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Miss Baker fand heraus, daß es relativ einfach war, ihr Visum zu verlängern. Sie hatte keineswegs die Absicht, persönlich beim sowjetischen Außenministerium vorzusprechen und sich dort langen und ermüdenden Unterhaltungen zu unterziehen.

An dem Morgen, an dem die Delegation abreiste, blieb sie einfach im Bett. Das Zimmermädchen, das das Zimmer aufräumen wollte, war überrascht, Miss Baker noch vorzufinden, und meldete die Angelegenheit dem Hotelverwalter. Innerhalb einer Stunde gelang es Miss Baker, durch einen Dolmetscher zu erklären, daß ihr Gesundheitszustand, ohnehin nie einer der kräftigsten, sich plötzlich verschlechtert habe und sie sich einer Flugreise zur Zeit nicht gewachsen fühle. Sie müsse - und das komme auch für sie äußerst ungelegen - ihre Abreise um einige Tage verschieben. In der Zwischenzeit wolle man doch so freundlich sein und dafür sorgen, daß in ihrem Paß die nötigen Eintragungen vorgenommen würden.

Miss Baker wurde völlig hilflos, als man ihr zu erklären versuchte, daß ihr Visum am selben Abend ablaufe. Sie schien offensichtlich nicht zu wissen, was ein Ausreisevisum war, und noch weniger sagten ihr Zimmervorbestellungen und geldliche Dinge etwas. Sie war eine sehr kranke alte Dame, die Ruhe, Freundlichkeit und Rücksichtnahme brauchte.

«Die Unterbringungsmöglichkeiten in diesem Hotel sind sehr begrenzt», erklärte der Dolmetscher vorsichtig. «Ihr Zimmer war bis heute morgen zusammen mit den anderen der Delegation gebucht, und bis heute sind auch alle Rechnungen beglichen. Vielleicht wäre es das beste, wenn wir Ihre Botschaft verständigten und dafür sorgten, daß Sie in ein Krankenhaus kommen? »

Miss Baker sagte mit schwacher Stimme, daß sie das nicht für nötig halte. Sie habe glücklicherweise «diese Reisegutscheine», die zu kaufen ihr jemand in London nachdrücklich geraten habe. Sie hoffe, daß ihr diese Gutscheine jetzt bei den zusätzlichen Ausgaben zugute kämen. Sie fügte etwas vage hinzu, daß sie, wenn es nicht zu viel Umstände mache, in diesem ruhigen und friedlichen Hotel ohne besondere Pflege wieder gesund werden könne.

Ein eilig aus der Polyklinik herbeigerufener Arzt konnte nichts Ernsthaftes finden, gab aber zu, daß in ihrem Alter in dem komplizierten menschlichen System viel passieren könne. Er schlug vor, ihr Visum für eine weitere Woche zu verlängern, in der sie so weit wiederhergestellt sein werde, daß sie reisen könne.

Am Nachmittag war Miss Baker, ohne einen Schritt aus ihrem Hotelzimmer zu tun, im Besitz eines neuen Stempels in ihrem Paß, der, wie man ihr sagte, bedeutete, daß ihr Visum bis zum Ende des Monats verlängert war.

Tief befriedigt von den Ergebnissen dieses Tages, entschloß sie sich, bis zu nächsten Morgen im Hotel zu bleiben, dann plötzlich wieder gesund zu sein und sich um eine dauerhaftere Lösung des Problems ihrer Unterbringung und ihrer Finanzen zu kümmern.

Der fröhliche Optimismus, mit dem Miss Baker stets die ersten Stadien ihrer Abenteuer begrüßte, ließ ihr die gegenwärtige Situation als ausgesprochen angenehm erscheinen. Sie war überzeugt, daß es nicht schwer sein werde, Schüler zu finden, die Englisch lernen wollten; und wenn das Hotel wirklich so überfüllt war, dann würde sich zweifellos leicht ein viel billigeres Privatquartier finden lassen. Man mußte nur genug Zeit und Energie auf die Suche verwenden. Und von beidem hatte Miss Baker nach der Abreise der Delegation genug übrig, da sie sich nicht mehr auf Besichtigungstouren begeben mußte.

Der lange düstere Winter war fortgetaut, und als Miss Baker am nächsten Morgen aus dem Hotel trat, sah sie in ungläubigem Erstaunen die ersten Zeichen des sehr plötzlichen russischen Frühlings.

Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, aber ihre Strahlen wärmten das Straßenpflaster, und die Menschen sahen viel fröhlicher aus.

Es war ein Tag voll Sonnenschein und Lächeln - ein Lächeln von dem

Milizsoldaten, der sie an der Hoteltür grüßte, ein Lächeln von dem Lastwagenfahrer, der an der Ecke auf grünes Licht wartete - das breite, fröhliche russische Lächeln, das mit dem Frühling kommt.

In der Überzeugung, daß ihre Mission bald von Erfolg gekrönt sein werde, machte sich Miss Baker frohgemut auf, um ihre Schüler zu suchen.

Aber all ihre geduldigen Bemühungen der ersten beiden Tage erwiesen sich als fruchtlos. Hoffnungsvoll suchte sie das «Haus der Künstler», das «Haus der Schriftsteller» und die Büros von Intourist auf.

Man war höflich, offensichtlich an ihrem Plan, Englisch zu unterrichten, interessiert und ermutigend. Aber wenn sie das Problem ihrer Unterbringung anschnitt, wurde sie ungläubig angestarrt.

«Ah, das ist unmöglich», erklärte der Sekretär im «Haus der Schriftsteller». «In Moskau, wie in allen großen Städten, gibt es nicht eine Zimmerecke, die nicht bewohnt ist. Sie müssen erst eine Unterkunft finden, dann können Sie an die Englischstunden denken.»

Diese Antwort war das Ausführlichste, was Miss Baker bei ihren Versuchen, sich über ihre Pläne zu unterhalten, zu hören bekam.

Die Zahl der Leute in Moskau, die überhaupt nicht verstanden, was sie wollte, war entmutigend groß, und am dritten Tag ihres verlängerten Aufenthalts in Rußland schleppte sie sich nach erneuten, vergeblichen Bemühungen müde in ihr Hotelzimmer.

«Miss Baker, hallo, Miss Baker», rief eine tiefe Stimme hinter ihr, und als sie sich umdrehte, sah sie den großen jungen Mann, der sie bei Jackie Marshs Geburtstagsfeier interviewt hatte.

«Ich dachte, Sie seien schon vor ein paar Tagen abgereist», sagte er in seiner freundlichen, ungezwungenen Art und ging mit ihr zusammen den Korridor entlang.

«Langsam wünschte ich, ich wäre es», seufzte Miss Baker. «Ich komme einfach nicht vorwärts.»

«Worum genau geht es denn?»

«Nur darum, ein paar Studenten zu finden, die Englisch lernen wollen, und um eine Unterkunft außerhalb des Hotels.»

«Nur? » Stewart Ferguson hob ausdrucksvoll seine Augenbrauen, blieb plötzlich stehen und steckte einen Schlüssel in eine Tür. «Na, ich würde da nicht so untertreiben. Wollen Sie sich mal mein Zimmer ansehen? Hier wohne ich immer noch, obwohl ich seit über zwei Jahren versuche, eine (andere Unterkunft) zu finden.»

«Dann ist es wirklich so schwierig, wie alle sagen?»

«Fast unmöglich», versicherte ihr Ferguson mit Nachdruck.

«Nun gerade», entschied Miss Baker. «Und Sie werden mich beraten.»

Sie stolzierte an ihm vorbei, durch die Tür, die er für sie offen hielt, und setzte sich auf den härtesten Stuhl, den sie im Zimmer finden konnte.

Stewart Ferguson folgte ihr, amüsiert über die stoische Haltung der alten Dame. Er war ein zu guter Journalist, um mehr als eine Story von einer unbekannten Persönlichkeit, wie Miss Baker es war, zu erwarten, und so war es reine Nächstenliebe, daß er ihr einen Whisky und seine volle Aufmerksamkeit anbot.

Miss Baker lehnte den Whisky ab, wartete aber, bis Stewart sich ein \ Glas eingegossen hatte, bevor sie anfing. Dann gab sie einen sehr kurzen und klaren Bericht über die Gründe, aus denen sie nach Moskau gekommen war, und fragte ihn, welches der drei Probleme sie als erstes anpacken sollte - Schüler zu finden, ihr Visum zu verlängern oder ein Zimmer zu suchen.

