12

Auf den diplomatischen Cocktailparties hatte inzwischen der Fall Baker alle andern Unterhaltungsthemen - das Wetter, das Ballett, die Schwierigkeiten, Hausangestellte zu finden, die kommende Ernte, die Knappheit von Mähdreschern, den Fünf jahresplan, die Entwicklungen im Mittleren Osten und die Situation in Polen - verdrängt.

Er faszinierte alle. Die Damen waren mehr von der menschlichen Seite angetan und versetzten sich genußvoll in die hoffnungslose Lage der armen alten Dame, die, der Landessprache nicht mächtig, irgendwo in einem russischen Dorf gestrandet war oder in einem russischen Gefängnis schmachtete. Oder sie wunderten sich über den Spleen einer Frau, die mit siebzig noch ein neues Leben in der kommunistischen Welt beginnen wollte.

Ihre Männer beschäftigten sich dagegen mehr mit den politischen Aspekten des Falles und versuchten, seine Bedeutung, die Reaktionen auf Miss Bakers Verschwinden und die Hintergründe der ganzen Affäre zu durchleuchten. Sämtliche Interpretationen waren äußerst subtil, kenntnisreich und natürlich völlig falsch. Und sie wurden alle nach London telegrafiert und erschienen auf den ersten Seiten sämtlicher Zeitungen. Die Blätter, die nicht ständig in Moskau vertreten waren, schickten Sonderkorrespondenten, die über die Meinungen der «informierten Kreise» berichten sollten.

Da keine Möglichkeit bestand, sensationelle neue Entwicklungen zu melden (die Britische Botschaft wie das sowjetische Außenministerium weigerten sich standhaft, einen offiziellen Kommentar zu geben, und Miss Baker, die friedlich nähend auf Jackies sonnigem Balkon saß, wurde dazu nicht aufgefordert), überschlugen sich die Journalisten fast beim Erfinden einleuchtender Hypothesen, die Miss Bakers Verschwinden erklären sollten.

Jeden Abend wurden ganze Bündel von Telegrammen nach London geschickt, die über die neuesten Spekulationen berichteten, und jeden Morgen prangten die widersprüchlichsten Schlagzeilen in den Londoner Zeitungen. «Miss Baker - eine britische Spionin?» (populäres Boulevardblatt) - «Miss Baker - eine Kommunistin?» (seriöses konservatives Blatt).

Der Daily Worker ließ sogar Zweifel laut werden, ob es sich bei Miss Baker überhaupt um eine Frau handele. Sie könne ohne weiteres ein prominenter Agent der Abwehr sein, der sich, als siebzigjährige Oma verkleidet, nach Rußland eingeschleust habe.

Die Zeitungskampagne hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Delegation der Antifaschistischen Friedensliga nach einer ereignislosen Tour durch die Satellitenstaaten wieder in England eintraf.

Seit Tagen hatten sich die Journalisten redlich abgemüht, hatten die trivialsten Meldungen aus zweiter Hand gierig aufgegriffen und sie mit Erfindungsgabe und mit Hilfe von riesigen Zwischentiteln zu drei- und vierspaltigen Artikeln ausgewalzt. Nun gab ihnen die Ankunft der Delegation die einmalige Gelegenheit, Konkretes über Miss Bakers Aussehen, ihren Charakter und ihr Benehmen zu erfahren.

Die Delegation wurde am Londoner Flughafen sofort von Reportern umringt. Da keines Ihrer Mitglieder während der letzten Wochen eine englische Zeitung in die Hand bekommen hatte, traf dieser Überfall alle völlig unvorbereitet.

Sir William Finch war zunächst verblüfft, dann aber hocherfreut, als er sich so im Mittelpunkt des Interesses fand. Aber sein Entzücken verwandelte sich sehr schnell in Enttäuschung, als ihm klar wurde, daß Miss Baker, die er inzwischen fast vergessen hatte, die Delegation immer noch wie ein Gespenst verfolgte.

«Das ist sehr unangenehm, wirklich sehr unangenehm», konnte er einfügen, als den Reportern bei ihren Fragen einen Augenblick der Atem ausging. «Es tut mir sehr leid zu hören, daß die arme alte Dame ver-; schwunden ist. Natürlich erinnere ich mich vage an sie. Aber ich muß darauf hinweisen, daß sie niemals ein Mitglied unserer Delegation war und bei unserer eminent wichtigen Mission überhaupt keine Rolle gespielt hat. Sie drängte sich uns in Wilna auf skrupellose Weise auf und-»;

Der Rest ging in einem empörten Aufschrei unter. Um Miss Baker hatten sich inzwischen zwei starke Parteien gebildet. Sie war fast zur Legende geworden, und Sir Williams Gleichgültigkeit befriedigte keine der beiden Parteien. Die Presse war bereit, in ihr eine Schurkin oder eine Heldin zu sehen; sie war aber nicht bereit, Miss Baker als eine farblose und uninteressante Persönlichkeit zu akzeptieren.

«Sie hat doch aber bei Ihrem Abschiedsessen in Moskau gesprochen -oder? »

«Laut Prawda hat sie Ihre Delegation praktisch an der Nase herumgeführt.»

«Sie müssen sie doch wenigstens gesehen haben. Wie sah sie aus?»

