Mittwoch

Mein Vater kam mich wecken. Seine Augen waren rot. Natürlich hatte er nicht geschlafen. Er hatte die ganze Nacht geweint, das sah man sofort.

Mein Vater weint.

Mein marokkanischer Vater weint.

Alles andere als vorbildlich für mich, dieses Verhalten. Ich darf nicht so werden wie er. Bloßer Anschein eines Mannes. Verfall eines Mannes.

Es war noch Nacht. Er murmelte meinen Vornamen im Dunkeln. Ich erwachte sofort. Ich stand auf und sagte: »Mach Licht, mach Licht, Vater. Mach Licht, mach Licht für uns.« Er regte sich aber nicht. Ich konnte seine Gestalt, sein Gesicht kaum erkennen. Er war schwarz. Ich war schwarz. Er war nackt, ohne die Maske des Vaters. Und so wollte er sich mir nicht zeigen, schwach und bloßgestellt. Verständlich, oder nicht?

Ich bat ihn von neuem: »Mach Licht, mach Licht, lieber Vater. Mach Licht, mach Licht für uns.«

Er kam meiner Bitte nach und kehrte mir sogleich den Rücken zu.

Er war tiefschwarz. Er weinte noch. Ich sah ihn, ich hörte ihn. Ich nahm ihn in mir auf. Und ich wusste warum. Ich wollte ihm Trost zusprechen, seine Tränen trocknen, ihm schwören, dass ich ihn eines Tages rächen würde. All das tat ich aber nicht. Ich wagte es nicht. Er war schließlich mein Vater. Der Mann im Haus. Ganz offiziell. Für alle Zeiten. Ihm Zärtlichkeit zu erweisen, besonders in diesem Augenblick großer Schwäche, in diesem Augenblick der Schande, hätte ihm den Rest gegeben. Ein Mann leidet nicht. Ein Mann hat Mumm. Wird mit allem fertig. Ein Baum in der Wüste, robust, komme, was da wolle. Das brachte er mir allabendlich bei, früher, vor zwei Wochen noch, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ich glaubte ihm. Ich glaube ihm immer noch.

Mein Vater wird sterben.

Ich kann nichts dagegen tun.

Ich kann ihm nicht mehr helfen.

Er geht unter. Er lässt sich fortreißen.

Mein Vater ist im Sterben begriffen. Die Wüste hat gesiegt.

Wir waren schon seit sehr langer Zeit mit Schande bedeckt. Unser Ruf im Viertel war schlecht. Und sogar über das Viertel, über die Stadt Salé hinaus. Und wer war schuld? Meine Mutter. Meine Mutter, die nie wirklich eine gewesen ist. Meine Mutter, die von unseren Nachbarinnen »die Böse«, »die Nutte«, »die Hexe«, »die Hure«, »die Fremde« genannt wurde, war weggegangen. Sie war in ihr Kaff in der Nähe von Azemmour zurückgekehrt. Sie hatte uns im Stich gelassen. Wieder einmal. Für immer. Mein Vater und ich wussten, dass sie nie wieder zurückkommen würde.

Wir waren von nun an allein. Ohne Frau.

Was wird aus Männern ohne Frauen?

Meine Mutter war keine Frau. Ich hasste sie. Die Heirat war nur ein Stück Papier für sie. Sie sprach kein Wort. Wenn sie den Mund aufmachte, dann nur um immer denselben Satz zu sagen: »Ich bin frei.« Und das stimmte, sie hatte nie auf ihre Freiheit verzichtet. So, dass fast alle sie als Hure betrachteten.

Das große Ereignis unserer Existenz muss sich zugetragen haben, als ich neun oder zehn war. Meine Mutter hatte es sorgfältig eingefädelt. Sie war sich ihres Coups sicher. Die Revolution, ein für alle Mal. Schlagartig. Sie entthronte meinen Vater von einem Tag auf den anderen. Sie übernahm die Macht einfach so, mit links. Sie hatte das Wort ergriffen: Von nun an würde sie unser Leben lenken. Mein Vater, immer schon leidenschaftlich in sie verliebt, wehrte sich nicht. Er sah sie ein paar Sekunden lang ungläubig an und senkte dann den Blick und den Kopf. Mein kleiner Bruder Othman war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging. Und ich? Ich war ganz ungewollt ihr Komplize. Gekauft hatte sie mich schon vor Jahren.

Ich hasse sie, meine Mutter. Ich will nicht, dass sie wiederkommt. Ich will nicht wieder meiner Schande neben ihr begegnen. Frei zu sein ist mein innigster Wunsch. Frei ohne sie. Frei, und endlich an der Seite meines Vaters.

Damals, in meiner frühen Kindheit, benahm sich mein Vater wie ein Wilder. Übrigens nannte meine Mutter ihn so. Er brüllte. Er hatte eine blühende Gesundheit, eine überbordende Sexualität, einen ungeheuren Appetit. Er aß für zehn. Er trank für zwanzig. Wenn er zu Hause war, wirkte seine Gegenwart wie das geballte Leben. Wie die Quelle des Lebens. Er trug einen Bart, wie ihn sonst die Propheten tragen. Das stand ihm gut. Er roch streng, aber das störte uns nicht im Geringsten. Er machte auf Macho, doch wir wussten alle, dass er eigentlich keiner war.

Mein Vater war die Seele der Familie. Ihre Triebfeder. Ihr Blut.

Neben ihm war ich gar nichts. Ich habe nur einen Bruchteil seiner Kraft von ihm geerbt. Eine Kraft ohne Macht, die mein Freund Khalid so gerne in mir freilegte.

Mein Vater war ein Riese. Er kam aus der Gegend von Doukkala. Sein verlorenes Paradies, wie er immer wieder sagte.

Mein Vater ist nicht mehr mein Vater.

An einem regenlosen Wintermorgen war er plötzlich ein anderer. Er war zum Gegenteil dessen geworden, der er bisher gewesen war. Alt war er allerdings noch nicht. Er war gerade erst 48. Alles an ihm hatte sich verändert. Von nun an war er kraftlos, er ließ den Kopf hängen, hatte schlaffe Schultern. Sogar seine Atmung hatte sich verändert: Sie war unhörbar. Zuweilen zitterte er. Vor Angst? Vor Kälte? Er zitterte besonders vor meiner Mutter. Sie war diejenige, die nun an seiner Stelle schrie. Das Heft in der Hand hatte. Alle Entscheidungen traf, ohne ihn auch nur zu fragen. Die Nachbarinnen sagten, aus ihr sei ein Mann geworden. Zu Recht.

Meine Mutter machte ihre Revolution. Sie befreite sich. Fand ihre Jugend wieder. Und deshalb musste sie unsere Welt zerstören, den Mittelpunkt unserer Welt: meinen Vater.

Meine Mutter entpuppte sich als grausam. Als herzlos. Ich versuchte manchmal, Entschuldigungen für sie zu finden. Vergeblich. Ich verstand sie nicht. Vielleicht habe ich nie versucht, sie zu verstehen.

Ich will meine Mutter nicht verstehen. Sie ist weggegangen. Jemand muss sie jetzt töten. Mein Vater kann das nicht. Mein kleiner Bruder auch nicht. Ich aber schon. Und ich werde es tun.

Was wollte sie eigentlich? Was sollte diese ihre fortwährend gegen uns gerichtete Revolte bedeuten? Ich war neun oder zehn, als meine Mutter uns den Krieg erklärte, und vieles verstand ich damals noch nicht. Außerdem war sie meine Mutter. In meinem Hass auf sie war auch Liebe. Vier Jahre später verstand ich noch immer nichts von dieser Frau. Aber ich sah, was sie anrichtete. Ich war Zeuge ihres Verrats. Ich half ihr sogar dabei. Ich sah die Männer, die am helllichten Tag zu Hause vorbeikamen, wenn mein Vater bei der Arbeit war. Sie kamen ihretwegen von weit her. Ich hörte, wie sie Sex machten. Sie schämte sich nicht. Seit Langem hatte sie mich schon handzahm gemacht.

Ich verurteilte sie nicht. Heute muss ich es aber endlich tun. Sie wird nicht wiederkommen. Ich werde alles Erdenkliche tun, damit sie dort in dem Kaff bleibt, das sie so liebte.

Heute bin ich der Mann. Ein Mann für meinen Vater. Schön und stark für meinen Vater.

Meine Mutter war schön. Ihre Schönheit war gewiss ihre Freiheit. Die Nachbarinnen beneideten sie. Verfluchten sie. Zu Recht.

Meine Mutter war schön, aber ich sah es nicht. Meine Mutter war jung. Sie war meine große Schwester. Eine solche Beziehung zwang sie uns auf.

Liebte sie mich? Liebte sie meinen Vater?

Warum hatte sie meinen Vater in dieses große Unglück gestürzt? Was war zwischen ihnen vorgefallen? War ihre Liebe vorbei? Endete für sie die Sklaverei?

Ich werde es nie erfahren. Ohne es jemals zu begreifen, werde ich so dem Tod entgegengehen, voller Hass auf diese mysteriöse, schwarze Frau. Vollkommen schwarz.

Im Viertel hieß es, sie habe meinen Vater mit einem mächtigen Fluch belegt. Einem Fluch, der von dem jüdischen Hexenmeister Bensimon aus der Mellah von Rabat ausgesprochen worden war. Dem mächtigsten Hexenmeister der Stadt. Ganz Marokkos vielleicht.

Warum? Warum nur? Erlangen die Frauen bei uns auf diese Weise ihre Freiheit? Indem sie die Männer wahnsinnig und krank machen? Indem sie sie langsam, aber sicher ins Jenseits befördern?

Ich bin erst vierzehn. Wie soll ich das wissen? Wie verstehen? Wem soll ich all diese Fragen stellen?

Meine Mutter war fortgegangen. Weit weg, in die Nähe dieser Stadt, von der alle sagen, sie sei prächtig, Azemmour.

Meine Mutter hatte in unserem kleinen Haus im Bettana-Viertel das Licht gelöscht.

Sie machte sich mit meinem kleinen Bruder Othman auf den Weg. Sie sagte, sie wolle ihre kranke Mutter besuchen. Zwei Monate später war sie noch immer nicht zurück.

Seither hört mein Vater gar nicht mehr auf zu weinen.

Ich selbst habe nicht geweint. Ich konnte nicht weinen.

Wir lebten zu zweit.

Ich konnte meine Mutter nicht wirklich hassen, aber auch ich verfluchte sie von morgens bis abends. Manchmal flehte ich sie an, küsste ihr die Füße. Ich erkannte ihre Macht an. Ich bat sie demütig, zurückzukommen und meinen Vater zu erlösen, ihm seine Seele, seine Vitalität zurückzugeben. Seine Würde. Seinen aufgesetzten Männlichkeitswahn.

Ich flehte sie im Stillen an. Ohne Antwort. Ohne Echo.

 

Heute Morgen ist er zu mir gekommen.

Heute Morgen hat mein Vater einen Entschluss gefasst. Jemand hatte ihn davon überzeugt, dass meine Mutter ihn mit einem Fluch belegt hatte, einem böswilligen Fluch, einem Fluch von Juden, einem Fluch des Teufels. Es war mehr als dringend, sich von ihm zu befreien, sich enthexen zu lassen. Und wer konnte den Fluch eines mächtigen Hexenmeisters aus der Mellah von Rabat rückgängig machen? Mein Vater hatte sich erkundigt. Er war fündig geworden. Sein Retter hieß Bouhaydoura. Dieser war erst zwei Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden.

Mein Vater weckte mich.

Ich war zum wiederholten Male mitten in meinem alphaften Traum mit Hassan II.

Ich sah nur seinen Rücken. Seine Tränen waren unschwer zu erahnen.

Und seine Stimme, wie die eines kleinen Jungen, bat mich: »Du kommst doch mit mir zu Bouhaydoura, nicht? Du kommst doch? Du kommst doch?«

Es war gerade erst neun Uhr morgens. Bei Bouhaydoura hatte sich eine beeindruckende Menschenmenge versammelt. Nur Frauen.

Auf dem Weg zum Hexenmeister wollte ich einen Moment lang meinen Vater in meinen Traum vom Vortag einweihen. Und gleich verzichtete ich wieder darauf. Mein Vater war mit den Gedanken woanders. Er wäre unfähig gewesen, mir zuzuhören. Dieser Traum war wichtig für mich. Für mich und meinen Freund Khalid, dem ich ihn sicher erzählen würde. Nicht für meinen Vater.

An diesem Mittwochmorgen versuchte mein Vater, seine Haut zu retten. Seine Vergangenheit. Seine Herkunft. Seine Männlichkeit.

An diesem Morgen war ich mit meinem Vater zusammen. Ich begleitete ihn. Er konnte nicht allein hingehen. Er war das Kind. Ich war der Erwachsene.

Bouhaydoura war der Richter. Sein Haus ein Gerichtshof. Rings um ihn eine Atmosphäre des Weltuntergangs.

Unsere Angst war gleich zu Beginn groß und wurde plötzlich greifbar, augenscheinlich. Sie hatte einen Geruch. Einen Atem. Grundfarben. Schwarz. Weiß. Grün. Sie war ein Bild. Sie war verkörpert. Gott unter uns, ein Mensch. Bouhaydoura war dieser Mensch. Er war Gott.

Mittwochmorgen, es war wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Wir hatten alle Angst. Das Paradies. Die Hölle. Kein Fegefeuer. Doch niemand weinte. Wir warteten. Verängstigt, entschlossen, gespannt.

Bouhaydoura war zurück.

Die vier Jahre, die er im Gefängnis zugebracht hatte, hatten seinem Ruf nicht im Geringsten geschadet. Seine Macht, seine Zauberkraft, seine Heiligkeit, das, was von seinen Ahnen auf ihn übergegangen war, stammten aus weit zurückliegenden Zeiten. Bouhaydoura setzte etwas fort, was in der Frühzeit der Menschheit erfunden worden war. Ein Guru, ein Meister, ein Prophet. Die Zauberkunst der Ursprünge. Das Gute und das Böse, bevor sie geschieden, bevor sie klassifiziert und entsprechend verbreitet worden waren, voneinander abgespalten, überall. Bouhaydoura war berufen. Wir taten nichts anderes, als seine Mission zu erfüllen. Wir waren seine Anbeter.

