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«Wir müssen dafür sorgen, daß Miss Baker keine Gelegenheit bekommt, eine Rede zu halten», sagte Sir William grimmig, dem es unvorstellbar war, daß es jemand geben konnte, der die Gelegenheit, eine Rede zu halten, nicht mit beiden Händen ergriff und bis zum Letzten ausnutzte. «Wenn sie bei irgendeinem offiziellen Essen das wiederholt, was sie so ungeniert in aller Öffentlichkeit bei den Besichtigungen sagt, kann das für unsere Delegation sehr schädlich sein.»

Eine Zeitlang beobachtete Sir William sie mißtrauisch bei jedem der ausgiebigen Mittag- und Abendessen, die untrennbar zum Programm der Delegation gehörten. Aber da Miss Baker diesen Zeremonien entweder ganz fernblieb - indem sie Müdigkeit vorschützte - oder in trancegleicher Geistesabwesenheit dabeisaß, legte sich am Ende der zwei Wochen sein Mißtrauen allmählich. Er verstieg sich sogar so weit, ein joviales Wort einzulegen, als Nina und Boris Miss Baker zu überreden versuchten, am offiziellen Abschiedsessen teilzunehmen.

«Sie müssen unbedingt heute abend kommen», drängte er sie in der freudigen Gewißheit, daß es das letztemal sein werde. «Unsere Gastgeber würden es sehr übel vermerken, wenn einer aus unserer Gruppe fehlte.»

«Es werden sicherlich Reden gehalten», sagte Miss Baker ohne Begeisterung. Ihr war inzwischen aufgegangen, daß sie ihr winziges Kapital Zusammenhalten mußte, wenn sie noch länger in Moskau bleiben wollte. Die wenigen Mahlzeiten, die sie allein im Restaurant gegessen und selbst bezahlt hatte, waren so teuer gekommen, daß ein letztes freies Abendessen nicht zu verachten war.

«Ich selbst werde ein paar Worte sagen», erwiderte Sir William selbstgefällig. «Es wird nicht notwendig sein, daß sich die anderen Mitglieder der Delegation über die Verabschiedung von unsern lieben russischen Freunden Gedanken machen.»

Aber wie üblich schlug die ungeratene Delegation Sir Williams zarte Andeutungen in den Wind. Er hatte Reden von Horace Cleghorn (Theorie des Kommunismus) erwartet, von Emlyn Richards (Zustände in den Bergwerken) und von Mrs. Hoskins (die Genossenschaftlichen Bewegungen), war aber durchaus nicht darauf vorbereitet, daß James Bailey, der sich sonst damit die Zeit vertrieb, Karikaturen der Redner zu zeichnen, während des Fischgangs aufstand und eine amüsante und äußerst kurze kleine Dankansprache hielt.

Mrs. Cartwright erntete starken Applaus, als sie ihren Dank auf russisch anbrachte - einige Sätze, die sie am Nachmittag von Nina gelernt hatte -, und ärgerte damit Sir William gewaltig, weil er auf diesen einfachen Trick nicht selbst verfallen war.

Obgleich er bereits alles gesagt hatte, was je zu sagen war, fühlte er sich bemüßigt, das alles noch einmal zu wiederholen.

«Ganz unser Willie», murmelte Dr. Clark sarkastisch. «Der große Klischeeverbraucher. Walz sie nur breit und wate drin herum. Wir schlafen sowieso.»

Boris, der neben ihm saß und in größter Eile mehrere Gänge auf einmal hinunterzuschlingen versuchte, während Nina dolmetschte, konnte zwar nicht ganz folgen, glaubte aber zu verstehen, daß diese Bemerkung nicht unbedingt freundlich gemeint war. Als er einen Augenblick später sah, wie Dr. Clark eine Seite aus seinem Notizbuch riß und etwas daraufkritzelte, vermutete er, daß sein Nachbar ein politisches Fehlurteil in der Rede des Anführers entdeckt hatte und jetzt die Opposition auf den Plan rufen wollte.