Mit Recht empört darüber, daß man sie der Möglichkeit, endlich Tatsachen über die mysteriöse Miss Baker zu erfahren, berauben wollte, hielt die Presse mit ihrem Mißfallen nicht hinterm Berg. Sir William räumte verwirrt das Feld. Statt seiner ergriff Patricia Cartwright ruhig und freundlich das Wort.

«Was Sir William eben gesagt hat, ist völlig richtig: Miss Baker war nie ein Mitglied unserer Delegation», sagte sie, und ihre ruhige Stimme brachte den Lärm sofort zum Schweigen.

«Einige von uns jedoch haben die kurze Bekanntschaft mit ihr sehr genossen und sie als sehr anregend empfunden. Abgesehen davon wissen wir sehr wenig über sie. Sie bezeichnete sich selbst als gewöhnliche Touristin, und ich habe keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Es sei denn, daß man Miss Baker wohl kaum als (gewöhnlich) bezeichnen kann. Sie ist dieses undefinierbare, oft irritierende, aber immer interessante Phänomen, das in England so gut gedeiht - eine Type.»

Das war es, was die Presse wollte. Alles scharte sich um Patricia Cartwright. Wenn sie jetzt eine lange politische Rede gehalten hätte, wäre jedes ihrer Worte mitgeschrieben worden. Aber mit ihrem Flair für den richtigen Augenblick lehnte sie jeden weiteren Kommentar ab, und den Reportern blieb nichts anderes übrig, als sich an die unwichtigeren Mitglieder der Delegation zu halten.

Mrs. Hoskins sagte großzügig, daß Miss Baker « sehr energisch und für eine Frau ihres Alters äußerst bemerkenswert» gewesen sei; Emlyn Richards und Horace Cleghorn steuerten bei, daß Miss Baker grauhaarig war und meist einen Regenschirm bei sich hatte; James Bailey sagte, sie sei die Vertreterin eines aussterbenden Typs - der unerschrockenen, freimütigen englischen alten Jungfer; und Dr. Clarke fügte dem Porträt, das sich die Öffentlichkeit von Miss Baker zu machen begann, den abschließenden Pinselstrich hinzu, indem er sagte, er erinnere sich am deutlichsten, wie sie ihm Tee aus einer Thermosflasche einschenkte, die zu füllen - dessen sei er sicher - ihr selbst in der Wüste Sahara gelingen würde.

Über Nacht wurde Miss Baker mit ihrer Thermosflasche für eine Million englischer Haushalte eine genauso denkwürdige Gestalt wie Florence Nightingale mit ihrer Lampe. Ihre Rede wurde in allen Einzelheiten wiedergegeben und ausgeschmückt, der erfolglose Versuch ihres Großneffen, sie nach Hause zu holen, und ihr seltsames Verschwinden wurden in dramatischer Bildhaftigkeit geschildert. Langsam nahm Miss Baker in der öffentlichen Meinung Gestalt an - tapfer, würdevoll, unverwechselbar englisch.

Die Öffentlichkeit hatte Miss Baker und ihre Thermosflasche ins Herz geschlossen. Sie war das Symbol eines rapide zusammenschrumpfenden Weltreichs, Symbol des Muts, der Loyalität und stoischer Ausdauer. Man schrieb bitterböse Leserbriefe an die Zeitungen, die sie kritisiert hatten; man beschwor die Abgeordneten des Parlaments, etwas zu tun, und bombardierte das Auswärtige Amt mit Gesuchen, sie aus den Händen der Kommunisten zu befreien.

Sir John Plummer ließ die Arbeit an dem Fischerei-Abkommen mit Lappland liegen und eilte zu aufgeregten Konferenzen mit einer Reihe von Staatssekretären. Kabinettsminister wurden zu Rate gezogen, Beschlüsse wurden gefaßt und genaue Anweisungen, die jede nur denkbare Möglichkeit berücksichtigten, an die Britische Botschaft telegrafiert.

Unter diesem fortwährenden Druck war der Botschafter gezwungen, fast täglich beim sowjetischen Außenministerium zu protestieren, den Chef der Abteilung West-Europa mehrmals und völlig erfolglos zu besuchen und den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, mit Mitgliedern des Politbüros ins Gespräch zu kommen.

Diese Art sinnloser und dauernder Geschäftigkeit war Sir Reginald höchst zuwider. Er war ein Diplomat der alten Schule, gewohnt, über seine Botschaft selbst zu bestimmen und nicht fortwährend mit Anweisungen belästigt zu werden. Seine unersetzliche Sekretärin, Jacqueline Marsh, war immer noch im Urlaub, und so mußte er seine vertraulichen Telegramme einer verängstigten Stenotypistin diktieren, deren Orthographie erschreckend war und deren Versuche, ihm den ständig anwachsenden Besucherstrom fernzuhalten, von vornherein scheiterten.

Aber Sir Reginald behielt seinen Sinn für die richtigen Proportionen, und seine Telegramme an das Auswärtige Amt waren Meisterstücke der Vernunft. Die Öffentlichkeit in England jedoch war vom Baker-Fieber befallen, und Sir Reginalds fast lakonische Darstellungen der Lage fanden nicht das rechte Echo.

Wer der Meinung gewesen war, die Baker-Affäre werde im Sande verlaufen, sah sich getäuscht. Die Schlagzeilen und Telegramme wurden von Tag zu Tag hysterischer, und ohne auch nur im geringsten an Rasanz zu verlieren, trat der Fall Baker in seine zweite Woche als Thema von nationalem Interesse ein.