Jeden Morgen stehe ich mit hingehaltener Hand auf. Ausharrend.
Ich bin zu schnell größer geworden. Heute Nacht ist mein Körper wieder gewachsen.
Heute bin ich eine andere. Ich habe Geräusche im Kopf. Lauter als gewöhnlich, aber erträglich.
Wie alt bin ich? Ich weiß es nicht.
Ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich bin keine Jugendliche mehr. Ich bin eine Frau. Die anderen bemerken es nicht wirklich, ich weiß es im Innersten. Ich bin eine Frau, doch es fließt nie Blut aus mir. Ich bin eine Frau wegen meiner zu fleischigen Lippen, wegen meines dicken, mehr als dicken Hinterns. Ich bin eine Frau wegen meines Geruchs. Er hat sich von heute auf morgen verändert. Mein Herr war es, mein Sidi, der es als Erster bemerkte.
Es war im letzten Jahr. Nie zuvor hatte er mich eines Blickes gewürdigt. Ich war nur eines der zahlreichen Hausmädchen im Dienste seiner bürgerlichen Frau in ihrer großen Villa von Salé. Ich wusste nichts über ihn. Ich durfte mich ihm nicht nähern, nicht mit ihm sprechen. Das waren die Anweisungen von Madame, Lalla.
Ich war gerade dabei, von Hand die weißen Hemden von Sidi zu waschen. Lalla wollte, dass ich sie von Hand wasche, denn die Waschmaschine ramponierte sie zu sehr. Sidis Hemden waren teuer. Sie mussten wirklich mit größter Sorgfalt gewaschen werden. Das war meine wesentliche Aufgabe in dieser Villa. Sidis unzähligen Hemden ihre ursprüngliche Weiße zurückzugeben. Lalla, die mir niemals besonders gewogen war, war jedes Mal be friedigt über meine Arbeit. Sie dankte mir jedes Mal. Mit einem vagen Lächeln.
Ich war also gerade dabei, im Hinterhof Sidis Hemden zu waschen. Ein großer und schnauzbärtiger Mann schlich sich an mich heran. Er sagte: »Du hast einen feinen Duft!« Als er sah, dass ich ihn nicht erkannte, fügte er hinzu: »Ich bin Hamid El-Roule.«
Es war Sidi. Der Herr des Hauses. Der Herr über mein Leben seit etwas mehr als zwei Jahren. Er sah sehr vornehm aus. Er war überhaupt nicht, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war besser. Besser als wer?
Er beugte sich zu mir vor, er kam mir nahe, sehr nahe. Er flüsterte mir ins Ohr: »Ich mag den Geruch, den du verströmst. Ich möchte dich malen. Ein Porträt von dir erstellen.«
Was er da zu mir sagte, war mir völlig unverständlich, doch ich sah ihm genau an, wie sehr ich ihn verunsicherte. Seine Lippen zitterten. Seine Hände auch ein wenig. Seine Augen waren sanft und gebieterisch zugleich.
Da ich es nicht wagte, ihn anzuschauen, umschloss er mein Gesicht mit beiden Händen. Was wollte er? Mein Gesicht glühte. Seine Hände dagegen waren sehr kalt, eisig.
»Du hast dich verändert. Ich will aus dir ein schönes Bild machen. Einverstanden?«
Hatte ich eine Wahl? Es war sowieso nicht das erste Mal. Seit meiner frühesten Kindheit machen alle gegen meinen Willen Liebe mit mir. Ich habe niemals gewagt zu sagen: nein. Ich konnte mir nicht erlauben zu sagen: nein.
Wer bin ich schon, um »nein« sagen zu können?
Auch mein Sidi wollte dasselbe von mir. Mein Geschlecht. Jetzt war er an der Reihe.
Mit ihm war ich einverstanden, mein Gesicht in seinen weißen und kalten Händen, die nach einem frischen Parfüm dufteten. Meinen Körper mit seinem neuen Frauengeruch Sidi hinzugeben war mir eine Pflicht. Eine Ehre?
Durch ein Kopfnicken stimmte ich zu, und am folgenden Tag, spätnachts, ging ich zu ihm in sein Arbeitszimmer, im hinteren Teil des Gartens.
Er trank Kaffee. Er hatte die Leinwand vorbereitet, um mich zu malen. Er hielt eine Postkarte in der Hand. Ich grüßte nicht. Er ebenfalls nicht.
Er trat neben mich. Er schmiegte sein Gesicht an meinen Hals. Und er holte tief Luft. Ich hörte auf zu existieren. Ich war nur noch eine Haut, ein Geruch. Ich kannte weder das eine noch das andere gut. Sidi schien in der Liebe für beides aufzugehen. Wirklich Liebe?
Ich wurde ohnmächtig. Eine oder zwei Sekunden. Ich war in tiefster Verzückung.
Ich kam wieder zu Bewusstsein, ohne die Augen zu öffnen. Sidi war noch immer ganz nahe bei mir. Seine beiden Hände untersuchten mein Gesicht, gestalteten es nach, enthüllten es. Sie waren groß, sanft und stark, diese Hände. Sie rochen gut, frisch. Sie waren weiß.
Sidi ist weiß. Seine Farbe erweckt mich. Ich bin am Leben, mit noch immer geschlossenen Augen. Ich bin nicht mehr auf dieser Erde. Wir sind eins mit der Nacht. Wir schließen Bekanntschaft. Ich lasse alles mit mir geschehen. Ich bin völlig machtlos. Ich bin für Sidi da, ich will ihn. Man hat mir keine andere Wahl gelassen. Ich möchte bei ihm sein. Sein Licht empfangen. Dank ihm weiß werden. Ein Bild werden.