Er beobachtete, wie der gefaltete Zettel an Mrs. Cartwright weitergereicht wurde, die ihn, nachdem sie lächelnd etwas dazugeschrieben hatte, an Miss Baker weitergab.

Als Sir William nach zehn Minuten schließlich widerstrebend zum Ende gekommen war, schob Horace Cleghorn seine Manuskriptzettel säuberlich zusammen und erhob sich zu seiner Rede. Diesmal schien er das kommunistische Dogma mit noch größerer Gründlichkeit vor ihnen ausbreiten zu wollen als sonst.

Da Horace Cleghorns Reden bisher meist das russisch-britische Rededuell beschlossen hatten, begann alles, schneller zu essen. Der abschließende Kaffee und das allgemeine Händeschütteln schienen nicht mehr fern.

Aber der spärliche Beifall war kaum verklungen, als Miss Baker ihren Stuhl zurückschob und sich erhob. Zwei Wochen lang hatte sie sich jetzt Reden angehört, die entweder völlig unverständlich oder so voller Phrasen waren, daß sie praktisch sinnlos wurden. Durch Dr. Cleghorns Schlußadresse aus ihrer Trance geweckt, hatte sie sehr plötzlich den Entschluß gefaßt, daß endlich eine vernünftige Rede angebracht sei.

Die russischen Zuhörer, neugierig zu hören, was die bemerkenswerte alte Dame zu sagen hatte, begrüßten diese Entwicklung mit respektvollem Schweigen. Sir William aber, von Miss Bakers Absicht völlig überrumpelt, hatte keine Zeit mehr aufzuspringen und die zu erwartenden eindeutigen Worte durch eigene Gemeinplätze zu ersetzen.

«Ich bin weder das jüngste Mitglied dieser Delegation, noch habe ich mich je mit Theorie und Philosophie des Kommunismus beschäftigt. Im Gegensatz zu einigen Mitgliedern dieser Delegation bin ich nicht einmal geübt im Halten von Reden. Aber als alte Frau würde ich den sowjetischen Männern gern einen kleinen Rat geben.

Ich habe viel von der Welt gesehen, und seit ich in Moskau bin, überlege ich mir dauernd, was hier eigentlich von dem fehlt, das mein langes Leben so vielfältig, so interessant und mir so wertvoll gemacht hat. Wir haben viel von Moskau gesehen - Schulen, Fabriken, Kolchosen, Arbeiterklubs, Krankenhäuser -, genug, um zu wissen, daß Rußland alles Wesentliche hat, das man zum Leben braucht. Aber ich finde es schade, daß Sie das Unwesentliche so vernachlässigen. Frauen hängen, vielleicht mehr als Männer, am Unwesentlichen im Leben. Das hilft ihnen, weiblich zu sein.

Überall, wo wir waren, lag der Hauptakzent immer auf der Arbeit. Nina hat mir erzählt, daß in der Sowjetunion jede Arbeit herrlich ist. Aber das, was man in der Freizeit tut, kann genauso wichtig sein - wenn schon nicht für den Staat, dann doch für einen selbst. Das bildet Charakter und Individualität und macht glücklich. Es ist ja sehr schön, Fünfjah- ] respläne zu haben und Preise für hartes Arbeiten zu vergeben; es ist ja sehr schön, die Frauen dafür zu loben, daß sie schwere Lasten tragen und so hart wie die Männer arbeiten, wenn nicht härter. Aber die Frauen sollten auch dafür gelobt werden, daß sie einfach Frauen sind. Daß sie nichts tun, hübsch aussehen und das Leben erfreulich machen.

Wenn Sie weiterhin die Frauen nur deshalb loben, weil sie hart arbeiten, dann werden sie unlustig und fanatisch. Und das wird sehr langweilig werden - für Sie wie für die Frauen. Deshalb möchte ich den russischen Männern folgendes sagen: Schenken Sie Ihren Frauen hübsche Kleider, Modejournale, Blumensträuße und Süßigkeiten - Luxus statt Wesentlichkeiten - und Sie werden sehen, daß alles andere, was Sie brauchen, von allein kommt: guter Geschmack, Lebensfreude, Heiterkeit, Ausgelassenheit und Lachen.»

