchtturms, das vor heimtückischer, sturmgepeitschter See warnte. Auf seinen Lippen glitzerte die Feuchtigkeit ihres Kusses. Sie konnte nichts weiter tun, als ihn stumm anzustarren, während sie am ganzen Leib zitterte. Er war so wild und wundervoll, dass es ihr die Sprache verschlug.
Er ließ sie vorsichtig an sich hinuntergleiten, bis sie wieder den Boden unter den Füßen spürte. Sie war nicht sicher, ob sie allein würde stehen können.
Aber dann musste sie es, denn er ließ sie los und verschwand ohne ein Wort.
An diesem Abend und auch noch am Mittwoch brannte Khalils Kuss in ihrer Erinnerung. Mitten in der Nacht wachte sie erregt auf, ihre Haut war von einem leichten Schweißfilm überzogen und die Bettdecke hatte sich zwischen ihren Beinen verfangen. Er hatte seinen Mund mit einer so erfahrenen Sinnlichkeit benutzt. Eindeutig hatte er schon menschliche Geliebte vor ihr gehabt. Diese nachträgliche Erkenntnis hatte verheerende Folgen, denn sie rückte die Frage, wie er wohl als Liebhaber sein mochte, in den Vordergrund ihres Denkens. Der Gedanke daran, vorher kaum vorstellbar, war mit einem Mal dringlich und fesselnd geworden.
Empfindungen und Bilder sausten durch ihren Kopf. Seine festen Lippen auf ihren, die grenzenlose Kraft in seinem Körper. Der Glanz seiner tiefschwarzen Haare, als sie sich lösten und sein unmenschliches elfenbeinfarbenes Gesicht mit den weiß glühenden Augen darin einrahmten. Die Hitze in seinem Körper und seine sengend heiße, reine Gegenwart. Sein majestätisches Auftreten, sein Schmerz und seine Wut.
Khalils Schmerz und seine Wut machten ihr nicht sonderlich zu schaffen. Grace kannte Schmerz und Wut, wahrscheinlich besser, als gut für sie war. Was sie aber nicht verstand, war, dass er wütend auf sie gewesen zu sein schien. Was hatte sie getan – oder nicht getan –, das ihn wütend gemacht hatte? Darüber brütete sie den ganzen nächsten Tag.
In ihrer Gedankenverlorenheit wurde sie regelrecht dumm. Sie schaffte es, die Salz- und Pfefferstreuer in den Kühlschrank zu räumen, und als sie unterwegs war, um ein paar Erledigungen zu machen, und zum Tanken anhielt, fuhr sie von der Zapfsäule weg, ohne den Tankdeckel wieder einzusetzen. Der Deckel fiel vom Wagendach, rollte aber zum Glück an den Rand des Tankstellenparkplatzes, wo Grace ihn später leicht wiederfand, als sie zurückkam, um ihn zu suchen.
Außerdem fiel es ihr schwer, über das nachzudenken, was auf der Wiese hinter dem Haus geschehen war, aber sie zwang sich zur Konzentration. Sie hatte sich durch ihre ungestüme Art in Gefahr gebracht und konnte es sich nicht leisten, noch einmal so leichtfertig zu sein. Während die Kinder schliefen, konzentrierte sie sich auf die mentalen Übungen, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Vorsichtig rief sie die Kraft des Orakels zu sich, und als sie sie wieder losließ, tat sie es langsam und kontrolliert.
Nachdem sie die Übungen einige Male durchgeführt hatte, konnte sie die Kraft zu jeder Tages- und Nachtzeit herbeirufen, ganz egal, an welchem Ort. Grace würde nie vergessen, wie gefährlich diese Kraft sein konnte, aber jetzt konnte sie ganz anders mit ihr umgehen als bei diesem ersten Mal, das so wild und stürmisch verlaufen war. Die Kraft versuchte nicht mehr, vor Grace zurückzuweichen oder sich gewaltsam ihrer Kontrolle zu entziehen.
Am frühen Morgen brachte sie über eine Stunde damit zu, vorsichtig nach Anhaltspunkten dafür zu suchen, dass dieser seltsame Geist weiterhin Einfluss auf die Kraft ausübte. Doch offenbar hatte die Schlangenfrau wirklich aufgegeben, denn sie war nirgends zu entdecken. Je länger Grace mit der Kraft arbeitete, desto bereitwilliger kam sie zu ihr. Wenn sie jetzt noch herausfinden könnte, was das alles zu bedeuten hatte … aber das konnte Jahre oder sogar Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Sie gab Chloe das stumme Versprechen, so hart sie konnte daran zu arbeiten, damit die Kraft unwiderruflich zu ihr gehörte. Wenn Grace starb, wollte sie die Kraft mit ins Grab nehmen, ob diese nun unsterblich war oder nicht. Denn dann hätten Chloe und alle anderen weiblichen Nachkommen, die Grace vielleicht haben würde, wirklich die Freiheit, ihr Schicksal selbst zu wählen und zu erkunden.
