Freitag

Genau das werde ich zu Gott sagen. Genau so werde ich zu Gott von Khalid sprechen. Ich werde die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit dieser Geschichte. Dieser drei letzten Tage. Dieser drei letzten Monate.

Ich habe Khalid getötet. Ich bin neben Khalid. Nicht weit von Khalid. Ich sehe den Fluss, der ihn verschlungen hat.

Ich hatte Khalid angelogen. Ich kann nicht schwimmen. Ich hätte ihn nicht retten können. Ich wollte ihn nicht retten.

Ich wollte ihn nicht retten?

Jetzt ist es zu spät, für ihn wie für mich.

Einen Augenblick lang denke ich an vorher.

In einem rasend schnellen Blitz, in einer Sternschnuppe sehe ich diesen Traum, diesen Alptraum wieder, diese Rückkehr zum Ursprung unserer Freundschaft, von Khalid und mir. Unsere Rivalität. Unseren Lauf. Den Tod am Ende des Tages. Keine Zukunft. Weder für ihn noch für mich.

Ich hatte keine Angst. Es war, als hätte ich schon immer mit diesem Todesgefühl gelebt.

Sein Körper machte »plaaatsch«, als er in den Fluss fiel. Ich wartete. Ich wartete, um sicherzugehen, dass er nicht wieder auftauchte. Gelassen wartete ich bis in die Nacht.

Ich wusste, dass es im Fluss von äußerst gefährlichen Strudeln wimmelte. Sie hatten etliche Jungs aus meinem Viertel in die Tiefe gezogen, obwohl diese hervorragende Schwimmer waren. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Sie waren nicht meine Freunde. Ich hatte ihre Vornamen vergessen.

Im Augenblick des Umbruchs, wenn der Tag zur Nacht wird, kamen mir diese entfernten Vornamen wieder in den Sinn. Ich sagte sie mir auf. Endlich sollten wir wahre Freunde werden: Said. Jaâfar. Youssef. Hamid. Nabil. Abdelkader. Amine. Hicham. Nourreddine.

Neun Vornamen. Neun Jungs in meinem Alter. Mit dem gleichen Weg. Mit dem gleichen Aussehen. Eine Zeitlang verfeindet. Und nun gemäß der göttlichen Verheißung wieder versöhnt. Khalid war bei ihnen eingetroffen. Er ist sicher gerade dabei, mit ihnen Bekanntschaft zu schließen. So stellt er sich vor: »Ich bin Khalid, Omars Freund. Omar aus dem Bettana-Viertel. Ich bin Khalid aus dem Collège Hay-Salam.«

Sie sind zehn. Sie sind zehn und spielen bereits. Sind sie befreit? Haben sie vergessen? Haben sie sich auf der Stelle wiedererkannt, weitab von den Barrieren und Grenzen dieser Welt, der ich noch angehöre?

Herrscht dort ununterbrochen Tag? Und wie ist die Sonne an diesem unsichtbaren Himmel? Und Gott? Und seine Engel?

Und der Teufel: Ist er noch immer der Teufel?

 

Mir ist kalt. Die Nacht geht zu Ende. Ich habe die gebrochene Brücke wieder verlassen. Allein den Wald von Aïn Houala durchquert.

Ich bin keinem einzigen Mörder begegnet. Außer mir.

Ich hatte keine Angst. Ich dachte nach, ohne Schuldgefühle. Ich habe Khalid hinabgestoßen. Er selbst wollte es so. Ich habe ihn hinabgestoßen. Es war die einzige Möglichkeit, die mir blieb.

Das Ende der Eifersucht.

Die Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit erwidern.

 

Ich war in einer anderen Welt. Ich wusste, was ich getan hatte. Noch war ich mir nicht ganz im Klaren darüber. Ich ging durch den Wald. Seine Bäume schützten mich vor der Kälte. Seine wenigen Tiere leisteten mir Gesellschaft. Auch die wildesten unter ihnen griffen mich nicht an: Hatten sie Angst vor mir? Witterten sie den Geruch des Mordes, den mein ganzer Körper verströmte?

Ich lief. Ich kannte den Weg. Selbst in der Dunkelheit wusste ich, wo ich weitergehen, wo ich abbiegen musste. 

Wo aufhören?

Mein Vater? Meine Mutter? Sie existierten nicht mehr. Ich war nicht mehr ihr Kind. Ich gehörte von nun an einer Kraft an, die sie übertraf, die sie nie zuvor gekannt hatten. Ihre Geschichte, ihre Liebe, ihre Streitigkeiten, ihre Trennung. All dies hatte nun keinerlei Bedeutung mehr.

Mein kleiner Bruder?

Als er mir in den Sinn kam, hielt ich an, ich suchte den ungastlichsten Baum, den spindeldürrsten, ich näherte mich ihm, ich umschloss ihn mit den Armen, ich drückte fest, ich lehnte den Kopf an ihn, ich küsste ihn, ich gab ihm einen Vornamen. Dreimal denselben Vornamen. Den meines Bruders. Othman.

Er wird mir fehlen. Ihm werde ich nachweinen. Ihn werde ich herbeirufen. Ich werde für ihn einen Platz zurückbehalten. Einen Stern für ihn. Ihn werde ich wirklich kennen.

