3

Waren sie in Wilna nicht gerade herzlich empfangen worden, so konnte die Delegation sich über den Empfang in Moskau nicht beklagen.

Sie hatten kaum das Flugzeug verlassen, als sie auch schon von einem Empfangskomitee lächelnder Russen umringt waren, die schallende Wangenküsse an alle verteilten, jedem einen riesigen Blumenstrauß in die Hand drückten und ihnen durch zwei Dolmetscher versichern ließen, daß man ihren Aufenthalt in der Sowjetunion so angenehm wie möglich gestalten werde.

Miss Baker versteckte sich hinter einem Korb weißer Chrysanthemen, den ihr ein kleiner, lächelnder Mann in langem gefüttertem Mantel aufgedrängt hatte, und versuchte, sich langsam an den Rand der Gruppe zurückzuziehen. Aber dieses Bestreben, sich unsichtbar zu machen, wurde sofort bemerkt und der Nervosität und Zurückhaltung alter Menschen zugeschrieben. Man ordnete einen der Dolmetscher vom Hauptteil der Gruppe ab, die im Vordergrund mit Ansprachen beschäftigt war, und beauftragte ihn, die schüchterne alte Dame zu unterhalten. Sie war schließlich das älteste Mitglied der Delegation, sie sah sehr würdevoll aus, sie war also sicher sehr bedeutend.

Der Vertreter des Stadt-Sowjet, der Präsident der Antifaschistischen Liga und der Stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für die Freundschaft mit Britannien überließen es ihren Vertretern, der langen Begrüßungsansprache zuzuhören, mit der Sir William Finch gerade

begonnen hatte, und steuerten auf Miss Baker im Hintergrund zu.

«Genosse Alexandrow hofft, daß die Reise nicht zu anstrengend für Sie war», schnurrte eine lächelnde junge Dolmetscherin herunter. «Er bedauert, daß das schlechte Wetter Sie in Wilna festgehalten hat.»

Miss Baker nickte freundlich in die Richtung, in der sie den Genossen Alexandrow vermutete, und wechselte den Arm, mit dem sie die Chrysanthemen hielt. Sie hatte nur den einen Wunsch, Blumen und Handtasche hinzuwerfen und ihren dünnen Wollmantel gegen den eisigen Wind auf dem Flugplatz enger um sich zu ziehen.

«Genosse Kleptikowa möchte Ihnen gern sagen, daß der lange Winter in Moskau fast vorbei ist. Bald wird Frühling und der Schnee geschmolzen sein, und es werden lange, sonnige und heiße Tage kommen.»

Miss Baker verneigte sich leicht statt einer Antwort; sie wollte sich nicht zu stark mit der Delegation identifizieren, die sie nur als Mittel ansah, zu einem Hotelzimmer zu kommen.

Aber die Gruppe, die sich jetzt um sie gebildet hatte, versuchte so lebhaft, sie aus ihrer Reserve zu locken, daß unmittelbare Gefahr bestand, die Ansprachen und das Händeschütteln der anderen zu stören. Eine Wochenschau-Kamera und verschiedene Fotografen, die bereits den herzhaft seinen Strauß schwenkenden Sir William anvisiert hatten, bewegten sich jetzt auf Miss Baker zu.

«Für die Fahrt nach Moskau stehen der Delegation drei Wagen zur Verfügung», sagte die Dolmetscherin in dem verzweifelten Versuch, Miss Baker zu irgendeiner Reaktion zu veranlassen. «Genosse Alexandrow meint, Sie seien sicherlich so erschöpft, daß Sie sich gern von mir sofort zum Wagen bringen lassen würden.»

Miss Baker, aus wesentlich härterem Stoff gemacht, als ihre zarte Erscheinung vermuten ließ, hatte mit stoischem Gleichmut viel anstrengendere Reisen als diesen kurzen Flug durchgestanden. Aber sie erkannte sofort, daß es für sie nur von Vorteil sein konnte, die Rolle der schwächlichen alten Dame zu spielen und sich zurückzuziehen.

«Sehr liebenswürdig», murmelte sie bescheiden und ließ sich bereitwillig zu einem der wartenden Wagen führen.