Das war Grace’ Schicksal. Zum ersten Mal in ihrem Leben, einschließlich ihrer Zeit am College, nahm sie etwas von ganzem Herzen an.
Als Khalil am Mittwochabend auftauchte, um Chloe die versprochene Geschichte vorzulesen, glaubte Grace begriffen zu haben, was zwischen ihnen vorgefallen war.
Sie glaubte, dass man manchmal zu verletzt sein konnte, um Trost anzunehmen. Vielleicht hatte sie durch ihre Umarmung etwas in ihm berührt, das keine Berührungen ertrug. Wenn das der Fall war, wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Es schien ihr nicht ganz das Richtige zu sein, sich zu entschuldigen oder ihn darauf anzusprechen; aber einfach zu schweigen kam ihr auch merkwürdig vor. Sie hatte das Gefühl, hilflos auf dem Meer zu treiben und sich nicht entscheiden zu können, wie sie sich fortbewegen sollte.
Khalil kam erst nach dem Abendessen. Bis dahin war Grace bereits völlig verkrampft. Sie und Chloe waren gerade dabei, die Spielsachen vom Tag einzusammeln und in der Spielzeugkiste im Wohnzimmer zu verstauen. Max stand vor dem Couchtisch und hielt sich an der Kante fest, während er auf seinen Plastikspielzeugschlüsseln herumkaute. Er zahnte und war geradezu versessen darauf, auf allem herumzukauen, was ihm in die Finger kam.
Khalil erschien völlig lautlos, doch Grace konnte seine Ankunft in ihrem Rücken spüren. Ihr Puls stieg schlagartig an. Tief verstrickt in Freude, Unsicherheit, Unbehagen und Verwirrung, drehte sie sich zu ihm um.
Huch. Er wirkte größer, wenn man ihn einen Tag lang nicht gesehen hatte.
Mit verschränkten Armen stand er vor ihr. Er trug schlichtes Schwarz. Zwar hatte sie ihn auch in anderen Farben gesehen, aber Schwarz schien seine Standardfarbe zu sein, wenn er körperliche Gestalt annahm. Das Haar trug er wieder zurückgebunden, und in seinen blassen, eleganten Zügen lag ein verschlossener Ausdruck. Seine Energie behielt er mit strenger Selbstbeherrschung fest im Griff. Bei seinem Anblick hatte Grace das Gefühl, ungebremst gegen eine Wand zu laufen.
Chloe, die von den unterschwelligen Spannungen im Raum nichts mitbekam, sprang auf ihn zu und streckte die Arme nach ihm aus. Er schenkte dem Mädchen ein schwaches Lächeln und nahm es auf den Arm. »Bei welcher Geschichte darf ich dir heute assistieren?«
»Der furchtbare, total blöde Tag!«, sagte sie.
»Eine ausgezeichnete Wahl«, sagte er. »Das hätte ich auch ausgesucht.«
Er trug Chloe zum Bücherschrank, und sie nahm das Buch heraus. Dann ließen sich die beiden im Sessel nieder. Max ließ den Couchtisch los, fiel auf seinen windelgepolsterten Hintern und krabbelte eifrig auf die beiden zu. Khalil nahm auch ihn auf den Schoß und fing an, den beiden vorzulesen.
Zu Grace sagte er nichts, er sah sie nur kurz an und nickte ihr zu. Ihr rasender Puls wurde zäh und schwerfällig, und ihre Energie zog sich verletzt in sich zurück. So sollte es also von jetzt an sein, ja?
Also gut. Scheiß auf ihn.
Ihr Wäschestapel war zu einem Berg angewachsen. Grace war fest entschlossen, das aufzuholen, bevor die Leute am Samstag kamen. Sie ging in die Küche, um die Waschmaschine neu zu befüllen, Kleidung und Windeln zusammenzulegen und das meiste davon ins Kinderzimmer zu bringen. Nachdem sie die Sachen der Kinder verstaut hatte, wischte sie Staub und wechselte die Bettwäsche. Dann ging sie ins Gästebad, das sich irgendwie zum Katastrophengebiet gewandelt hatte. Sie putzte den Spiegel, schrubbte energisch Waschbecken und Toilette und wischte schließlich den Boden. Dann war es an der Zeit, die nächste Ladung Wäsche anzustellen und noch mehr Kleidung zusammenzulegen.