Ich lief barfüßig durch den Wald. In der rechten Hand einen Lippenstift. Chanel. Er war neu. Er kam aus Paris. Er war für Khalids Freundin bestimmt. Er war das Einzige, was ich mitnahm, als ich die gebrochene Brücke verließ. Warum, wusste ich nicht.

Nun, auf dieser Straße, mitten im Wald, weiß ich es. Nun, da die Nacht vorbeigeht, wird dieses Verbrechen wiederkehren, und die Erinnerung daran wird entsetzlich sein. Ich sehe die Schuld, sie kommt rasend schnell auf mich zu.

Ich will kein Urteil. Ich will keinen Skandal. Ich will nun auch gehen.

Beißende Kälte. Ich bin mitten auf der Straße. Ich warte auf das erste vorbeifahrende Auto, um mich ihm anzubieten. Ich warte, nicht auf den Tod, sondern auf das Feuer, das mich an einen anderen Ort mitnehmen wird. Zu Khalid zurückkehren.

Er fehlt mir, Khalid.

Wo bist du, Khalid? Im Fluss? In einem Strudel in der Tiefe des Bou Regreg?

Wo bist du, Khalid? In der Erde? Im Himmel? Im Wasser jenseits der Welt?

Das Feuer wird es mir sagen. Das Feuer wird mich anleiten. Das Feuer wird mich bestrafen und mir verzeihen. Das Feuer wird uns alle vernichten und wieder lebendig werden lassen, die Gleichen, nur anders, ewig.

Das Feuer. Ich habe keine Angst. Ich werde nicht weinen. Ich bin bereit.

Ich trage Khalids Unterhose. Ich habe Lippenstift aufgelegt. Ich bin Omar. Ich bin weder ein Junge noch ein Mädchen.

Ich bin eins mit dem Verlangen: dasjenige, das mich auf die Welt gebracht hat. Ich bin eins mit dem Zeitpunkt des Verlangens. Ich werde ihm vorhergehen, es widerrufen, es sprengen, es neu schreiben.

Meine Lippen sind rot. Gefallen sie Gott so? Meine Augen sind rot. Sind sie Freunde Satans? Mein Geschlecht ist rot. Ich friere. Es gehört mir nicht mehr.

Die Welt hat einen Geruch. Ekelhaft. Stechend. Eindringlich. Unerträglich. Köstlich. Eine Droge. Den Geruch der Müllhalde der Amerikaner. Die berühmte und legendäre Müllhalde der Amerikaner. Es gab sie nicht. Doch, es gab sie. Es gibt sie. Ich rieche sie. Sie packt mich. Hüllt mich ein. Ihr Geruch wird mein Geruch sein. So werde ich gehen, von ihm überdeckt. Dies wird meine letzte Erkenntnis sein. Meine letzte Erinnerung.

Ich bin bereit. Mitten auf der Fahrbahn sitzend. Auf dem schwarzen Teer.

Ich bete nicht. Ich kann es nicht erwarten zu gehen. In ein neues Wesen einzutreten. Einen anderen Körper. Ich kann es nicht erwarten zu sehen. Ich kann es nicht erwarten, zu Gott zu sprechen. Er: Er wird über mich richten. Von vornherein akzeptiere ich sein Urteil. Er: Er wird mich betrachten. Vor ihm werde ich endlich nackt sein können. Nackt. Wie am Anfang. Wie mit Khalid.

Die Schuld ist da, in nächster Nähe. In nächster Nähe. Die Szene des Verbrechens wird wieder und wieder gespielt werden. Ohne mich?

Ich rege mich nicht. Ich warte. Ich konzentriere mich. Ich trage nochmals Lippenstift auf. Ein wenig auf meine Wangen.

Ich reiße meine Augen sehr weit auf.

Ich habe Angst. Ich zittere.

Ich habe keine Angst. Ich bin mir sicher.

Ich bin Khalid. Ich bin Khalid.

Ein Auto nähert sich. Ich höre es. Es nähert sich in voller Geschwindigkeit. Ich rühre mich nicht. Ich atme nicht mehr. Ich bin noch am Leben. Schaue geradeaus.

Das Auto ist da, ganz nah. Sein Fahrer sieht mich nicht.

Ich denke an Hadda, die schwarze Hausangestellte, an ihren Körper, an ihren Po. An ihre Odyssee.

Ich denke an Bouhaydoura, den Hexenmeister von Tabriquet. Ich sehe ihn lächeln. Er lächelt. Er lächelt mir zu. Er ist in dem herannahenden Auto. Er kommt mich abholen. Gott hat ihn mir geschickt.

Ich erwidere sein Lächeln. Ich habe Vertrauen. Ich bin festen Glaubens.

Ich sage meinen Namen: »Khalid . . . Khalid . . . Khalid . . .«

Das Auto rammt mich, schleudert mich zurück. Es wirft mich um. Ich fliege. Ich habe die Grenze überschritten.  

Ich habe den Geschmack von Blut im Mund.

Ich trinke Blut.

Ich fahre mit der Zunge über die Lippen. Ich höre mein Herz. Ich begleite es. Es wird aufhören zu schlagen.

Ich gehe. Ganz schnell. Ich gehe. Ich leide. Ich sehe. Ich halte beide Hände hin. Ich schließe die Augen nicht.

Auf Wiedersehen.