Ich bin vor ihm. Ich scheine zu träumen, träume aber nicht. Er ist es. Eindeutig er. Ein Mann, den ich gut kenne. Allzu gut. Sein Gesicht sieht genauso aus wie auf den Bildern, die überall hängen, wie das Bild von ihm, das jeden Abend im marokkanischen Fernsehen zu sehen ist. Ein rundes Gesicht. Kleine Nase. Harte, stechende Augen, mit denen nicht zu spaßen ist. Ein gönnerhaftes, dominantes Gesicht. Ein wenig düster. Fern. Nah. Es ist charmant. Entschlossen. Grausam. Zärtlich. Alles zusammen. Ich erkenne es wieder. Ich träume nicht. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich bin vor ihm. Vor ihm? Wirklich? Ja, vor ihm. Er ist es. Er ist dort hinten, im Hintergrund, er sieht mich nicht. Ich gehe auf ihn zu. Ich habe keine Wahl. Er zieht mich an, er beherrscht mich. Ich gehöre ihm. Er ist der König.
König Hassan II.
Er ist schön. Ich liebe ihn. Kein Zweifel, ich liebe ihn. Ich habe gelernt, ihn zu lieben. Seinen Namen auszusprechen. Ihn auszurufen.
Er ist schön. Er ist bedeutend. So schön, so bedeutend.
Wir sind in einem Salon. Riesig. Eine Halle. Eine salonartige Halle. Niemals hätte ich mir einen solch großen, solch unermesslichen Salon vorgestellt. Ich bin beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert.
Der König ist vor mir. Der König ist fern. Ich will ihn mehr aus der Nähe sehen. Ich laufe auf ihn zu. Ich laufe, ich laufe. Ohne zu atmen. Dann falle ich. Leute lachen. Ich begreife, dass ich mit dem König nicht allein bin. Mein König. Rings um ihn ein Durcheinander. Viele Frauen. Sie sind alle sehr elegant in ihren prachtvoll leuchtenden Kaftanen. Sie sind alle sehr schön. Sie kommen aus allen Gegenden Marokkos. Sie lachen über mich. Ich falle hin und bin auch schon den Tränen nahe: Das amüsiert sie. Sie lachen lange, ohne mich wirklich anzusehen. Ohne die schwarzen Diener zu bitten, die genauso jung und schön sind wie sie, mir aufzuhelfen und beizustehen. Sie lachen. Anmutig. Immer noch auf dem Fußboden und seltsamerweise nackt, fange auch ich bald an zu lachen. Und ich richte mich auf und beginne erneut zu laufen.
Der König ist immer noch fern. Dort hinten.
Der König lacht nicht wie im Fernsehen.
Der König ist plötzlich ganz nah. Er hält mich auf.
Ich halte an. Ich werfe mich nieder.
Er fragt: »Wie heiße ich?«
Ich antworte naiv, einfältig: »Hassan II. König Hassan II. von Marokko.«
Er sagt: »Nein. Mein Familienname? Wie lautet mein Familienname?«
Ich weiß ihn nicht. Er ist mir entfallen. Habe ich ihn je gewusst? Ich denke nach. Ich blicke den König an. Eine Sekunde. Ich senke den Kopf. Ich bin kein Rebell.
Für mich braucht ein König keinen Familiennamen. Deswegen ist er ja König und der Stärkste und gebietet über seine Untertanen, die hingegen Familiennamen tragen müssen, um zu existieren, zu leben, zu gehorchen.
Ich weiß ihn nicht. Ich bleibe stumm vor dem König. Mit gesenktem Kopf. Ich schließe die Augen.
Ohne wütend zu werden, wiederholt er: »Wie lautet mein Familienname?«
Ich weiß es nicht. Ich schweige noch immer. Wo bin ich? Und jetzt? Was tun?
Ich hebe den Kopf. Jetzt blicke ich den König an. Ich bin ein Held.