Sidis Hände befassten sich anschließend mit meinen Schultern, meinen Armen, meinen Brüsten. Sie bereisten meinen Oberkörper. Sie entblößten ihn.
Meine Brüste waren freigelegt. Ich fror und schämte mich. Ich schlug die Augen auf, um zu protestieren. Ich konnte aber nicht. Sidi sah mich an. Lächelte mir zu. Und sagte: »Ich bin Hamid. Sag Hamid zu mir. Einverstanden?«
Wie soll das möglich sein? Das wird mir niemals gelingen.
Er bestand darauf: »Ich bin Hamid. Sag nicht Sidi zu mir. Und du, wie heißt du?«
Es war eigenartig. Ich war fast nackt vor Sidi, und er kannte nicht einmal meinen Vornamen.
Es war eigenartig. Jawohl. Sehr eigenartig. Musste man vor dieser Ungerechtigkeit innehalten, verzichten, sich verschließen, hart werden?
Sidi gefiel mir, vom ersten Tag an gefiel er mir.
Ich blieb für seine Begierden, seine Hände, sein Vorhaben offen. Sein sexuelles Vorhaben. Sein künstlerisches.
Ich beantwortete seine Frage, indem ich ihm direkt in die Augen blickte. Eine Herausforderung.
Ich bin Hadda. Hadda. Hadda Salmi. Nachfahrin von Sklaven. Schwarz. Schwarz. Marokkanerin, laut dem, was man mir gesagt hat.
Ich bin Hadda. Ohne Familie aus freier Entscheidung. Von einem Baum abgesägt.
Ich bin Hadda. Ein wenig Hexe. Ein wenig Seherin. Gegen meinen Willen.
Ich bin Hadda. Ich bin vor langer Zeit ausgewandert. Von einem Haus zum anderen bis hierher. Bis zu Euch, heute Abend, Sidi Hamid.
Ich senkte den Blick.
Sidi trat erneut neben mich. Er streichelte mir langsam die Schultern und den Hals, dann murmelte er mir ins linke Ohr: »Nicht Sidi Hamid. Einfach Hamid.«
Für mich war es unmöglich, ihn nur mit seinem Vornamen zu nennen. Unmöglich.
Was geschah zwischen uns? Ich begriff nicht alles. Ich sah lediglich, wie das Verlangen Sidis zunahm und so stark war wie meines.
Sidi hatte das Anrecht, diesem Verlangen Ausdruck zu verleihen und sich mir mit meiner gespielten Passivität zu nähern. Genau das wollte ich auch in jener Nacht. Mich entblößen. Meinen Körper hinter mir lassen. Mein Schicksal hinter mir lassen. Vor Sidis weißes Geschlecht treten und trinken. Sklavin spielen. Die Regeln vergessen. Die Welt vergessen. Meine Haut lieben. Meinen Geruch schenken.
Wir haben keine Liebe gemacht. Besser noch: Wir umkreisten sie mehrere Stunden lang.
Es war heiß. Sidi zog sein weißes Hemd aus. Nun trug er nur eine Blue Jeans und ein graues Unterhemd. Er hatte bloße Füße. Eben war es mir erst aufgefallen. Ich betrachtete sie, diese neuen Füße. Ebenso große Füße, wie der restliche Körper Sidis groß war. Ebenso weiß wie die Schultern breit, wie der Hals massig. Sidi war nicht dick. Nein, überhaupt nicht. Er hatte die Gesundheit desjenigen, der sich auf keine überflüssige Maßlosigkeit einlässt.
Soweit ich gehört hatte, ging Sidi abends nie aus. Nie? Warum?
Fast hätte ich ihm diese beiden Fragen gestellt.
Sidis Füße kamen auf mich zu, immer näher. Sidi, der alles verstanden hatte, sagte: »Gefallen sie dir? Gefallen dir meine Füße?«
Ich senkte den Kopf.
»Nimm den linken. Nimm ihn. Er gehört dir.«
Ich setzte mich in einen Sessel.
Ich nahm Sidis linken Fuß.
Jetzt lag er auf meinen Knien. Ich wagte nicht, ihn zu berühren, zu streicheln, zu küssen. Ich hatte Angst. Die Situation schien mir plötzlich unwirklich. Ich geriet in Panik. Was tun mit diesem linken Fuß auf meinen Knien?
Sidi lächelte. Er nahm eine Tasse mit kaltem Kaffee, die schon lange auf dem Schreibtisch wartete, trank sie in Sekundenschnelle aus und kam zurück zu mir. Er sah mich weiterhin lächelnd an. Meine Panik amüsierte ihn bestimmt. Ich fand das grausam.
War Sidi ein grausamer Kerl?
Der Fuß lockte mich weiterhin. Sidi lächelte nach wie vor. War das eine Ermutigung? Wahrscheinlich. Aber sicher war ich mir nicht.
Ich rang mich zu der Überzeugung durch, dass er grausam war. Ich wagte es also. Ich berührte den Fuß mit der rechten Hand. Er war kalt, dieser Fuß, kalt und erfrischend. Ich mochte das und wollte mehr davon.