Er empfing in seinem Haus im Tabriquet-Viertel. Genauer gesagt, auf der Terrasse. Dort, inmitten der trocknenden Wäsche, warteten die treuen, die glücklichen und unglücklichen Frauen, bis sie an die Reihe kamen. Alte, junge. In Weiß. Alle oder so gut wie alle in Weiß. Sie waren also in Trauer. Um wen trauerten sie? Um wie viele Tote? Und was bedeuteten ihnen diese Toten?

Es war eine eigenartige Atmosphäre. Lastend. Diese Frauen hatten gerötete Augen. Vor Wut gerötet. Sie saßen auf dem Boden. Sie sprachen nicht.

Starke Ergriffenheit packte uns, meinen Vater und mich, kaum dass wir diese befremdliche Terrasse betreten hatten. Diese Frauen, die den Tod in der Seele trugen, waren trauriger und verzweifelter als wir. Sie hatten größeres Unglück erlebt, ihre Verlassenheit war endgültig. Hier, auf dieser Welt, hatten sie keinen Platz mehr. Sie mussten nun bei null, wieder ganz von vorne anfangen. Bouhaydoura sollte ihnen dabei helfen. Er war ihr Befreier. Ihr Mann. Ihr Prophet.

Eingeschüchtert hielten wir uns etwas abseits und wagten nicht, sie anzublicken. Wir spürten die auf uns gerich teten Blicke der Frauen, verwundert, unnachsichtig, fragend.

Die Welt hatte sich von Grund auf verändert. Heutzutage gingen sogar Männer zu Hexenmeistern. Sogar Männer beanspruchten Beistand durch Magie. Jetzt war alles aus. Die Männer trugen keine Masken mehr. Sie waren nun auch naiv, schwach, unten. Am Boden.

Bouhaydoura war der Retter. Der Messias. Wir waren alle da, um unsere Verehrung zu bezeugen. Hingebung zu beweisen. Zu lieben.

Bouhaydoura, in den Augen des Gesetzes ein Verbrecher, weil er einer Frau unabsichtlich dabei geholfen hatte, ihren Mann zu töten, war unser Oberhaupt. Der Auserkorene. Ein Heiliger zu Lebzeiten. Das Licht in der Dunkelheit meines Vaters.

Bouhaydoura sollte mir dabei helfen, meinen Vater reinzuwaschen. Er sollte ihn läutern. Seine nie versiegenden Tränen trocknen. Ihm helfen, seine Liebe wieder zu finden. Seine Frau, meine Mutter. Meinen kleinen Bruder.

Er sollte für uns die Welt neu erschaffen.

Aber wollte ich das wirklich? Die Rückkehr meiner Mutter?

Ich war mit meinem Vater zum Hexenmeister von Tabriquet gekommen, doch ich war noch von Zweifeln erfüllt. Von Hass. Von Gewaltsamkeit.

Wir setzten uns in eine Ecke der Terrasse. Die Frauen sahen uns noch immer an. Mein Vater hielt seinen Blick gesenkt. Ich nicht. Ich kehrte den Frauen den Rücken zu und tauchte meinen Blick in die Aussicht, die sich mir bot. Meine Stadt, Salé, ihre Viertel, ihre Häuser, ihre sich bis an den Rand des Horizonts ausdehnenden Dächer, ihre Minarette, ihre Heiligenmausoleen, die Altstadt, die Stadt der Korsaren des 17. Jahrhunderts. Die Befestigungsmauern. Die Gefängnisse. Der unendlich große Friedhof und seine Gräber aus längst vergangenen Zeiten. Und das Meer, ein Ungeheuer, ein Feind: der Atlantische Ozean. 

In der morgendlichen Wärme dieses Sommers lauschte ich der Stille der Welt. Und am Himmel suchte ich nach Wolken: Da waren keine. Nicht mehr.

Ich träumte. Ich schwebte. Ich malte mir alles aus und sah alles von meiner Stadt an jenem Morgen. Ich wurde zum Schriftsteller, ja, zum Dichter.

Hoch über der Welt schrieb ich ein anderes Schicksal für mich. Mit meinem Freund Khalid.

Ich suchte das reiche Viertel, in dem er wohnte, mein Freund und Bruder Khalid. Es hieß Hay Salam. Dort befand sich auch unser Collège.

Hay Salam hat zwei Teile. Den armen, am Fuße des Hügels. Und den reichen, oben. Das Haus von Khalid in der Nähe des Collège war wahrscheinlich das höchste auf dem Hügel. Es war kein Haus: Es war eine Villa. Groß. Prachtvoll. Wie alle anderen in diesem Teil von Hay Salam. In meinem Viertel, Bettana, nannte man sie Paläste. Man kannte sie nur von außen. Als ich jünger war, schlenderte ich regelmäßig mit meinen damaligen Kumpeln durch die ausgestorbenen Straßen, auf der Suche nach einem Schatz, auf der Jagd nach einem verschwommenen Traum. Und kurz bevor wir wieder in unser Gebiet zurückkehrten, kletterten wir über die Mauern einer Villa und stahlen Obst. Besonders mochte ich die gestohlenen Feigen in einer Villa, die ein pensionierter Minister bewohnte. Er wohnte allein dort. Er war blind.

In dieser sauberen Welt kannte ich nun eine Villa. Die von Khalid. Sie hatte einen Namen. Villa du Nord. Der Norden wovon?

Khalid war jetzt gerade dort. Er schlief bestimmt noch. Sein Zimmer war manchmal mein Zimmer. Das sagte er, um mir eine Freude zu machen.

Ich suchte die Villa von Khalid in Salé. Ich suchte sein Zimmer. Seinen Atem. Seinen Körper. Die Richtung seiner Träume. Ich fand sie. Ich folgte ihnen.

Ich betrat die Villa von Khalid. Köstliche Düfte, die ich unschwer erkannte, erfüllten das Erdgeschoss: schwarzer Kaffee, zu stark gesüßter Pfefferminztee, Marmelade, Honig, Hörnchen, Schokobrötchen, kleine marokkanische Pfannkuchen. Ich ging in den ersten Stock hinauf. Ohne anzuklopfen, betrat ich Khalids Zimmer. Seine kleine Schreibtischlampe brannte wie immer. Khalid schlief tief und fest. Auf dem Bauch. Sein Bett war klein. Aber nicht zu klein. Ein grünes Bett. Während ich die Schuhe auszog, redete Khalid im Schlaf: »Ja, ja, ich war es . . . Nein, nein, ich war's nicht . . . Ich schwöre es . . . Ja, ja . . .« Ich knipste die Lampe aus und legte mich zu ihm in das kleine grüne Bett. Ohne ihn aufzuwecken. Er war es gewohnt. Von mir. Von meinem Körper. Von uns. Zu zweit. Eins.

Ich schloss die Augen. Ich träumte. Ich war bei Khalid. Ich schlief mit meiner Straßenkleidung in seinem Bett. Allein in seinem Bett. Dann neben ihm. Aus der weitesten Ferne meines Schlafs redete nun aber ich: »Nein, nein, ich war es nicht . . . Ja, ja, ich war es . . . Ich . . . ehrlich . . . ehrlich.«

 

Eine Frau packte mich plötzlich an der linken Hand. Ich ließ Salé im Stich. Ich wandte mich ihr zu. Ich glaubte eine Sekunde lang, sie wäre meine Mutter. Aber natürlich war sie es nicht. Diejenige, die ihre Hand in meine gelegt hatte, war jünger. Ein junges Mädchen am Ende seiner Jugendjahre. Und bereits Witwe. Bereits eins mit dem Tod. Ihre Hand, die mit dem Tod eins war, berührte die meinige. Dieser Gedanke erschreckte mich. Und so zog ich sie heftig zurück. Ich rang nach Luft, als hätte ich einen zehn Kilometer langen Dauerlauf hinter mir. Die junge Frau begriff. Sie neigte sich mir zu und sagte sanft: »Keine Bange, keine Bange. Wir wollen euch beiden, deinem Vater und dir, nur etwas vorschlagen. Aber ich traue mich nicht, deinen Vater anzusprechen. Er wirkt so abwesend. Komm du, komm . . .«

Ich blickte ihr direkt in die Augen, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich ihr nicht folgen würde.

Meine Mutter hatte mich vor ihrem Fortgehen vor fremden Frauen gewarnt: »Sie könnten dich benutzen, um andere Frauen mit einem Fluch zu belegen. Halte dich unbedingt immer fern von fremden Frauen.« Ich verstand nicht, wie das hätte gehen sollen, wie meine bloße Gegenwart einer Frau, die andere Personen mit ihrer Hexenkunst bekriegte, hätte helfen sollen. Ich war neugierig geworden und wollte der Unbekannten schon folgen, um das Geheimnis zu lüften, doch die Stimme meiner Mutter kehrte wieder, um mich daran zu hindern.

Etwas in meinen Augen hatte mich wohl verraten. Die junge Frau legte die Hand auf meinen Arm und zog mich in Richtung Treppenhaus. Und dort hob sie wütend zu einer langen Rede an. Sie hatte all meine Befürchtungen in meinen Gedanken gelesen.

»Ich bin keine böse Hexe. Verstehst du? Sieh mich nicht so an, als wäre ich eine Verbrecherin, eine Verrückte. Ich bin zu Bouhaydoura gekommen, um eine Ungerechtigkeit wiedergutzumachen. Um endlich Gottes Gerechtigkeit auf meiner Seite zu haben. Ich werde niemandem etwas Böses tun. Und dir schon gar nicht. Du bist wie der Sohn, den ich nie haben werde. Du bist noch rein. Aber pfiffig siehst du auch aus. Also, hör zu, was ich dir jetzt sagen will. Die anderen Frauen und ich werden lange mit Bouhaydoura zu tun haben. Vielleicht dauert es sogar den ganzen Tag, bis ihr an die Reihe kommt. Alle, absolut alle von uns werden vorgelassen werden. Wir werden ihm gegenüberstehen und ihn umringen. Wir sind in derselben Angelegenheit da. Aber er muss uns alle anhören, eine nach der anderen. Wir haben alle dieselbe Schmach erlitten. Denselben Schmerz. Nur Bouhaydoura kann uns helfen, uns Aufschluss geben. Uns heilen. Uns Erleichterung bringen. Uns rächen. Dir und deinem Vater lassen wir den Vortritt. Vor uns. Hast du verstanden? Sieh mich nicht so an! Hast du verstanden? Ich bin kein Engel. Nicht mehr. Aber du hast von mir nichts zu befürchten. Du hast mir ja nichts getan. Hast du verstanden? Rede . . . Bist du stumm? Hast du Durst?«

Ich nickte, um zu zeigen, dass ich sie verstanden hatte.

»Sag es jetzt deinem Vater, geh. Scheich Bouhaydoura wird jeden Augenblick eintreffen. Heute findet seine große Rückkehr statt. Er hat uns allen sehr gefehlt, uns, seinen Getreuen. Wir sind ihn regelmäßig im Gefängnis besuchen gegangen, doch jedes Mal weigerte man sich, ihn zu holen. Wir seien ja nicht seine Familie, hieß es. Die anderen haben nicht die geringste Ahnung. Ohne Bouhaydoura stand unser Leben still. Heute ist ein großer Tag. Er wird wieder unter uns sein. Und für uns da. Für seine Frauen. Geh nun, geh. Wiederhole deinem Vater alles, was ich dir gesagt habe. Keine Angst, ich bin auf deiner Seite. Wirklich. Geh.«

Ich rührte mich nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst. Sie stand ganz dicht neben mir. Sie war nicht mehr dieselbe junge Frau, die mich angesprochen hatte. Je länger sie sprach, desto verschiedener wurde sie von der Frau, die sie gewesen war. Mit einer anderen Stimme. Einem anderen Alter. Sie presste sich an mich. Ich roch ihren Geruch. Ich erkannte diesen Geruch. Jetzt gab es nur Eines: fliehen.

Es war der Geruch des Todes.

 

Bouhaydoura war nicht sehr alt. Er trug keinen Bart. Er war keineswegs der alte Herr, den ich mir vorgestellt hatte. Der Mythos, der ihn in Salé umrankte, traf nicht ganz zu. Und das war eine Überraschung.

Um die vierzig. Groß, dünn, lange Nase. Sehr weiße Haut. Schwarze Augen. Kurz geschnittene Haare. Elegant in seiner hellblauen Sommer-Dschellaba. Bouhaydoura wirkte wie ein ganz und gar moderner Mann, der mit der Zeit geht. Respektabel, intelligent, geistreich. Ein Mann aus Fleisch und Blut. Kein Hexenmeister aus dem Mittelalter.

Er flößte sofort Vertrauen ein.

Der Raum, in dem er uns empfing, war leer. Dunkel. Nur ein sehr alter großer, roter und billiger Teppich lag auf dem Boden. Hinter Bouhaydoura, als einzige Lichtquelle, drei kleine grüne Kerzen mit zaghaften Flammen.

Er hielt keinen Rosenkranz in der Hand. Vor ihm standen keine Weihrauchgefäße. Auf den ersten Blick hatte er kein besonderes Utensil, um seinen Beruf auszuüben. Sein Körper war sein einziges Werkzeug. Nur er bildete seine Macht und seine Verbindung mit den Dschinns, nur er war sein Reichtum und sein Ansehen. Doch reichte das aus?

Bouhaydoura war ein erstaunlicher Mann. Jenseits des Mythos. Er schien all dessen entledigt, was ihn bei der Arbeit hätte stören können. Er hielt sich an das Wesentliche. Er war da. In Wartehaltung. Demütig.

Als mein Vater und ich den Raum betraten, sah ich nur die groben Umrisse seines weißblauen Körpers im Dunkeln.

Aus der Nähe sah sein Gesicht völlig anders aus. Wie das eines Irren? Eines Heimatlosen? Eines Gepeinigten? Eines Besessenen? Eines Poeten? Eines Dissidenten? Eines Königs?

Ein zerfurchtes Gesicht. Verbraucht.

Ein Gesicht, das Hiebe abbekommen hat.

Ein Gesicht, das auch weiterhin glaubt. Das bereit ist zu lächeln, trotz des Schmerzes.

Ein Gesicht, das zurückgekehrt ist.

Er wurde erwartet. Man hatte ihn nicht vergessen. Das wusste er.

