ATTACHÉ AN DER FRANZÖSISCHEN BOTSCHAFT

Ferientagebuch, Schluß.

21.9.

Während des Abendessens zeigte sich, in wie kurzer Zeit eine in diesem Falle durch mehrere im einzelnen unbedeutende, im Zusammenwirken aber doch entscheidende Ursachen herbeigeführte glückliche Stimmung und Gesellschaft plötzlich zu einer verdüsterten werden kann. Als hätten wir uns dem Entsetzlichen, an das wir denken mußten, während wir aßen, nicht ausliefern wollen, fürchteten wir die Konsequenzen aller Gedanken. In der größten Unruhe, in welcher Vermutungen und Befürchtungen zu einem vor allem für die Ehefrau des Abgängigen entsetzlichen Schweigen geführt hatten, war pünktlich mit dem Nachtmahl begonnen worden. Mein Onkel war von der Waldinspektion nicht zurück. Wir hatten ihn gesucht, erfolglos. (Die Tatsache seines Ausbleibens war deshalb von einer solch lähmenden Wirkung, weil er, solange zurückgedacht werden kann, noch nie unpünktlich von der abendlichen Waldinspektion nach Hause gekommen war.)

Während wir schweigend das Nachtmahl einnahmen, habe ich vor allem die Verhaltensweise der Frau meines Onkels studiert. Aber nicht die Beschreibung der Anspannung, ja Verzweiflung der Tischgesellschaft, die, wie ich heute weiß, meinen Onkel naturgemäß mit einer Reihe von grauenhaften Unglücksfällen, Verbrechen in Zusammenhang gebracht hat, interessiert mich jetzt, nur das, was mein Onkel, nachdem er völlig überraschend eine halbe Stunde nach Essensbeginn erschienen war, zu berichten gehabt hatte.

Der schon nicht mehr Erwartete war eingetreten und hatte sich, als sei überhaupt nichts geschehen, auf seinen Platz gesetzt und erzählt, er habe im Wald, in dem Stück Mischwald, das an den Fichtenwald grenzt, ohne vorher auch nur das geringste in bezug auf diese Begegnung wahrgenommen zu haben, einen jungen Mann, wie er sagte, »einen der stattlichsten jungen Männer«, getroffen. Vorzüglich gekleidet sei der Mensch gewesen. Das Gesicht des Fremden hatte mein Onkel der Witterung entsprechend nicht sehen, seine Stimme aber sofort als die eines überdurchschnittlich Intelligenten klassifizieren können. (Schon im ersten Augenblick hatte mein Onkel die Begegnung mit dem Fremden als einen Glücksfall empfunden.)

»Es war«, sagte mein Onkel, »merkwürdigerweise, als hätte ich jahrelang auf nichts anderes gewartet als auf diese Begegnung.«

Mein Onkel hatte nicht einen Augenblick an ein Verbrechen gedacht, nicht einen Augenblick an eine Menschenfalle.

Er lud den jungen Mann, der seinen Namen genannt hatte und doch in völliger Anonymität geblieben war, ein, ein Stück mit ihm zu gehen.

Er habe mehrere Baumstämme auf ihre Schlägerungsreife hin zu prüfen, da gehe er lieber zu zweit als allein, und er hatte sich gedacht, der Mensch ist vertrauenswürdig und: »möglicherweise denkt er genau so wie ich, man kann von Stimmungen, Bewegungen auf die Person schließen« usf. »Dieser Wald«, hatte mein Onkel zu dem jungen Mann gesagt, »ist gut«, dann wieder: »Dieser Wald ist schlecht, und ich will Ihnen erklären, warum der Wald gut ist, der andere schlecht. In der Finsternis sehen Sie ja nicht, warum der gut ist und der andere schlecht. Aber warum sage ich Ihnen, daß der Wald gut ist und der andere schlecht (»Menschen!«). Möglich, daß Sie das gar nicht interessiert. Mich aber haben ständig diese Merkwürdigkeiten, Landmerkwürdigkeiten zu interessieren. Tag und Nacht beschäftigen mich diese Gedanken: Ist dieser Wald gut? Ist dieser Wald schlecht? Warum ist der gut? Warum ist der schlecht? Wenn es Tag wäre, würden Sie sofort erkennen, daß der Wald (»Mensch!«), in dem wir jetzt sind, schlecht ist, und Sie würden mit der gleichen Sicherheit von dem, in den wir jetzt hineingehen, sagen können, daß er gut ist. Aber jetzt erkennen Sie nichts. Die Finsternis macht es unmöglich, festzustellen, ob der Wald (»Mensch!«) gut ist, ob der Wald (»Mensch!«) schlecht ist. Ich aber weiß, daß der Wald, in dem wir jetzt sind, schlecht ist, daß der Wald, in den wir jetzt hineingehen, gut ist. Mir ist die Beschaffenheit aller meiner Wälder bekannt ... Tag und Nacht sehe ich meine Grundstücke ... Ununterbrochen ... Meine Grundstücke sind meine Themen. Ich kann mir vorstellen, daß ein Philosoph Tag und Nacht alle seine Philosophien sieht, wenn er der ideale Philosoph ist. Die Kunst besteht darin, daß der Philosoph immer alle Philosophien durchschaut, wie die meinige darin besteht, immer alle Grundstücke zu durchschauen. Ich muß wissen, ob und wodurch der Baum faul ist. Ich muß wissen, was in dem Baum ist. Immer muß ich wissen, was immer ist. Die Welt ist, wie Sie wissen, eine Möglichkeitswelt, meine Grundstücke sind Möglichkeitsgrundstücke, wie die Philosophien Möglichkeitsphilosophien sind. Wir denken alle immer in Möglichkeiten.«

Der junge Fremde zeigte sich, was die Wald- und Forstwirtschaftswissenschaft betrifft, nicht nur interessiert, sondern er erwies sich als darin beschlagen. (Wie sich herausstellte, war der Fremde ein Fachmann, die ganze forstwirtschaftswissenschaftliche Entwicklung betreffend.)