Ich legte die andere Hand auf den Fuß. Nun war er ganz in meinem Besitz, in meinen Händen. Es gab nur noch ihn und mich. Ich konnte alles andere vergessen. Ich konnte alles Mögliche erfinden und es sogleich an diesem Fuß ausprobieren. Ich konnte mich ihm nähern, ihn einatmen, ihn nehmen, ihn verschlingen, ihn durch den Mund in mir verschwinden lassen. Ich konnte ihn strafen, ihn kneifen. Ihn beißen. Ich konnte ihn kitzeln, ein wenig, heftig. Ich konnte alles. Sidi schien von vornherein mit meinen Entscheidungen, mit meinen Träumen einverstanden zu sein. Er war hingerissen. Er hatte mir seinen Fuß überlassen.
Ich hatte noch nie einen Fuß aus solcher Nähe gekannt.
Ich nutzte diese Gelegenheit, um aufmerksam diesen unbekannten Kontinent, diese fremde Wurzel zu betrachten. Diese ergreifende Intimität. Die höchste.
Dieser Fuß gehört mir nun für immer.
Sidi hatte es deutlich gesagt und wiederholt: »Er gehört dir, ja dir, dieser Fuß. Nimm ihn.«
Ich glaubte daran.
Ich glaube noch heute daran.
Ich habe diesen Fuß von allen Seiten her durchquert. Und ich habe dort meine Spur hinterlassen. Eine Träne. Eine Klage. Eine aufkeimende Liebe. Einen heißen Kuss. Mein Fünkchen Verrücktheit. Ein Stück meiner schwarzen Haut.
Später in jener Nacht zeigte mir Sidi ein Bild. Eine Postkarte.
»Das bist du. Kannst du sie deutlich sehen, diese Frau? Geh näher ran. Nimm die Postkarte in die Hand. Schau sie dir genau an. Das bist du. Nein? Findest du nicht? Diese schwarze Frau bist du. Dieses Bild aus einem anderen Jahrhundert, das bist du. Das ist ein Gemälde, das man in Paris, in Frankreich, im Louvre-Museum ansehen kann. Es heißt: Porträt einer Negersklavin. Es wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einer Malerin namens Marie-Guillaumine Benoist ausgeführt. Kennst du das Louvre-Museum? Nein? Weißt du, was das ist, der Louvre? Hast du schon einmal davon gehört? Nein? Und Paris? Auch nicht. Macht nichts. Macht nichts. Ich habe dieses Gemälde vor langem während meines Studiums in Paris dort entdeckt. Es hat mich sofort fasziniert, und ich bin Dutzende Male wieder hingegangen, um es zu bewundern. Um die schwarze und stolze Frau zu begrüßen. Ich war in sie verliebt. Das bin ich noch immer. Da ich sie immer wieder betrachtete, hatte ich einen Teil der geheimnisvollen Schönheit schwarzer Frauen erfasst. Verstehst du? Das ist sehr wichtig für mich. Diese Postkarte, die du in der Hand hast, hat mich immer begleitet. Vor zwei Wo chen habe ich dich gesehen. Ich weiß nicht, seit wann du bei uns arbeitest. Ich habe dich gesehen. Ich habe dich wiedererkannt. Ich konnte es nicht fassen. Du bist wie die schwarze Frau auf dem Gemälde. Genau wie sie. Du bist sie. Es ist unglaublich. Du bist sie. Ständig weiß gekleidet, wie sie. Du hast ihre merkwürdigen Augen. Ihre wuchtige Stirn. Ihre klobige Nase, die ich jedoch sehr zart finde. Du bist geheimnisvoll wie sie. Du bist vom gleichen Schwarz wie sie. Vom gleichen Schwarz. Du bist wie ein Ruf. Du leuchtest. Du hast mich gerufen. Glaubst du mir? Du musst mir glauben. Du bist ein Rohmaterial, faszinierend, ein seltenes Element, ein unglaublicher Körper. Ich muss dich malen. Ich muss . . . Ich muss ein Bild aus dir machen. Ich muss . . . Ich muss etwas in dir für mich nehmen. Das bist du. Dir verdanke ich, dass ich mich an diese Malerei erinnere. Der Wunsch zu malen wird in mir wach. Ich muss dich malen. Dich ehren. Glaubst du mir? Ich meine es ernst. Glaubst du mir? Du inspirierst mich. Glaubst du mir? Bist du einverstanden? . . .«
Es hat ein Jahr gedauert.
Und es hat kein Ende gegeben.
Die Frau des Gemäldes war nicht ich. Sie sah mir nicht ähnlich. Sidi irrte sich. Ihr Schwarz ist nicht mein Schwarz. Vielleicht waren uns nur die Augen gemeinsam. In der Tat merkwürdige Augen. Traurige, verbitterte Augen, ihre etwas mehr noch als meine.
Sidi gefiel mir wirklich. Ich sagte es ihm nicht. Ich hatte kaum etwas von dem verstanden, was er mir erzählt hatte. Ich ließ ihn glauben, was er glauben wollte. Ich schenkte ihm meinen Körper. Meine Nächte. Meine Geschichte ohne Worte. Meinen Atem. Ohne mir Fragen zu stellen. Für ihn drehte ich die Zeit zurück. Ich nahm die Pose der Negersklavin auf dem Gemälde ein. Ohne mich mit ihr zu identifizieren. Ohne sie zu mögen.
Ich bin Hadda. Ich werde nie eine verwandte Seele finden. Ich kann die Zukunft voraussagen. Die verborgene Vergangenheit aufdecken. In mir die Stimmen einer anderen Welt aufnehmen.
Ich bin Hadda. Auf der Flucht vor meinem Schicksal. Man will, dass ich eine Hexe werde, dass ich die Nachfolge antrete. Dass ich sehe.