Aus der Nähe war er nicht nur dünn, sondern sehr mager. Die vier Jahre im Gefängnis hatten Spuren hinterlassen. 

Bouhaydoura war nur noch Haut und Knochen. Aber schön. Schön und weiß wie ein Heiliger.

Aus der Nähe entdeckte man endlich sein Geheimnis. Seine Haydoura.

Das war sein kleiner, aus einem Schaffell bestehender Teppich. Angeblich sollte sie weiß sein. In Wirklichkeit war sie aber schwarz. Alt. Ein eigener, persönlicher Teppich, der aus weiter Ferne kam, aus einer anderen Zeit, aus anderen Jahrhunderten. Gar aus einer anderen Welt? Eine magische Haydoura, die unserem Hexenmeister seine Macht, seinen Platz auf der Welt und zugleich seinen Namen verlieh. Seinen Spitznamen: Bou Haydoura.

Bouhaydoura saß auf seinem Teppich, hob und senkte bedächtig den Kopf und befand sich im Gedankenaustausch.

Mein Vater und ich beobachteten ihn eine Zeit lang fasziniert und eingeschüchtert. Wir durften ihn keinesfalls unterbrechen, ihn durcheinanderbringen, ihn auf uns aufmerksam machen. Wir warteten. Schweigend. Betend.

Mein Vater hatte die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich. Er sprach mit sich selbst. Er formulierte vor, was er Bouhaydoura sagen wollte.

Später, als er vor ihm saß, stürzte sich mein Vater auf Bouhaydouras Hände und küsste sie mit aufrichtigem Eifer. Es war keine Unterwürfigkeit. Es war ein Zeichen des Vertrauens. Der Dankbarkeit. Der Brüderlichkeit. Mein Vater streckte die Waffen. Nein, nein, er würde jetzt nicht weinen. Vor diesem Magier gestand er seine Niederlage ein, bat um Hilfe. Die Hilfe eines anderen Mannes, wie er und doch nicht wie er. Vor Bouhaydoura konnte sich mein Vater in seiner Blöße zeigen. Er wusste, dass er nicht verurteilt, verachtet, gedemütigt werden würde. Auch so konnte ein Mann sein. Zeitweise.

Bouhaydoura, derartige Sympathiebekundungen zweifellos gewohnt, ließ es mit sich geschehen. Er streckte meinem Vater die Hände hin. Der sie so lange wie möglich umschlossen hielt.

Ich aber sagte nichts. Ich tat nichts. Ich hielt mich dicht bei meinem Vater, beobachtete, was sich vor mir abspielte, und versuchte zu verstehen. Natürlich begriff ich nicht alles. Die Welt war anders als die, die mir beigebracht worden war. Zwei Männer, zwei Väter, erlaubten sich vor meinen Augen, vor mir treuherzigem Zeugen, unmögliche, anderswo undenkbare Gebärden.

Bei Bouhaydoura wurde die Welt neu erfunden, ihre Gesetze, ihre Strukturen. Ihre Waffen. Man fing wieder bei null an.

Ich sagte nichts. Ich glaubte nicht an dieselben Dinge wie mein Vater. Was sich aber vor mir zutrug, war ungewöhnlich und gewaltig genug, um mich zu erschüttern, zu prägen. Und um auch mich eines schönes Tages zum Weinen zu bringen.

 

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Bouhaydoura.

»In ihrem Kaff in der Nähe von Azemmour.«

»Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Erst seit gestern?«

»Nein, Verzeihung. Was sage ich da? Was habe ich gesagt? Gestern? Nein . . . Sie ist seit . . . zwei . . . drei Monaten weg. Genau, seit drei Monaten.«

»Das ist nicht viel, drei Monate.«

»Es ist nicht das erste Mal, Sidi. Sie hat die Flucht ergriffen. Ich habe das Gefühl, es ist endgültig. Ich weiß es. Sie wird nicht wiederkommen. Ich bin zu nichts fähig, zu nichts, ohne sie. Ich bin ohne sie kein Mann mehr. Helft mir. Ich bin zu allem bereit.«

»Haben Sie etwas mitgebracht, was sie hinterlassen hat, Unterwäsche zum Beispiel?«

»Es war sehr schwierig, welche zu finden, Sidi. Sie ist listig. Sie hat alle ihre Sachen mitgenommen. Die Unterhose, die ich schließlich letzte Nacht gefunden habe, ist leider sauber. Tut mir leid. Tut mir leid. Ist es Euch möglich, Eure Arbeit zu machen, auch wenn die Unterwäsche sauber ist? Ist das möglich?«

»Alles ist möglich. Man muss es nur beschließen.«

»Sie hat mich verlassen. Einfach sitzenlassen. Sie ist zu ihrer ersten Liebe zurückgekehrt. Zur Prostitution. Ich halte das nicht aus. Ich bin völlig kopflos. Sie ist nun sicher überglücklich mit ihren Schwestern, ihren Kusinen, ihrer Mutter, ihrer Großmutter. Ihre Familie besteht nur aus Frauen. Sie sind . . . Sie sind alle . . . Pardon, es vor Euch zu sagen, Sidi . . . Alle sind Huren. Dreckige Huren. Ganz dreckige . . . Puffmütter. Genau das, was ich nicht ausstehen kann. Heute, meine ich. Aber als ich sie kennenlernte, in der Nähe des Mausoleums des heiligen Moulay Bouchaib, gefiel mir genau das besonders an ihr. Und es gefällt mir noch immer an ihr. Eine Hure. Pardon, Sidi, pardon. Eine Hure. Damals eine Hure für die anderen, für alle anderen. Dann, dank eines Fquihs, der in ihrem Dorf die Heiratsurkunde ausstellte, für mich. Meine Frau ist eine Hure. Pardon, Sidi, pardon. Eine ehemalige Hure. Ich habe sie aus ihrem Milieu weggebracht. Ich nahm sie mit hierher nach Salé, wo sie niemanden kannte. Ich verwahrte sie gut, meine Frau. Fast immer eingeschlossen. Ich hatte Angst, Sidi, die anderen könnten sie mir wegnehmen. Ab und zu habe ich sie vielleicht schlecht behandelt. Ich habe sie auch geschlagen, in manchen durchzechten Nächten. Ich habe sie auch zuweilen beschimpft. An ihre Vergangenheit als Prostituierte erinnert. Aber es ging immer glimpflich ab. Schließlich gehörte sie doch mir. Sie war meine Hure. Deswegen liebte ich sie ja auch. Euch, Sidi, muss ich die Wahrheit sagen. Ich war stolz darauf, eine Frau wie sie zu haben. Sie abgerichtet zu haben, gut abgerichtet. Das glaubte ich jedenfalls.«

»Was willst du also von mir?«

»Sie wiederfinden. Sie soll zurückkommen. Sie soll zurückkommen, wie sie ist, wie damals. Ich werde dieses Mal alles hinnehmen, aber sie soll zurückkommen. Ohne sie bin ich nichts. Ohne sie kann ich nichts. Ich verstehe sie nicht. Ich verstehe sie nicht. Ich will sie, wie sie ist. Ist das möglich, Sidi? Ihr seid mächtig, das sagen alle. Eure Rückkehr wurde voller Ungeduld erwartet. Helft mir! Helft mir!«

»Ihnen helfen! Schon gut, schon gut. Und wobei genau?«

»Sie zurückzuholen.«

»Sie zurückzuholen ist einfach. Sie bei Ihnen zu behalten wird weitaus schwieriger werden.«

»Also, was tun? Ich bin zu allem bereit. Ich bin zu allem bereit. Ich will sie, ich will sie. Die Welt ist nicht für den Mann allein geschaffen. Ein Mann wie ich ohne Frau! Ich kann so nicht leben, in diesem andauernden Schmerz, in ihrer Abwesenheit. Ein Mann ist nichts, ein Mann ist leer, nackt, lächerlich, ohne eine Frau. Es ist peinlich, was ich sage, nicht? Aber ich pfeife drauf. Zum ersten Mal in meinem Leben pfeife ich auf die anderen. Ich pfeife auf meine Familie, auf meine Brüder, auf meine Onkel, auf meine Freunde. Sollen sie hinter meinem Rücken sagen, was sie wollen. Niemand zählt für mich so sehr wie sie. Ich wusste es. Tag um Tag wird es mir bewusster. Sie ist alles für mich. Alles. Absolut alles. Deshalb wollte ich sie für mich allein behalten. Und keiner darf sie sehen. Sie muss immer zu Hause bleiben, immer für mich. Und darf nicht ausgehen. Sie gehört mir. Mir gefällt, dass sie mir allein gehört, mir allein.«

»Schon gut, schon gut.«

»Männer sind eben so, oder etwa nicht?«

»Männer?«

»Ja, sagt es doch . . . sagt es mir. Von Euch, Sidi, akzeptiere ich alles, Ihr seid die Wahrheit, die ich . . .«

»Da irren Sie sich. Haben Sie meine Getreuen gesehen?« 

»Ja.«

»Nur Frauen.«

»Ja, Sidi

»Also bitte.«

»Ich verstehe nicht.«

»Eines Tages werden Sie es verstehen.«

»Eines Tages? Aber dann ist es vielleicht schon zu spät . . . Heute will ich die Wahrheit.«

»Die Wahrheit ist nicht meine Aufgabe.«

»Pardon, Sidi, pardon. Ich falle Euch mit meinem Unglück lästig, pardon. Ich will ja nur, dass sie wieder nach Hause kommt. Dieses Mal werde ich mit ihr sprechen. Ich werde mit ihr sprechen. Ich schwöre es. Ich werde mit ihr sprechen.«

»Machen Sie mir keine Versprechungen. Geben Sie mir die Unterhose Ihrer Frau. Wir beginnen mit der Arbeit.« 

»Sie ist nicht schmutzig. Tut mir wirklich leid.«

»Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue.«

»Tut ihr aber nicht zu sehr weh, Sidi

»Weh?«

»Nur ein bisschen . . . Sie soll verstehen . . . Sie soll zurückkommen . . . Sie soll wieder vernünftig und fügsam werden. Eine Frau wie alle anderen. Nun ja, nicht wie die anderen. Ich will sie, wie sie ist, aber für mich, für mich.« 

»Pst! Ruhe!«

»Pst! Gut, Sidi, in Ordnung. Ich halte den Mund. Ich bin ja schon weg. Ich existiere nicht mehr.«

»Pst! Ich arbeite.«

»Pst, ja, Sidi . . .«

»Wie heißt sie?«

»Zhor.«

»Und ihre Mutter?«

»Fatima . . .«

»Zhor Bent Fatima.«

 

Noch nie zuvor hatte ich meinen Vater so gesehen. Am Boden. Verstört. Ein Kind. Ein Kleines ohne seine Mama. Nur ohne Schreie.

Ich wohnte dem Gespräch zwischen ihm und Bouhaydoura konzentriert und abwesend bei. Teilnehmend und zerstreut. In den Bann geschlagen vom einen. Ungläubig vor dem anderen. Ich hörte zu und hörte nicht zu. Ich kannte all diese Wörter, die zitternd aus dem Mund meines Vaters hervorquollen. Ich kannte ihre Realität. Ihren zwanghaften Bezug. Meine Mutter. Zuweilen unanständige Wörter, die ihr, anstatt sie zu vernichten, seltsamerweise mehr Größe verliehen und ihr Geheimnis noch undurchdringlicher machten.

In einer anderen Welt, in Schwarz und Weiß, doch mit mehr Schwarz als Weiß, auf dem Dach eines dreistöckigen Hauses in Tabriquet, fast im Himmel, wurde mir erneut klar, dass ich meine Mutter nicht liebte. Dass ich sie nicht kannte. Dass ich sie nie gekannt hatte. Ich hatte neben ihr gelebt, ohne sie zu sehen. Sie hatte mich großgezogen, ohne mich anzublicken.

Woher kam sie? Azemmour? Was ist das, Azemmour? Wo liegt Azemmour? Was gibt es alles so in Azemmour? Und wie sind die Frauen von Azemmour? Wie sind die Frauen in Azemmour? Der Name ist schön. Vielleicht stammt er von den Berbern. Er hat etwas Freies, Poetisches.

Azemmour. Dieser Name war Musik und Teil meiner selbst. Meine Mutter war mit meinem kleinen Bruder geflüchtet, ohne mir Bescheid zu sagen. Ohne mir behilflich zu sein, sie in mir zu orten und sie allmählich zu entziffern. In mir steckt ein ganzes Leben, das ich gar nicht kenne. Eine ganze Vergangenheit, die durch meine Adern strömt, ohne dass ich mir darüber im Klaren bin.

Azemmour war meine Mutter.

Irgendwann werde auch ich Azemmour kennen.

Und meine Mutter? Niemals. Es ist schon zu spät. Für mich. Für meinen Vater. Für sie.

Meine Mutter war eine Hure. Sie war, so erzählte es mein Vater Bouhaydoura, als Hure geboren. Als königliche Hure. Eine Hure und damit Symbol aller Frauen dieses Landes, Marokkos. Ein Sexsymbol. Sie hatte, wie mein Vater ohne Unterlass wiederholte, genau das, was ihn unwiderstehlich anzog. Was ihn eifersüchtig, besitzergreifend, verrückt machte. Sie hatte den Teil seiner selbst in sich, den er nicht verstand und nie verstehen würde. Ihr stand Sex ins Gesicht geschrieben, wenn man meinem bedauernswerten Vater Glauben schenken wollte. Sie hatte die Macht. Und deshalb hatte er sie in den ersten Ehejahren gefangen gehalten. Er akzeptierte diese Macht. Er begehrte sie bei ihr, doch nur innerhalb des Hauses, im Schlafzimmer, im Bett. Körper an Körper. Er nackt. Sie nackt.

Bei Bouhaydoura habe ich sie endlich erfasst, diese undurchsichtige Wahrheit. Die meiner Mutter. Eine Frau. Die Frau. Fragen, für alle Zeiten ohne Antworten. Die Frau meines Vaters. Ein Mann wie alle Männer. Enthüllt. Ohne Schnurrbart. Auf dem Weg in den Wahnsinn.

Bei Bouhaydoura bestätigten sich meine kindlichen Intuitionen. Wir waren am Ende angelangt. Am Ende der mir vertrauten Welt. Am Ende meiner Familie.

