IST ES EINE KOMÖDIE? IST ES EINE TRAGÖDIE?

Nachdem ich wochenlang nicht mehr in das Theater gegangen bin, habe ich gestern in das Theater gehen wollen, aber schon zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung habe ich, noch während meiner wissenschaftlichen Arbeit und also in meinem Zimmer, mir ist nicht ganz klargeworden, im Vorder- oder Hintergrund des Medizinischen, das ich endlich zum Abschluß bringen muß, weniger meinen Eltern als meinem überanstrengten Kopf zuliebe, gedacht, ob ich nicht doch auf den Theaterbesuch verzichten soll.

Ich bin acht oder zehn Wochen nicht mehr ins Theater gegangen, sagte ich mir, und ich weiß, warum ich nicht mehr ins Theater gegangen bin, ich verachte das Theater, ich hasse die Schauspieler, das Theater ist eine einzige perfide Ungezogenheit, eine ungezogene Perfidie, und plötzlich soll ich wieder ins Theater gehen? In ein Schauspiel? Was heißt das? Du weißt, daß das Theater eine Schweinerei ist, habe ich mir gesagt, und du wirst deine Studie über das Theater, die du im Kopf hast, schreiben, diese Theaterstudie, die dem Theater ein für allemal ins Gesicht schlägt! Was das Theater ist, was die Schauspieler sind, die Stückeschreiber, die Intendanten usf... .

Mehr und mehr war ich vom Theater beherrscht, immer weniger von der Pathologie, gescheitert in dem Versuch, das Theater zu ignorieren, die Pathologie zu forcieren.

Gescheitert! Gescheitert!

Ich zog mich an und ging auf die Straße.

Zum Theater habe ich nur eine halbe Stunde zu gehen. In dieser halben Stunde ist mir klargeworden, daß ich nicht ins Theater gehen kann, daß sich mir der Besuch eines Theaters, einer Theatervorstellung, ein für allemal verbietet.

Wenn du deine Theaterstudie geschrieben hast, dachte ich, dann ist es Zeit, dann ist es dir wieder erlaubt, ins Theater zu gehen, damit du siehst, daß dein Traktat stimmt!

Mir war nur peinlich, daß es überhaupt soweit hat kommen können, daß ich mir eine Theaterkarte gekauft habe – ich habe die Theaterkarte gekauft, nicht geschenkt bekommen – und daß ich mich zwei Tage lang in dem Glauben malträtiert habe, ins Theater zu gehen, mir eine Theatervorstellung anzuschauen, Schauspieler, und hinter allen diesen Schauspielern einen miserablen und stinkenden Regisseur (Herrn T. H.!) zu wittern usf... . vor allem aber, daß ich mich für das Theater umgezogen hatte. Für das Theater hast du dich umgezogen, dachte ich.

Die Theaterstudie, eines Tages die Theaterstudie! Man beschreibt gut, was man haßt, dachte ich.

In fünf, möglicherweise sieben Abschnitten unter dem Titel THEATER – THEATER? ist meine Studie in kurzer Zeit fertig. (Ist sie fertig, verbrennst du sie, weil es sinnlos ist, sie zu veröffentlichen, du liest sie durch und verbrennst sie. Veröffentlichung ist lächerlich, verfehlter Zweck!) Erster Abschnitt DIE SCHAUSPIELER, zweiter Abschnitt DIE SCHAUSPIELER IN DEN SCHAUSPIELERN, dritter Abschnitt DIE SCHAUSPIELER IN DEN SCHAUSPIELERN DER SCHAUSPIELER usf... . vierter Abschnitt BÜHNENEXZESSE usf... . letzter Abschnitt: ALSO, WAS IST DAS THEATER?

In diesem Gedanken bin ich bis in den Volksgarten gekommen.

Ich setze mich auf die Bank neben der Meierei, obwohl sich in dieser Jahreszeit auf eine Volksgartenbank zu setzen tödlich sein kann, und beobachte, angestrengt, mit Vergnügen, ungeheuer konzentriert, wer und wie man in das Theater hineingeht.

Es befriedigt mich, nicht hineinzugehen.

Du solltest aber, denke ich, hingehn und mit Rücksicht auf deine Armut, deine Karte verkaufen, geh hin, sage ich mir, und während ich das denke, habe ich den größten Genuß daran, meine Theaterkarte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu zerreiben, das Theater zu zerreiben.