Das Haus kam ihr zu eng vor, und die Ventilatoren schafften kaum mehr, als die feuchte Luft zu verteilen. Die Gespenster raunten in ungewisser Rastlosigkeit. Draußen begannen die Grillen und Zikaden ihre allabendliche Symphonie zu sägen. Grace hatte das Gefühl, von Schweiß und Staub, Putzchemikalien und Wut vergiftet zu werden.
Sie war einsam gewesen, der Kuss hatte nichts zu bedeuten gehabt, und er bereute es offensichtlich. Wie viele Fehler, die in der Geschichte der Beziehung begangen worden waren, fasste dieser Satz zusammen?
Sie stand gerade am Küchentisch und klatschte die gefalteten Windeln auf einen wachsenden Stapel, als sie Khalils tiefe Stimme hörte, die viel zu rein war, um einem Menschen zu gehören. Wie ein Schauer glitt diese Reinheit über ihre Haut und in ihr Bewusstsein. Sie ließ die Hände ruhen, schloss die Augen und lauschte sehnsuchtsvoll. Er sprach mit tiefer, volltönender Kraft, so wie Grace sich die Stimme eines abtrünnigen Engels vorstellte, wenn er seine Mitstreiter zum Krieg gegen Gott aufrief.
Dann erkannte sie das Ausmaß ihrer eigenen Dummheit. Wie konnte jemand, der so wild und so majestätisch war, so unsterblich und rein, an jemand so Fehlerhaftem und Langweiligem wie ihr interessiert sein? Er war unter seinesgleichen ein Prinz, während sie nicht einmal wusste, was der Ausdruck Prinz bei ihnen zu bedeuten hatte. Sie war das Gegenteil ihres eigenen Namens: Grace bedeutete Liebreiz, Anmut und Gnade, und sie war reizlos, grob und ungehobelt. Sie fuhr sich über ihre rissigen Handknöchel. Als sie zu schlucken versuchte, schmerzte ihre Kehle.
Sie hatte ihm nicht wehgetan. Sie war nicht wichtig genug, um ihm wehtun zu können.
Mit einiger Verspätung bekam sie endlich mit, was er sagte. »… und ich dachte, du hättest bestimmt nichts dagegen, wenn ich Chloe und Max ins Bett bringe.«
Sie sah ihn über die Schulter an. Khalil trug die Kinder auf dem Arm. An seiner einen riesenhaften Schulter lehnte der fest schlafende Max, und auf die andere hatte Chloe ihren Kopf gebettet. Sie rieb sich die Augen und gähnte. Grace erwiderte Khalils Blick kurz, nickte zustimmend und wandte sich dann wieder der Wäsche zu.
Es war offensichtlich, dass er nicht mit ihr reden wollte, und sie rechnete nicht damit, dass er noch einmal in die Küche kommen würde. Sie legte die restliche Wäscheladung zusammen, nahm einen Waschlappen und ging zur Spüle, um sich Gesicht und Nacken zu waschen. Anschließend fuhr sie sich mit dem Lappen über die bloßen Arme. Wieder war sie zu müde, um die Stufen hinaufzuklettern und ein Bad zu nehmen. Das würde sie morgen nachholen, wenn die Kinder Mittagsschlaf machten, und dann würde sie sich ein Schaumbad einlassen, würde die riesige Wanne mit den Klauenfüßen randvoll laufen lassen und darin baden, bis die Kleinen wach wurden.
Heute hatte sie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit kurze Hosen getragen und die verstohlenen Blicke, mit denen die Leute auf ihre vernarbten Beine gestarrt hatten, einfach ignoriert. Der kühle, feuchte Stoff fühlte sich angenehm auf ihrer überhitzten Haut an. Sie konnte ihr verletztes Bein weder drehen und anheben, um es zu waschen, noch konnte sie ihr ganzes Gewicht darauf verlagern, um das andere anzuheben. Deshalb musste sie sich auf einen der Küchenstühle setzen, um sich Beine und Füße zu waschen. Sie spülte den Waschlappen aus und machte ihn erneut nass, setzte sich und …
Khalils ungeheuer große Hand legte sich sacht auf ihre.
Sie erstarrte. Sie konnte weder blinzeln noch atmen noch den Blick heben. Stattdessen starrte sie nur auf seine Hand und leistete keinen Widerstand, als er ihr den Waschlappen entwand.