Der alphafte Traum mit Hassan II., den ich am Vortag gehabt hatte, war ein Zeichen. Das Zeichen für den Beginn dieses Endes. Dieser Zerstörung.

Wohin nun?

 

Die Frauen in Weiß auf der Terrasse waren verstummt. Manche von ihnen waren gar eingeschlafen. Andere beteten. Und manche weinten. In allen Gesichtern drückten sich Wut und Hass aus. Die Stunde der Rache hatte geschlagen. Sie würden unerbittlich sein. Erbarmungslos. Nichts konnte sie aufhalten.

Als Bouhaydoura ernsthaft seine Arbeit in Angriff nahm, hatte er mich zu ihnen zurückgeschickt.

»Geh jetzt, mein Sohn. Ich muss mich um deinen Vater kümmern. Du bist zu jung, um bei meiner Arbeit dabei zu sein. Das ist nichts für dich. Geh nur, geh auf die Terrasse. Aber sprich nicht mit den Frauen. Ich will, dass sie für sich behalten, was sie mir zu sagen haben. Hast du verstanden? Sprich nicht mit ihnen. Verleite sie nicht zum Sprechen. Und antworte nicht auf ihre Fragen. Hast du verstanden? Wenn ich deinen Vater zu Ende behandelt habe, werde ich dich kurz allein empfangen. Geh nun, geh, und schweige.«

Mir fiel es nicht schwer, die Anweisung Bouhaydouras zu befolgen. Auf der Terrasse war Stille die unausgesprochene Regel geworden. Die Frauen und ich waren uns in diesem Punkt einig. Die Arbeit des Hexenmeisters von Tabriquet durfte nicht gestört werden.

Ich setzte mich neben eine alte schwarzhäutige Frau. Die einzige Schwarze. Ohne sie zu grüßen. Und ich hob die Augen gen Himmel, um die große, runde Sonne zu betrachten, die langsam auf uns zukam. An jenem Tag hatte die Sonne etwas Neues an sich. Sie war nicht dieselbe wie an den bisherigen Tagen. Sie war verändert.

Die Sonne unserer Welt war tot. Diejenige, die ihren Platz eingenommen hatte, war jung, schwach. Sie fiel nicht ins Gewicht. Sie kannte uns nicht gut. Es war eine schüchterne, zerbrechliche, weitaus anrührendere Sonne als die der anderen Tage.

Es war der Tag ihrer Geburt und vermutlich auch der ihres Todes.

Ich gab ihr einen Vornamen. Anis. Und während ich darauf wartete, dass Bouhaydoura mich zu sich rief, betrachtete ich zärtlich, wie sie voranzog, zurückzog, spielte, fiel. Alles überstrahlte. Sich verlor. Aufhörte, sich zu drehen. Verschwand. Für immer. Ich ging mit ihr fort. Und rief dabei ihren Vornamen. Dreimal.

Anis. Anis. Anis.

Hat diese Sonne jemals existiert?

Ich war traurig. Fast hätte ich geweint. Die alte schwarzhäutige Frau tröstete mich. Schweigend. Sie hatte alles verstanden. Sie war mir in die fernsten Verzweigungen meiner Phantasie gefolgt. Auch sie hatte das herannahende Trauerspiel gesehen, die unabwendbare Tragödie. Keine Sonne mehr. Anis war weg.

 

»Deine Mutter – Sie wird nicht wiederkommen.«

»Ich weiß.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben. Ich wusste es schon lange bevor sie ging. Sie war uns nie wirklich nahe. Sie wird mir nicht fehlen. Ich werde nicht leiden. Es war richtig von ihr zu gehen.«

»Und dein Vater?«

»Was, mein Vater?«

»Die Arbeit, die ich für ihn geleistet habe, wird ihn nicht besänftigen. Er muss auf andere Weise gerettet werden.« 

»Wie?«

»Das weiß ich im Moment noch nicht. Was ich weiß, ist, dass ich meine Kraft verloren habe. Im Gefängnis habe ich viel verloren. Sie haben mir dort viel weggenommen. Sie waren stärker als ich. Sie sind die Stärkeren, das muss ich zugeben. Ich kann deinem Vater nicht helfen. Tut mir leid. Ich bin nicht mehr derselbe. Ich habe mich auch verändert. Bald werde ich alles aufgeben. Vielleicht sogar sehr bald.«

»Keine Sorge. Ich kümmere mich um meinen Vater. Ich weiß, was zu tun ist.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde ihm auf meine Art helfen. Ich werde ihn heute, am späten Vormittag, auf den Suk von Lakhmiss mitnehmen. Er liebt Suks. Früher konnte er nie hingehen. Er arbeitete zu viel. Nun ist er frei. Zu frei.«

»Suk Lakhmiss? Der findet doch jeden Donnerstag statt, oder nicht?«

»Ja, ja.«

»Heute ist aber Mittwoch.«

»Ich weiß. Die Welt steht kopf. Das ist wegen Hassan II. Morgen wird er einen hohen Gast am Flughafen von Salé empfangen. Und . . .«

»Der Festzug wird am Suk vorbeifahren.«

»Alles muss bei seiner Durchfahrt geschlossen sein.«

»Also sind sie auf die Idee gekommen, den Suk von Lakhmiss heute, mittwochs, zu veranstalten. Die Welt steht kopf, du hast recht. Das ist kein gutes Zeichen.«

»Mein Vater wird sich sehr freuen hinzugehen, da bin ich mir sicher. Es ist ein Suk für Landbewohner. Und das hat er immer gemocht. Er kommt ja auch vom Land. Wir werden Gemüse kaufen und Fleisch . . . Und heute Abend helfe ich ihm beim Kochen. Mein Vater kocht gut.«

»Wirst du immer für ihn da sein und dich um ihn kümmern?«

»Immer.«

»Wirst du ein guter Sohn sein?«

»Weiß ich nicht . . . Ich habe noch genug Zeit, darüber nachzudenken. Erst mal geht es auf den wöchentlichen Suk von Lakhmiss.«

»Und dann?«

»Bringe ich ihn dazu, dass er meine Mutter vergisst.«

»Du liebst deine Mutter also wirklich nicht?«

»Ich weiß nicht. Sie ist weggegangen. Ich werde mich dazu zwingen, sie zu vergessen. Und meinem Vater . . . vielleicht können Sie ihm wenigstens helfen, dass er sie vergisst. Überall heißt es, Sie seien mächtiger als ein jüdischer Hexenmeister. Ich kann nicht glauben, dass Sie Ihr Talent, Ihre Macht verloren haben. Ich glaube eher, dass auch Sie nicht wollen, dass meine Mutter zurückkehrt. Stimmt's? Oder täusche ich mich?«

»Du denkst ein bisschen zu viel nach, mein Sohn.«

»Glauben Sie? Sie müssen mir keine Antwort geben. Aber tun Sie wenigstens Ihre Arbeit für meinen Vater, damit er vergessen kann. Damit er weniger leidet, so wenig wie möglich. Damit er weniger weint. Damit er sich schnell wieder erholt, schnell, ganz schnell, und dann werde ich eine andere Frau für ihn finden. Eine andere Frau von der Sorte, wie er sie liebt.«

»Gut, gut. Abgemacht. Aber das bleibt unter uns. Du verrätst ihm nichts. Schwörst du?«

»Ich schwöre. Ich werde ihm nichts verraten. Ich selbst werde ihn mit dem Fluch des Vergessens belegen.«

»Dann brauche ich etwas Intimes von deinem Vater.«

»Würde ein Unterhemd genügen?«

»Ja.«

»Ich bringe es Ihnen morgen, am Donnerstag. Nein, nein . . . Morgen kann ich nicht. Ich muss mit dem gesamten Collège am Straßenrand stehen und bei der Vorbeifahrt des königlichen Festzugs dabei sein. Geht es auch übermorgen?«

»Übermorgen ist Freitag. Also gut, aber komm vor dem großen Gebet.«

»Ich werde viel früher kommen, viel früher.«

»Du musst mir noch etwas anderes mitbringen.«

»Was?«

»Soweit ich sehe, bist du auf dem Weg, ein Mann zu werden. Bist du dreizehn, vierzehn?«

»Fast vierzehn.«

»Du hast sicher schon viele Haare unter den Achseln und rings um dein Geschlecht.«

»Ja, ja, viele.«

»Normalerweise tun die Mütter das, um ihre Söhne zu beschützen. Aber da deine Mutter nicht mehr für dich da ist, werde ich mich darum kümmern. Schließlich bist du wie ein Sohn für mich. Eines Tages könntest du sogar mein Nachfolger werden.«

»Ihr Nachfolger!«

»Nimm nicht alles für bare Münze, was ich sage. Denke nicht zu viel nach.«

»Ich werde es versuchen. Sagen Sie mir jetzt, was ich tun soll. Ich werde alles tun, was Sie mir sagen. Ich werde es tun. Ich werde es tun. Mir gefällt, was Sie sind. Sagen Sie es mir. Ich bin Ihnen ganz ergeben.«

Der Suk von Lakhmiss war an jenem Tag fast leer. Die Information war nicht ausreichend verbreitet worden.

Mein Vater, der große Menschenmengen mochte, war sofort bitter enttäuscht. Er wollte wieder nach Hause. Mir gelang es, ihn zum Bleiben zu überreden, indem ich ihn daran erinnerte, dass wir zu Hause nichts mehr zu essen hatten. So schlug ich ihm vor, für den Abend einen Kuskus zuzubereiten. Einen Kuskus nur für ihn und mich. Einen Kuskus, um zu zweit einen Neuanfang in unserem Leben zu feiern. Und seine Hoffnung zu festigen, dass meine Mutter zurückkehren würde. Und mich an die neue Situation in unserer Familie zu gewöhnen: Vater und Sohn. Selbst in tiefster Niedergeschlagenheit die Freude zu wagen. Meinen Vater an der Hand zu nehmen, ihm neu beizubringen, wie man lebt, isst, atmet. Ihn zu umsorgen. Mit der Hilfe Bouhaydouras einen Zauber zu bewirken, der ihm ein wenig Ruhe einbringen würde. Und Schlaf. Und Vergessen. Eine andere Frau.

Wir drehten langsam eine Runde durch den Suk mit seinen spärlichen Ständen. Wir kauften alle notwendigen Zutaten für einen Kuskus. Gemüse, Gewürze, einen lebenden kleinen Hahn, hausgemachte ranzige Butter, sowie ein wenig Thymian und den Balbula, eine besondere Grießsorte vom Land, die mein Vater besonders mochte und die ich zutiefst verabscheute. Doch da er kochen wollte, sagte ich nichts. Von uns beiden war er der Unglücklichere, der Kränkere. Derjenige, der sich weiter von der Welt entfernt hatte. Mit Hilfe des Essens würde er wieder ein wenig zu mir zurückfinden. Das von ihm zubereitete Essen würde auch mir helfen, zu etwas Neuem zu finden. Mir, einem Jugendlichen ohne Mutter.

Gerade, als wir diesen großen Suk mit seiner bedrückenden Stimmung verlassen wollten, hielt uns ein Händler an, der Wassermelonen verkaufte.

Er schrie: »Omar, Omar, komm, komm mal her zu mir.« Ich versuchte, ihn zu ignorieren. Er schrie wieder, lauter: »Omar, Omar, erkennst du mich nicht? Wie geht es dir? Wie geht es deiner Mutter? Erkennst du mich wirklich nicht? Gleich werde ich sauer. Das sage ich deiner Mutter. Du weißt doch, ich kenne sie gut.«

Da ich weiterging, ohne ihm Beachtung zu schenken, entfernte er sich von seinem Stand und holte meinen Vater und mich ein.

Er stand vor mir. Er versperrte mir den Weg. Er lächelte. Er freute sich ganz offensichtlich, mich wiederzusehen. Er nahm meine Hand und legte sie sich aufs Herz. Er sagte ernsthaft zu mir: »Das war's, du hast mich nicht mehr lieb. Stimmt's? Du willst meine Wassermelonen nicht mehr. Stimmt's? Stimmt's? Sag mal – und deine Mutter?«

Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Die Wahrheit? Welche Wahrheit?

Lange habe ich geglaubt, dass dieser noch junge, liebenswürdige, herzliche Mann und hartnäckige Junggeselle es nur auf meine Mutter abgesehen hatte. Im Sommer, immer, wenn er mich vor seiner Verkaufsbude in unserem Viertel vorbeigehen sah, rief er mich herbei, stellte mir Fragen über sie, richtete mir Grüße an sie aus und schenkte mir zum Schluss immer Obst für sie, für uns. Er sagte: »Obst für zu Hause. Deine Mutter kann später bezahlen. Warten wir die Wassermelonen ab. Die Wassermelonenzeit.«

War es Arglosigkeit meinerseits? Naivität? Oder Feigheit?

Ganz einfach Naschhaftigkeit.

Ich war begeistert, sehr teure Früchte sämtlicher Sorten nach Hause zu bringen und so viel davon zu verdrücken, wie ich konnte. Auch mein kleiner Bruder war begeistert. Wir teilten uns alles, ohne zu streiten. Meine Mutter jedoch rührte diese Früchte nicht einmal an. Sie sagte lediglich: »Esst nur. Esst alles schnell auf, schnell, bevor euer Vater kommt.« Wir gehorchten diesem Befehl, ohne zu widersprechen. Und ohne irgendwelche Schuldgefühle.

Ich zwang mich dazu, mir nicht zu viele Fragen über die Art der Verbindung zwischen diesem Mann und meiner Mutter zu stellen. Doch im Grunde wusste ich Bescheid.

Ich wusste Bescheid und schämte mich dafür. Ein eigenartigerweise recht anregendes Schamgefühl. Unerklärlich. Schamgefühle wem gegenüber? Mir selbst? Den anderen? Allen anderen? Der Familie? Den Nachbarn? Gott?

Als mir der Mann eines Tages die Früchte überreichte, sagte er: »Dieses Mal sind sie für dich. Für . . . dich.«

Ich entgegnete: »Das wird meine Mutter freuen.«

In der darauf folgenden Woche verbrachte ich einen ganzen Nachmittag mit ihm. Mittagsschlaf halten. Und sonst nichts? Er neben mir. Im selben Bett wie ich. Und ich spürte, was meine Mutter gespürt hatte, ich lernte kennen, was sie gekannt hatte: den Geruch des Dorfs, der dem Körper des Mannes mit den Wassermelonen frei und ungehemmt entströmte. Das hatten wir nun gemeinsam.

