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DR. FRIEDRICH FEUEREISEN
HAT DAS WORT
Mai 1946
Obwohl der Kastanienbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite schon seit zwei Wochen mit seinen Kerzen lockte und im Vorgarten vom Nachbarhaus ein kleiner Apfelbaum in voller Blüte stand, schmetterte Anna abwechselnd »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus« und »Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün«. Gewöhnlich war ihr weder die Freude am Gesang gegeben noch die Eigenschaft, der Natur wegen in Euphorie zu geraten. Seitdem aber ihr Schwager Fritz mit Sophie an der Hand vor der Tür gestanden hatte und sie einer Ohnmacht nahe gewesen war, weil sie einen Herzschlag lang gedacht hatte, Erwin wäre heimgekehrt, befand sich Anna im seelischen Hoch.
An dem sonnenvollen Tag, da sie sämtliche ihr bekannten Frühlingslieder aus dem Gedächtnis holte, war sie auch guter Hoffnung, dass in Würfeln getrocknete Steckrüben im Ofenrohr zu Rosinen mutieren könnten. Anna war dabei, einen Kuchen zu backen, der in einem zu Ostern veröffentlichten Rezept als Festtagstorte bezeichnet worden war. Das Rezept, das sich auf eine Freifrau von Hermannshofen berief, hatte es in einigen Exemplaren beim Bäcker anstelle der Schwarzmehlkekse gegeben, die ursprünglich für Kinder unter sechs Jahren in Aussicht gestellt worden waren. Hergestellt wurde die adelige Festtagstorte aus Haferflocken, schwarzem Mehl, Eipulver, Sacharin, Malzextrakt und Honigersatz.
Die zeitgemäße Kuchenschöpfung sollte nicht nur den Besuch von Fritz krönen. Anna war schon seit zwei Wochen im Glücksrausch; das Schicksal hatte ihren größten Wunsch erfüllt. Wann immer sie mit Hans allein war, raunte sie ihm zu: »Jetzt sind wir wieder anständige Leute.« Worauf er jedes Mal sagte: »Erzähl’s nur nicht weiter. Nur Narren arbeiten noch für ihr tägliches Brot.«
Der Kriegsversehrte Hans Dietz tat es. Sein ehemaliger Arbeitgeber hatte vom Nachrichtenkontrollamt der amerikanischen Militärregierung die Lizenz erhalten, die »Frankfurter Neue Presse« herauszugeben. Die erste Ausgabe war am 15. April erschienen. Sie wurde im Wäscheschrank unter der Damasttischdecke für zwölf Personen aus dem Hause Sternberg verwahrt und beim ersten gemeinsamen Essen mit Fritz von der Hausfrau triumphierend hochgehalten. Die Überschrift auf Seite eins lautete: »Der Mensch ist Diener des Rechts«.
»Das geht an meine Adresse«, sagte Fritz.
Da Hans Dietz dem Verlag noch bekannt war und er nachweisen konnte, dass er nicht nur politisch unbelastet, sondern auch im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen war, hatte man ihn umgehend als Drucker eingestellt. Vorerst konnte die »Frankfurter Neue Presse«, genau wie die »Frankfurter Rundschau«, wegen Papiermangels nur zwei Mal in der Woche erscheinen. Der neu eingestellte Drucker empfand das als besondere Schicksalsgunst. Ihm würde, wie er Fritz klarmachte, als Anna es nicht hörte, »genug Zeit bleiben, um die Familie anständig auf dem Schwarzmarkt zu versorgen«.
Sophie war am Tag der schönen Lieder ebenso fröhlich wie ihre Mutter. Dass es zum Frühstück lediglich bitteren Malzkaffee und trockenes Brot gegeben hatte und vom Brot längst nicht so viel, wie sie gern gehabt hätte, bekümmerte sie nicht mehr als gewöhnlich. Seitdem nämlich Onkel Fritz Sophies Lebensbühne betreten hatte, war sie eine Prinzessin mit einem eigenen Schlaraffenland geworden. Für Prinzessin Sophie wuchsen quittegelbe Marzipanbrote auf Schokoladenwiesen, und vor dem Schlafengehen aß sie so viele Würstchen mit schneeweißen Brötchen, »wie es gar nicht gibt«.