Miss Baker setzte sich ziemlich unvermittelt hin, und eine Sekunde lang herrschte betäubtes Schweigen. Dann aber brach ein Sturm der Begeisterung los. Alle klatschten wie wild, bis die Hände taub waren, weniger wegen ihres weisen Ratschlages als wegen ihres unerschütterlichen Muts und ihres Elans.

«Es war großartig», gratulierte der Vertreter des Stadt-Sowjets und schüttelte Miss Bakers Hand ausgiebig. «Unlogisch, aber großartig. Ich werde meiner Frau heute abend eine Schachtel Pralinen mitbringen.»

«Bekanntlich werden Kritik und Selbstkritik in der Sowjetunion sehr ermutigt», sagte der Präsident der Antifaschistischen Liga. «Ihr konsumgesellschaftlicher Ansatz ist zwar für die Sowjetunion verfrüht, aber Ihre; Rede wird mir immer als ein Höhepunkt des Besuches Ihrer Delegation in Erinnerung bleiben.»

Da diesmal nach dem Abschluß des Essens keinerlei Neigung zum allgemeinen Aufbruch bestand, blieb es einem frustrierten und über Miss Bakers plötzlichen Glanz verärgerten Sir William überlassen, seine Delegation in Richtung auf die Tür in Marsch zu setzen. Er war tief getroffen,; daß seine taktvollen Ansprachen und einschmeichelnden Worte nur auf höfliche Zurückhaltung gestoßen waren, während Miss Bakers unverblümte Kritik an der Sowjetunion so warmen Beifall geerntet hatte.

«Wir müssen morgen früh zeitig aufstehen, damit wir das Flugzeug nach Prag erreichen», sagte er in beleidigtem Ton. «Doswidanja, doswidanja.» (Dies in dem Versuch, etwas von Mrs. Cartwrights Erfolg mit ihren russischen Sätzen für sich in Anspruch zu nehmen.)

Boris blieb zurück und ging, sobald er sich verabschiedet hatte, wieder in den Eßsaal. Er steuerte direkt auf Miss Bakers Stuhl zu und stöberte auf dem Boden unter dem Tisch, wie er erwartet hatte, den zerknüllten Zettel auf. Von ihm erhoffte er sich Aufklärung über Miss Bakers so brillant abgefaßte Offensive, deren Erfolg gegen reine Zufälligkeit sprach. Zweifellos enthielt der Zettel den detaillierten Plan, wie Sir Williams sorgsam gewählte Lobesworte und die höflich-neutrale Haltung der Delegation untergraben werden sollten. Ein paar Minuten lang studierte Boris den Zettel mit großem Ernst, dann trug er ihn triumphierend zu Nina.

«Die Briten sind unverbesserlich unvorsichtig», sagte er. «Ich habe eine ihrer Mitteilungen abgefangen.»

Nina las den Zettel verdutzt.

Es war ein kurzes Briefchen in Dr. Clarks Handschrift: «James und ich wissen, wo wir nach dem Theater hier einen e-c-h-t-e-n Whisky- und Soda bekommen können. Mrs. Cartwright kommt auch mit. Wenn Sie Lust haben, mit von der Partie zu sein, dann warten wir auf Sie in der Halle.»

«Ja», sagte Nina, die versuchte, mit Boris’ Begeisterung Schritt zu halten. «Alle vier sind gerade in einem Taxi weggefahren.»

«Weißt du die Nummer von dem Taxi? Hast du gehört, wo sie hin wollten?»

«Nein. Dr. Clark hat dem Chauffeur einen Zettel mit einer russischen Adresse gezeigt. Er schien zu verstehen, und alle stiegen ein. Aber warum interessiert dich das so?»

«Diese Mitteilung», sagte Boris streng, «ist offensichtlich chiffriert. Miss Baker ist sehr durchtrieben. Aber wir werden schon alles zur Zeit entziffern.»