Nach einer langen Pause gesellten sich eine völlig durchfrorene Patricia Cartwright und ein schlecht gelaunter James Bailey zu ihr.

«Nächstesmal, wenn dieser alte Schwätzer eine Rede halten will», murrte er vor sich hin, als er sich fröstelnd im Wagen zusammenkauerte, «wird er sich hoffentlich einen wärmeren Platz dafür aussuchen. Sogar unsere Gastgeber verzogen sich nach der Hälfte bereits in Richtung Flugplatzgebäude. »

«Mit diesem Sir William kriegen wir garantiert Arger», sagte Mrs. Cartwright. «Er hat jetzt schon gemerkt, wie herrlich es ist, Sprecher einer Delegation zu sein und Reden zu halten, und er ist auf so viele Reden und so lange Reden wie möglich aus.»

«Ich habe nur einen Satz ganz am Anfang gehört», sagte Miss Baker. «Er hat gesagt: <Der Besuch unserer Delegation soll unsern beiden demokratischen und friedliebenden Nationen ein lebendes Denkmal setzen.> Was meinte er damit?»

«Genau das, was ich eben gesagt habe», seufzte Mrs. Cartwright und versank während der Fahrt nach Moskau in Schweigen.

Zuerst ging es durch eine eintönige Landschaft mit wenigen Häusern und Menschen, bis sie am Stadtrand einen Ameisenhaufen von Kränen und Baggern, Zementmischmaschinen und Ziegelhaufen passierten. Hier übernahm gerade ein Heer von Frauen die Nachtschicht.

«Haben Sie eben die Frau auf der Dampfwalze gesehen?» rief Miss Baker aus und verdrehte sich fast den Hals, um dieses Phänomen zu bestaunen. «Und du lieber Gott, da ist eine mit einem Preßluftbohrer. Wie unweiblich. Und sehen Sie doch, da ganz oben ist ein Mädchen und legt Ziegel - und das mit all diesen Männern.»

«Das», sagte James Bailey, «ist, wie ich glaube, sozialistische Gleichberechtigung. »

«Für meinen Geschmack ist das entschieden zu viel Gleichberechtigung», schnaubte Miss Baker verächtlich.

Schließlich näherte sich der Wagen einer Brücke und überquerte den Fluß. Auf der andern Seite tauchten die roten Mauern des Kremls, die Turmspitzen mit den roten Sternen und im Hintergrund die riesigen goldenen Kuppeln der Kremlkirchen auf.

Mrs. Cartwright und James Bailey waren beeindruckt, wie es sich gehört, aber Miss Baker sagte naserümpfend, daß sie den Kreml von Ansichtskarten kenne, und rieb das Fenster auf der andern Seite wie ein Aladin, der aus seiner Lampe neue Bilder heraufbeschwören will.

Durch die breiten Straßen hasteten in dicke gefütterte Mäntel vermummte, in hohen Filzstiefeln steckende Menschen. An einer Ecke entdeckten sie eine alte Bäuerin, die aus einem umgehängten Kasten Eis verkaufte. Offiziere der Roten Armee wateten fröhlich durch den Matsch und leckten vorsichtig an ihren Eiswaffeln.

«Männer», sagte Miss Baker mit verächtlichem Ton. «Männer mit Eiswaffeln! »

Als die Wagenkolonne schließlich vor dem Hotel Metropol hielt, hatte Miss Baker bereits eine sehr dezidierte Meinung über den Kommunismus, die sozialistische Gleichberechtigung und die russischen Männer. Und da sie ihre einmal gefaßten Meinungen äußerst selten änderte und nicht die geringsten Hemmungen hatte, denselben auch laut Ausdruck zu geben, versprach ihr Aufenthalt in Moskau bereits jetzt einige der wildesten Erwartungen ihres Neffen zu erfüllen.

«Vielen Dank, aber ich möchte gern in meinem Zimmer essen», sagte Miss Baker energisch und auf englisch zu dem Zimmermädchen, das zum drittenmal erschien.

«Essen du kommen.» Das Mädchen lächelte freundlich.