Er wirkt nicht bösartig. Er wirkt normal, ein menschliches Wesen, kein königliches Ungeheuer. Er ist ruhig. Ein wenig belustigt. Zunehmend belustigt. Über mich? Über die Situation?
Er streckt mir die Hand entgegen, ohne mich zu erreichen, als wolle er mir über den Kopf und den Nacken streichen. Er streicht darüber.
Ich schließe die Augen. Ich mache sie wieder auf.
Er hat sich mir genähert. Seine beiden Hände umschließen meinen Hals, und er würgt mich immer stärker.
»Mein Familienname? Schnell, schnell. Mein Familienname? Schnell, hab ich gesagt.«
Ich grabe in meinem Kopf ein Loch. Einen Schacht in meinem Gedächtnis. Ich steige hinab, ganz tief hinab.
Der König: Ich bin mit ihm geboren, ich kenne nur ihn, ich sehe nur ihn, ich achte nur ihn. Er ist überall. Er ist der Gebieter. Er ist der Vater. Er ist Gott. Wie kann man nur seinen Familiennamen nicht wissen? Wie kann man diese wichtige Auskunft über ihn nicht wissen? Wie nur? Hat er überhaupt einen?
Ich grabe noch immer. Ich denke nach. Ich denke nach.
Ich atme nicht mehr. Ich atme nicht mehr.
Mir wird schwummrig. Alles wird rot.
Ich träume nicht. Ich träume nicht mehr.
Der König lässt mich los.
Ich falle. Ich liege auf dem Boden. Allein.
Eine Frau nähert sich mir. Sie haucht mir einen Berbergesang ins Gesicht. Sie richtet mich auf. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie hört auf zu singen. Sie ist sanft. Sie sagt mir auf Arabisch ins linke Ohr: »Geh zu ihm, geh zu dem König, er ist wie dein Vater. Er ist dein Vater.« Und sie stößt mich gewaltsam in seine Richtung. Mit dieser Gewalt, mit diesem Verrat habe ich nicht gerechnet.
Ich bin nichts mehr.
Ich falle erneut.
Ich liege auf dem Boden, zu Füßen des Königs, der mich anblickt. Seine Augen wirken jetzt anders. Sie sind im Dunkeln.
Der König lacht. Laut.
Er hört auf zu lachen. Ganz unvermittelt.
Dann lachen die Frauen, laut, sehr laut und böse. Sie sagen alle im Chor zu mir: »Er ist dein Vater, geh hin, geh hin. Er ist dein Vater. Er ist dein Vater.«
Ich schrak hoch.
Ich hatte geschlafen.
Jetzt schlief ich nicht mehr. Ich war wach. Im Dunkeln. Auf dem Boden. Allein in dem armseligen Zimmer. Inmitten der Schnarchlaute meines Vaters.
Ich hatte Angst. Mein Herz auch: Bald würde es aufhören zu hämmern.
Ich konnte mich nicht an meinen Traum erinnern, an den schwarzen Traum dieser Frühsommernacht, der noch in mir war.
Ich erinnerte mich an nichts.
Wo ist mein Kopf? Wo sind meine Füße? Und meine Haut?
Ich suche sie. Ich starre ins Dunkel und suche sie.
Ohne zu verstehen, sagte ich, rief ich: »Nein, nein, er ist nicht mein Vater. Der König ist nicht mein Vater.«
Und ich brach in Tränen aus. Heiße Tränen. Immer noch voller Angst. Ohne mein Herz zu spüren. Dann schlief ich wieder.
Träumte.
Ich bin am Fuße des Throns. Zu Füßen meines Gebieters. Mein Glück ist verflogen. Meine Liebe ist verflogen. Ich bin ein Verurteilter. Ein Narr des Königs.
Ich weine. Lange?
Ich ringe nach Luft.
Der König macht »Psssst!«.
Die anderen Frauen machen »Psssst!«.
Ich höre auf. Zu leben.
Mit gesenktem Kopf richte ich mich auf. Ich will sprechen. Ich wage es nicht. Ich will etwas sagen, das mir gerade eingefallen ist. Eine Antwort, die ich für intelligent halte. Ich wage es nicht, ich wage es nicht.