Natürlich schämte ich mich dafür. Ein genüssliches Schamgefühl. Das sich mit niemandem teilen ließ.

»Ich habe Lust auf einen Mittagsschlaf.« Das sagte ich mir, gegen meinen Willen, an jenem Morgen, auf dem Suk von Lakhmiss, vor dem Mann mit den Wassermelo nen, der zu beharrlich war und nicht wusste, dass ein Kapitel in unserer Geschichte abgeschlossen war oder sich dem Ende zuneigte.

Mein Vater begriff nicht, was vor sich ging. Es war die Rede von meiner Mutter, die noch immer seine Frau war, und ihr Name erklang im Munde dieses ihm vollkommen fremden Mannes. Was er hätte als Alarmsignal interpretieren sollen, galt ihm als Hoffnung. Er empfand keinerlei Eifersucht. Im Gegenteil, er heftete sich an den fremden Mann und fragte ihn stammelnd: »Wann haben Sie meine Frau zum letzten Mal gesehen? Wissen Sie, wo sie jetzt ist? Wo genau? Wissen Sie es?« Der Händler ließ meine Hand fallen und antwortete mit einem verlegenen Lächeln: »Ich wusste nicht, dass sie fort ist. Ist sie wirklich weggegangen? Ganz wirklich?«

Der Händler war nun genauso entsetzt wie mein Vater. Er versuchte, es zu verbergen. Vergeblich. Seine Augen tanzten nicht mehr, sie waren starr, wie tot.

Khalids Zimmer war immer in Dunkelheit gehüllt. Die Fensterläden waren vollständig geschlossen.

Ich suchte das Licht. Es war unter dem Bett. Eine kleine Taschenlampe, die Khalid nachts zum Lesen diente. Ich knipste sie an. Ich war in einer anderen Welt. In einer anderen Dimension. Weit von der Erde entfernt. Eine Villa, verloren im Weltraum. Ich hatte Angst. Ich war aufgeregt. Ich traf meinen Freund Khalid, um diese widersprüchlichen Gefühle zu bewahren und zugleich ein anderer zu werden.

Im Palast von Khalids Familie hatte die Realität nicht mehr denselben Geschmack und dieselben Farben. Sogar Gott, unser aller Gott, war dort anders. Er war nicht mehr da.

Khalid aber hatte die Nase voll von dieser Villa, an der er nichts mehr fand. »Ich will hier alles umkrempeln. Alles. Absolut alles. Das Schöne wird bei mir, dank mir eines Tages anders sein. Ich werde alles verändern. Ich werde alles zerstören.« Er war aufrichtig, und um ihn nicht zu verärgern, ihn nicht zu verlieren, tat ich so, als sei ich einverstanden.

Denn ich liebe diesen Palast, ich will ihn haben, ich würde ihn ohne weiteres als Geschenk annehmen, falls Khalids Familie ihn eines Tages verließe. Dieser Traum reicht mir die Hand. Ich bin da. Ich laufe. Und ich wiederhole ständig: »Khalid ist verrückt. Khalid ist verrückt.«

Khalid war der Verrücktere von uns beiden. Der freiere?

Khalid duldete keine Sonne in seinem Zimmer. Sie durfte nicht hereinscheinen, selbst in seiner Abwesenheit nicht oder gerade in seiner Abwesenheit nicht. Also hatte er den zahlreichen Hausmädchen, die im Dienst seiner Mutter standen, verboten, die Fensterläden seines Zimmers zu öffnen. Um sich Respekt zu verschaffen, drohte er ihnen. Ernsthaft. »Passt auf. Ich werde sauer, sehr sauer, wenn ihr meinen Befehlen nicht gehorcht. Und selbst wenn euch meine Mutter befiehlt, sie zu öffnen, lasst es bleiben. In meinem Zimmer bestimme ich. Ist das klar?«

Die Hausmädchen entgegneten gar nichts. Sie senkten den Blick und verharrten reglos, wie versteinert. Sie hörten auf zu arbeiten, zu leben. Vor Khalid existierten sie gar nicht mehr.

Die Sonne war im Laufe der Jahre zu einer mächtigen morbiden Zwangsvorstellung von Khalid geworden. Er sprach andauernd von ihr. Er hatte detaillierte wissenschaftliche Kenntnisse über sie, in einer Art Hassliebe. Er sah in der Sonne eine ernste, eindeutige Bedrohung. 

Er redete irres Zeug. Ich hörte ihm zu. Seine Bilder waren meine Bilder. Seine Sonne meine Sonne.

»Bald, sehr bald kommt der Tag, an dem uns die Sonne töten wird. Tag für Tag kommt sie uns, der Erde, ein wenig näher. Bald werden wir wegen ihr schmelzen, wir alle, wir und alles. Wir werden flüssig werden wie Eis, wir werden zu Wasser, erst farblos, dann schwarz, sehr schwarz. Die Sonne kommt näher. Auch wenn die Fensterläden immer geschlossen sind, sehe ich sie von meinem Zimmer aus sehr gut. Es ist furchtbar. Die Sonne ist nicht gelb, wie man annimmt, sie ist rot. Rot wie die Hölle. Rot. Ein Magma. Die Sonne ist nicht unser Freund, sie liebt uns nicht. Man braucht nur die anderen Zivilisationen zu betrachten, die von vor langer, langer Zeit. Die Sonne übte schließlich Verrat an ihnen allen, sie war nicht mehr ihr Besitz, ihr Begleiter: Sie zerstörte sie von heute auf morgen, einfach so, schnell, auf einen Schlag. Und sie empfindet keinerlei Gewissensbisse. Es war einfach für sie. Ihre Strahltemperatur liegt bei 5870 °C. Stell dir das mal vor, Omar. Kannst du dir das vorstellen? 5870 °C.«

Vorstellen konnte ich mir das überhaupt nicht. Ich versuchte gar nicht zu verstehen. Aber ich war glücklich, ihm, Khalid, zuzuhören. Die einzige Person auf der Welt zu sein, der er all diese Visionen, diese Ängste erzählte. Diese Vorahnungen. Dieses nahe Ende.

»Die Sonne und der Tod fixieren sich. Die Sonne gewinnt. Bald wird sie triumphieren. Explodieren. Alles wird zu Finsternis werden. Es wird nichts mehr unter der Sonne geben, nichts Neues mehr. Ich, du, Papa, Mama, alle, selbst der König, alle werden mit diesem Ende verschmelzen. Wir werden nicht mehr existieren. Wir werden nicht mehr da sein. Begreifst du das? Ich ja. Ja und nein. Ich stelle mir vor, wie sich die Sonne mir nähert, näher, immer näher, sie blendet mich, erwischt mich, verbrennt mich allmählich, sehr langsam, verursacht Radiodermatitis, Erytheme auf meiner Haut. Sie schwärzt mich. Sie verwandelt mich. In Asche? In was genau? Ich frage mich, ob ich im allerletzten Moment vollkommen schwarz sein werde. Schwarz vor Verbrennungen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, über diese Frage. Vielleicht werde ich im Gegenteil zu Licht werden. Ich werde in einer Abfolge von Lichtstrahlen explodieren. Und am Ende werde ich zu DEM Licht. Du auch, Omar. Alle. Alle? Und . . . welches Licht wird aus uns? Welches ist das Licht der Finsternis? Weißt du es, Omar? Glaubst du an all das? Glaubst du mir?«

Ich glaubte ihm, ja, ich glaubte ihm. Er hatte die Macht auf seiner Seite. Der Reichtum seiner Eltern, seiner sozialen Schicht, schützte ihn, machte seine Träume glaubhaft, ver lieh seinen Visionen Gewicht. Er konnte es sich erlauben. Es war ein Luxus. Luxus schlechthin. Mit meinem Segen und meiner Bewunderung für alle Ewigkeit.

Ich lauschte ihm. Ich folgte ihm im Dunkel seiner Gedanken, betend, hoffend, dass diese seltenen Augenblicke, die ich nur mit ihm in seinem seltsamen Zimmer erleben konnte, niemals aufhören würden. Und nur dann, in diesem Raum, in dieser Zeit, in dieser Stille und diesen Worten, die er erfunden hatte und aussprach, in denen ich mit und hinter ihm voranschritt, ein Armer mit einem Reichen, ein Armer an einen Reichen geklammert, dort in dieser anderen Welt konnte ich mir endlich alles erlauben. Hatte eine Zeitlang Zugang zur selben Freiheit wie Khalid.

Nachdem ich die Einkäufe und meinen Vater nach Hause gebracht hatte, war an jenem Tag ich derjenige, der in diesem dunklen Zimmer sprach, der sprechen wollte. Über meinen Traum mit Hassan II. Und dann über Bouhaydoura, der mir eine Aufgabe anvertraut hatte.

Mir fiel kein Anfang ein. Khalid nutzte das aus und erzählte eine weitere seiner Visionen. Er hatte immer eine für uns auf Lager.

»Warte, Khalid, warte. Ich wollte dir etwas sagen . . . ich . . . auch . . .«

»Aha! Soso!«

»Ja. Wundere dich nicht. Dieses Mal ist es wichtig. Es ist ein Traum. Ein richtiger Traum.«

»Ein richtiger Traum? Ein Traum aus der Nacht?«

»Ja.«

»Und du kannst dich genau daran erinnern? So ein Glück. So ein Glück. Ich erinnere mich nie an meine Träume, an meine Träume aus der Nacht. Ich . . .«

»Warte, warte. Lass mich reden und auch mal zu Wort kommen. Ausnahmsweise habe ich auch mal eine Geschichte für uns auf Lager. Also sei still.«

»Schon gut, schon gut.«

»Ähm . . .«

»Leg los und such die richtigen Wörter aus. Ich kann dir helfen, wenn du willst.«

»Nein. Ich nehme meine eigenen Wörter. Hör zu. Hör mir zu, basta.«

»Los, los. Erzähl deinen Traum.«

»Hassan II

»Hassan II.? Bist du sicher? Hast du keine Angst?«

»Jetzt habe ich keine Angst. Im Traum war ich entsetzt. Ich hatte Todesangst. Im tiefsten Dunkel. In einer Welt, wie du sie in deinen Geschichten über die Sonne beschreibst, die uns bald zum Schmelzen bringen wird.« 

»Und wie war Hassan II.?«

»Klein . . . Groß . . . Weiß ich nicht mehr genau. Unglaubliche Augen. Schwarz. Weiß. Auch schön, glaube ich. Schönreich. Verstehst du? Ich war fast die ganze Zeit geblendet. Ich sah ihn und zugleich sah ich ihn nicht. Er flößte mir Angst ein. Aber ich wollte trotzdem auf ihn zugehen. Er ist der König. Alle Marokkaner wünschen sich, auf den König zuzugehen, oder nicht?«

»Ich jedenfalls schon.«

»Aber du nicht aus denselben Gründen. Du, du bist . . . schon längst . . . Ich meine . . . Ich weiß nicht, wie ich sagen soll . . .«

»Erzähl deinen Traum weiter. Erzähl. Wer war sonst noch bei ihm?«

»Frauen, viele, viele Frauen. Wie in den italienischen Erotikfilmen, die wir beide im An-Nasr-Kino gesehen haben.«

»Hassan II., umringt von nackten Frauen?«

»Nein, nein, sie hatten Kleider an, prachtvoll, ganz prachtvoll. Ich meine wie in dem Film Die Stadt der Frauen.«  

»Von Federico Fellini? Kennst du den denn?«

»Wir haben ihn zusammen gesehen, weißt du nicht mehr? Letztes Jahr, kurz vor den Sommerferien. Kurz vor deiner Abreise nach . . . nach . . .«

»Nach Paris.«

»Genau. Erinnerst du dich jetzt? Ich hatte dich kurz vor Beginn der Vorstellung gebeten, mir einen Chanel-Lippenstift aus Paris mitzubringen . . . für meine Kusine.«

»Für deine Kusine, ach ja?«

»Ich schwöre es.«

»Du Lügner! Und, hab ich dir einen mitgebracht . . . für deine Kusine?«

»Ja, knallrot. Sehr schick. Chanel. Genau so einen wollte sie.«

»Gut, gut, ich glaube dir ja. Zurück zu Hassan II

»Sie hat sich sehr gefreut. Übrigens hast du deiner Freundin Samira den gleichen geschenkt. Daran erinnerst du dich doch bestimmt.«

»Komm mir bloß nicht mit Samira. Sie nervt mich. Ich werde mit ihr Schluss machen. Heute Abend vielleicht. Wie sind wir jetzt auf sie gekommen? Zurück, sofort zurück zu Hassan II

»Wo war ich stehengeblieben?«

»Du hast fast nichts erzählt. Schön der Reihe nach. Erzähl von Anfang an. Erzähl, als würdest du eine Erörterung schreiben.«

»Soll das ein Witz sein? Du weißt doch, wie mies ich in Erörterungen bin. Und genau deshalb lasse ich . . .«

»Ja, ja . . . Genau deshalb schreibe ich sie immer für dich.«

»Du bist fies.«

»Ich weiß. Deshalb liebst du mich ja.«

»Du bist fies, fieser geht's nicht.«

»Hör auf, hör auf. Machst du jetzt etwa auf kleines Mädchen? Du weißt genau, dass du so fies bist wie ich. Wir sind gleich, trotz all unserer Unterschiede. Aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ist dir das klar?«

»Überhaupt nicht. Du sagst das zum ersten Mal so . . . deutlich. So klar ausgedrückt und . . . Existieren diese Unterschiede zwischen uns wirklich nicht? Ich glaube nicht . . . Ich glaube nicht. Du tust so, als wärst du wie ich, aber du bist es nicht. Der Arme bin ich. Alles in mir muss dich daran erinnern, und nicht nur dich.«

»Hör doch auf mit diesem Minderwertigkeitskomplex. Hör auf. Ich hab die Schnauze voll. Im Leben dreht sich doch nicht alles nur darum.«

»Eben doch.«

»Eben nicht.«

»Du verstehst mich nicht, Khalid.«

»Mein lieber Freund Omar, das sagst du jedes Mal zu mir, wenn dir die Argumente ausgehen.«