«In - meinem - Zimmer. Hier.» Miss Baker betonte jedes Wort langsam und deutlich. Sie gehörte zu der Vorkriegsgeneration englischer Touristen, die eine Verständigung mit Ausländern nur für eine Frage ständigen Wiederholens hielt.

«Du kommen.»

«Bitte - bringen - Sie - die Speisekarte - und - ich - werde - Ihnen - zeigen - was - ich - haben - will.»

«Kommen, bitte.»

«Ich möchte gern an diesem Tisch essen», sagte Miss Baker und zeigte auf einen runden Tisch mit einer erdbeerfarbenen Samtdecke. «Ich möchte heute abend nicht in den Speisesaal hinuntergehen.»

«Du kommen.»

«Na schön», seufzte Miss Baker. «Aber ich nehme doch an, daß ich einen eigenen Tisch habe. Ich wünsche nicht, mit den andern Engländern, die mit mir gekommen sind, an einen Tisch gesetzt zu werden. Verstehen - Sie mich? »

Es war klar, daß das freundliche Zimmermädchen kein Wort verstand. Man hatte ihr aufgetragen, Miss Baker in den Speisesaal zu begleiten, und sie war fest entschlossen, diesen Auftrag auszuführen.

Sie fuhren mit einem riesigen gläsernen Fahrstuhl ein paar Stockwerke tiefer und gingen durch viele Korridore. Im Vorübergehen sah Miss Baker eine Standuhr, die auf neun Uhr zutickte, und überlegte, daß die Delegationsmitglieder, wenn sie Glück hatte, schon fertig mit dem Essen waren und man deshalb nicht von ihr erwarten würde, daß sie sich an ihren Tisch setzte.

Da aber blieb ihre Führerin plötzlich stehen, öffnete eine Tür und ließ Miss Baker in einen kleinen privaten Eßraum eintreten. An einer langen Tafel, die unter dem Gewicht von Karaffen, vollen Platten und bunten, geschliffenen Gläsern ächzte, saßen nicht nur die sieben Mitglieder der Delegation, denen sie aus dem Weg gehen wollte, sondern auch das gesamte Empfangskomitee vom Flugplatz.

Die Delegation schien genauso überrascht wie Miss Baker. Aber ihre russischen Gastgeber sprangen mit glücklichem Grinsen auf den Gesichtern auf und eilten ihr entgegen.

«Ah, jetzt können wir mit der offiziellen Willkommensfeier für unsere lieben Freunde aus England beginnen», zischte ihr ein Dolmetscher in das eine Ohr, während sich aus dem Munde des Stadt-Sowjet-Vertreters ein Strom von Russisch in ihr anderes ergoß.

Sie versuchte, zur Tür zurückzuweichen, wurde aber an beiden Händen zum Ehrenplatz zwischen den Genossen Alexandrow und Kleptikowa gezerrt. Beide strahlten sie an, und nach einigen lahmen Protesten lächelte Miss Baker zurück, sich in das Unvermeidliche fügend.

Weiß befrackte Kellner ergriffen die riesigen Platten von der Tafel und boten sie den Gästen an, und unter Besteck- und Tellergeklapper und allgemeiner Betriebsamkeit nahm das Willkommensessen einen guten Anfang, ohne daß ein Wort gesprochen worden war.

Weißer und roter Wein wurde angeboten, und Wodka floß reichlich aus Karaffen in die geschliffenen Gläser.

Miss Baker hörte, wie Mrs. Hoskins protestierte.

«Ist das Wodka? Nein danke, für mich nicht.»

«Wollen Sie lieber Weißwein? Oder Rotwein?» fragte ein Dolmetscher besorgt.

«Nur Wasser, bitte.»

«Unser sowjetischer Wein ist sehr gut. Wodka ist natürlich manchmal nicht für den Geschmack der Damen geeignet. Aber unser Wein ist der beste aus den georgischen Weinbergen.»

«Ich gehöre einem Abstinenzlerverein an. Ich trinke nicht.»

«Abstinenzler? Was ist das, bitte? Sie müssen für die Trinksprüche Wein haben.»