Völlig ahnungslos, daß Dr. Clark ihnen eine chiffrierte Nachricht hatte zukommen lassen, saßen Mrs. Cartwright und Miss Baker zusammen mit ihm auf dem Rücksitz eines klapprigen Taxis und fragten neugierig, wo in dieser kalten, mondbeglänzten Wüste, zu der Moskau bei Nacht geworden war, ein Whisky-und-Soda zu bekommen wäre.

«Wir gehen zu einer Geburtstagsfeier», verkündete James Bailey vom Vordersitz neben dem Fahrer.

«Angefangen hat es damit, daß Sir William James und mich heute nachmittag zu seinem Besuch beim Botschafter mit in die Botschaft geschleift hat», erklärte Dr. Clark. «Er dachte, es wirke imponierender, wenn er eine Leibwache dabei hat.»

«Und dann ließ er uns in der Halle zurück und ging allein zum Botschafter. Wir lasen sämtliche Mitteilungen am Schwarzen Brett und

wurden immer durstiger und durstiger. Als dann auch noch ein Butler ein Tablett mit Whisky und zwei Gläsern in das Zimmer des Botschafters trug, bekamen wir wirklich zu viel», fuhr James Bailey fort. «Denken Sie an all den Wodka, den wir in den letzten vierzehn Tagen trinken mußten, und nirgends auch nur ein winziges Tröpfchen Whisky.

Wir überlegten uns gerade, ob wir den Butler überfallen sollten, da kam die Botschaftssekretärin in die Halle. Sie ist ein reizendes Mädchen und verstand sofort. Sie nahm uns mit in ihr Zimmer und gab uns Gin in Teetassen. Sie hatte keinen Whisky im Büro, aber sie sagte, wenn wir wirklich so verzweifelt seien, dann dürften wir heute abend in ihre Wohnung kommen und eine Flasche bei ihr abholen. Na, ein Wort gab das andere, und sie gestand schließlich, daß sie Geburtstag hat, und wir sollten zu ihrer Party kommen, wenn wir nach dem Bankett noch Lust hätten. Sie schrieb uns ihre Adresse in Russisch auf -»

«- und da sind wir», fiel Dr. Clark ein, während das Taxi durch einen engen Torbogen in einen asphaltierten Hof fuhr. Ein Milizsoldat streckte seinen Kopf aus einem Wachhäuschen und grüßte, als sie aus dem Taxi kletterten. Sie fanden sich auf einem Hof wieder, der auf drei Seiten von; Zementmauern umgeben und an der vierten von einem hohen Wohnblock begrenzt war.

«Jetzt müssen wir nur noch ihre Wohnung finden», sagte Dr. Clark.

Sie blieben nicht lange im Ungewissen. Als sie durch die schweren Doppeltüren das Haus betraten, klang laute Musik aus dem vierten Stock herab. Eine Menge junger Leute hatten einander um die Taille gefaßt und tanzten eine Art Conga die Treppe herab. Die Mädchen waren erhitzt und ihre Röcke wirbelten, als sie, sich an ihren Tänzern festhaltend, die Treppe herabhüpften.

Nach zwei Wochen der ernsthaften Atmosphäre in der Sowjetunion, schienen sie alle strahlende, bezaubernde Wesen aus einer anderen Welt zu sein. Dabei waren einige von ihnen nicht einmal hübsch und ihre Kleider nicht besonders elegant, aber alle waren sie jung, übermütig und sprühten vor Lebenslust.

Für einen Augenblick standen die vier Mitglieder der Delegation unbemerkt da; dann löste sich ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen in einem roten Kleid aus der Conga-Reihe und rannte auf sie zu.

«Wie schön, daß Sie kommen konnten. Im Augenblick ist es ein bißchen laut, aber ich fahre mit Ihnen rauf und gebe Ihnen Geburtstagskuchen, solange die andern noch auf der Treppe sind.»

«Das ist Miss Jacqueline Marsh», stellte Dr. Clark vor, während der Fahrstuhl durch die Spirale der lachenden Tänzer schwebte, die ihnen nachschrien, den «Halt»-Knopf drückten und versuchten, sie wieder herunterzuholen. Da Jacqueline aber ihren Daumen ständig auf den Knopf preßte, brachte sie ihre Gäste schließlich unbeschadet zum vierten Stock hinauf.