Zuerst sind es, sage ich mir, immer mehr Menschen, die in das Theater hineingehen, dann immer weniger. Schließlich geht niemand mehr in das Theater hinein.

Die Vorstellung hat angefangen, denke ich, und ich stehe auf und gehe ein Stück in Richtung Innere Stadt, mich friert, ich habe nichts gegessen und, fällt mir ein, über eine Woche lang mit keinem Menschen mehr gesprochen, als ich plötzlich angesprochen bin: ein Mann hat mich angesprochen, ich höre, daß mich ein Mann fragt, wie spät es sei, und ich höre mich »Acht Uhr« rufen.

»Es ist acht Uhr«, sage ich, »das Theater hat angefangen.«

Jetzt drehe ich mich um und sehe den Mann.

Der Mann ist groß und mager.

Außer diesem Mann ist niemand im Volksgarten, denke ich.

Sofort denke ich, daß ich nichts zu verlieren habe.

Aber den Satz: »Ich habe nichts zu verlieren!« auszusprechen, laut auszusprechen, erscheint mir unsinnig, und ich spreche den Satz nicht aus, obwohl ich die größte Lust habe, den Satz auszusprechen.

Er habe seine Uhr verloren, sagte der Mann.

»Seit ich meine Uhr verloren habe, bin ich gezwungen, von Zeit zu Zeit Menschen anzusprechen.«

Er lachte.

»Hätte ich nicht meine Uhr verloren, hätte ich Sie nicht angesprochen«, sagte er, »niemanden angesprochen.«

Ihm sei die Beobachtung an sich selber höchst interessant, sagte der Mann, daß er, wie er, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß es acht Uhr ist, jetzt weiß, daß es acht Uhr ist und daß er am heutigen Tag elf Stunden ununterbrochen – »ohne Unterbrechung«, sagte er – in einem einzigen Gedanken gegangen sei, »nicht auf und ab« sagte er, sondern »immer geradeaus, und wie ich jetzt sehe«, sagte er, »doch immer im Kreis. Verrückt, nicht wahr?«

Ich sah, daß der Mann Frauenhalbschuhe anhatte, und der Mann sah, daß ich gesehen hatte, daß er Frauenhalbschuhe anhatte.

»Ja«, sagte er, »jetzt mögen Sie sich Gedanken machen.« »Ich habe«, sagte ich rasch, um den Mann und mich von seinen Frauenhalbschuhen abzulenken, »einen Theaterbesuch machen wollen, aber unmittelbar vor dem Theater habe ich kehrtgemacht und bin nicht in das Theater hineingegangen.«

»Ich bin sehr oft in diesem Theater gewesen«, sagte der Mann, er hatte sich vorgestellt, ich hatte aber seinen Namen sofort vergessen, ich merke mir Namen nicht, »eines Tages zum letzten Mal, wie jeder Mensch eines Tages zum letzten Mal in ein Theater geht, lachen Sie nicht!« sagte der Mann, »alles ist einmal zum letzten Mal, lachen Sie nicht!«

»Ach«, sagte er, »was wird denn heute gespielt? Neinnein«, sagte er rasch, »sagen Sie mir nicht, was heute gespielt wird ...«

Er ginge jeden Tag in den Volksgarten, sagte der Mann, »seit Saisonbeginn gehe ich immer um diese Zeit in den Volksgarten, um hier, von dieser Ecke aus, von der Meiereimauer aus, sehen Sie, die Theaterbesucher beobachten zu können. Merkwürdige Leute«, sagte er.

»Freilich, man müßte wissen, was heute gespielt wird«, sagte er, »aber sagen Sie mir nicht, was heute gespielt wird. Für mich ist das äußerst interessant, einmal nicht zu wissen, was gespielt wird. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?« fragte er und sagte sofort: »Neinnein, sagen Sie nicht, was es ist. Sagen Sie es nicht!«

Der Mann ist fünfzig, oder er ist fünfundfünfzig, denke ich.

Er macht den Vorschlag, in Richtung zum Parlament zu gehen.

»Gehen wir bis vor das Parlament«, sagt er, »und wieder zurück. Merkwürdig still ist es immer, wenn die Vorstellung angefangen hat. Ich liebe dieses Theater ...«

Er ging sehr rasch, und es war mir fast unerträglich, ihm dabei zuzuschauen, der Gedanke, daß der Mann Frauenhalbschuhe anhat, verursachte mir Übelkeit.