»Ich kann mich aber nicht so gut ausdrücken wie du. Das wirst du nie begreifen.«

»Hör doch auf. Du gehst mir auf die Nerven mit dieser ewigen Leier.«

»Genau das will ich ja.«

»Aha.«

»Ja.«

»Hör auf, bitte. Erzähl deine Geschichte. Sie interessiert mich, erzähl.«

»Ich weiß, dass Hassan II. dich interessiert. Ich weiß warum. Er kommt aus derselben Welt wie du.«

»Sehr schlau!«

»Nicht so schlau wie du, schon klar. Kann ich akzeptieren.«

»Du Idiot! Erzähl schon. Du nervst mich. Erzähl.«

»Er hat sich vor meinen Augen umgezogen.«

»Hassan II.?«

»Ja. Der König zog sich vor meinen Augen um.«

»Du hast ihn also nackt gesehen?«

»Ja . . . Ja, ich glaube schon.«

»Nackt . . . splitternackt?«

»Vollständig nackt.«

»Und dann?«

»Ich hatte den Eindruck, er war . . . er war . . .«

»Was? Was denn?«

»Dass er nicht mehr der König war. Aber das hat kaum eine oder zwei Sekunden gedauert. Eine Minute oder zwei. Es war mitten im Traum. Aber dieser Teil ist nicht der wichtigste. Es ist etwas anderes passiert, etwas Furchtbareres. Ein richtiger Alptraum.«

»Weißt du was? Fang noch mal von vorne an. Aber dieses Mal meine ich es ernst. Erzähl alles, alles. Ich hoffe, du erinnerst dich an alles?«

»Ja, ja, ich erinnere mich an alles. Es war kein Traum. Es war Wirklichkeit.«

»Echte Träume sind immer so, sie fühlen sich immer an wie die Wirklichkeit.«

»Hör auf, herumzuphilosophieren. Ich fange noch mal von vorne an. Ich beginne mit . . . Aber versprich mir, dass du all das für dich behältst. Ich will nicht ins Gefängnis. Versprich es! Der Arme bin ich. Nicht du. Versprich es! Schwöre es.«

»Ich verspreche es! Schieß los.«

»Schwöre!«

»Ich schwöre.«

»Also, es war so . . .«

Es war halb vier, als ich Khalid meinen Traum zu Ende erzählt hatte. Jetzt mussten wir ins Collège. Wir hatten zwei Stunden Französisch. Grammatik in der ersten Stunde, Lesen in der zweiten.

Wie jeden Mittwoch hatte ich bei Khalid einen Teil des Nachmittags verbracht, bevor wir in den Unterricht gingen. Diese Tradition bestand seit vier Jahren.

Es war das letzte Mal. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wie gewöhnlich kam ich nach dem Mittagessen, gegen zwei, in seine Villa. Bei Khalid zu Hause hielten alle Mittagsschlaf. Hadda, das Hausmädchen, öffnete mir. Sie erwartete mich direkt neben der Tür, um mich vom Klingeln abzuhalten. Ihre Herrin, Khalids Mutter, wäre sonst aufgewacht. Das durfte keinesfalls geschehen. Das arme Hausmädchen hätte es büßen müssen.

Ich liebe Hadda.

Hadda ist schwarz. Sie ist sehr groß. Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Zwanzig Jahre?

Sie ähnelt einer Frau, die ich als Kind flüchtig gekannt habe. Wer? Wo? Eine Verwandte? Eine schwarze Verwandte?

Hadda spricht nicht. Hat man ihr die Zunge abgeschnitten? Hat sie nichts mehr zu sagen? Hat sie schon alles gesagt? Alles? Alles? Ich habe gehört, dass sie stumm geworden ist.

Hadda tut, was man ihr sagt. Sie hört zu. Sie antwortet nie. Ohne einen Ton zu sagen, schreitet sie voran. Sie ist da. Und zugleich ist sie nicht mehr da.

Sie öffnete rasch die Haustür, packte mich am Arm und legte den rechten Zeigefinger auf den Mund, um mir zu verstehen zu geben, dass ich auf keinen Fall Lärm machen durfte. Sie versuchte, streng und hart zu wirken, doch es passte nicht zu ihr. Ich lachte nicht über sie. Ich würde nie wagen, sie auszulachen.

Ich folgte ihr. Ein üppiger Körper, zutiefst schwarz. Ein unermesslicher, ganz neuartiger Körper. Schön? Ein Körper für Männer, für Heilige, für Götter. Und Kinder. Ein Appell.

Ich folgte ihr. An ihren riesigen Hintern geheftet. Eine Welt für sich. Ein Geheimnis. Ein Brunnen. Ein Dialog ohne Worte. Ich folgte ihr, und wie jedes Mal, wenn ich sie sah, stellte ich mir dabei dieselben Fragen.

Wo sind Haddas Ursprünge? Aus welchem Wald kommt sie?

Irgendwo in dieser Welt, auf dieser Erde gab es Bande zwischen uns beiden, unseren Ursprüngen. Bande, in denen ihr Blut sich mit dem meinen vereinigte, in denen meine und ihre Haut eins wurden. Schwarz, zwangsläufig.

Im Gegensatz zu den meisten Marokkanern hatte ich nichts gegen Schwarze.

 

Khalid lag ausgestreckt auf seinem Bett. Er wartete auf mich. Er schlief nicht.

Khalid ist Naturwissenschaftler. Ich bin Neusprachler. Alle im Collège sagen, dass man das merkt. Neusprachler sind natürlich weniger intelligent, arme Träumer, Versager.

Von nun an würde die Welt gespalten sein. Khalid auf der einen Seite. Ich auf der anderen. Ab nächstem Jahr in unterschiedlichen Gymnasien. Wir würden nicht mehr in derselben Stadt sein.

Nach den Ferien würde Khalid täglich nach Rabat fahren und seine naturwissenschaftliche Ausbildung auf dem berühmten Lycée Moulay-Youssef erhalten. Er würde ein Auto mit Chauffeur ganz allein für sich haben. Sein Vater befürwortete diesen Beschluss nicht. Es war seine Mutter, die ihn gefasst und durchgesetzt hatte. Sie hatte bereits das Auto gekauft, einen nicht allzu auffälligen Renault, und den Chauffeur eingestellt, den kleinen Bruder ihres eigenen.

Wo würde ich nach dem Sommer sein? Ganz sicher würde ich auf derselben Seite des Bou-Regreg-Flusses bleiben. Ich würde ein Slaoui bleiben, ein Bewohner von Salé.

In den nächsten Tagen sollte mir bekannt gegeben werden, in welches Lycée der armen Vorstädte von Salé ich für den Abschluss meiner neusprachlichen Ausbildung geschickt werden würde. Eine uninteressante Ausbildung. Ohne jede Zukunft.

Ich betete, dass dieses Gymnasium nicht allzu weit von zu Hause entfernt liegen möge, in diesem Territorium des Großen Schreckens. In dieser Welt, in der ich noch nie gewesen war und in der sämtliche Arten von Schleichhandel, sämtliche Verbrechen möglich waren. Eine Welt, die den Namen eines längst nicht mehr existierenden Flusses trug. Oued El-Khanez. Der stinkende Oued.

Khalid schlief nicht. Er wartete auf mich. Ich hatte ihm einen Traum zu erzählen. Ich konnte es kaum erwarten.

An Khalid bewunderte ich alles. Mir gefiel alles an ihm. Sein weißer Körper. Sein glattes tiefschwarzes Haar. Seine leicht gebogene Nase. Seine großen grünen, immer abwesenden Augen. Seine kleine Zahnlücke. Seine geringe Größe, seine Schlankheit, seine Intelligenz. Sein Raffinement. Seine Stimme, die zögerlich klingt, um sich nur umso besser durchzusetzen. Die Lichter um ihn herum. Sein Reichtum.

Khalid war reich. Alles an ihm führte es mir vor Augen. Bewies es mir. Seine Art aufzutreten, zu leben, die Dinge und die Welt zu analysieren. Seine Art zu essen. Mir direkt in die Augen zu blicken, als würde er mich anbaggern.

Khalid war reich, und er war schön.

Khalid war schön, und er war reich.

Er hatte alles. Und er hatte Angst. Dafür liebte ich ihn auch. Wegen seiner seltsamen Ängste, die die meinen schürten und verkomplizierten. Aber auch schöner machten.

Er wandte mir den Blick zu und sagte noch etwas verträumt: »War Hadda nett zu dir? Hadda liebt dich. Sie ist in dich verliebt. Sie hat es mir vorhin gesagt.«

Er lachte freundlich. Ich nicht.

Er fügte hinzu: »Sei nicht so ernst. Sei kein Rassist.«

Ich gab keine Antwort. Hadda bedeutete ihm nichts. Eine x-beliebige Hausangestellte. Er erwähnte sie allenfalls, um sie zu verspotten, sie anzuschnauzen, sie schlechtzumachen. Ich war zwar nicht einverstanden mit ihm, doch ich wagte nicht, es ihm zu sagen. Dann hätte er mich noch mehr verspottet, und das hätte ich nicht ertragen. Hadda gehörte zu mir, sie lebte in meiner Welt, weit von Khalid entfernt. Hadda war ein Geheimnis, selbst für mich.

Wir hatten uns verspätet.
Es hatte lange gedauert, meinen Traum mit Hassan II. zu erzählen. Khalid hatte mir andauernd Fragen über jedes noch so geringe Detail gestellt. Für ihn waren sie mir alle wieder eingefallen.

Wir rannten auf dem Weg zum Collège, in der gnadenlosen Hitze des Nachmittags. Wer würde als Erster ankommen? Ich, natürlich. Wie immer. Ich, der Stärkere. Ich, der Leibwächter. Ich, weil ich das besser konnte als Khalid. Rennen, rennen, rennen. Seit Beginn unserer Freundschaft, unserer Geschichte. Sich zu Tode rennen.

An diesem Tag gewann ich nicht. Ich überließ Khalid den Sieg.

Warum? Ein Geschenk? Brauchte er ihn? Hatte er Lust darauf?

Lust, ja. Brauchen: nein.

Bald sollten wir uns nicht wiedersehen und nicht mehr fast täglich treffen, um miteinander herumzulaufen. Morgens, mittags, abends. Das Leben würde uns auseinanderreißen. Wir hatten uns noch nicht verabschiedet. Es war Khalids Wettlauf. Vielleicht würde es der letzte zwischen uns sein. Zum letzten Mal waren unsere beiden Körper nun dabei, Seite an Seite zu rennen, zu leiden, sich grundlos zu überbieten. Zum letzten Mal auf gleichem Fuß. Zum letzten Mal fortgetragen vom selben Atemstoß, von derselben Luft. Knapp 14-jährige Jugendliche, die noch einmal für einen Augenblick Kinder waren.

Das letzte Mal kostete Khalid diese einfache Freude aus, die er verspürte, wenn er mit mir zusammen war. Würde er sie je irgendwo wieder finden? Mit wem? Zusammensein, Einssein, Glück anderswo als mit mir waren also möglich. Wirklich? Für ihn? Für mich?

Ich war im Vorteil. Ich konnte entscheiden.

Ich dachte an meinen Vater, der wohl gerade Mittagsschlaf hielt. Ich dachte inständig an ihn, außer Atem, mit wallendem Blut. Und ich rannte weiter. Mit meinem Vater in Tuchfühlung. Einige Augenblicke getrennt von meinem Freund Khalid.

Ich hörte meinen Vater. Seine schläfrige Stimme sagte zu mir: »Lass Khalid gewinnen. Es ist sein Tag, nicht deiner. Lass ihn einmal ganz anders die Freude und den Sieg entdecken. Er verdient es, zu gewinnen. Er wird gewinnen.«

Ich war großzügig. Ich verlangsamte meinen Rhythmus. Ich ließ ihn mich überholen. Ich sah ihn siegen.

An diesem Tag gewann ich nicht. Mein Vater ist schuld daran.

 

»Der kleine Dingsda« von Alphonse Daudet stand normalerweise nicht auf dem Lehrplan. Frau Cherki, die Französischlehrerin, hatte uns einen Monat vor Schuljahresende gebeten, den Roman zu besorgen und das Anfangskapitel für die letzte Stunde mit ihr zu lesen. Khalid hatte mir mein Exemplar bei einem fliegenden Händler in Rabat gekauft.

Ich mochte Französisch nicht. Ich konnte es nicht gut. Es war keine Sprache für mich. Keine, die meine sein konnte. Ich mochte die Literatur in dieser fremden Sprache nicht. Für immer fremd in Marokko.

Doch Der kleine Dingsda gefiel mir gleich vom Buchdeckel an, auf dem ein sehr ergreifendes französisches Gemälde, »Armer Schüler« von Antoine Mancini, abgebildet war. Das erste Kapitel hatte mich begeistert, und ich wollte das ganze Buch während der Schulferien zu Ende lesen.

Das erste Kapitel, »Die Fabrik«, hatte ich also gelesen. Ich hatte nicht alle Wörter verstanden, nicht alles begriffen, was es zu begreifen galt, so einfach gleich auf Anhieb. Aber das war nicht schlimm. Etwas von diesem Buch war direkt in mein Herz vorgedrungen, trotz meiner Lücken im Französischen, trotz meiner feindseligen Einstellung gegenüber dieser Sprache und trotz meines Unglücks zu Hause. Ich hatte immerhin eine ganze Woche gebraucht, um dieses Kapitel zu lesen und, wie es die Lehrerin verlangt hatte, eine Zusammenfassung zu schreiben. In dieser Zeit hatte Khalid das Buch zu Ende gelesen.

Entgegen allen Erwartungen wollte Frau Cherki, die mich nie besonders gemocht hatte, dass ich einen Auszug aus dem ersten Kapitel laut vorlese. Frei herausgegriffen.