«Im Augenblick ist mein Visum nur vorübergehend verlängert», schloß sie. «Aber vielleicht können Sie mir sagen, was ich am besten unternehme, um es auf unbestimmte Zeit verlängern zu lassen.»

«Ich glaube, Sie haben schon ganz schön was erreicht.» Stewart war von tiefer Bewunderung für Miss Baker und ihre Methode, ihr Visum zu verlängern, erfüllt. «Aber Sie müssen sich jetzt mindestens das Bein; brechen, wenn Sie eine neue Verlängerung bekommen wollen.»

«Dann ist das also nicht nur reine Formsache?»

Stewart schüttelte den Kopf.

«Niemand darf ohne Grund und auf unbestimmte Zeit hierbleiben - es sei denn, er ist Kommunist. Alle andern Ausländer müssen einen festen Arbeitsplatz nachweisen, wenn sie die ihnen zugeteilten Kubikmeter Wohnraum behalten wollen.»

«Dann muß ich also erst die beiden andern Probleme lösen. Zumindest können Sie doch nicht leugnen, daß die Leute hier wirklich Englisch lernen wollen. Ich bin bestimmt eine sehr gute Lehrerin.»

«Gewiß. In Ihrer Freizeit könnten Sie sicher eine Menge Rubel damit verdienen, aber für ein Hotelzimmer brauchen Sie einen bessern Grund.»

Miss Baker weigerte sich, mutlos zu werden. Sie saß gerade aufgerichtet und bewegungslos in ihrem Stuhl und machte den Eindruck, als fielen! ihr mehrere bessere Gründe ein.

Schließlich schlug sie vor: «Sie könnten mich als Ihre Assistentin einstellen. Natürlich nur nominell. Sie brauchten mich nicht zu bezahlen.»

«Ich habe das Gefühl, daß die Presseabteilung damit nicht einverstanden wäre. Sie sind hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß Ihr Alter im Paß steht -»

«Ja», gab Miss Baker traurig zu, «das geht wahrscheinlich nicht. Aber es muß doch einen Weg geben. Es geht doch nur darum, irgendwo den Anfang zu machen. Wenn ich Arbeit hätte, würde ich eine Unterkunft bekommen. Und wenn ich eine Unterkunft hätte, würde ich Arbeit? bekommen. Und wenn ich beides hätte, würde mein Visum verlängert werden. Wenn ich jetzt in England wäre, würde ich einen Brief an die Times schreiben und mich bei meinem Abgeordneten beschweren.»

«Hier gibt’s die Prawda und den Obersten Sowjet», schlug Stewart im Spaß vor.

«Das ist die Idee!» rief Miss Baker begeistert. «Ich entwerfe die Briefe, erkläre die Situation, und Sie übersetzen alles ins Russische.»

«Sie können sie auch in Englisch lassen. Die Chance, daß sie gelesen werden, ist genausogroß.»

«Nun, Sie können mir immerhin sagen, wie ich die Leute anreden muß», sagte Miss Baker. «Können Sie mir Papier geben?»

«Sie meinen, jetzt? In dieser Minute? Ist es Ihnen wirklich ernst damit?»

«Natürlich. Ich finde immer, es ist das beste, sich genau so zu benehmen, als wenn man in England wäre. Das erwarten die Ausländer von uns.»

«Schaden kann es ja wohl nicht», sagte Stewart und holte ein paar Bogen Schreibmaschinenpapier für Miss Bakers Entwürfe.

«Es wird sogar außerordentlich nützen», sagte Miss Baker mit Überzeugung und machte sich ans Werk.

«Sehr geehrte Herren», lautete der Brief, den sie in kurzer Zeit zu ihrer eigenen Zufriedenheit geschrieben hatte und ihm zur Korrektur vorlegte. «Ich möchte für längere Zeit in Ihrem Lande Aufenthalt nehmen, verfüge aber nicht über die finanziellen Mittel, um dies als gewöhnliche Touristin tun zu können. Deshalb habe ich die Absicht, Englischunterricht zu geben, um damit meine Unterkunft zu finanzieren. Leider ist es mir bisher nicht gelungen, die Behörde zu finden, an die ich mich unter diesen Umständen wenden muß, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir in dieser Sache helfen würden.