Ich will nicht sehen. Ich will nicht für die anderen sehen. Ich verweigere diese Verantwortung, diese Last.
Doch sie bestehen darauf. Sie sagen, ich sei eine besondere Frau, ich sei die Auserwählte. Ich hätte keine andere Wahl. Sie wollen, dass ich die Welt verlasse, dass ich mich ihnen hingebe. Die Geister. Die Dschinns. Als Vermittlerin dienen. Als Bindeglied. Als Ort.
Ich weigere mich.
Ich bin nicht diese Frau. Ich bin keine gute Frau. Ich bin schlecht. Ein Luder. Eine Hure. Ich spreize meine Schenkel für jeden. Ich verrate jeden. Ich bin jung, zu jung. Ich habe bereits eine erste Welt verlassen, meine Familie. Ich will nicht wieder auf endlosen Straßen weiterziehen. Ich sehe nicht. Ich kann nicht sehen. Ich verweigere dieses Schicksal, das mir aufgezwungen wird. Ich bin raffiniert, verkommen, sexuell, schmutzig. Ich lebe in der Schande. Ich bin keine gute Muslimin. Ich bin keine Muslimin. Gott liebt mich nicht. Nicht einmal die Frau des Gemäldes liebt mich.
Ich werde nicht sprechen. Ich werde nicht mehr sprechen.
Ich dringe noch tiefer in das Schweigen ein.
Schließlich gelang es mir, sie zu überzeugen. Sie hörten auf, mir frühmorgens einen Besuch abzustatten, kurz vor Tagesanbruch. Sie ließen mich in Ruhe. Haben sie mich vergessen? Nein, ich weiß, dass sie das nicht taten. Sie werden nicht lockerlassen. Sie werden mir nie von der Seite weichen.
Es gefiel ihnen nicht, dass ich meine Nächte damit verbrachte, für Sidi nackt Modell zu sitzen. Mich ohne Worte mit ihm zu verständigen. Ihrer Auffassung nach entfernten mich diese nächtlichen Zusammentreffen vom Wege der Reinheit, der Heiligkeit. Ich verlor meine Zeit, meinen Weg, meine Berufung. Ich täuschte mich. Sie wiederholten, dass mich mein Schicksal früher oder später einholen, wieder einholen würde.
Mag sein.
Einstweilen gefiel es mir, jede Nacht die Augen Sidis wiederzufinden. Die Gemälde Sidis. Die Hände Sidis. Das Geschlecht Sidis.
Die Negersklavin des Gemäldes mochte mich nicht. Zu Recht.
Sie war im Lauf der Zeit zu meiner Rivalin geworden. Zu meiner Gegnerin. Augen, die sich nie schlossen. Auch sie hatte die Gabe zu sehen.
Sie musste getötet werden.
Ich werde es tun.
Es gibt Momente, in denen ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Alle Fiktionen, die ich für mich ersonnen habe, hören auf. Aller Geschmack in mir löst sich in Luft auf. Ich bin mit niemandem mehr verbunden. Weder mit den Dingen noch mit den Zeichen.
Ich bin abgetrennt. Leer. Zerborsten.
Ich durchquere eine unermessliche Nacht. Ich erreiche die Einsamkeit, ihre Quelle. Ich trinke.
Mein Körper ist sonderbar. Die wunderlichen Empfindungen, die ihn durchdringen, quälen mich. Ich habe im mer mehr Visionen. Jeden Tag wird mir die Wahrheit gezeigt. Die blanke Wahrheit. Die Wahrheiten. Blank. Ich weiche ihnen aus. Sie interessieren mich nicht.
Ich bin nicht bereit. Ich werde es nie sein.
Nochmals umherirren? Sich nochmals verlieren? Noch einmal? Sich selbst aufgeben, obwohl man lebendig ist?
Gebt mir diese Fähigkeit nicht. Die Hexenkunst ist nichts für mich. Mir fehlt die Begabung dafür. Ich werde nicht wissen, wie man vorgehen muss. Ich werde sie nicht erlernen. Ich will meinen Körper nicht aufgeben. Ich kenne ihn noch nicht gut genug. Lasst ihn in Frieden. Lasst ihn in Frieden. So hat er genug gelitten. Lasst mich noch über ihn wachen, das ist alles, was ich habe. Lasst mich ihn zurückholen in den Mittelpunkt meiner Welt. In Berührung mit der weißen Haut von Sidi Hamid. Habt Erbarmen mit ihm, mit mir, mit uns. Bitte. Bitte. Das bin nicht ich. Ihr täuscht euch. Was soll ich nur tun, um euch zu überzeugen? Hört ihr mir zu? Seid ihr da? Da, in mir? Mich erwartet das Leben, lasst es mich in Ruhe genießen. Hört ihr mich? Bitte, hört ihr mich?
Mein Körper hörte mir nicht zu. Er gehörte ihnen, von Anfang an.
Mein Körper verriet mich.
Eine Stimme sagte zu mir: »Du bestimmst nicht über dich selbst. Du wirst nie über dich selbst bestimmen.«
Ich glaubte ihr nicht. Hätte ich ihr glauben sollen? Mir all dieses Leid ersparen? Aufhören, mich zu widersetzen?
Ich kenne ein Mädchen wie mich, dem man denselben Namen gab wie mir. Auch dieses Mädchen sagte nein. Alle drängten es dazu, Seherin zu werden, sich zu opfern, auf sein Leben zu verzichten. Seine Familie, bebend vor Angst, hatte es verkauft. Es war stark, stärker, als man gedacht hätte. Tag für Tag, Nacht für Nacht sagte es weiterhin nein.