Ermutigt von Khalids Blick, schlug ich Der kleine Dingsda auf und las, am ganzen Körper zitternd, die folgenden Zeilen:

 

»Was mich anbelangt, so war ich sehr glücklich. Kein Mensch kümmerte sich mehr um mich. Das nutzte ich aus, um den ganzen Tag mit Rouget in den leeren Werkstätten, wo unsere Schritte wie in einer Kirche widerhallten, und auf den verlassenen, schon mit Gras überwachsenen Höfen zu spielen. Der kleine Rouget, Sohn des Hausmeisters Colombe, war für seine zwölf Jahre ein starker Junge, kräftig wie ein Stier, treu wie ein Hund und dumm wie eine Gans. Ins Auge stach vor allem sein rotes Haar, dem er seinen Spitznamen Rouget, Rotschopf, verdankte. Allerdings muss ich gestehen, Rouget war für mich nicht Rouget. Er war nacheinander mein getreuer Freitag, eine Horde Wilder, eine meuternde Schiffsbesatzung, alles Mögliche. Ich selbst hieß damals nicht Daniel Eyssette: Ich war dieser sonderbare, mit Tierfellen bekleidete Mann, dessen Abenteuer man mir kurz zuvor geschenkt hatte, Meister Crusoe in Person. (. . .)

Auch Rouget zweifelte nicht an der Bedeutung seiner Rolle. Hätte man ihn gefragt, wer dieser Robinson sei, hätte man ihn in Verlegenheit gebracht; indes muss ich sagen, er erfüllte seine Aufgabe mit der größten Ernsthaftigkeit, und niemand konnte wie er das Gebrüll der Wilden nachahmen. Wo hatte er es gelernt? Ich weiß es nicht. Doch sein gewaltiges Gebrüll, das er der Tiefe seiner Kehle entlockte, vermochte es, wenn er dazu auch noch seine dichte rote Mähne schüttelte, den Mutigsten zu verzagen. Ich selbst, Robinson, konnte mich zuweilen eines Angstgefühls nicht erwehren und musste ihm leise zurufen: ›Nicht zu laut, Rouget, du machst mir Angst.‹

Leider konnte Rouget nicht nur das Gebrüll der Wilden nachahmen, sondern verstand sich noch besser auf die Ausdrücke der Straßenjungen und auf das Fluchen. Spielend lernte ich auch das von ihm, und eines Tages entschlüpfte mir bei Tisch ein grober Fluch, ich weiß selbst nicht wie. Allseitige Bestürzung! ›Wer hat dir das beigebracht? Wo hast du das gehört?‹ Das war ein Ereignis! Monsieur Eyssette wollte mich sofort in eine Besserungsanstalt einweisen; mein ältester Bruder, der Abt, empfahl, mich unverzüglich zur Beichte zu schicken, da ich doch nun das Alter der Vernunft erreicht hätte. Also brachte man mich zur Beichte. Eine schöne Bescherung! In allen Winkeln meines Gewissens musste ich einen Haufen alter Sünden aufstöbern, die ich in meinen sieben Jahren begangen hatte. Zwei Nächte hindurch schlief ich nicht. Denn von diesen verteufelten Sünden gab es einen ganzen Sack voll; die kleinsten hatte ich obenauf gelegt, aber das nützte nichts, die anderen sah man dennoch hindurch, und als ich vor dem Pfarrer der Rekollekten in diesem engen Eichenschrank kniend all das vorzeigen sollte, glaubte ich vor Furcht und Verwirrung sterben zu müssen.«

 

Eine Viertelstunde vor Ende der Französischstunde betrat der Schuldirektor höchstselbst unser Klassenzimmer. Er strahlte übers ganze Gesicht. Ich sah ihn zum ersten Mal aus nächster Nähe. Er wirkte sehr bedeutend. Er spielte ernsthaft die Rolle einer sehr bedeutenden Person. Ein hoher Beamter, ein Staatsmann. Er war lächerlich. Der Schulaufseher und die Sekretärin begleiteten ihn. Alle drei hatten sie uns etwas Großartiges anzukündigen. Ihre Augen glänzten. Sie lächelten sich gegenseitig zu. Man hätte sie für Verrückte halten können. Für belanglose Verrückte.

Nachdem sie sich zwei Minuten mit Frau Cherki unterhalten hatten, wendeten sie sich uns zu. Der Direktor strahlte noch mehr als zuvor und ergriff nun fast aufgekratzt das Wort. Was er uns ankündigte, war keine Überraschung. Es war weit mehr. Etwas Unglaubliches, im wahrsten Sinn des Wortes.

Die Klasse saß während der feierlichen, fast königlichen Ansprache des Direktors wie versteinert da. Wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Angst haben? Weinen? Lachen? Den Verstand verlieren, erst vor Glück und dann vor Eifersucht?

»Meine lieben Kinderchen, heute ist ein großer Tag, und das ist alles andere als übertrieben. Ein wahrlich großer Tag. Wir haben gewusst, dass wir auf der Warteliste standen. Aber heute, heute Nachmittag, um 14.50 Uhr, um genau zu sein, haben wir es bestätigt bekommen. Aus den besten Schülern des Königreichs Marokko im laufenden Schuljahr wurde ein Schüler unseres Collège ausgewählt. Er wird also nächste Woche der Zeremonie beiwohnen, dem Empfang, den unser König Hassan II. – möge Gott ihn preisen – organisiert, um die besten Schüler und Studenten des Landes zu ehren. Wie gesagt, heute ist ein großer Tag. Eine große Ehre für uns alle. Für euch, meine lieben Kinderchen, aber auch für uns. Für unser Collège. Für unsere Stadt Salé. Und wenn ihr gestattet, eine persönliche Ehre für mich. Es ist das erste Mal, dass mir so etwas in meiner Karriere widerfährt. Es ist ein Ereignis. In mehrfacher Hinsicht. Ein denkwürdiger Augenblick. Ohne Übertreibung darf ich euch sagen, dass unser Collège mit dem heutigen Tag in die Geschichte dieses verehrten Landes eingeht.

Ich bin sehr, sehr, sehr glücklich. Und ich zähle auf euch, dass auch ihr glücklich seid. Wir alle haben es verdient. 

Und dieses Glück verdanken wir der außergewöhnlichen Intelligenz und der hartnäckigen, stetigen Arbeit, der großartigen Bildung eines Schülers, der sich hier unter euch befindet, eben in dieser Klasse. Ihr habt recht gehört: Dieser Schüler ist einer eurer Kameraden.

Habt ihr erraten, welcher? Ja? Nein?

Ich möchte die Spannung nicht länger hinauszögern. Dieser Schüler ist der brillante Khalid El-Roule.«

Der Direktor schwieg einen Moment, um genügend Platz und Zeit für den Applaus zu lassen. Dieser blieb aber aus. 

Die Klasse stand unter Schock.

Der Direktor suchte vergebens, seinen Ärger zu verbergen.

»Na so was . . . Applaus, bitte, Applaus, Applaus . . . Es ist ein großer Tag, Applaus, Applaus für euren Kameraden, für euren Freund, für euren Khalid El-Roule, Sohn des ehrwürdigen Herrn El-Roule, den wir alle kennen. Applaus für Khalid, er wird uns alle vertreten. Er ist der Beste von uns allen, von euch allen. Applaus für ihn, er ist euer Bruder. Khalid, mein Sohn, kommen Sie, treten Sie näher. Nicht so schüchtern, kommen Sie!«

Khalid war überhaupt nicht schüchtern. Er war weder schüchtern noch überrascht.

Er wusste es schon längst.

Er hatte es mir nicht gesagt.

Er wusste es und hatte es mir absichtlich verschwiegen.

Wir applaudierten ihm. Ich applaudierte ihm.

Mein Vater hatte recht. Es war tatsächlich Khalids Tag.

Die Sonne kam näher. Die Dunkelheit ebenso. Nicht als Vorbote des Weltendes, sondern um Khalids Ruhm zu feiern.

Der Direktor forderte Khalid auf, nun auch eine Rede zu halten. Er willigte ein. Die Worte fielen ihm ganz von selbst ein. Hatte er sie vorbereitet? Wann? Seit wann?

 

Ich dachte wieder an meine Mutter. Sie kehrte zurück. Genau in diesem Augenblick kehrte sie zurück in meiner Erinnerung.

Sie fehlt mir, meine Mutter.

Khalid redete.

Khalid glänzte.

Wohlgewählte Worte. Besser noch: neue Worte, Worte für besondere Anlässe.

Meine Mutter fehlt mir. Ich habe eine Mutter. Ich habe eine Mutter. Sie fehlt mir.

Khalid entfernte sich. Flog weit davon. Weit weg von uns. Von mir.

Für Khalid wurde der Traum wahr. Sein Traum? Der Traum eines jeden Marokkaners?

Meine Mutter verstand mich. Endlich. Sie war auf meiner Seite. Sie gab auf mich Acht.

Seit ich nun meinerseits auch eifersüchtig war, verstand ich sie endlich. Ich verstand ihr Fortgehen, ihre Flucht. Und das Unausgesprochene. Nun, da es mir auch schlechtging, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, sie zu sehen, das Bedürfnis, von ihr getröstet zu werden, ihr Dinge zu sagen, sie zu rufen: Mama!

Ich verstand ihr Schicksal, ihr Leben. Wofür sie sich entschieden hatte und vor allem wofür sie sich nicht entschieden hatte. Ich sah ihren Widerstand, ihren langjährigen Widerstand. Gegen wen? Gegen meinen Vater? Einzig und allein gegen meinen Vater?

Sie war nun weit weg von mir, von uns. Seit mehreren Wochen wusste ich es. Aber es war mir gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen. Ihre Abwesenheit. Ihr Verschwinden. Was sie kurz vor ihrem Aufbruch gesagt hatte.

»Sag deinem Vater, dass ich zu meinen Ursprüngen zurückgekehrt bin. Zu meiner eigenen Mutter.«

Ich hatte diese beiden Sätze meinem Vater weitergesagt, ohne zu versuchen, ihren verborgenen Sinn zu verstehen. Ich war in Rage. Ich war egoistisch, ungerecht.

Im Angesicht von Khalid, dem Freund, dem Bruder, meinem Seelenverwandten, dem Verräter, dem Verräter, der ganz allein seinen Stolz auskostete, kamen mir die letzten Worte meiner Mutter wieder in den Sinn. Friedliche Worte. Rätselhafte Worte. Nach einer Weile hörte ich Khalid nicht mehr zu. Er zeigte sich der Situation gewachsen. Er war darauf vorbereitet. Und ich, wo blieb ich? 

Ich enträtselte die Worte meiner Mutter. Ich träumte mit ihnen. Ich lebte in ihnen.

Was waren die Ursprünge dieser Frau gewesen? Wer war sie, dort in dieser Gegend, in die sie zurückgekehrt war? Eine Welt, nicht allzu weit entfernt, im Süden von Casablanca, die ich nicht kannte. Und woher stammte dieser Vorname, ihr Vorname, Zhor? Aus einer anderen Zeit? Zhor, eine Frau wie eine Blume. Wie sämtliche Blumen? 

Ich sah ein ausgetrocknetes Flussbett, einen Heiligen, einen Suk, eine Zitadelle, eine Felsklippe, Frauen, noch mehr Frauen, unter sich, im Kreis. Ohne Männer. Ohne einen Mann. Ein Königreich der Frauen. War dies Azemmour? Ähnelten die Bilder, die mir einfielen, wenigstens ein bisschen dieser Stadt, diesem Ufer, diesem Land, die allesamt auch meine waren?

Ich träumte nachts von Azemmour.

Meine Mutter tanzte. Traurig. Glücklich. Am Anfang ihres Lebens. Vor der Zeit mit meinem Vater.

Wer war diese Frau, die nackt tanzte? Wer war dieser Körper, den ich mit Gewissheit, mit Zweifel, Schamgefühl, Entzücken wiedererkannte? Wem gehörte er? Mir? Und diese Jugendlichkeit, dieses Bild einer Frau, das ich teilweise in meinem tiefsten Inneren trug, ohne es zu wissen, wo war es nun? Im Traum, einzig und allein im Traum? 

Meine Mutter richtete eine Nachricht an mich. Einen Aufruf. Ein Lebewohl. Einen Hilferuf?

Sie tanzte weiter, für mich. Ohne Musik. Ohne Publikum. Nur für mich, der ich dort, mit ihr, rings um sie, über und unter ihr war.

Ihre letzten Worte hallten andauernd in meinen Ohren wider, laut, fern, verständlich. Immer trauriger.

»Sag deinem Vater, dass ich zu meinen Ursprüngen zurückgekehrt bin. Zu meiner eigenen Mutter.«

Ein Lied? Eine Machtergreifung? Eine Abkehr? Eine erste Liebe? Der erste erspürte Ort? Das älteste Gewerbe: die Prostitution?

Die Quelle von allem, ein Flusslauf, der ins Meer mündet, der sich hineinwerfen, sich in aller Heftigkeit mit dem Ozean vereinigen will: der Oum Rbii?

Ich empfand den Schmerz. Ich verstand meine Mutter, ohne sie zu verstehen. Ich sah sie mit anderen Augen und verurteilte sie nicht. In ihrem Geheimnis, in ihrem Aufbruch, in ihrem Leiden wurden wir vereint.

Dachte sie an mich? Würde sie eines Tages wiederkommen?

Mussten wir sie dazu bewegen zurückzukommen oder – wie es der Hexenmeister Bouhaydoura vorschlug – sie ein neues Leben beginnen, ihr Leben von früher fortsetzen lassen?

Ich wusste nicht, wie ich mich entscheiden sollte.

Khalid, der noch immer den bescheidenen, tadellosen Schüler mimte, hatte seine Rede beendet. Die gesamte Klasse applaudierte nun sehr herzlich.

Abgesehen von mir.

Ich war eifersüchtig. Jawohl, eifersüchtig. Ich fühlte mich verraten. Tief verletzt. Verleugnet. Mit tausend Messerstichen getötet. Khalid hatte mir nicht das Wesentliche gesagt: Er würde die Hände von König Hassan II. tatsächlich küssen.

Ich nicht.

Ich hatte ihm meinen Traum mit Hassan II. erzählt. Er hatte mir viele Fragen gestellt. Ich hatte geantwortet, tief in meinem Kopf gegraben, um ihn zufriedenstellende Antworten zu finden. Er hatte mehrere Gelegenheiten gehabt, mir zu sagen, dass er seinerseits von Hassan II. empfangen werden würde. Ich hatte diese Neuigkeit, wie alle, aus dem Mund dieses gräulichen Schuldirektors erfahren. 

Wovor hatte Khalid Angst?

Wer bin ich für Khalid?

 

Bevor er ging, ergriff der Direktor erneut das Wort und redete lange.