»Du gestattest«, sagte er. Sagte, nicht fragte.
Gestattete sie?
Er hockte sich vor ihr auf ein Knie, ein makelloser Gigant mit seiner königlich ernsten Miene, die noch immer undurchdringlich war. Blinzelnd beobachtete sie, wie er ihr verletztes Bein vorsichtig anhob. Er fuhr mit dem Waschlappen über ihre überhitzte Haut, von der Mitte ihres Oberschenkels ganz zart über ihr Knie bis hinunter zur Wade.
»Ich habe vorhin gesehen, dass du gehumpelt hast«, sagte er. »Du hättest deine Schiene tragen sollen.«
Blitze zuckten durch ihre Muskeln. Der Waschlappen fühlte sich kühl und erfrischend an, als Khalil ihn mit einer zarten Empfindsamkeit, die Grace überraschte, über ihr Bein gleiten ließ. Sie konnte kaum stillhalten. Mühsam brachte sie hervor: »Mir ist heiß, und ich bin schlecht gelaunt. Ich hatte keine Lust, sie zu tragen.«
»Das war dumm«, sagte er.
»Und es geht dich nichts an«, gab sie zurück.
»Hast du schon angefangen, die Babysitterliste zu überprüfen?«
»Ich hatte keine Zeit«, sagte sie knapp. Was glaubte er eigentlich, was sie alles schaffen konnte? Der Tag hatte nun mal nur eine begrenzte Anzahl an Stunden. Dann fiel ihr ein, dass sie ihm nicht erzählt hatte, was auf der Wiese hinter dem Haus passiert war. Diese Erkenntnis hinterließ ein merkwürdiges Gefühl, was sie wiederum zu einer weiteren Erkenntnis brachte: wie sehr sie ihm inzwischen vertraute.
Er schien sich von ihrem Ton nicht angegriffen zu fühlen, sondern nickte nur, während er den Waschlappen um ihren nackten Knöchel wickelte. Dann wusch ihr ein Prinz der Dschinn den Fuß, setzte ihr Bein behutsam auf dem Boden ab und griff nach dem anderen – und da hielt sie es nicht mehr länger aus. Sie packte Khalil am Handgelenk und sagte: »Hör auf.« Ihre Stimme klang so rau und reizlos wie alles an ihr.
Er hielt inne und sah sie an. Da er vor ihr kniete, waren ihre Köpfe auf gleicher Höhe. Wieder stürzte Grace in die Ewigkeit, als sie in seine Diamantaugen blickte. Er wirkte ernst und noch immer äußerst beherrscht, es war unmöglich, seine Miene zu lesen. Mit bewusst gleichmäßiger Stimme sagte er: »Wir werden jetzt das Wahrheitsspiel spielen. Nur noch einmal.«
Würden sie das? Sie war es allmählich leid, sich sagen zu lassen, was sie zu tun hatte. Zwischen den Zähnen presste sie hervor: »Ich habe keine Frage gehört.«
Er stützte sich mit dem Ellbogen auf seinem angezogenen Knie ab und blickte sie ruhig und unbarmherzig mit seinen kristallklaren Augen an. »Ich kann jederzeit gehen.«
Ihre Lippen drohten zu zittern. »Warum willst du spielen?«
»Ich möchte, dass dieser Austausch im Gleichgewicht ist«, sagte er knapp.
Sie war fassungslos. Sie verstand nicht, warum ihm diese Vorstellung eines gleich gewichteten Tauschs so wichtig war. Vielleicht hatte es mit Kontrolle zu tun? Dann erinnerte sie sich an etwas, das er gesagt hatte, etwas über den Wunsch nach Informationen, ohne dem anderen dafür zu etwas verpflichtet zu sein. Anspannung legte sich auf ihre Miene.
Es war ja schließlich nicht so, dass sie wirklich etwas zu verlieren hatte. Sie verschränkte die Arme und sagte: »Nein. Mit dem Wahrheitsspiel sind wir fertig. Frag mich, was du fragen willst, und ich werde antworten oder eben nicht. Ich werde dich fragen, was ich will, und du wirst mir antworten oder eben nicht. Keine Strafen, keine Kontrolle, kein Gleichgewicht. Keine Gefälligkeiten, keine Geschäfte, kein Abwägen von allem. Entweder führen wir ein echtes, ungeordnetes Gespräch, oder du kannst zum Teufel gehen.«
Er wurde wütend. Sie konnte die Veränderung in seiner Energie spüren – träge und schwefelhaltig wie langsam fließende Lava.