«Ihre Nachbarn scheinen nichts dagegen zu haben?» fragte Mrs. Cartwright.

«Oh, die Nachbarn werden immer mit eingeladen», sagte Jacqueline Marsh. Sie schien sich keine Gedanken darüber zu machen, daß ihre neuen Gäste eine gute Generation älter waren als die übrige Gesellschaft und begegnete ihnen mit derselben kameradschaftlichen Gastfreundlichkeit. «In diesem Haus wohnen nur Leute von den ausländischen Botschaften, und die wissen, daß meine Wohnung zu klein zum Tanzen ist.»

Die Wohnung war in der Tat winzig, und die vielen jungen Leute, die überall auf Kissen am Boden hockten, machten sie noch winziger. Jacqueline räumte brutal zwei Sessel und eine Sitzbank, setzte ihre Gäste hinein und versorgte sie mit Kuchen, Whisky und Krimsekt.

Sie war ein anmutiges, lebhaftes Mädchen, voll sprudelnder Energie, die impulsive Entschlüsse faßte und sie fast gleichzeitig ausführte und jeden mit nicht unangenehmer Autorität zu organisieren verstand.

«Jackie, die Party fällt auseinander», rief jemand durchs Zimmer. «Laß uns doch alle zusammen Schatzsuche spielen oder einen schottischen Reel tanzen oder so was.»

«Wir machen ein Tanzspiel», verkündete Jackie. «Du, Stan, bedienst den Plattenspieler, und ich bin der Schiedsrichter. Alle mal zuhören. Seht ihr die Lufballons, die ich oben an der Decke festgemacht habe? Überall in der Wohnung sind welche. Wenn die Musik aufhört, muß jeder Herr seine Dame hochheben, damit sie einen herunterholen kann. Sie sind alle nur lose festgemacht. Ihr habt zehn Sekunden Zeit, dann klingle ich mit einer Glocke und sammle die Ballons ein. Jedes Paar, das beim Läuten keinen Ballon hat, muß ausscheiden. Alles verstanden? Gut, dann los.»

Die Conga-Reihe kam gerade durch die Wohnungstür gestampft, und bald schaukelten überall in der Diele, in der Küche, im Schlafzimmer und in dem winzigen Wohnzimmer junge Paare im Takt auf und ab. Tanzen konnte man es kaum nennen, denn sie standen so dichtgedrängt, daß sie sich kaum bewegen konnten.

Mrs. Cartwright wurde überredet, es mit Dr. Clark zu versuchen, und Miss Baker, die sich unerwartet wach fühlte, bestand darauf, daß sie und James Bailey das Ballonspiel genauso geschickt spielen könnten wie die jungen Leute.

Immer, wenn die Musik aufhörte, gab es ein wildes Gedränge beim Hochheben der Partnerinnen, bis ein Ballon triumphierend losgebunden worden war. Aufgeregtes Kreischen, Schreien und Lachen erfüllte die Wohnung. Arme und Beine fuchtelten in der Luft herum. Paare kollidierten, kämpften um denselben Ballon, verloren das Gleichgewicht und fanden sich ineinander verschlungen auf dem Fußboden wieder. Würde, Laufmaschen, zerstörte Frisuren waren vergessen in der besessenen Jagd um die Ballons. Jackie bahnte sich irgendwie ihren Weg durch dieses Tohuwabohu, sammelte Ballons ein und schied Paare aus.

Allmählich wurde es leerer, nur noch die gerissensten Tänzer lagen im Rennen, als ein Blitzlicht den Raum kurz in Silber tauchte und eine fröhliche Baßstimme von der Tür her dröhnte:

«Vorsicht. Alles gerade hinsetzen. Die Presse ist wieder da.»

Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von dieser Warnung, außer Jackie, die davoneilte, um ihrem neuen Gast etwas zu trinken zu bringen.