Ich war sehr jung, ein fünf- oder sechsjähriges Kind, als sich all dies ereignete.
Es hatte gewonnen. Jedenfalls glaubten das alle. Man hatte es befreit, man hatte es wieder den Freuden seines Mädchenlebens überlassen. Wir täuschten uns. Wir alle täuschten uns. Eines Morgens wurde es tot in seinem Bett aufgefunden, inmitten seiner Schwestern.
Sie waren es, ja sie, die es beherrschten. Es war ihr Besitz. Allen wurde es erneut bewusst, und alle hatten erneut den Beweis dafür.
Es war ungehorsam. Es wollte nicht hören, was man ihm sagte. Es hatte gekämpft, allein, von allen im Stich gelassen. Und genau in dem Augenblick, in dem es glaubte, seine Dämonen endgültig besiegt zu haben, zeigte man ihm das Gegenteil.
Sie brachten es um.
Das wurde im Viertel meiner Kindheit gemunkelt, in dem sich plötzlich eine riesige Welle der Angst ausbreitete. Ja, ich weiß es, sie brachten es um.
Auch dieses Mädchen war schwarz. Es hieß Hlima.
Ich werde Hlima nie vergessen.
In meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass sie sich sehr bald einem anderen Mädchen zuwenden würden. Ich wusste, dass ich es sein würde.
Die unerträglichen Geräusche in meinem Kopf setzten am Tag von Hlimas Begräbnis ein. Die fremden Stimmen in den Ohren einen Monat später.
Es gab keinen Zweifel mehr. Ich bestimmte nicht mehr über mich selbst. Wie von Hlima war auch von mir Besitz ergriffen worden. Nach und nach.
Ich schrie. Keiner hörte mich. Ich schrie wieder und wieder. Keiner kam, um mich zu retten. Nur Hlima verstand mich.
Eines Morgens floh ich von zu Hause.
Meine Mutter hatte mich verkauft. Sie hatte schon am Tag meiner Geburt ein Abkommen mit ihnen geschlossen. Sie sagte, dass wir reich werden würden, sehr reich. Sie war freundlich, sie erklärte mir alles, sie sagte, ich sei trottelig, einfältig. Ich musste dem Abkommen zustimmen, für einen Verzicht war es zu spät. Ich musste mich opfern.
Ich hatte Angst. Ich hörte auf, meine Mutter zu lieben. Ich ging fort.
Ich bin frei.
Ich wechsle von einem Haus zum nächsten. Als Hausmädchen. Sklavin. Nutte.
Die anderen glauben, sie kaufen mich, indem sie mit mir machen, was sie wollen. Befehle. Beleidigungen. Böse Blicke. Spucke. Hiebe. Sperma.
Ich habe es beschlossen: Ich fliehe, um frei zu sein. Frei zu bleiben. Trotz der anderen. Trotz der Besitzergreifung.
Ich denke an Hlima, und ich kämpfe. Ich führe ein ausschweifendes Leben, um meine Reinheit zu verlieren. Ich hoffe, dass sie mich derart besudelt und schmutzig nicht mehr wollen. Dass sie verzichten. Dass sie mich schließlich vergessen. Dass sie sich eine andere vornehmen.
Ich warte. Ich schlage keine andere Richtung ein. Ich tue nichts anderes als fliehen. Seit meiner frühesten Kindheit bin ich unterwegs. Irre ich umher.
Ich habe mich an dieses Leben ohne festes Zuhause, ohne liebendes Herz, ohne Bruder, ohne Schwester gewöhnt.
Ich bin meine eigene Mutter. Mein eigener Bruder. Meine eigene Schwester. Ich bin die gesamte, im Streit ent zweite, rings um eine leere Kuskusschale wiedervereinte Familie.
Ich bin Hadda.
Zuvor war ich Kamela.
Ich verließ meine Familie. Ich beschloss, eine andere zu sein, ich selbst und eine andere, mit einem neuen Vornamen. Endlich wirklich.
Hadda.
Das Haus meiner Mutter war nicht weit entfernt, es verfolgte mich, ich sah es nachts, in meinem Herzen. Ich bin hart geworden. Ich habe diese Bilder aus meinen Augen verbannt. Weiterhin war ich auf der Flucht, suchte das Weite, verbannte immer mehr meine Mutter aus mir. Und nannte mich ab sofort anders. Hadda.
Ich hoffte, sie würden mich vergessen. Sie würden mich erlösen. Sie würden mich verstehen. Sie würden sich schämen, in mir zu wohnen. Sie würden sich die Nächste vornehmen.
Weit gefehlt!
Sie sind nach wie vor hinter mir her.
Ich werde wieder aufbrechen müssen.
Nachts saß ich für Sidi Modell.
Zwei- oder dreimal wöchentlich gaben mir Khalid, Sidis Sohn, und sein Freund Omar Unterricht. Sie brachten mir heimlich bei, Arabisch zu lesen und zu schreiben. Ohne es zu ahnen, bereiteten sie mich darauf vor, meine Haut zu retten, eines Tages wie sie zu leben, weit weg zu gehen, den Wald hinter sich zu lassen, den Fluss zu überqueren.