Ein schwarzer Diener kommt auf mich zu. Er sagt zu mir: »Nachher wird deine Strafe schlimmer sein, schlimmer als alles. Du musst vor uns allen nackt den Bauchtanz aufführen.«
Vor dem König?
Einen Augenblick lang bin ich glücklich: Ich war immer gerne nackt.
Dann erfüllt mich panische Angst.
Ich brülle meine Antwort.
»Sie sind König Hassan ben Mohammed.«
Ich bin erleichtert. Es ist mir eingefallen. Der König lächelt. Ich sehe seine weißen, zu weißen Zähne. Sie schimmern.
Er hebt die rechte Hand, gibt einem weißen Diener ein knappes Zeichen. Dieser kommt sofort auf mich zu und verpasst mir eine Ohrfeige. Eine gewaltige Ohrfeige auf die rechte Wange. Ich falle hin. Er hilft mir wieder auf. Er gibt mir eine weitere Ohrfeige auf die linke Wange. Ich falle hin. Er hilft mir wieder auf und sagt zum König: »Auftrag erfüllt, Majestät.« Und er entfernt sich.
Er ist kein weißer Diener mehr. Aus ihm ist ein schwarzer Diener geworden.
Es tut weh. Sehr weh. Gleich muss ich mich übergeben. Tränen rinnen in Strömen aus meinen Augen.
Der König scheint Mitleid mit mir zu haben. Er betrachtet mich freundlich, sehr freundlich. Er sagt, ich solle meine Tränen abwischen. Ich gehorche.
Er steht auf. Schnippt mit den Fingern. Drei Mal. Alle senken die Köpfe und verdecken die Augen mit der Hand. Bis auf mich. Ich mache es den anderen nach, ich senke den Kopf, aber ohne die Augen zu schließen. Der König sagt nichts.
Nun herrscht eine beeindruckende Stille, wie ich sie noch nie erlebt habe.
Der König steht da. Drei schwarze Diener, schwärzer als die anderen, umringen ihn. Sie entkleiden ihn. Vollständig. In aller Schnelle.
Sie ziehen ihm alle Kleidungsstücke aus. Sogar die Unterhose.
Der König ist nackt.
Ich habe es gesehen.
Ich senke den Kopf noch tiefer. Und dieses Mal schließe ich wirklich die Augen. Ich will dieses unmögliche, unvorstellbare Etwas nicht sehen: Hassan II., nackt! Ich will dieses Verbrechen nicht begehen. Ich will leben. Leben an der Seite der Sonne dieses Tages.
Ich verharre lange Zeit so. Eine ganze Nacht vielleicht.
Ich schlafe ein.
Ich werde geweckt.
Die salonartige Halle ist leer. Alle Frauen sind gegangen. Die Fensterläden sind geschlossen. Es gibt fast kein Licht mehr. Nur Hassan II., die drei tiefschwarzen Diener und ich sind noch da. Hassan II. trägt nun eine prachtvolle weiße, etwas kurze Dschellaba, auf dem Kopf einen weißen Turban und an den Füßen schwarze Schuhe. Er ist schöner als zuvor, größer. Ein anderer Mensch. Eine Art Heiliger. Im Dunkeln ist er das Licht.
Ich liebe ihn. Meine Liebe zu ihm erwacht wieder.
Er ist mein König.
Ich habe Glück. Ich bin von Dankbarkeit erfüllt. Ich möchte ihm dafür danken, dass er mich empfängt, dass er mich auf diese Weise in seinen Privatgemächern duldet, in dieser märchenhaften Welt, die es nicht gibt.
Die Diener haben meinen Wunsch erkannt, mich dem König noch weiter zu nähern. Ihn zu berühren. Ihn zu küssen. Seine magische Kraft, die Baraka, zu haben. Ein wenig davon. Nur ein klein wenig. Es heißt, er sei ein direkter Nachkomme des Propheten Mohammed.