An der Spitze der Tafel versuchte Sir William Finch Konversation zu machen. Aber da für zwanzig Leute, die sich nicht miteinander verständigen konnten, nur zwei Dolmetscher zur Verfügung standen und da der russische Teil der Gesellschaft nichts von Konversation beim Essen zu halten schien, senkte sich allmählich Schweigen über die Tafel.

Dieses wurde durch den russischen Präsidenten der Antifaschistischen Liga gebrochen, der sich in eine lange Willkommensansprache stürzte, in regelmäßigen Abständen von einem Dolmetscher unterbrochen, der jeden Satz in holpriges Englisch übersetzte.

Miss Baker hörte in den ersten fünf Minuten genau zu, wurde mit Phrasen berieselt, wie «das Symbol unserer Einheit», «wir werden gemeinsam als brüderliche Kämpfer für den Frieden vorwärtsschreiten», und: «die Solidarität der ruhmvollen Völker der Sowjetunion, der Rettungsanker aller Unterdrückten in der ganzen Welt», und zog sich dann in eine Wolke der Langeweile zurück.

Der Applaus am Ende der Rede gab ihr das Signal, sich zu erheben und mit den Genossen anzustoßen.

Und schon stand Sir William auf und setzte zu seiner Dankesrede an.

Die Hände vor seiner umfangreichen Taille gefaltet, ließ er ein Klischee nach dem andern von seinen Lippen tropfen, wartete geduldig, bis es ins Russische übersetzt worden war, und nahm erbarmungslos den Redefaden wieder auf.

Sie waren bereits beim zweiten Gang, als er schließlich bereit war, sich wieder zu setzen. Miss Bakers Hoffnung, der offizielle Redefluß sei damit versiegt und der Weg zu einem unauffälligen Rückzug frei, erwies sich als absolut unbegründet.

Immer mehr Russen brachten immer längere Trinksprüche aus. Emlyn Richards erging sich äußerst gefühlvoll über die Zustände in den Bergwerken.

HoraceCleghorn hielt ein gelehrtes und sehr fachmännisches Referat über die Grundlagen der marxistischen Theorie. Die Russen konterten mit Trinksprüchen auf die Jugend, den Frieden, die Freundschaft, die Solidarität. Sogar Mrs. Hoskins, die sich von ihrem Mißfallen über die Menge scharfer Alkoholika, die in ihrer Gegenwart konsumiert wurde, wieder erholt hatte, erhob sich, um über die Frauen und ihre Rolle bei der Erhaltung des Friedens zu sprechen. Als sie endlich fertig war, standen bereits Tassen mit süßem türkischem Mokka auf dem Tisch.

Danach endete das Bankett ziemlich abrupt. Ohne den Versuch, sich nach dem Essen noch zu unterhalten, schüttelten sich alle die Hände, grinsten sich freundlich an und verließen den Raum.

Nach weiterem Händeschütteln in der Halle blieb das Empfangskomitee strahlend zurück, während der gläserne Fahrstuhl die Delegation in den vierten Stock hinauftrug.

«Miss - eh - Baker, könnte ich Sie wohl einen Augenblick unter vier Augen sprechen?»

Es war schon lange nach Mitternacht, und obgleich Sir William nach so viel Wein und Wichtigkeit milde gestimmt war, gehörte es doch nicht zu seinen Eigenschaften, auf morgen zu verschieben, was man heute tun konnte.

«Schön, einen Augenblick. Aber bitte keine einstündige Ansprache», sagte Miss Baker scharf. «Sie mögen an diese späte Stunde gewöhnt sein, aber ich liege fast jeden Abend um zehn im Bett.»

«Es handelt sich um Ihr - eh - Eindringen ...»

«Meine Einbeziehung», schlug Miss Baker vor.

«Schön, Ihre Einbeziehung in meine - eh - unsere Delegation. Ich weiß nicht, wie unsere russischen Gastgeber darüber denken-»

«Die scheinen überhaupt erst auf die Idee gekommen zu sein.»