Ein Jahr erlebte ich jede Nacht die Wiederentdeckung der Sinneslust, war ich auf dem Weg der Liebe und ihrer Illusionen. Ich spaltete mich. Ich ließ Sidi einen Teil meiner leichtgläubigen Seele stehlen. Ich gab mich seiner Kunst hin, ohne davon etwas zu verstehen. Sidi war langsam, pingelig, zwanghaft. Er geriet in kaum fassbare Zustände. Er brüllte vor Wut. Er wollte unbedingt dieses Porträt von mir zustande bringen. Und es fiel ihm sehr schwer. Es gelang ihm nicht, die in Paris erlernten Techniken wieder anzuwenden. War er als Maler begabt? Ich wusste es nicht, und ehrlich gesagt war es mir ziemlich schnuppe. War er aufrichtig in seinem dringenden Verlangen, mich zu malen? Ja, er war es. Zumindest am Anfang. Die ersten sechs Monate. Danach war es etwas anderes. Wir kamen direkt zur Sache, ohne erst die Kunst zu bemühen.
Wir bumsten. Er bumste mich. Von sich lieben keine Spur mehr. Wir bumsten. Wie Tiere.
Ich wehrte mich nicht.
Um Sidi möglichst lange zu behalten, musste ich widerspruchslos seine Sexualität hinnehmen. Seine Bewegungen. Seine Stellungen. Sein Ziel: mein Hintern.
Ich kam in sein Arbeitszimmer, das im hintersten Teil des Gartens verborgen war. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Wie ihn erregen. Wie ihm seine Gewalt, seine Brutalität entlocken. Seinen Egoismus. Seine Feigheit. Seine schöne Männlichkeit am Rande der Ohnmacht.
Ich brauchte fast zehn Monate, um ihn zu verstehen. Sidi war nicht Sidi. Letztlich war er wie alle anderen. Ein Schönredner wie alle anderen. Ein treuloser Kerl. Hatte er wirklich, wie es andauernd behauptet wurde, außerhalb des Hauses viel Macht? Ich bezweifelte es. Ja, er war wie alle anderen, wie alle, alle . . . Wie die, die sagten, sie wollten mir wahrhaft Gutes tun. Mich beschützen. Mich lieben. Mich zum Orgasmus bringen. Sie dachten nur an sich selbst. Sie sahen mich nicht. Sie vergewaltigten mich. Aber waren sie sich darüber überhaupt im Klaren? Für sie war es Routine. Für mich ein schrecklicher Schmerz: ein Verrat. Ein Verbrechen. Bei wem hätte ich mich in diesem Land beklagen können?
Sidi wurde meiner überdrüssig. Er hatte meine ganze Person ausgeschöpft. Ich war reizlos für ihn geworden. Meine körperliche Gegenwart war nicht mehr ausreichend. Ich verschwand nach und nach aus seinen Augen.
Dennoch hing ich weiterhin an ihm und liebte ihn auf meine Art. Mit meinem Körper, ohne meine Worte liebte ich ihn.
Er wusste es. Er sah es.
Er hatte seinen Entschluss gefasst. Er sagte mir nichts. Aber ich sah es genau.
Was tun? Er war der Herr des Hauses. Da ich ihm nun so gut wie nichts mehr bedeutete, war er es wieder geworden. Der Herr. Der mächtige Herr.
Mein Porträt? Es würde für immer unvollendet bleiben.
Ich erwartete das Urteil von einem Tag auf den anderen.
Noch zwei Monate musste ich aushalten.
Zwei Monate Sinneslust? In meiner Vorstellung von der Liebe?
Zwei Monate, um mich wieder an den Niedergang zu gewöhnen, wieder unterwegs zu sein, den gleichen Weg einzuschlagen, den der Flucht.
Zum Glück waren Omar und Khalid da, um mich zu unterstützen. Sie eröffneten mir eine andere Welt. Dank ihrer würde ich eines Tages alles mit anderen Augen sehen. Das Leben anders anpacken. Mich offenbaren. Sprechen. Mit wem?
Wussten sie, was da mit Sidi lief?
Omar ja, ohne jeden Zweifel. Khalid nicht. Nein?
In den letzten zwei Monaten bin ich ihnen sehr viel näher gekommen. Ich sprach nicht mit ihnen. Doch ich be obachtete sie. Ich wachte auf meine Weise über sie. Ich gab ihnen zu essen, besonders Omar. Ich betrat Khalids Zimmer und sah ihnen zu, wie sie schliefen, der eine an den anderen geschmiegt, der eine im anderen. Ihre Freundschaft schien mir stark, unerschütterlich, losgelöst von den Regeln, und das gefiel mir. Sie waren etwas Besonderes. Sie schrieben eine ganz besondere Geschichte. Ich träumte mit ihnen. Für sie. Fern von ihnen. Immer ferner.
Ich bin in einem schönen Tal, das in der Nähe des Flusses Bou Regreg endet. Ich gehe auf die andere Seite. Ich komme nur mühsam voran. Ich steuere auf das alte Marokko zu, das Touarga-Viertel in Rabat.
Ich habe gestern in Khalids Zimmer geschlafen. Er war wohlwollend, großzügig, sanft.
Das Urteil war verkündet worden. Am Spätnachmittag. Nicht, wie ich erwartet hatte, durch Sidi, sondern durch seine Frau. Lalla, Khalids Mutter. Auch sie wusste Bescheid. Von Anfang an. Sie war sehr deutlich, sehr präzise. Sehr ruhig. Kalt. Zynisch. Hastig. Eine Minute.
Eine Minute, um zu sterben.