Weit weg ist er nicht mehr. Ich will auf ihn zulaufen. Die Diener packen mich. Ich gebe nicht auf. Ich rebelliere. Ich versuche erneut, auf den König zuzulaufen. Ich werde wieder gepackt. Zwei Diener halten mich an den Armen fest. Ich bin wie festgenagelt. Eingekreist. Gefangen.
Der König kommt zu uns.
Man lässt mich los.
Der König hält mir die Hand hin. Einige Augenblicke verharrt seine Hand so, ausgestreckt, erwartungsvoll. Ich weiß, was ich zu tun habe. Aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll.
Die Hand von Hassan II. küssen: Diesen Traum hegen so gut wie alle Marokkaner. Für mich wird dieser Traum nun wahr.
Doch wie küsst man, wie liebkost man diese saubere, derart saubere königliche Hand? Wie nur? Wer kann mir das verraten?
Ich versuche, mich an die zahllosen Bilder des Königs zu erinnern, die ich im Fernsehen gesehen habe. Keines kann ich mir nun mit Genauigkeit vorstellen.
Die Hand von Hassan II. wartet immer noch. Ich muss mich beeilen. Schnell. Schnell.
Ich senke den Kopf. Ich stürze los.
Ich umschließe die Hand des Königs mit meinen Händen. Ich habe mich verneigt. Zutiefst verneigt. Tadellos verneigt. Ich spüre die Hand von Hassan II. Ich atme ihren Geruch ein. Welch ein Glück! Welch ein Glück!
Ich atme ihren Geruch noch tiefer ein. Sie ist wirklich sauber, sauberer als sauber. Gewaschen. Sehr gründlich gewaschen. Mit welcher Seife? Lux? Palmolive? Dop? Nivea? Benutzt auch der König diese landläufigen Seifenmarken, deren Duft ich genau kenne?
Meine Nase ist noch in seiner Hand. Ich atme sie wieder und wieder ein. Ich schnüffle. Ich schlüpfe in die Haut dieser historischen Hand. Ganz klar: Sie riecht nach Sauberkeit. Nach sauberer Sauberkeit. Doch sie verströmt keinen Wohlgeruch. Absolut keinen. Bis auf den der Sauberkeit.
Ich staune.
Was, der König riecht nach nichts anderem als nach Sauberkeit? Wie eigenartig. Wirklich. Parfümiert er sich nicht? Das scheint mir unmöglich. Ich muss weiter schnüffeln. Diesen einzigartigen Augenblick ausnutzen, um den verborgenen Wohlgeruch zu entdecken, den verborgenen Duft des Königs und seiner Hände.
Beherzt hebe ich den Kopf, um die Schulter des Königs zu küssen. Das werde ich nun tun. Ja, ja, ich werde es tun, ich werde es tun. Aber zuerst muss es mit dieser sauberen Hand ein Ende haben. Sie küssen. Sie küssen, wie es sich schickt. Ganz nach Protokoll, das alle Marokkaner in- und auswendig kennen. Außer mir.
Was tun? Mein Gott, was tun? Ich muss improvisieren. Unbedingt, unbedingt. Ich habe keine andere Wahl.
Ich küsse die Hand von Hassan II. Zuerst den Rücken dieser nicht sehr großen Hand, einmal, zweimal, dreimal. Dann drehe ich sie um. Die Handfläche des Königs verblüfft mich: Ihre Linien sind außergewöhnlich, Linien, wie ich sie noch nie gesehen habe, lange, endlose Linien. Ich will in ihnen lesen. Dafür ist jetzt keine Zeit. Ich drücke meine Lippen in diese unermessliche Handfläche, eine Welt für sich. Ich hinterlasse dort drei hastige, aufrichtige, entzückte Küsse.
Auftrag ausgeführt?
Nicht ganz. Jetzt gilt es, den Arm zu erklimmen.