Aber Mrs. Cartwright, die sich mit der Sorglosigkeit eines Teenagers ins Vergnügen gestürzt hatte, rutschte schnell von Dr. Clarks Schulter, strich ihren Rock glatt und zupfte nervös an seinem Ärmel.

«Ich glaube, wir setzen uns lieber», warnte sie. «Wenn das wirklich ein Reporter ist - ich kann mir solche unwürdigen Bilder nicht leisten. Es wäre politischer Selbstmord, wenn so etwas in meinem Wahlkreis bekannt würde.»

«Politischer Selbstmord» war ein Ausdruck, den Mrs. Cartwright öfter benutzte. Dr. Clark fand es schade, daß ihre Mitgliedschaft im Parlament? sie daran hinderte, harmlose Spiele mitzumachen. Aber er war gewillt, das ihrem Urteil zu überlassen.

Der Reporter tauchte wieder in der Tür auf, seine Kamera unterm Arm, das Blitzgerät in der einen Hand, einen Whisky in der andern.

«Das ist nur Stewart», sagte Jackie, als Dr. Clark sich fragend an sie wandte. «Er ist Moskauer Korrespondent des Daily Guardian, und das macht er immer, wenn er auf eine Party kommt. So stellt er sich einen spektakulären Auftritt vor.»

«Aber Mrs. Cartwright ist etwas beunruhigt über diese Aufnahme. Sie wissen ja, sie saß auf meiner Schulter, und -»

«Das machen wir schon», sagte Jackie beruhigend und rief durchs Zimmer: «Stewart, was war auf der Aufnahme, die du eben gemacht hast?»

«Nur eine rüstige alte Dame von etwa siebzig, die mit einem bärtigen Knaben Polka tanzt, der seinerseits versucht, Rumba zu tanzen», beschwerte sich der Reporter und kam auf sie zu. «Jedenfalls glaube ich, daß J das alles war. Wer ist sie?»

«Miss Baker. Das ist Stewart Ferguson vom Daily Guardian, und Stewart, das ist Dr. Clark...»

«...und Patricia Cartwright, M. P.», fuhr Ferguson fort. Er verneigte sich übertrieben, und seine Augen zwinkerten fröhlich. «Ich war am Flugplatz beim Empfang Ihrer Delegation - aber in dem Gedränge können Sie mich kaum bemerkt haben.»

«Nein», sagte Mrs. Cartwright mißtrauisch. «Ich glaube nicht.»

«Tja, jetzt fange ich an zu verstehen.» Er fing einen nervösen Blick zwischen Mrs. Cartwright und Dr. Clark auf. «Das wirft natürlich ein ganz anderes Licht auf die Sache. Es könnte sehr gut sein, daß doch mehr ¡ auf der Blitzlichtaufnahme drauf ist, als ich dachte. Wahrscheinlich kann ich die eine Ecke vergrößern, die ein Parlamentsmitglied zeigt, das mit hochgerutschtem Rock auf der Schulter seines Partners sitzt und ein Paar hübsche Beine sehen läßt. Das macht sich wunderbar auf der ersten Seite, zusammen mit einer netten Schlagzeile: <Mitternacht in Moskau und die Abgeordnete> oder <Wofür wir Steuern zahlen>.»

«Es hat nichts mit Steuern zu tun», sagte Mrs. Cartwright kurz angebunden. Sie fürchtete ernstlich, daß dieser Journalist Unheil stiften wollte. «Die Delegation ist auf Einladung der Antifaschistischen Liga hier, und alle Ausgaben werden von der Sowjetunion getragen.»

«Dann werde ich das Bild an die Prawda schicken und den Genossen mal zeigen, wie sich diese dekadenten Delegationen benehmen, sobald sie fünf Minuten aus den Augen gelassen werden.»

«Hör auf mit den Albernheiten, Stew», mischte sich Jackie ein. Sie konnte kaum glauben, daß Mrs. Cartwright diese unsinnige Unterhaltung ernst nahm. «Er nimmt Sie nur auf den Arm, Mrs. Cartwright. Du gibst mir sofort den Film, Stewart, oder ich lade dich nie wieder ein.»