»Du bist ein gutes Mädchen. Brav. Ruhig. Gehorsam. Ich habe dir nichts vorzuwerfen, doch Hamid ist deiner überdrüssig geworden. Er will dich nicht mehr sehen. Du musst gehen. Heute Abend. Sofort. Hier ist dein Gehalt für den letzten Monat. Auf Wiedersehen.«
Zweihundert Dirham.
Protestieren? Das kam mir gar nicht in den Sinn. Gerne hätte ich sie jedoch beleidigt. Dazu fehlte mir der Mut. Ich senkte den Kopf. Ich spielte die Untergebene.
Ich packte meine gesamten Habseligkeiten in einen gelben Weidenkorb. Und ich bin aufgebrochen. Ohne mich von jemandem zu verabschieden. Es war dunkel. Ich wusste nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte. Mindestens eine Stunde lang irrte ich um Sidis prunkvolle Villa im Kreis herum. Ich begegnete Khalid. Er war sonderbar. Sonderbarer als sonst. Orientierungslos, auch er.
Er sagte: »Nächste Woche werde ich Hassan II. kennenlernen.«
Er hätte eigentlich glücklich, entzückt sein sollen. Er war es nicht. Er dachte nur an das Eine, den König und wie er ihm die Hände zu küssen hatte.
Er fügte hinzu: »Willst du mir nicht beibringen, wie man es richtig macht? Wärst du so nett?«
Ich antwortete ihm, dass mich seine Mutter weggejagt hatte.
»Dann verbringst du deine letzte Nacht bei mir im Zimmer. Niemand wird es erfahren.«
Stumm probten wir die ganze Nacht. Er spielte Hassan II. Ich spielte Khalid. Dann umgekehrt.
Ohne zufriedenstellendes Ergebnis.
Nach einer Stunde wurde die Übung ulkig.
Wir begannen zu lachen wie Kinder. Unterdrücktes Gelächter. Ungehemmtes Gelächter.
Und wir gingen schlafen. Khalid in sein Bett. Und ich am Fußende seines Bettes.
In der Dunkelheit bat mich Khalid, ihm eine Geschichte zu erzählen. Die Wahrheit zu sagen. Zu reden. Nur zu reden.
Reden, um was zu sagen? Welche Wahrheit? Die Wahrheit über Sidi und mich? Die Wahrheit über mein Schicksal? Mit meiner Stimme sprechen? Mit den Stimmen meiner Herren?
»Sprich, sprich, Hadda, ich werde alles glauben, was du sagen wirst. Sprich. Sprich mit mir.«
Ich sprach mit einer anderen Stimme. Sie sagte Dinge, die nicht von mir kamen und die ich nicht verstand. Eine Vergangenheit, an die ich mich nicht erinnerte. Eine traurige und heldenhafte Geschichte. Khalid war hingerissen.
Und ich? Ich fiel. Erneut fiel ich.
Sie ergriffen Besitz von mir. Sie lieferten sich in mir ihre letzte Schlacht. Ich hatte nichts mehr zu tun. Ich wohnte meiner eigenen Zerstörung bei. Das Chaos in meinen Ohren war entsetzlich, unerträglich.
Ich erhoffte mir eine letzte, sanfte Nacht in Khalids Zimmer, neben Khalid. Diese Hoffnung ließ man nicht für mich in Erfüllung gehen. Ich fiel. Sie gingen erneut zum Angriff über.
Ich leistete keine Gegenwehr. Sie gewannen im Nu.
Ich verlor. Von vornherein hatte ich verloren.
Sie gaben mir den Weg an: den Fluss überqueren, den Bou Regreg.
Es ist Donnerstag.
Der König wird vorbeifahren. Sein Festzug wird auf dieser Straße vorbeifahren. Die Leute warten seit heute morgen auf ihn. Es sind viele. Zu viele. Lieben sie alle wahrhaftig und aufrichtig den König?
Der König wird vorbeifahren. Ich werde ihm vorangehen. Vor ihm in seinen Palast gehen. Mich schwarzen Brüdern und Schwestern anschließen, die seit Jahrhunderten und Aberjahrhunderten für ihn und die Alawiten-Dynastie arbeiten.
Touarga. Das ist der Name. Der Mythos. Es gibt gefallene Frauen, die nach Azemmour gehen. Ich gehe ins Touarga-Viertel. Sklavin werden. Wieder Sklavin werden. Offiziell.
Touarga. Das ist Mekka. Ein Viertel direkt neben dem Königspalast von Rabat. Von der gleichen Mauer abge schirmt wie der Palast. Außerhalb der Welt. Von der Welt abgeschirmt.
Touarga ist die Rettung.
Ehrlich gesagt habe ich es mir nicht ausgesucht. Mir wurde gesagt, ich solle dorthin gehen. Auf die andere Seite. Dort werde ich erwartet. Es wird mein lebenslanges Gefängnis werden. Mein vorgezeichnetes Schicksal.
Ich tue, was sie von mir verlangen. Ich werde nicht zu meiner Mutter zurückkehren.
Ich werde zum König gehen. Ich werde um seinen Schutz bitten. Ich werde ihn erhalten. Ich habe ihn. Das wurde mir gesagt. Die Türen werden geöffnet sein. Das wurde mir versichert.
Ich gehe zum König. Ich laufe. Ich laufe. Ich nähere mich ihm. Ich spreche mit mir selbst.
Ich bin schwarz. Ich bin das schwarze Volk.
Ich bin Hadda. Heute Abend werde ich es nicht mehr sein.
Ich werde ein weiteres Mal den Vornamen wechseln müssen. Mich den Leuten, den Unbekannten auf andere Weise vorstellen.