Das gefiel ihr. Sein Zorn verschaffte ihr Befriedigung, er bedeutete nämlich, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Also reizte sie ihn weiter. »Na los, geh schon.«
Seit er Grace geküsst hatte, wurde Khalil das Gefühl nicht mehr los, in unsichtbare Ketten geschlagen zu sein.
Seinen diversen Pflichten war er nur mürrisch nachgegangen und hatte jeden angefaucht, der das Pech hatte, ihm in die Quere zu kommen oder ihn schief anzusehen. Er saß in einer Anhörung im Gesetzgebungsausschuss der Dämonen, weil das in seinen Zuständigkeitsbereich fiel und er anwesend sein musste, aber er hörte nicht zu und beteiligte sich nicht. Als der Vorsitzende des Ausschusses über das Thema abstimmen ließ, sah sich Khalil nach den Personen um, die meistens ähnliche Ansichten vertraten wie er selbst. Er hob die Hand, wenn sie es taten. Niemand sagte etwas dazu, also schien er nicht für etwas abgestimmt zu haben, das allzu untypisch für ihn gewesen wäre.
Er verließ das Parlamentsgebäude und legte so bald wie möglich seine körperliche Gestalt ab. Dann ließ er sich vom Wind davontragen. Seinen Körper loszulassen war nicht so befriedigend, wie er erwartet hatte. Nichts war das an diesem Tag.
Trotz der räumlichen Entfernung konnte er nicht aufhören, über Grace und die Kinder nachzudenken. Er fragte sich, wie sie ihren Tag verbrachten. Schließlich beschloss er entnervt, die Erde ganz zu verlassen, und materialisierte seinen Körper auf dem Mond.
Dort gab es keine Geräusche, weil der Mond keine Atmosphäre hatte. Es gab keinen Wind, keine Luft. Die Sonne war ein durchdringendes, tosendes Feuer. Das von der Mondoberfläche reflektierte Sonnenlicht war silbrig-weiß; empfindliche, ungeschützte Menschenaugen würden bei dieser Strahlung erblinden. Was Khalil nicht weiter beunruhigte, denn sein Körper bestand aus reiner Konzentration. Er brauchte nicht zu atmen. Er verschränkte die Arme und starrte auf die milchig grün-blaue Kugel, die Erde, während er die unerschöpfliche Energie der Sonne in sich aufnahm.
Der Mond war der am weitesten von der Erde entfernte Punkt, den Khalil erreichen konnte, ohne eine der zahlreichen Übergangspassagen zu Anderländern in anderen Dimensionen zu durchqueren. Über diese Anderländer waren viele Theorien aufgestellt worden, aber Khalil glaubte, dass diese Länder letzten Endes entweder Schatten, Spiegel, Reflexionen oder eine Art Faltenwurf der Erde selbst waren.
Gegen Mittag überlegte er, was es bei Grace und den Kindern zum Mittagessen geben mochte. Es würde fröhlich und einfach und köstlich genug sein, um den Appetit eines wählerischen Kindes zu wecken.
Pah. Jetzt dachte er schon wieder an sie. Er stieß ein lautloses Zischen aus und machte eine abwehrende Handbewegung in Richtung des blau-weißen Himmelskörpers. Dann löste er sich auf und reiste zur Rückseite des Mondes, der Seite, die immer von der Erde abgewandt war. Sie passte viel besser zu seiner grüblerischen Stimmung. Die Oberfläche war wüst und dicht mit Kratern übersät. Der Trabant hatte den Mondzyklus zur Hälfte durchlaufen, sodass auf einem Teil der Rückseite Dunkelheit herrschte.
Hier waren Hell und Dunkel messerscharf getrennt. Es gab kein sanftes, farbiges Dämmerlicht, wie er es gestern Abend von Grace’ Haus aus gesehen hatte. Er entschied sich für die Dunkelheit und materialisierte sich wieder, um sich mit dem Rücken an einen Felsen zu lehnen und die hellen, scharf umrissenen Sterne anzustarren. Außerhalb der Erdatmosphäre erschienen sie näher, als sie es in Wirklichkeit waren.
Er stieß sich von dem Felsbrocken ab und streifte rastlos über die Mondoberfläche. Die unsichtbaren Ketten befanden sich in ihm, es spielte keine Rolle, wohin er ging. Sein Gefängnis waren seine eigenen Gedanken.
Köstlich.