«-aber ich fürchte, wir müssen morgen Schritte unternehmen, um das Mißverständnis aufzuklären. Die Mitglieder dieser Delegation sind in England sehr sorgfältig ausgewählt worden.» Er strich seine eindrucksvolle eisengraue Mähne zurück und gab das überzeugende Beispiel eines sorgfältig ausgewählten Mitgliedes. «Und es ist ungerecht gegen all die, die nicht ausgewählt worden sind, wenn ein Außenseiter plötzlich dieselben Privilegien beansprucht.»

«Bis ein Uhr nachts aufbleiben zu müssen ist in meinen Augen nicht gerade ein Privileg.» Miss Baker glühte vor Empörung und dachte nicht daran, die Unterhaltung in dem von Sir William angeschlagenen höflichen Ton weiterzuführen. «Außerdem bin ich nicht nach Moskau gekommen, um mir langweilige und völlig unverständliche Reden anzuhören. Wenn Sie so freundlich sein wollten, mir ihre Delegation vom Hals zu halten und endlich aufhören würden, mich mit gemeinsamen Mahlzeiten zu belästigen, hätte ich endlich die Möglichkeit, Rußland für mich allein kennenzulernen, ohne dauernd von Engländern behindert zu werden, die ich genausogut in Clapham oder Brighton hätte kennenlernen können.»

Ohne Sir William eines weiteren Blickes zu würdigen, stolzierte Miss Baker in Richtung auf ihr Zimmer davon. Wütend marschierte sie durch endlose Korridore, ohne ihr Ziel zu erreichen. Sie mußte sich schließlich geschlagen geben und ihren effektvollen Abgang durch eine reumütige Rückkehr verderben.

Sir William hatte bei der Suche seines Zimmers mehr Glück gehabt, und Miss Baker war erleichtert, nur noch Patricia Cartwright und Dr. Clark vorzufinden, die gerade der «Stockwerksverwalterin», einer rundlichen kleinen Frau im Spitzenhäubchen, ihre Schlüssel zeigten und vergeblich versuchten, den wortreichen russischen Beschreibungen den Weg ins Bett zu entnehmen.

Ganz zufällig fanden sie ihre Zimmer schließlich doch noch, und im selben Augenblick fiel Miss Baker ihre Thermosflasche ein, die sie vor dem Abflug in Wilna hatte füllen lassen.

«Schlafen können wir in dieser Nacht praktisch sowieso nicht mehr», sagte sie. «Hätten Sie Lust auf schwarzen Tee, bevor Sie zu Bett gehen?»

So fanden sie sich wieder müde und etwas verwirrt in Miss Bakers Zimmer und tranken ihren Tee.

«Ein höchst unerfreulicher Mensch», sagte Miss Baker plötzlich, der die würdelose Unterhaltung immer noch nachging.

«Nicht wirklich unerfreulich», sagte Dr. Clark, ohne erst zu fragen, wen Miss Baker eigentlich meine. «Sagen wir mal, ein bißchen großspurig.»

«Aufgeblasen.»

«Schön. Aber gefährlich ist das weiter nicht.»

«Solange seine Ansprachen nicht in die Zeitung kommen», sagte Mrs. Cartwright düster. «Sie sind so vage, daß man ihnen wirklich jede beliebige Bedeutung unterschieben kann; aber der Haupttenor ist Schmeichelei. Nur weil wir Gäste sind, brauchen wir uns ja nicht gleich zu überschlagen und alles, was uns vor die Augen kommt, kritiklos zu loben. Das gibt doch einen völlig falschen Eindruck. Man muß ja annehmen, wir seien von der Sowjetunion völlig überwältigt und fänden hier alles besser als in unserem eigenen Land. Es wäre politischer Selbstmord, wenn ich mich auch nur mit einer von Sir Williams Reden identifizieren würde.»

«Haben Sie deshalb heute abend selbst nicht gesprochen?» fragte Dr. Clark mit Interesse. Er hatte sich darauf gefreut, Mrs. Cartwright in Aktion zu sehen, denn ihre witzigen Ansprachen im Parlament waren schon fast zur Legende geworden.

«Nein. Ich dachte nur, es waren genug Reden für einen Abend. Und wie Miss Baker wollte ich eigentlich lieber früh ins Bett gehen.»