Habe ich denn nun die Hand des Königs angemessen geküsst? Habe ich ihr Ehre erwiesen, wie es sich gehört? Keine Ahnung. Ich sage mir, besser stelle ich das jetzt gleich klar, denn sonst lässt man mich nicht höher zur Schulter hinauf, am Arm und Ellbogen des Königs entlang. Den königlichen Wohlgeruch endlich entdecken. Ihn einatmen. Ihn mir einprägen.
Ich muss nachdenken. Schnell. Schnell.
Ich denke nach. Eine Sekunde. Zwei Sekunden.
Ich werfe einen raschen Blick nach rechts. Bin ich gerettet? Tatsächlich, ich bin es. Einer der drei schwarzen Diener gibt mir zu verstehen, dass ich noch einmal die Hand umdrehen und dreimal den Handrücken küssen muss.
Welch ein Glück! Ich bin gerettet! Ich bin gerettet!
Ich küsse die königliche Hand ein letztes Mal mit mehr Eifer. Und so langsam gelange ich immer höher den Arm hinauf.
Ich werfe dem Diener, der mich soeben gerettet hat, einen Blick zu. Er wirkt entsetzt, er schüttelt ganz aufgelöst den Kopf. Er protestiert. Er dreht gleich durch. Ich setze trotz allem meinen Weg fort, glücklich, aufgeregt, wie besessen von der Frage, wie der König riecht.
Ich blicke erneut den schwarzen Diener an, der mich gerettet hat. Er kommt auf mich zu. Er ist außer sich. Die beiden anderen auch. Sie wollen mich sicher davon abhalten, einen weiteren Irrtum, ein weiteres Verbrechen zu begehen. Sie wollen mich ins Gefängnis werfen.
Ich bin schneller als sie.
Ich bin angelangt.
Auf der Schulter von Hassan II.
Ich küsse sie blitzschnell dreimal. Und ich atme auf. Entzückt atme ich auf. Ich atme auf.
Leider haben sich die Diener bereits auf mich gestürzt. Sie packen mich am Arm und zerren mich brutal vom Körper des Königs weg.
Ich bin entsetzt. Frustriert. Ich warte auf ein Wunder. Ein neues Wunder.
Es kommt schneller, als ich erhoffen konnte.
Hassan II. sagt: »Lasst ihn, lasst ihn zum Ende kommen.«
Ich bin im Glück, ein weiteres Mal. Mehr noch als bisher.
Sie lassen mich wieder los.
Ich falle buchstäblich über den Arm von Hassan II. her. Ich erklimme ihn erneut. Ich erreiche sehr schnell die Schulter. Dann den Hals. Und in der Kuhle, an dieser von mir so weit entfernten, so unerreichbaren Stelle, auf der bräunlichen Haut, entdecke ich endlich den Duft meines Königs.
Es ist ein Vetiver-Duft. Eindeutig ein Vetiver, doch ein ganz besonderer, spezieller Vetiver. Speziell für ihn gemacht?
Es ist grün. Es ist frisch. Ein Frühlingswald. Da ist der Hals des Königs. Ich atme ein, ich inhaliere, ich registriere. Und ich küsse. Nicht lange.
Der König sagt: »Gott segne dich!«
Ich habe es geschafft. Ich möchte singen. Ich möchte tanzen. Ich schreie. Ich springe. Ich fliege.
Ich schließe die Augen.
Ich öffne sie.
Der Salon ist wieder voller Frauen. Andere Frauen. Nicht die von vorhin. Sie sind älter. Vielleicht sind es die Frauen von Mohammed V., dem Vater von Hassan II.
Der König sagt: »Das freut mich. Zweite und letzte Frage. Deine letzte Chance.«
Ich verstehe nicht.
Die Nacht ist vorbei. Wir haben Sommer. Nachmittags. Die Sonne. Die Wüste. Arabien wie im Film. Wie im Koran.
Ich verstehe nicht.
Der König sagt: »In welchem Jahr habe ich den Thron bestiegen?«
Einfach. Zu einfach.
Ich fixiere die Sonne. Ich bin geblendet. Ich betrachte sie lange.