Grace’ Lippen gestern Abend waren köstlich gewesen. Prall und feucht vor Überraschung, und von einer honigsüßen Unschuld, die nichts mit Jungfräulichkeit zu tun hatte, sondern mit der atemlosen Freude an einer neuen Erkundung. Er hatte die aufkeimende Erregung in ihrer Energie gespürt.
Nicht alles an ihr war Anmut und Licht. Sie hatte Dornen, scharfe Kanten und dieses hitzige Temperament, das er so gern provozierte. Aber dass er nach dem Kuss wie der Blitz in die Nacht davongeschossen war, lag daran, wie sehr ihr dunkler Schmerz an seinen eigenen rührte.
Wenn er auch nicht so voreingenommen war, wie er es Grace gegenüber zunächst vorgegeben hatte, so hatte er doch nur wenige Menschen gut gekannt. Manche waren genauso gewesen, wie er gesagt hatte: hinterhältig und zu sehr an der Suche nach magischer Energie interessiert. Aber er hatte auch Menschen getroffen, die er gemocht hatte. Und er hatte schon menschliche Geliebte gehabt.
Als Geliebte waren sie für ihn ein Spielzeug gewesen, ein bedeutungsloser Zeitvertreib, wenn er sich langweilte und Abwechslung suchte. Für seine bisherigen menschlichen Geliebten hatte er körperliche Gestalt angenommen, weil sie nicht in der Lage gewesen waren, seine ganze, unsichtbare Daseinsform wahrzunehmen. Sie besaßen nicht die Art von seelischer Gegenwart oder magischer Energie, die nötig war, um sie an seine anzugleichen. Sie konnten nicht wissen, was ihm wahre, tiefste Lust bereitete, und so hatte er immer schnell das Interesse an ihnen verloren.
Grace aber besaß diese Fähigkeit. Sie war anders als alle anderen Menschen, denen er bisher begegnet war. Ihre magische Energie war buchstäblich einzigartig. Sie konnte es mit ihm aufnehmen und sich auf eine Art an seine Gegenwart angleichen, wie Dschinn es untereinander taten, wenn sie sich liebten – wenn sie sich in formloser Lust und Erregung vereinigten. Es war außergewöhnlich.
Es war vollkommen.
Zum ersten Mal stellte er sich die Frage, welche Freuden die echten menschlichen Sinne bieten mochten.
Seine körperliche Gestalt vermittelte ihm eine eingeschränkte Imitation dessen, was Menschen, die an ihren Körper gebunden waren, mit all ihren Sinnen empfanden. Doch nie empfand er die Tiefe von echtem, körperlichem Hunger oder Schmerz. Das köstliche Aroma oder die feinen Nuancen von Nahrungsmitteln hatte er noch nie richtig geschmeckt, wie es die Menschen taten, und auch die ganze Intensität körperlicher, sexueller Lust war ihm unbekannt. Solche Gelüste hatte er, wie es die meisten Dschinn früher oder später taten, nur vorgespielt.
Eine körperliche Gestalt anzunehmen kostete ihn Kraft und magische Energie. Je realistischer die Gestalt, die ein Dschinn annahm, desto höher war der Preis dafür. Einen vollkommenen menschlichen Körper zu erschaffen, einschließlich des komplexesten Organs von allen, dem Gehirn, war eine unwiderrufliche Handlung. Bei den Dschinn nannte man es »Fleischwerdung«. Es gab Zwischenstufen der Körperbildung, die sich rückgängig machen ließen, die meisten Dschinn jedoch betrieben nicht mehr Aufwand, als eine bloße Fassade anzulegen.
Wenn er eine vollständigere Gestalt mit echter Haut erschuf, könnte er herausfinden, wie es sich anfühlte, mit der Zunge über ihre Lippen zu streichen. Dann würde er wirklich wissen, warum diese Empfindung wie ein Schauer durch ihre Aura und ihre magische Energie gelaufen war und ihre Erregung aufs Höchste gesteigert hatte. Es wäre ein anstrengender Kraftaufwand, der ihn viel magische Energie kosten würde, aber solange die Fleischwerdung nicht vollendet war, konnte er die Gestalt jederzeit nach Belieben wieder ablegen.
Und dann würde er es wissen.
In einem ruhigeren Gemütszustand war er zur Erde zurückgekehrt und hatte den Rest des Tages hinter sich gebracht.
Als er jetzt vor Grace kniete, versuchte er einen kontrollierten, rationalen, ausgeglichenen Austausch einzuleiten, aber dem verweigerte sie sich rigoros. Sie verweigerte sich ihm. Schlimmer noch, sie forderte ihn auf zu gehen.