»Hier gehe ich jeden Tag die gleiche Anzahl von Schritten, das heißt«, sagte er, »mit diesen Schuhen gehe ich von der Meierei bis zum Parlament, bis zum Gartenzaun, genau dreihundertachtundzwanzig Schritte. In den Spangenschuhen gehe ich dreihundertzehn. Und zum Schweizertrakt – er meinte den Schweizertrakt der Hofburg – gehe ich genau vierhundertvierzehn Schritte mit diesen Schuhen, dreihundertneunundzwanzig mit den Spangenschuhen! Frauenschuhe, mögen Sie denken und es mag Ihnen widerwärtig sein, ich weiß«, sagt der Mann.

»Aber ich gehe auch nur in der Dunkelheit auf die Straße. Daß ich jeden Abend um diese Zeit, immer eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn, in den Volksgarten gehe, beruht, wie Sie sich denken können, auf einer Erschütterung. Diese Erschütterung liegt jetzt schon zweiundzwanzig Jahre zurück. Und sie hängt ganz eng mit den Frauenhalbschuhen zusammen. Zwischenfall«, sagt er, »ein Zwischenfall. Es ist ganz die Stimmung von damals: der gerade aufgegangene Vorhang im Theater, die Schauspieler fangen zu spielen an, die Menschenleere heraußen ... Gehen wir jetzt«, sagt der Mann, nachdem wir wieder bei der Meierei sind, »zum Schweizertrakt.«

Ein Verrückter? dachte ich, wie wir zum Schweizertrakt gingen, nebeneinander, der Mann sagte: »Die Welt ist eine ganz und gar, durch und durch juristische, wie Sie vielleicht nicht wissen. Die Welt ist eine einzige ungeheuere Jurisprudenz. Die Welt ist ein Zuchthaus!«

Er sagte: »Es ist genau achtundvierzig Tage her, daß ich hier im Volksgarten um diese Zeit zum letzten Mal einen Menschen angetroffen habe. Auch diesen Menschen habe ich gefragt, wie spät es ist. Auch dieser Mensch hat mir gesagt, daß es acht Uhr ist. Merkwürdigerweise frage ich immer um acht Uhr, wie spät es ist. Auch dieser Mensch ist mit mir bis vor das Parlament gegangen und bis vor den Schweizertrakt. Übrigens«, sagte der Mann, »habe ich, das ist die Wahrheit, meine Uhr nicht verloren, ich verliere meine Uhr nicht. Hier, sehen Sie, ist meine Uhr«, sagte er und hielt mir sein Handgelenk vors Gesicht, so daß ich seine Uhr sehen konnte.

»Ein Trick!«, sagte er, »aber weiter: dieser Mensch, den ich vor achtundvierzig Tagen angetroffen habe, war ein Mensch Ihres Alters. Wie Sie, schweigsam, wie Sie, zuerst unschlüssig, dann entschlossen, mit mir zu gehn. Ein Naturwissenschaftsstudent«, sagte der Mann. »Auch ihm habe ich gesagt, daß eine Erschütterung, ein Zwischenfall, der lange Zeit zurückliegt, die Ursache dafür ist, daß ich mich jeden Abend hier im Volksgarten aufhalte. In Frauenhalbschuhen. Reaktionsgleichheit«, sagte der Mann, und: »Übrigens habe ich da noch niemals einen Polizisten gesehen. Seit mehreren Tagen meidet die Polizei den Volksgarten und konzentriert sich auf den Stadtpark, und ich weiß, warum ...«

»Nun wäre es tatsächlich interessant«, sagte er, »zu wissen, ob in dem Augenblick, in welchem wir auf den Schweizertrakt zugehen, im Theater eine Komödie oder eine Tragödie gespielt wird ... Das ist das erste Mal, daß ich nicht weiß, was gespielt wird. Aber Sie dürfen es mir nicht sagen ... Nein, sagen Sie es nicht! Es müßte nicht schwer sein«, sagte er, »indem ich Sie studiere, mich ganz auf Sie konzentriere, mich ausschließlich nur mit Ihnen beschäftige, darauf zu kommen, ob in dem Theater augenblicklich eine Komödie oder eine Tragödie gespielt wird. Ja«, sagte er, »nach und nach würde mir das Studium Ihrer Person über alles, was in dem Theater vorgeht und über alles, was außerhalb des Theaters vorgeht, über alles in der Welt, das doch jederzeit vollkommen mit Ihnen zusammenhängt, Aufschluß geben. Schließlich könnte einmal tatsächlich der Zeitpunkt eintreten, in welchem ich dadurch, daß ich Sie auf das intensivste studiere, alles über Sie weiß ...«