Sie erhob sich, stellte ihr leeres Wasserglas hin, das Miss Baker irgendwo für den Tee ausgegraben hatte, und musterte mit gerunzelter Stirn eine reich verzierte bronzene Stehlampe mit erdbeerfarbenem Schirm.

«Schauderhaft, nicht wahr? Der in meinem Zimmer ist noch schlimmer. Ich hoffe wirklich, daß unser Hotel nicht typisch für den russischen Geschmack ist. Es ist zu trostlos. Vielen Dank für den Tee, Miss Baker. Höchstwahrscheinlich werden wir ja ab morgen getrennte Wege gehen. »

«Wir sind Zimmernachbarn, und meine Thermosflasche steht Ihnen immer zur Verfügung», sagte Miss Baker herzlich.

Aber wenn Miss Baker und die Delegation glaubten, ihre Trennung ließe sich so leicht vollziehen, so hatten sie nicht mit der Sturheit eines sowjetischen Besichtigungsprogramms gerechnet.

Miss Baker war am nächsten Morgen noch beim Frühstücken (eine Reihe komplizierter Erklärungen an die Stockwerksverwalterin, von unten herauftelefonierte Übersetzungen, ausgiebiger Gebrauch der Zeichensprache und längeres Warten hatten ihr ermöglicht, der Delegation zu entkommen und in ihrem Zimmer zu essen), als die junge Dolmetscherin vom Vorabend an die Tür klopfte.

«Wir haben das Vergnügen, Ihnen heute morgen eine Keksfabrik zu zeigen.»

«Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich gehöre nicht zu der Delegation und bin außerdem an Keksfabriken nicht sonderlich interessiert.»

«Bitte, was erregt sonst Ihr Interesse?»

«Schulen», erwiderte Miss Baker prompt - entzückt, daß sich ihre eigenen Besichtigungen so mühelos organisieren ließen. «Kindergärten, Geschäfte, Privathäuser, Kirchen, alles, was mit jungen Leuten zu tun hat, Frauen bei den Beschäftigungen, denen sie überall in der Welt nachgehen: Kochen, Haushalt, beim Friseur.»

«Das ist schwierig, aber ich werde sehen, ob etwas arrangiert werden kann.»

«Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.»

«Sie werden also jetzt nicht zu der Keksfabrik mitkommen? Die Wagen stehen bereit. Sie sind vielleicht ein bißchen müde von der gestrigen Reise? Es ist sehr ermüdend, wenn man schon älter ist?»

«Ja, ich bin ein bißchen müde.»

Das schien, aufs ganze gesehen, die beste Erklärung, hinderte Miss Baker aber nicht, sich schnellen Schrittes in Bewegung zu setzen, sobald sie annehmen konnte, daß die Delegation das Hotel verlassen hatte, und durch ein Labyrinth von Straßen in das Hauptgeschäftsviertel zu wandern. Sie hatte keine Rubel und begnügte sich damit, ziellos durch mehrere überfüllte Geschäfte zu schlendern - eine Bäckerei, ein Feinkostgeschäft, einen Kurzwarenladen.

Auf den Gehsteigen wimmelte es von Menschen, sie schoben und drängten, bis sie Bekanntschaft mit der Spitze von Miss Bakers Regenschirm machten, den sie bald rücksichtslos in Aktion setzte, um ihren geraden Kurs auf der linken Seite des Bürgersteigs fortzusetzen. Seit siebzig Jahren pflegte Miss Baker auf der linken Seite des Bürgersteigs zu gehen, und ein paar tausend Russen konnten sie daran nicht hindern.

Nach einigen Stunden suchte sie sich - nicht ohne Schwierigkeit, denn sie war weit gelaufen - den Weg zurück ins Hotel. Dann verbrachte sie den Rest des Vormittags damit, einen Teil ihrer mageren Reiseschecks in Rubel umzuwechseln. Da sie auf dem Hinweg noch kein russisches Geld für ein Taxi hatte, lief sie zur Bank, und um das Fahrgeld zu sparen, machte sie auch den Rückweg zu Fuß.