Ich antworte, selbstsicher, voller Stolz, mein Leben hat einen Sinn, ich bin selig: »Am 3. März 1956, mein König.«
Hassan II. lacht laut auf. Nicht so die alten Frauen und genauso wenig die Diener. Er lacht mit weit aufgerissenem Mund, aus voller Kehle. Er lacht lange. Lange. Sein Lachen wirkt allmählich ansteckend. Ich bin der Erste, auf den es sich überträgt, dieses Lachen, dieses Ende, dieser Wiederbeginn, dieses Exil.
Ich lache. Ich auch. Jetzt.
Plötzlich wird mir mein Irrtum bewusst.
1956: Das ist das Jahr der Unabhängigkeit Marokkos. Hassan II. ist fünf Jahre später König geworden. Am 3. März 1961.
Was für ein Irrtum! Was für ein Unglück!
Aber ich lache weiter, gegen meinen Willen. Ich habe meine Muskeln nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich kann nicht mehr atmen. Ich kann nichts anderes tun als: lachen. Mich auslachen.
Wir lachen nun beide. Der König und ich.
Plötzlich, ich wusste es, ich habe es erwartet, öffnet sich der Boden unter meinen Füßen. Der König lacht lauter. Der Saal, der gesamte Saal, ahmt ihn nun nach.
Ich falle. Ich falle. Ich falle in den Abgrund. Ich verlasse die Erde. Ich gelange in die Unterwelt. Vor unserer Welt. Ewige Dunkelheit. Ich bin blind.
Eine Stimme begleitet mich in diesem endlosen Fall, diesem einsamen Tod. In die ewige Hölle.
»Bye-bye. Du bist kein Marokkaner mehr. Du bist kein Marokkaner mehr, bye-bye. Du hast keinen Vater mehr, bye-bye. Du hast keinen Vater mehr . . . bye-bye . . . du hast keinen König mehr.«
Ich falle noch immer. Ich habe Angst. Große Angst.
Ich lache jedoch weiter. Wie Hassan II. Genau wie Hassan II.
Ich erwachte schlagartig. Ich sprang auf. Mein Herz hämmerte weit über mich hinaus. Meine Augen waren noch dort unten. Ich keuchte vor Angst. Aus Unverständnis. Ich hörte noch die Stimme von Hassan II. Sein gewaltiges Lachen.
Ich bin verwirrt. Ich erkenne nichts wieder.
Wo bin ich?
Wer bin ich, wenn ich kein Marokkaner mehr bin?
Wo ist mein Vater?
Zwei Tage ist das jetzt her, glaube ich. Zwei Tage? Auf einmal bin ich mir da nicht mehr sicher.
Wir haben Freitag. Es ist Morgen. Sehr früh. Bald wird die Sonne hier aufgehen. Vorerst aber beherrscht die Nacht noch alles um mich herum. In Rabat nicht, denke ich. Ja, der Tag ist in Rabat sicher schon angebrochen. Salé, meine Stadt, die Stadt, in der ich lebe, in der ich gelebt, mein kurzes Leben verbracht haben werde, ist allein in der Nacht, allein am Ende der Nacht. Allein in dieser Reise durch die Stunden, dieser Unermesslichkeit, diesem Ozean, in diesen Tagen, die sich wiederholen, endlos wiederholen. Salé hat mich infiziert. Mit seiner Einsamkeit. Seiner Bosheit. Seiner Schlechtigkeit. Seinem miesen Ruf. Seinen Drogen. Seinem Haschisch. Seiner Vergessenheit. Seinem Verrat. Ich stecke in alldem fest. Ich stecke fest. Jetzt sehe ich klar.
Es war nicht Donnerstag. Es war nicht Mittwoch.
Es war in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Stimmt das? Sicher? Ich glaube . . . Ich glaube.
Genau das werde ich der Polizei sagen. Und Gott. Nur nichts vergessen.