»Vergesst nicht, meine lieben Kinder, dass morgen ein großer Tag ist. Ihr erinnert euch doch, nicht wahr? Morgen . . . ist der Tag des Königs. Ihr alle müsst den König und den hohen Gast grüßen, den er am Flughafen Rabat-Salé empfängt. Der königliche Festzug wird wie gewöhnlich nur wenige Meter vor unserem Collège vorbeifahren. Ihr müsst alle hingehen. Habt ihr mich verstanden? Der Festzug wird, wenn alles glatt läuft, gegen 13 Uhr vorbeifahren. Ihr müsst so früh wie möglich an Ort und Stelle sein, spätestens gegen 11 Uhr. Verstanden? Und natürlich fällt euer Unterricht morgen Vormittag aus. Wenn der König vorbeigefahren ist, kommt ihr alle wieder zurück ins Collège. Wir veranstalten dann eine kleine Feier zu Ehren eures brillanten Kameraden, des Stolzes dieser Schule und der Stadt Salé, Khalid El-Roule. Bringt, wenn ihr könnt, Limonade, Coca-Cola, Judor, La Cigogne oder Yuki mit, was ihr eben so findet. Und auch Kekse. Kekse von Henry's zum Beispiel. Sie sind nicht teuer. Ich habe gehört, dass das die Lieblingskekse unseres Schülers Khalid sind. 

Morgen ist der Tag des Königs. Und in unserem Collège wird es auch der Tag Khalids sein.

Morgen ist ein Festtag.

Morgen wird die Welt eures Collège eine andere sein. Ihr werdet sehen.

Morgen wird sogar das Fernsehen in unser Collège kommen. Ihr werdet sehen. Mehr will ich nicht verraten. Es wird ein großes Ereignis. Das Ende des Schuljahres. Der Festtag für Khalid. Unser aller Festtag, um mehrere Ereignisse gleichzeitig feierlich zu begehen. Kommt alle. Ich dulde nicht, dass jemand fehlt. Das ist ein Befehl. Keiner darf fehlen . . . Habt ihr alle verstanden?

Also bis morgen.«

»Sie wird nicht wiederkommen, nicht wahr? Nicht? Aber ich will, dass sie wiederkommt, dass sie wieder ihren Platz einnimmt, dass sie wieder meine Frau ist, wie früher, wie immer. Hörst du? Das ist ungerecht. Das ist ungerecht. Findest du das etwa gerecht? Du und ich, zu zweit, allein. Allein und tief betrübt. Ich, allein, ohne Frau, ohne meine Frau, das ist ungerecht, das ist ungerecht. Gott liebt mich nicht mehr. Gott. Wo ist er? Wo ist sie? Das ist ungerecht. Findest du das etwa gerecht? Rede. Rede mit mir. Sag etwas. Sprich.«

Er hatte recht, mein Vater.

Er hatte getrunken.

Er hatte recht in einem: dem Trübsinn. Khalid hatte mich verraten. Ich stand noch unter Schock, war untröstlich. 

Der Sommer war trist. Das Leben, vermischt mit billigem Rotwein, war trist. Von nun an sollte es sich so anfühlen. Und der freudig-festliche Kuskusabend würde daran nichts ändern.

Ich hatte nicht getrunken. Aber ich war auch betrunken. Bestimmt aus Solidarität mit meinem Vater, der es schon seit langem war.

Ich hatte ihn so bei meiner Rückkehr aus dem Collège vorgefunden. Er bereitete in der Küche den Kuskus und trank dabei Wein. Eine beliebte Musik begleitete ihn dabei, die seines Lieblingssängers El-Houcine Slaoui.

Ich hatte ihm angeboten, ihm zu helfen. Doch ganz offensichtlich gab es nichts mehr zu tun. Das Gemüse und das Fleisch waren fast gar. Der Grieß halb gar. Man musste al les nur im Auge behalten. Damit es nicht anbrannte! Damit es nicht überkochte! Damit das Ergebnis so wurde, wie es sein sollte, perfekt.

»Ich kann dir Minztee mit Wermut zubereiten, wenn du willst, mein Sohn.«

»Gerne. Aber . . . es ist doch Sommer, Papa, da gibt es keinen Wermut auf dem Markt.«

»Bist du da sicher?«

»Da bin ich mir sicher.«

»Hundertprozentig?«

»Ich bin mir sicher, dass wir Sommer haben. Wermut gibt es aber nur im Winter.«

»Wir haben Sommer?«

»Hast du das noch nicht bemerkt, Papa?«

»Nicht wirklich, mein Sohn.«

»Du willst mich wohl veräppeln.«

»Veräppeln! Nein, nein . . . Ich will nur mit dir mein Vergnügen teilen.«

»Ich bin ja bei dir . . . Ich bin ja bei dir, Vater.«

»Hast du schon einmal Wein getrunken?«

»Nein. Nein. Noch nie.«

»Sag die Wahrheit! Sag die Wahrheit!«

»Das ist die Wahrheit!«

»Die Wahrheit, sagst du? Es klingt aber nicht wie die Wahrheit.«

»Aber es ist die Wahrheit. Wirklich.«

»Lüg mich nicht an, ich bin dein Vater.«

»Ich habe noch nie Wein getrunken, sage ich doch.«

»Nicht einmal mit deinem reichen Freund Khalid?«

»Khalid ist zu empfindlich, Wein bekommt ihm nicht.«

»Das gibt es nicht, jedem bekommt und schmeckt Wein doch. Und wir Muslime, wir werden alle eines schönen Tages schließlich welchen trinken, und wenn es nicht hier auf Erden ist, dann eben da oben im Paradies. Und dann mit dem Segen Allahs.«

»Du redest Unsinn, Vater.«

»Ja, ja, mag sein, dass ich Unsinn rede. Also nutze es aus und trink mit mir. Ich bin dein Vater, ich erteile dir die Erlaubnis, Wein zu trinken. Glaube nicht, was die anderen sagen. Es ist keine Sünde, mein Sohn. Es ist keine Sünde.« 

»Was ist eine Sünde, Vater?«

»Eine Sünde ist . . . das ist . . . das ist, wenn man das Leben nicht liebt. Wenn man vor dem Leben flieht. Wenn man flieht, eine Familie im Stich lässt . . . und flieht.«

»Jetzt möchte ich gerne, dass du mir Tee machst, Vater. Später trinke ich vielleicht einen Schluck Wein mit dir.« 

»Ach ja, mein Sohn, trink mit mir, trink mit mir. Es gibt nichts Traurigeres, als allein zu trinken. Trink, und ich erzähle dir Geheimnisse.«

»Versprichst du das?«

»Ich verspreche es . . . von ganzem Herzen.«

»Dann werde ich es tun, Vater. Aber zuerst den Tee. Ich behalte den Kuskus-Kochtopf im Auge. Bereite mir Tee zu. Du bist der König des Minztees.«

»Das stimmt nicht.«

»Das hat Mama aber immer gesagt.«

»Soso!«

»Ja, ich habe gehört, wie sie es manchmal zu ihren Kusinen gesagt hat.«

»Bist du dir sicher?«

»Ganz sicher, ja. Und ich weiß auch, dass du der König des Minztees bist.«

»Ah! Mein Sohn, ich mag dich schrecklich gern. Komm her, komm her, lass dir einen Kuss geben, lass dich ganz fest drücken. Komm. Komm . . .«

Ein bisschen Freude.

Später trank ich ein Gläschen Wein, um ihm einen Gefallen zu tun.

Er verriet mir ein Geheimnis.

»Nachts, wenn ihr schlieft, dein Bruder und du, trank deine Mutter mit mir . . . viel . . . viel . . . viel Wein.«

Das war kein Geheimnis für mich. Ich sagte es ihm aber nicht.

 

Der Kuskus meines Vaters war missraten. Zu salzig. Zu wässrig. Gemüsesorten, die nicht zusammenpassten. Ich aß davon. Ich tat so, als würde es mir schmecken.

Der Wein dagegen war hervorragend. Mein Vater sagte es wieder und wieder. Ich glaubte ihm.

Wir waren nun eins mit der Nacht. Ich hatte nichts anderes zu tun. Mich vergessen. Meinem Vater zusehen, wie er eine Flasche Wein nach der anderen leerte. Ihn klagen hören. Ihn meine Mutter verdammen hören, dann hören, wie er sie rief, wie er mit viel Liebe ihren Vornamen brüllte.

Spät in der Nacht trocknete ich seine Tränen, ich zog ihn aus und legte ihn in das große Bett, in dem er bereits seit mehreren Monaten allein schlief.

Ich jedoch pisste, wie es mir mein Vater empfohlen hatte, kurz bevor ich zu Bett ging, auf die Wunde meiner linken Wade, die seit einem Monat nicht vernarben wollte.

»Glaub mir, glaub mir. Es gibt nichts Besseres als Pisse, um Wunden vernarben zu lassen. Glaub mir, so habe ich das in deinem Alter gemacht. Auf dem Land gab es kein Desinfektionsmittel. Gar nichts gab es. Glaub mir . . . Glaub mir . . .«

Ich glaubte ihm.

Hadda, das schwarze Hausmädchen, das in Khalids Haus arbeitete, stattete mir in dieser Nacht einen Besuch ab. Sie kam und holte mich aus meinen Träumen. Sie weckte mich sanft, nahm mich an der Hand und führte mich in die Küche, unsere Küche. Wie immer sprach sie nicht. Ich begriff aber schnell, dass sie mir die Zubereitung eines Gerichts, eines einzigen Gerichts beibringen wollte: der Hsoua. Konnte es denn nicht unserer Gesundheit schaden, mitten in der Nacht zu kochen? Waren die Geister denn alldem wohlgesinnt?

Hadda zündete eine weiße Kerze an und reichte sie mir. Sie war unsere einzige Lichtquelle.

Ich stand neben ihr, dicht an ihrem großen und warmen Körper, und sah ihr beim Hantieren zu, ich verfolgte aufmerksam alle Arbeitsschritte für die Zubereitung dieser ländlichen Suppe, der Hsoua, die ich sehr mochte und die meiner Mutter früher immer wunderbar gelang. War Hadda von meiner Mutter geschickt worden? Kannte sie sie? Stand sie auf ihrer Seite? Wusste sie, wo sie sich nun befand?

Es hatte keinen Sinn, ihr diese Fragen zu stellen. Hadda spricht nicht. So ist das eben. Das ist Vorschrift.

Ich hielt die Kerze näher und sah, wie sich der Zauber vollzog.

Hadda schüttete Wasser, eine Menge Wasser in einen Blechnapf, Olivenöl, Salz, Pfeffer, ein wenig Thymian, ein wenig frischen Koriander, vier große, grob geschnittene Tomaten. Sie vermischte das Ganze und stellte den Blechnapf aufs Feuer. Etwas später gab sie zehn Handvoll feinkörnigen Kuskusgrieß dazu. Wieder vermengte sie all diese Zutaten, legte den Deckel auf den Blechnapf und stellte die Flamme kleiner. Wir warteten etwas über eine Viertelstunde neben dem kochenden Napf. Sie setzte sich auf den Boden und nahm mich in den Schoß. Ich hielt noch immer die brennende Kerze in der Hand. Hadda behandelte mich wie ein kleines Kind. Sie legte die Arme um mich und sang mir sogar ein Wiegenlied vor.

Schlaf, schlaf, Kindchen.

Schlaf, bald ist unser Abendessen bereit.

Schlaf, schlaf, Kindchen.

Und wenn unser Abendessen nicht fertig ist,

Dann sicher das der Nachbarn.

Und du wirst essen.

Und du wirst schlafen.

Schlaf, schlaf, Kindchen.

 

Schlaf.

Zwei Minuten vor Ende der Kochzeit gab Hadda zwei große Löffel hausgemachter ranziger Butter in den Napf dazu. Dann löschte sie das Feuer und servierte mir eine große Schale Hsoua. Sie schmeckte gut, köstlich, göttlich. Ich aß die erste Schale ziemlich schnell leer. Hadda servierte mir eine zweite, dann eine dritte. Sie aber aß nichts, sie durfte nicht, dazu hatte sie kein Recht. Sie betrachtete mich nur und schärfte mir mit ihren Augen alle Etappen für die Zubereitung der Hsoua mit hausgemachter ranziger Butter ein.

Hadda wusste zweifelsohne, dass es für ein Kind immer gefährlich ist, mit leerem Magen zu schlafen. Schon seit Langem war ich kein Kind mehr. In dem Traum mit Hadda stellte sich bei mir ein Geschmack aus der Kindheit wieder ein. Ein Aroma, das ich von meiner Mutter kannte, verband ich ab sofort mit dieser schwarzen, stummen Frau.

Fast während der ganzen Nacht war der Traum nur dies, diese Lehrstunde im Kochen, diese Bindung mittels Nahrung, diese ganz neuartige Annäherung, Körper an Körper, und in unserer Mitte eine kleine Kerze. Das Gute bleibt möglich. Die Schlemmerei nimmt kein Ende. Mein Bauch, der immer mehr anschwillt. Der bald platzen wird. Und Hadda, die mir andauernd von neuem auftut. Immer wieder. Und wieder.

Der Kindheitstraum, der sich allmählich der Hölle nähert.

Zum Glück wachte ich auf, bevor es zu spät war. Das Ganze war noch kein Alptraum geworden. Hadda hatte die Küche verlassen, doch der Duft ihrer Suppe erfüllte das ganze Haus. Im Zimmer nebenan schlief mein Vater tief, er schnarchte laut, sehr laut. Träumte er auch von Hadda?

Ganz allein im Dunkeln begann ich, den Namen der Suppe zu wiederholen, um ihr Geheimnis besser in mir zu bewahren. Hsoua, Hsoua, Hsoua. Und genau in dem Moment, in dem ich fast wieder eingeschlafen war, sagte ich Hadda. Ich rief Hadda.

Sie erschien dann vor mir, nackt, schwarz und nackt, eine Schale Hsoua in der Hand. Ich dachte, ich würde träumen. Aber nein, nein, ich träumte nicht. Hadda war wirklich da, in meinem Zimmer, still, liebevoll, groß und klein zugleich. Hausmädchen anstelle meiner Mutter. Frau anstelle meiner Mutter.

Nein, ich träumte nicht. Hadda war keine nächtliche Phantasiegestalt. Sie hatte tatsächlich die Reise bis zu mir gemacht, in dieser Nacht.

Ich rief sie weiter. Ich hatte wieder Hunger.