Normalerweise mochte er es, wenn sie bestimmte, aber so wie jetzt mochte er es gar nicht. Er starrte in ihr wütendes Gesicht. Ihre vollen, weichen Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Sie saß kerzengerade und hatte die Arme um ihre Taille geschlungen, die Beine eng aneinandergedrückt und zur Seite gedreht. Nichts davon sah vielversprechend, kontrolliert oder vernünftig aus. Und ganz sicher sah es nicht ausgeglichen aus.
Er legte die Stirn in Falten und betrachtete die Menschenfrau genauer. Sie sah nicht nur wütend aus. Sie wirkte verletzt und reumütig, aber er wollte verdammt sein, wenn er jetzt ging, nur weil sie ihn dazu aufforderte. Er knirschte mit den Zähnen. »Gestern Abend habe ich dich geküsst, als ich wütend war. Das hätte ich nicht tun dürfen.«
Überraschung zeigte sich auf ihrer Miene und in ihrer Haltung. Sie lockerte die Arme, und die Anspannung um ihren Mund löste sich. »Ist das eine Entschuldigung?«
Er dachte nach. Das Schwierige an der Sache war, dass ihm der Kuss nicht leidtat. Nach einem Moment sagte er: »Ich weiß es nicht.«
Sie beobachtete ihn. Ein aufmerksames Funkeln hatte sich in ihren Blick geschlichen. »Du warst mehr als nur wütend.«
Seine Augen verengten sich. Er gab keine Antwort.
Jetzt sprach Grace sehr deutlich, als hätte sie einen Geistesschwachen vor sich. »Ich werde dir sagen, wofür du dich entschuldigen solltest: Du bist gestern ohne ein Wort verschwunden. Und heute Abend bist du ohne ein Wort des Grußes zurückgekommen. Du hast mich nicht mal angesehen.«
»Ich habe dich angesehen«, murmelte er. Er hatte nicht aufhören können, sie anzusehen, während er Chloe aus ihrem Buch vorgelesen hatte. Trotz ihrer Beinverletzung hatte sich Grace mit athletischer Anmut und Grazie bewegt. Das war der Moment gewesen, in dem er bemerkt hatte, dass ihr Humpeln wieder stärker geworden war.
Ihr Redefluss geriet nur kurz ins Stocken. »Du warst unhöflich. Du hast gesagt, ich könnte es nicht zurücknehmen, dich als Freund bezeichnet zu haben. Tja, lass mich dir eins verraten, Khalil: So behandeln sich Freunde nicht.«
Für ihn war das, als hätte sie ihm einen Schlag zwischen die Augen versetzt. Nicht weil sie ihm die Meinung sagte – sie hielt ihm schon Vorträge, seit sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Er versuchte sich zu erinnern. Ja, er war sich so gut wie sicher, dass sie gerade zum ersten Mal seinen Namen benutzt hatte. Irgendwie veränderte sich dadurch etwas. Es wurde … intimer.
»Grace«, sagte er versuchsweise. Es war ein schöner Name. Er konnte beobachten, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, unsicher wurde. Sie musste es ebenfalls gespürt haben. »Ich musste über vieles nachdenken. Es tut mir leid, dass ich so plötzlich verschwunden bin und dass meine Rückkehr so …« Konfliktbehaftet. Konfus. Querköpfig. Er beendet den Satz: »… kompliziert war. Und ich will nicht mit dir befreundet sein.«
Sie zuckte zusammen, ehe sie sarkastisch sagte: »Oh, also ich kann es nicht zurücknehmen, aber du schon?«
»Ich will es nicht zurücknehmen«, sagte er mit Betonung auf dem letzten Wort. »Ich will es ändern.«
Sie erstarrte. »Was meinst du damit?«
»Gestern Abend hast du meinen Kuss erwidert«, stellte er fest und senkte den Blick. »Ich möchte, dass du mich noch einmal küsst.«
Sie holte scharf Luft. Farbe zeigte sich auf ihren Wangen. »Was? Wa… warum?«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Was glaubst du, warum? Ich will wissen, ob du mich noch einmal küssen würdest. Bin ich so absonderlich, dass es dir nicht gefallen hat?«
Das Rot auf ihren Wangen vertiefte sich. Grace wirkte verblüfft und durcheinander und strahlte in leuchtenden Farbtönen. Die Azur-Jade-Honig-Nuancen in ihren Augen, das rotblonde Haar und die dunkle Röte, die ihre Wangen so wunderschön hervorhob. Dann senkte sie den Blick und sagte mit erstickter Stimme: »Ich fand es wundervoll, dich zu küssen. Hast du das nicht bemerkt?«
Er lächelte, überrascht darüber, wie sehr ihn ihre Aufrichtigkeit freute. »Ich war in dem Moment beschäftigt. Ich hatte zwar auch den Eindruck, wollte aber sichergehen.«
»Trotzdem weiß ich nicht, ob ich dich noch mal küssen möchte.«
Das erschütterte ihn. Und es gefiel ihm nicht. Er erhob sich auf die Knie und packte die Sitzfläche ihres Stuhls zu beiden Seiten ihrer schlanken Beine, sodass sein Gesicht ganz dicht vor ihrem war. »Erklär mir das«, sagte er.