»Was ich so gern habe«, sagte mein Onkel, »der junge Mann zitierte die Natur selbst, keine Schriften über die Natur

Mein Onkel hatte immer mehr Vergnügen an der Begegnung. Wie er berichtete, war das Gesprächsthema der beiden bald nicht mehr nur die Wald- und Forstwirtschaftswissenschaft gewesen, es waren schließlich, das erstaunte meinen Onkel, denn sie beide waren sogenannte Praktiker auf dem Höhepunkt des Zwanzigsten Jahrhunderts, die Künste, worüber sie sich unterhielten. Über Literatur wurde gesprochen. Über Musik. (Einer von den wenigen jungen Menschen, mit welchen man, ohne fürchten zu müssen, sie und also auch sich selbst in jedem Augenblick auf das peinlichste banalisieren zu müssen, über alles sprechen kann, sei der Fremde durch seine Vorlieben wie diejenigen für die Literatur und die Musik vor allem, sein Wissen, die Natur betreffend, schon nach kurzer Zeit seiner Sympathie sicher gewesen.)

»Das Deutsch des jungen Mannes war außerordentlich, aber doch von einem Ausländer gesprochen«, sagte mein Onkel. Ein Franzose! hatte er sofort gedacht, ja, ein Franzose! und: wie kommt um diese Zeit ein Franzose in meinen Wald? Aber dann hatte er sich gesagt: natürlich, es handelt sich um einen der französischen Verwandten des Landwirtschaftsministers. Der junge Mensch hat, aus was für einem Grund immer, und junge Menschen haben jugendliche Gründe, vor dem Zubettgehen noch einen Spaziergang gemacht; Interesse auch an den Erscheinungen gerade in Oberösterreich so zahlreicher Besonderheiten physikalischer, chemischer, philosophischer Natur in der Dämmerung haben ihn außer Haus gehen lassen. Freilich, ein Mensch allein im Wald in der Finsternis ist nicht nur hier, ist überall aufs empfindlichste verdächtig. Aber dieser Gedanke hatte meinen Onkel nicht beschäftigt. »Zutrauen«, sagte er, »gegenseitiges Zutrauen.«

Nicht einen Augenblick habe mein Onkel an eine Schußwaffe gedacht.

»Es war in der Dämmerung, die schon finster ist«, sagte er.

»Merkwürdig«, sagte er, und dann: »Nachdem ich dem jungen Mann über Düngung und Dunkelschlag, über die Schattenholzarten, eine sehr interessante Geschichte über die Weymouthskiefer erzählt hatte, waren wir auf die Politik zu sprechen gekommen. Wieder habe ich die Feststellung gemacht, daß das Gespräch zweier intelligenter Männer naturgemäß immer auf die Politik, auf das Politische, auf das Einundalles des klaren Verstandes kommen muß. Hier zeigte sich erst recht die hohe Intelligenz meines Partners. Ganz klar, habe ich mir gedacht, ein Franzose spricht!«

(Was er über Demokratie zu sagen hatte, hatte auf meinen Onkel, der ein vollendeter Zuhörer ist, den größten Eindruck gemacht.)

»Der Franzose wußte, was Demokratie ist«, sagte mein Onkel, »was der Staat heute, die Jugend vor allem und der Staat, die Zukunft und der Staat.«

»Präzision«, sagte mein Onkel, »zeichnete den Franzosen aus, eine elegante Präzision.«

Der junge Franzose war, berichtete mein Onkel, ein meisterhafter Aufklärer selbst der finstersten Zusammenhänge, nicht nur der europäischen, sondern der vollständigen Weltpolitik. Ohne auch nur ein einziges Mal aus der Geschichtsschreibung zu zitieren, gelang es ihm mit ein paar Sätzen, den heutigen Standpunkt der Geschichte so anschaulich zu machen, daß es die Bewunderung meines Onkels hervorrufen mußte.

»Sie sind durch diese Schule gegangen, die es eigentlich gar nicht gibt und die doch die beste ist«, hatte mein Onkel zu dem jungen Mann gesagt.

Die beiden waren bis zu den Eichen gegangen.

»Ich habe dem Franzosen den Vorschlag gemacht, mit uns zu Abend zu essen«, sagte mein Onkel, »aber der Franzose hat meine Einladung abgelehnt. Er hat mich ersucht, ich möge ihn aus dem Wald hinausführen, denn er hatte die Orientierung verloren, und ich habe ihn hinausgeführt«, sagte mein Onkel. Dann: »Der Gedanke, diesen Menschen vielleicht zum letzten Mal gesehen zu haben, schmerzt mich.«

Auf dem Rückweg durch den Mischwald sei ihm der Franzose als »einer der wichtigsten Menschen« in seinem Leben erschienen. (»Dieser Mensch ist ein durchaus bevorzugter«, sagte mein Onkel, »wie es eine Bevorzugung ist, einen solchen Menschen zu treffen.«)

23.9.

Heute hörte ich von einem Toten »mit durchschossenem Kopf« sprechen.

25.9.

»Es handelt sich um einen Attaché an der französischen Botschaft«, sagte mein Onkel.