Ich durchquere das Tal. Ich schwimme im Fluss Bou Regreg. Ich verlasse die Stadt Salé.
Ich verlasse die Welt. Vom Wind getrieben. Von meinen Herren.
Sidi Hamid ist nicht mehr mein Sidi.
Heute Abend wird der König mein Sidi sein. Mein neuer Sidi. Ich werde ihm die Hände küssen. Wie es sich gebührt. Und die Füße auch. Den rechten Fuß und dann den linken. Ich werde ihm meine Fähigkeiten anbieten. Er wird mich in Dienst nehmen.
Heute Abend werde ich so schwarz sein, wie es von mir verlangt wurde.
Ich werde so tun als ob.
Ich habe die Grenze hinter mir gelassen. Die Schranken. Ich bin in Rabat.
Ich bin in einem neuen Gebiet. Hier in der Gegend ist das Tal rot.
Ich spreche immer noch.
Ich führe Selbstgespräche.
Ich war zu lange in der Stille. Bevor ich dorthin zurückkehre, spreche ich. Das ist meine letzte Chance. Wie ein kleines Kind sage ich Wörter mit meinem Mund. Sie sind neu. Ich sage sie auf Arabisch: die Sprache, die mir gegen meinen Willen gegeben wurde und die alle anderen beinhaltet, die der Ahnen, die in mir noch lebendig sind. Ich spreche mit ihnen. Ich spreche sie aus. Ich erzähle sie.
Ich spüre, dass ich einmal einen Mord begehen werde. Also spreche ich. Um diesem Verbrechen zu entgehen, spreche ich. Ich spreche leise. Ich murmle. Ich lese. Ich sehe.
Gott ist nicht tot. Er schläft nur.
Ich suche einen Schatz. Er wird ein Geschenk sein. Für wen?
Für mich.
Ich denke an mein unvollendetes Gemälde. Ich wollte es mir holen. Es stehlen. Die Liebe zu Sidi Hamid hielt mich davon ab. Ich habe ihm eine Spur hinterlassen, eine glückliche und unglückliche. Den Beweis für meine Besitzergreifung. Für meine Entfremdung. Ein Bild in Verzückung, ein schwarzes und unvollendetes Bild.
Die Welt öffnet sich und schließt sich wieder vor mir. Die Stimmen sprechen schneller. Das Böse verbreitet sich. Die maßlose Einsamkeit empfängt mich. Der Königspalast von Rabat rückt näher. Ich sehe die Polizei ringsum. Die Risiken. Die Angst. Ich bleibe stehen. Ich kenne die Geschichte, die mich dort erwartet. Ich wende mich Salé zu. Ich betrachte es, diese kleine, erdrückte Stadt. Weit, weit entfernt von den Jahrhunderten ihres Ruhmes. Ich streichle sie. Ich beweine sie: eine schwarze Wolke kommt von fern für sie, auf sie zu. Ich kann nichts machen. Bald wird das dichte Schwarz Salé von überall her umhüllen. In diesem Augenblick werde ich weit weg sein, versteckt in meinem entlegenen Loch in Rabat, in einem anderen Zimmer im hintersten Teil eines anderen Gartens.
Ich bete für Salé.
Ich bete für mich.
Ich denke an Khalid, an Omar. Beide nackt. Ich wähle Omar, arm und verloren wie ich, ohne Mutter wie ich. Irgendwann schwarz, wie ich. Ich strecke ihm die Hand entgegen. Er nimmt sie. Er drückt sie. Er klammert sich an mich: Ich klammere mich an ihn. Ich mache ihm ein Geschenk: Ich spreche mit ihm. Er hört mir zu, er weint nicht. Ich werde ihn nicht vergessen. Durch mich wird er einmal für sein grausames Schicksal gerächt werden. Wir sagen uns auf Wiedersehen: einstweilen auf Wiedersehen.
Ich komme nach Rabat zurück. Ich küsse es. Es stößt mich zurück. Es ist kalt. Mitten im Sommer. Es wird regnen. Immer heftiger.
Rabat, die Hauptstadt Marokkos, kennt keinen Sommer.
Der Winter wird die Jahreszeit meines verbleibenden Lebens sein.
Ich bin Hadda.
Ich bin schwarz.
Man sah mich nicht.
Man sieht mich immer noch nicht.
Ich werde niemals frei sein.
Ich werde nie ich sein. Mein eigen.
Heute Abend nehme ich einen anderen Vornamen an.
Ich bin Kamela gewesen. Für ein paar Minuten bin ich noch Hadda. Heute Abend werde ich dem König, dem Himmel, den Dschinns, den Hexenmeistern, den Folterknechten, den Verbrechern, den echten und falschen Imamen, den Männern, nur den Männern, meinen neuen Vornamen sagen. Mit meiner neuen Stimme.
Amal.
Amal, wie mein Bruder, der kleine Halunke, der wegen einer Lappalie im Gefängnis starb.
Amal, wie ein Junge. Amal, ein Vorname für ein Mädchen wie für einen Jungen.
Amal, wie die Hoffnung, die heute Nacht für alle Zeiten sterben wird.
Amal. Eine Andere, und immer noch schwarz. Kahlla. Kahloucha.
Ein Stern. Ein Schimmer. Ein Trugbild. Ein endender Schrei.
Ein Sturz.
Ein plötzlich aussetzender Atemzug.
Ein kalter, vergessener, unbekannter Körper.
Ein unrechtmäßiges Grab. Ohne eigenes Land.