Als wir vor der Mauer des Schweizertraktes angekommen waren, sagte er: »Hier, an dieser Stelle, hat sich der junge Mann, den ich vor achtundvierzig Tagen getroffen habe, von mir verabschiedet. Auf welche Weise wollen Sie wissen? Vorsicht! Ah!«, sagte er, »Sie verabschieden sich also nicht? Sie sagen nicht Gute Nacht? Ja«, sagte er, »dann gehen wir vom Schweizertrakt wieder zurück, dorthin, von wo wir gekommen sind. Wo sind wir denn hergekommen? Achja, von der Meierei. Das Merkwürdige an den Menschen ist, daß sie sich selber andauernd mit anderen Menschen verwechseln. Also«, sagte er, »Sie haben die heutige Vorstellung besuchen wollen. Obwohl Sie, wie Sie sagen, das Theater hassen. Das Theater hassen? Ich liebe es ...« Jetzt fiel mir auf, daß der Mann auch einen Frauenhut auf dem Kopf hatte, die ganze Zeit hatte ich das nicht bemerkt.

Auch der Mantel, den er anhatte, war ein Frauenmantel, ein Frauenwintermantel.

Er hat tatsächlich lauter Frauenkleider an, dachte ich.

»Im Sommer«, sagte er, »gehe ich nicht in den Volksgarten, da wird auch kein Theater gespielt, aber immer, wenn im Theater gespielt wird, gehe ich in den Volksgarten, dann, wenn Theater gespielt wird, geht außer mir niemand mehr in den Volksgarten, weil der Volksgarten dann viel zu kalt ist. Vereinzelt kommen junge Männer in den Volksgarten herein, die ich, wie Sie wissen, sofort anspreche und auffordere, mitzugehn, einmal vor das Parlament, einmal vor den Schweizertrakt ... und vom Schweizertrakt und von der Meierei immer wieder zurück ... Aber kein Mensch ist bis jetzt mit mir, und das fällt mir auf«, sagte er, »zweimal bis vor das Parlament gegangen und zweimal bis zum Schweizertrakt und also viermal zur Meierei zurück. Jetzt sind wir zweimal zum Parlament und zweimal zum Schweizertrakt und wieder zurück gegangen«, sagte er, »das genügt. Wenn Sie wollen«, sagte er, »begleiten Sie mich ein Stück nach Hause. Noch nie hat mich auch nur ein einziger Mensch von hier ein Stück nach Hause begleitet.«

Er logiere im Zwanzigsten Bezirk.

Er hause in der Wohnung seiner Eltern, die vor sechs Wochen (»Selbstmord, junger Mann, Selbstmord!«) gestorben seien.

»Wir müssen über den Donaukanal«, sagte er.

Mich interessierte der Mensch, und ich hatte Lust, ihn solange wie möglich zu begleiten.

»Am Donaukanal müssen Sie zurückgehen«, sagte er, »Sie dürfen mich nicht weiter als bis zum Donaukanal begleiten. Fragen Sie, bis wir beim Donaukanal angekommen sind, nicht warum!«

Hinter der Rossauerkaserne, hundert Meter vor der Brücke, die in den Zwanzigsten Bezirk hinüber führt, sagte der Mann plötzlich, stehengeblieben, in das Kanalwasser hineinschauend: »Da, an dieser Stelle.«

Er drehte sich nach mir um und wiederholte: »An dieser Stelle.«

Und er sagte: »Ich stieß sie blitzschnell hinein. Die Kleider, die ich anhabe, sind ihre Kleider.«

Dann gab er mir ein Zeichen, das hieß: verschwinde!

Er wollte allein sein.

»Gehen Sie!« kommandierte er.

Ich ging nicht sofort.

Ich ließ ihn aussprechen: »Vor zweiundzwanzig Jahren und acht Monaten«, sagte er.

»Und wenn Sie glauben, daß es in den Strafanstalten ein Vergnügen ist, so irren Sie sich! Die ganze Welt ist eine einzige Jurisprudenz. Die ganze Welt ist ein Zuchthaus. Und heute abend, das sage ich Ihnen, wird in dem Theater da drüben, ob Sie es glauben oder nicht, eine Komödie gespielt. Tatsächlich eine Komödie.«