«O nein. Ich bin ein skrupelloser Journalist und lasse mir meine Knüller nicht abhandeln.» Ferguson amüsierte sich über das Ganze und war in angeheiterter Stimmung. «Im Augenblick ist nichts los in Moskau, und ich habe seit Wochen keine gute Story gehabt. Ich sag Ihnen also, was ich tun werde. Sie geben mir einen wirklich farbigen Bericht von Ihrer Tour, und ich verspreche Ihnen, das Bild nicht zu bringen.»

«Unsere Tour ist nicht sehr farbig gewesen», begann Mrs. Cartwright unsicher.

«Und die alte Dame? Die sieht doch sehr farbig aus.»

«Miss Baker? Ja, die ist eine Type für sich, aber sie gehört eigentlich nicht zu unserer -»

«Erzählen Sie ihm nichts, Mrs. Cartwright. Er macht nur Blödsinn. Kommen Sie, tanzen Sie mit mir, Dr. Clark.»

Trotz Jackis Ermahnungen fühlte sich Mrs. Cartwright Stewart Fergusons Taktik nicht gewachsen. Er war ein sympathischer, sehr kontaktfreudiger junger Mann, und da er überzeugt war, daß Mrs. Cartwright eine Story für ihn hatte, setzte er sich neben sie, wurde überraschend nüchtern und begann, sie auszuholen.

«Ehrenwort», sagte er ernsthaft. «Kein Wort wird veröffentlicht, das Sie nicht vorher gesehen haben. Aber da ich es danach noch durch die sowjetische Zensur bringen muß, hoffe ich, daß Sie ein bißchen nachsichtig sind.»

«Aber unsere Delegation hat nichts Außergewöhnliches getan.»

«Was ist mit den Ansprachen bei Ihrem Bankett heute abend? Ich habe gehört, daß Patricia Cartwright manchmal sehr überraschende Reden hält.»

«Oh, Miss Baker hat uns alle völlig in den Schatten gestellt.»

«Die alte Dame? Das sieht ja vielversprechend aus...»

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Stewart Ferguson den größten Teil des Wortlauts von Miss Bakers Rede hatte und Mrs. Cartwright nach Einzelheiten über sie ausfragte.

«Aber ich weiß nichts über sie. Ich glaube, sie ist eine ganz gewöhnliche Touristin.» Als Mrs. Cartwright sie näher beschreiben sollte, merkte sie, daß sie in den vierzehn Tagen kaum etwas über sie erfahren hatte, außer einer Sammlung offenherziger Meinungen über alles und jedes.

«Es ist, glaube ich, besser, wenn Sie sich mit ihr selbst unterhalten. Sie müssen sie ja sowieso wegen der Rede um Erlaubnis bitten.»

Dabei gab es keinerlei Schwierigkeiten. Miss Baker, die sich in einer Ecke von einer Gruppe energischer junger Leute im Rumba unterrichten ließ, gestand, daß sie überhaupt nicht mehr wußte, was sie bei dem Bankett gesagt hatte.

«Aber da ich nie etwas sage, was ich nicht meine, habe ich nicht das geringste dagegen, wenn jemand es drucken will.»

Sie fügte beißend hinzu, daß die Rede aber wohl kaum eine gute Story abgeben werde, da ja keiner ihrer russischen Zuhörer auch nur im geringsten gewillt gewesen sei, ihren Rat anzunehmen.

«Nun ja, es ist nicht gerade welterschütternd, aber es ist immerhin das Beste, was ich seit Wyschinskis Begräbnis gehabt habe.»

Wie sich herausstellte, waren beide im Irrtum. In der Nachrichtenredaktion des Daily Guardian war es an diesem Abend ungewöhnlich ruhig. Den Gedanken, daß eine ältliche englische Jungfrau den Kommunisten nahelegte, fröhlich und frivol zu sein, fand der Chefredakteur ungeheuer komisch, und so erschien der Artikel über Miss Baker an auffälliger Stelle auf der ersten Seite.