Sie war über den Preis ihres leichten Mittagessens im Hotelrestaurant verblüfft, nach ihrem langen Marsch durch die Stadt fußlahm und sehr ärgerlich über die Entdeckung, daß niemand im Hotel auch nur den leisesten Versuch machte, Englisch zu verstehen.

So war sie in sehr kriegerischer Stimmung, als ihre standhafte Freundin, die junge Dolmetscherin, sie nach dem Essen am Kiosk in der Halle ansprach.

«Ah», sagte Miss Baker erleichtert, jemand gefunden zu haben, der zumindest eine Abart ihrer Sprache redete. «Ich versuche gerade, dieser guten Frau hier klarzumachen, daß ich einen Stadtplan haben möchte.»

«Einen Stadtplan?» fragte die Dolmetscherin mißtrauisch. «Was für einen Stadtplan?»

«Einen einfachen Stadtplan von Moskau. Eine Straßenkarte. Ich habe zwar ein gutes Orientierungsvermögen, aber ich kaufe mir überall einen Stadtplan. Das vereinfacht die Sache sehr.»

Die Dolmetscherin machte ein ablehnendes Gesicht.

«Sie hat keinen.»

«So? Dann können Sie mir vielleicht sagen, wo ich einen kaufen kann? In einem Papiergeschäft? Oder in einem der großen Kaufhäuser?»

«Das glaube ich kaum. Wahrscheinlich sind keine vorrätig.»

«Überhaupt keine? In ganz Moskau nicht?» Miss Baker war ganz ungläubig.

«Irgendwo vielleicht, aber es ist sehr schwierig», seufzte die Dolmetscherin. Sie hatte diese Unterhaltung schon mit vielen Ausländern geführt. «Sehen Sie, unsere große Stadt dehnt sich fortgesetzt aus. Sie verändert sich in kurzer Zeit so stark, daß Stadtpläne zu schnell überholt sind, um ihre Herstellung rentabel zu machen.»

Miss Baker strafte diese Erklärung mit Verachtung und hätte gern noch weitere Einwände vorgebracht, aber die Dolmetscherin warf schnell ein: «Ich habe das große Vergnügen, Ihnen mitteilen zu können, daß Ihr Besuch in einem Kindergarten für heute nachmittag vorgesehen ist.»

Etwas ausgesöhnt ließ Miss Baker sich durch die großen Drehtüren geleiten und fand vor dem Haupteingang die bereits ungeduldig wartende Delegation vor.

«Nun aber wirklich», explodierte Sir William, während man eilig zu den wartenden Wagen strebte. «Nach unserer gestrigen Unterhaltung habe ich nicht erwartet, daß Sie gleich am ersten Tag bei unsern Besichtigungen auftauchen.»

Sir William war bereits verärgert, daß das Programm, das er erst heute morgen sorgsam geplant hatte, mittags plötzlich und unerklärlich geändert worden war, so daß es jetzt auch die Besichtigung eines Kindergartens einschloß, während er ausdrücklich gesagt hatte, daß er eine Autofabrik vorziehen würde.

«Im Augenblick handelt es sich um meine Besichtigung», berichtigte Miss Baker ihn. «Wenn Ihre Delegation darauf besteht, mitzukommen, kann ich sie nicht daran hindern. Aber ich habe ganz unabhängig darum gebeten, durch einen Kindergarten geführt zu werden.»

«Darüber bin ich sehr froh, Miss Baker», mischte sich Mrs. Hoskins als unerwartete Unterstützung ein. «Ich kann wohl sagen, daß durchaus nicht alle Mitglieder der Delegation die ganze Zeit Maschinen und Fabriken sehen wollen.»

Mrs. Hoskins war erbittert über Sir Williams Anmaßung, das Programm nicht vorher mit ihr zu besprechen, und sie setzte sich im Auto in ostentativer weiblicher Solidarität neben Miss Baker.

Sir William warf ihnen einen wütenden Blick zu und wandte sich suchend nach einem Dolmetscher um, an den er noch einmal einen würdevollen und zurückhaltenden Appell Miss Baker betreffend richten konnte.