Ich werde mit dem ursprünglichen Alptraum beginnen. Mit diesem Traum eines jeden Marokkaners, der endlich wahr wird und gleich danach zerbricht. König Hassan II. gegenüberzustehen. Dem König. DEM König. Ich kann es noch immer nicht fassen, dieses Glück und diesen Fluch erlebt zu haben. Diese Freude und dieses große Unglück. Die Nacht im Palast. In dem von Rabat? Dem von Casablanca? Von Fès? Von Meknès? Von Tetuan? Von Marra kesch? Von Agadir? Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Ich kenne diese Paläste nur aus dem marokkanischen Fernsehen. Sie sind alle gleich. Wirklich und unwirklich in einem. Aber egal. Was ich sagen werde, ist:
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist der Palast zu mir gekommen. Die ganze Nacht lang. Es war wie in einem Theaterstück. Ein Vorsprechen wurde organisiert, um einen Spaßmacher für den König auszuwählen. Einen Hofnarren. Sie kamen mich abholen. Dann hieß es, ich sei zu jung. Vierzehn Jahre. Ist das jung, vierzehn Jahre? Für sie schon. Für mich nicht. Ich bin ein Mann. Vor zwei Monaten war ich noch keiner. Heute bin ich einer. Ich spüre es. Überzeugt bin ich jedenfalls von diesem Gefühl: Ich bin kein Kind mehr, ich bin ein Mann. Jedenfalls mehr als Khalid.
Khalid war mein bester Freund. Oder einfach: mein Freund. Der Freund. Ich liebte ihn. Ich kannte ihn auswendig. Ich beschützte ihn im Collège. Und sogar danach. Nur ihm erzählte ich alles. Meinen Traum in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Diesen Wahr-Traum. Ich war stolz. Ich hatte Hassan II. früher gesehen als er. Ich erzählte ihm alle Einzelheiten. Ich weiß, dass in Marokko alle Angst haben. Ich weiß, dass man mit niemandem über den König und die königliche Familie im Allgemeinen sprechen darf. Bei Khalid aber gab es nichts zu befürchten. Er behielt für sich, was ich ihm anvertraute. Da war ich mir sicher. Wir hatten unsere gemeinsamen Geheimnisse. Unsere ewigen Geheimnisse. Einen Pakt. Wir waren Blutsbrüder.
Ich war der Stärkere. Und Khalid gefiel das, meine Kraft, meine Art, den kleinen Halunken zu mimen. Ihm gefiel, dass ich aus einer anderen Welt kam. Die Armen. Mal was Neues für ihn, sagte er oft. Er fand das exotisch. Er wollte mich immer besuchen. Unser Haus ist klein und schlicht, zu schlicht. Die Villa, in der er wohnte, war ein Palast. Aber er sagte, nein, das sei kein Palast. Ich regte mich jedes Mal auf, wenn er den Bescheidenen spielte, damit ich nicht spüren sollte, wie unterschiedlich wir waren.
Khalid hatte meinen Traum angehört. Meinen Alptraum. Mein Einstellungsgespräch, das schiefgegangen war. Nein, ich würde niemals ein Spaßmacher des Königs werden. In meinem tiefsten Inneren jedoch wäre ich es gerne geworden. Dann hätte sich mein Leben und das meiner Familie grundlegend verändert. Vor allem das Leben meines unglücklichen Vaters, der seit zwei Monaten so unglücklich war, dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte.
Nein, ich habe kein Glück, nicht einmal im Traum.
Ich würde Hassan II. nicht sehen. Ich würde nicht in seine Dienste treten. Ich würde keiner seiner Lakaien sein. Ich würde ihn nicht zum Lachen bringen. Ich bin eine Null. Weder schwarz noch ein Zwerg, noch schön. Keine besonderen Merkmale, von der Armut mal abgesehen. Aber Armut ist kein besonderer Wesenszug. Ich bin nicht der einzige Arme in Marokko.
Deshalb klammerte ich mich andauernd an Khalid. Ganz verbissen.
Khalid heißt Khalid El-Roule.
Ich bin Omar Fakih.