Sie sah ihm offen in die Augen. Was sie dann sagte, fiel ihr offensichtlich schwer, und die Wahrheit ihrer Worte ließ sich nicht leugnen: »Ich mache im Moment eine schwere Zeit durch. Ich habe Dinge zu erledigen. Bei einigen weiß ich nicht einmal, wie ich sie schaffen soll, und die Kinder müssen immer an erster Stelle stehen. Wenn du das meinst, von dem ich glaube, dass du es meinst … Khalil, du hast gesagt, dass es dir leidtut, und ich nehme deine Entschuldigung an. Aber du hast meine Gefühle verletzt, und das hat diesen Tag für mich schwieriger gemacht. Ich glaube einfach, ich sollte mich nicht in etwas verstricken, das mir so etwas antut. Es wäre den Kindern gegenüber nicht fair. Dich zu provozieren und sich für kurze Zeit auf das Wahrheitsspiel einzulassen, hat das Budget an Dummheiten, die ich riskieren kann, ziemlich ausgeschöpft. In letzter Zeit war ich in vielerlei Hinsicht zu impulsiv, ich muss einfach vorsichtiger sein. Daher ist Freundschaft das Einzige, was ich dir anbieten kann.«
Das beeindruckte ihn. Sie hatte eine klare Grenze gezogen, die er nicht vorhergesehen hatte, und es war eine vernünftige, verantwortungsvolle Grenze. Er sollte erleichtert sein. Vielleicht sollte er auch beleidigt sein. Mit ziemlicher Sicherheit war er verdrossen. Den ganzen Tag hatte er darüber nachgedacht, ob er sie zu seiner Geliebten nehmen wollte. Dabei war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, auch nur einen Gedanken an die Frage zu verschwenden, ob sie ihn überhaupt wollte. Also sollte er wohl gehen.
Er ging nicht.
Stattdessen nahm er ihre Hände. Sie waren feingliedrig und so viel kleiner als seine. Ihre Finger waren von der harten Arbeit leicht gerötet. Mit ernster Miene hob er ihre Hände an, um erst die eine und dann die andere zu küssen. »Ich will deine Tage nicht schwieriger machen. Ich habe dir zugesichert, dich und die Kinder zu beschützen, und das werde ich auch in dieser Hinsicht tun.«
Sie nickte. Lag da Resignation oder Enttäuschung in ihrem Blick?
Dann beugte er sich vor und küsste sie. Diesmal tat er es zart, und genau wie am Vorabend öffneten sich ihre hübschen Lippen vor Überraschung. Er liebkoste ihre Lippen mit seinen und erkundete genüsslich dieses weiche, üppige Terrain. Dann zog er sich zurück und sagte mit Bestimmtheit: »Ich habe dich verstanden, und ich respektiere deine Gründe, aber du solltest nicht Nein sagen. Ich habe mich entschuldigt, und du hast die Entschuldigung angenommen. Das heißt, wir sollten diese Sache hinter uns lassen und in die Zukunft sehen.«
Sie blickte auf ihre Hände und verzog unsicher das Gesicht.
Mit fester Stimme sagte er: »Grace.« Ihr Blick schnellte wieder zu ihm. Er legte die Hand an ihre Wange und sagte: »Morgen habe ich zu tun. Aber am Freitag komme ich her, um den Kindern vorzulesen. Und du solltest sagen ›Mal sehen‹.«
»Du sollst mir nicht vorschreiben, was ich sagen soll«, sagte sie mit finsterem Blick.
Er strich mit dem Daumen über ihre Lippe und hob die Brauen. »Und?«
Einen Augenblick lang wirkte sie unentschlossen, und er machte sich schon auf den nächsten Streit gefasst. Dann breitete sich auf ihrem Gesicht ein zögerliches Lächeln aus, und ihre Grübchen waren wieder da. »Also gut. Mal sehen.«