«Ich habe Ihnen doch heute morgen erklärt, daß Miss Baker kein Mitglied unserer Delegation ist», sagte er zu dem intelligenten jungen Mann namens Boris, mit dem zusammen er das Programm aufgestellt hatte. «Sie war doch auch nicht mit uns in der Keksfabrik», fügte er etwas unlogisch hinzu.

«Nein», sagte Boris unbewegt. «Sie war müde.»

«Ich weiß nicht, ob sie müde war oder nicht. Auf jeden Fall wußte sie, daß sie kein Recht hatte, uns zu begleiten.»

«Aber sie hat doch eben gesagt, daß heute nachmittag Sie sie begleiten.»

«Lieber junger Freund, ich sage Ihnen doch, sie ist ein völliger Außenseiter», rief Sir William empört.

«Ein Außenseiter? Was ist das, bitte? Ich verstehe Sie nicht.»

Boris sprach ausgezeichnet Englisch, aber gelegentlich hielt er es für nützlich, im Nebel der Ignoranz unterzutauchen. Sir William begegnete einer Wand höflicher Ablehnung. Weder in diesem Augenblick noch überhaupt während seines kurzen Aufenthalts in der Sowjetunion wurde Sir William klar, daß er jede Beschwerde, die Miss Baker betraf, hätte schriftlich einreichen müssen. Doch da er die seltsamen Wege der Bürokratie nicht kannte, konnte er auch nicht wissen, daß Gespräche allein -und mochten sie noch so giftig sein - in Moskau zu nichts führten.

Boris’ Vorgesetzte hatten bereits ein Telegramm bekommen, ein offizielles Dokument aus Wilna, das deutlich schwarz auf weiß ankündigte, daß acht Mitglieder der Antifaschistischen Friedensliga auf dem Wege nach Moskau seien. An dieser offiziellen Situation ließ sich durch Rücksprache mit einem jungen Dolmetscher gewiß nichts ändern.

Boris hatte deshalb auch nur mit Nina, seiner jungen Kollegin, darüber gesprochen und sich im übrigen nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Vorgesetzten Meldung zu erstatten. Sie hatten schon mit sehr schwierigen Delegationen zu tun gehabt, und im Vergleich dazu schien die augenblickliche ziemlich zahm.

«Trotzdem», hatte Nina gesagt, «auch hier herrschen Interessen- und Persönlichkeitskonflikte. So wie ich es sehe, akzeptiert die eine Hälfte - Mr. Cleghorn, Mr. Richards und vielleicht Mrs. Hoskins - Sir William als Anführer. Die andere Hälfte hält sich an Miss Baker. Die Stockwerksverwalterin hat mir erzählt, daß Mrs. Cartwright, von der man weiß, daß sie bedeutend ist, und Dr. Clark, der nichts sagt, aber weise aussieht, gestern nacht nach dem Bankett in Miss Bakers Zimmer waren. Wir wissen, daß sie dort eine halbe Stunde darüber diskutiert haben, wie sie Sir Williams Autorität untergraben können. Ich glaube, wir müssen vor allem versuchen, Miss Baker zufriedenzustellen. Sie ist ganz offensichtlich die Anführerin des linken Flügels der Delegation.»

So stellten Boris und Nina ihre subtilen, aber völlig falschen Überlegungen an und kamen bald zu einem ihrer Meinung nach völlig befriedigenden Kompromiß. Das Vormittagsprogramm ließen sie Sir William festlegen, und am Nachmittag richteten sie sich nach Miss Baker. Auf diese Weise hofften sie, die gesamte Delegation zufriedenzustellen.

Da diese jedoch bei dieser weisen Entscheidung nicht zu Rate gezogen worden war, konnte kein Mensch verstehen, warum das Nachmittagsprogramm stets geändert wurde.

Aber da die von Miss Baker vorgeschlagenen Ausflüge immer interessanter waren als die von Sir William, hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Außer Sir William natürlich, der durch die fortwährenden Programmänderungen einem Schlaganfall nahe war und sich endlos und völlig zwecklos bei Boris und Nina beschwerte.

Das endgültige Ergebnis jedenfalls war, daß Miss Baker - wie üblich -genau das tun konnte, was sie wollte.