Da, soweit ich verstanden habe, Hotelunterkünfte knapp sind, wäre es sehr freundlich, von Ihnen, wenn Sie mir etwas anderes vorschlagen könnten. Ich würde auf jeden Fall lieber in einem Privatquartier wohnen, habe aber auf Grund meiner Unkenntnisse in der russischen Sprache bis jetzt kaum Bekanntschaften in Moskau schließen können. Für eine möglichst baldige Antwort wäre ich Ihnen sehr verbunden.»

Stewart sagte ernsthaft, daß er es nicht besser hätte machen können, und schlug vor, den Brief an den Präsidenten des Obersten Sowjet zu schicken. Sie war enttäuscht, als er ihr sagte, daß die Prawda keine reguläre Seite für Leserbriefe habe, auch keine Stellengesuche, wo sie hätte inserieren können, und keine Wohnungsanzeigen.

«Ja, aber wie machen das denn die Russen?» fragte Miss Baker fassungslos.

Stewart zuckte die Achseln.

«Sie werden wohl Freunde haben, die es wieder andern Freunden erzählen. Außerdem haben sie natürlich ihre Gewerkschaften, die alles mögliche für sie tun, ihren Mitgliedern Wohnraum verschaffen, sie in Ferien verschicken —»

«Gewerkschaften», sagte Miss Baker verachtungsvoll. «Davon habe; ich keine sehr hohe Meinung. Die machen viel Lärm um nichts. Die Leute haben viel schwerer gearbeitet und waren dabei viel glücklicher, bevor man die Gewerkschaften erfunden hat.»

Stewart versucht, ihr zu erklären, daß in den ersten Jahren des Jahrhunderts die Zivilisation vielleicht nicht ganz so kompliziert war wie jetzt, und Miss Baker, die nicht zugehört hatte, verkündete, daß sie doch einen Brief an die Prawda schreiben wolle.

Dieser Brief wurde mit derselben Geschwindigkeit und Entschlossenheit verfaßt wie der erste, und sie zeigte ihn Stewart.

Sehr geehrte Herren,

da ich überzeugt bin, daß Sie nicht nur die reichen Kapitalisten unter den ausländischen Touristen in Ihr Land ziehen wollen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es für Touristen im Augenblick unmöglich ist, in Moskau Unterkunft zu finden, außer in den teuersten Erstklaß-Hotels.

Wenn Ihre Leser eine andere Möglichkeit vorschlagen könnten, würde das sicher viele ernsthaft Interessierte ermutigen, in die Sowjetunion zu reisen.

Wenn es außerdem die Möglichkeit gäbe, sich während des Aufenthalts durch Englischunterricht den Lebensunterhalt zu verdienen, wäre das von Vorteil für alle Beteiligten. Ich bin gern bereit, von dieser Möglichkeit, die guten Beziehungen zwischen Ihrem und meinem Land zu vertiefen, als erste Gebrauch zu machten.

(Miss) Lavinia Baker, Zimmer 427

Hotel Metropol

«Bewundernswert», sagte Stewart, der den Brief mit zuckenden Mundwinkeln durchgelesen hatte. «Dafür, daß Sie zum erstenmal mit dem Sowjetsystem umgehen, haben Sie zweifellos den richtigen Ton getroffen, Miss Baker.»

«Soll ich meine Zimmernummer angeben?»

«Das ist egal», sagte Stewart ernüchtert. «Wenn Sie überhaupt eine Antwort kriegen, wird man Sie garantiert finden.»

«Natürlich bekomme ich Antwort. Auf jeden Fall bleibe ich in Moskau, bis ich sie bekommen habe.»

«Tun Sie das nur. Sie lassen mich hoffentlich wissen, wie alles weitergeht. Wenn irgendwas erfolgt, könnte das eine gute Story für meine Zeitung werden. Passen Sie mal auf: Ich sorge dafür, daß die Briefe ankommen, und Sie versprechen mir das erste Interview, wenn Sie Antwort haben.»

Stewart dachte im Grunde nicht sehr optimistisch über Miss Bakers Chancen, und seine Ermutigung war mehr als freundliche Geste gemeint. Doch waren in Moskau schon seltsamere Dinge passiert.

«Natürlich», sagte Miss Baker bereitwillig. «Und jetzt werde ich wohl wieder in mein Zimmer gehen. Nach diesen langen Nächten mit der Delegation muß ich immer noch Schlaf nachholen. Außerdem habe ich das Gefühl, daß der plötzliche Wetterwechsel mir eine Erkältung eingebracht hat.»