Im tatsächlichen Leben lutschte die fantasievolle Sophie schon morgens um neun grasgrüne Bonbons mit einem Loch in der Mitte. Die wurden ihr in den Mund gesteckt, wann immer sie auf den Wundermann mit den vollen Taschen traf, der keinem Kind widerstehen konnte und sie nie spüren ließ, dass er Fannys Vater und nicht der ihre war. Unmittelbar nach dem Frühstück begann Sophie, auf dem winzigen Rasenstück im Hinterhof für »König Fritz« Gänseblümchen, Löwenzahn und lila Kleeblumen zu pflücken. Auch das Lied vom Maikäfervater im Krieg wollte sie ihm vorsingen. »Der Maikäfer Sumsemann hat auch ein Bein verloren. Wie mein Papa«, erzählte die fleißige Pflückerin ihrer Freundin Lena.
Da Lena meistens an neuen Erkenntnissen zweifelte, tat Sophie so, als hätte sie dies schon immer gewusst. Tatsächlich kannte sie den fünfbeinigen Käfer aus dem Kinderbuchklassiker »Peterchens Mondfahrt« erst seit drei Tagen. Da hatten Betsy und Fanny nicht nur die neu eröffnete Tauschzentrale auf der Zeil gründlich besichtigt. Sie hatten ebenso ausdauernd und erfolgreich gehandelt wie Hans, wenn er Schrott und abgefahrene Autoreifen in Butter, Speck, Kinderschuhe und Kleiderstoffe verwandelte. Aus Annas altem Waffeleisen, das schon deswegen nutzlos geworden war, weil es keine Zutaten gab, um Waffeln zu backen, und aus dem Einkochtopf, der im Hungerjahr 1946 nur den viel beneideten Schrebergärtnern von Nutzen sein konnte, hatten die unermüdliche Betsy und ihre staunende Enkeltochter einen ansehnlichen Bücherturm geschaffen. Jubelnd trugen sie Goethes »Goetz«, »Tasso« und »Egmont« sowie Schillers »Maria Stuart« und »Don Carlos« nach Hause, einen in grünes Leder gebundenen Band mit Gedichten aus drei Jahrhunderten und eine Sammlung Novellen des preußentreuen Schriftstellers aus der Bismarckzeit, Ernst von Wildenbruch, den Johann Isidor sehr geschätzt hatte. Dazu »Ein Kampf um Rom« von Felix Dahn, den erst Erwin und dann Clara und schließlich Vicky mit Taschenlampen unter der Bettdecke gelesen hatten, sowie Erich Maria Remarques berühmten Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues«. Die Ausgabe hatte, wie der Besitzer eindrucksvoll berichtete, sowohl die Bücherverbrennung als auch die gesamte Nazizeit in einem ausgedienten Futtertrog im Schweinestall überlebt. Von der Freude seiner Kundinnen war er gerührt. Er überließ ihnen »Peterchens Mondfahrt«, obwohl sie ihr Punktekontingent aufgebraucht hatten.
Das berühmte Kinderbuch von Gerdt von Bassewitz löste noch in der Tauschzentrale bei Betsy eine Flut von Erinnerungen aus – und in der Nacht einen See von Tränen. Sie hatte die poetische Geschichte erst Alice, dann Claudette und schließlich der fünfjährigen Fanny vorgelesen. Einen Weltkrieg und einen Völkermord später war nun Sophie an der Reihe. Allerdings war sie die erste von Betsys gespannten Zuhörerinnen, die sich erkundigte, ob der Pfefferkuchenmann von der Weihnachtswiese essbar wäre und wem ein Bein ohne den dazugehörigen Maikäfer nutzen könnte.
Im größten Teil von Fannys Kindheit hatte sich niemand gefunden, der ihre Fragen beantwortete; das hatte sie verschlossen und schweigsam gemacht. Als sie ihren Vater wiederfand, fehlten ihr die Worte, um zu sagen, was sie fühlte. Auch Fritz scheute sich, von Courage, Segen und Seligkeit zu sprechen. Im Moment der Überwältigung vermochten Vater und Tochter nur, sich anzuschauen und einander zaghaft zu berühren. Fanden ihre Hände zueinander, ahnten sie, was die Sorglosen und Zungenflinken meinen, wenn sie von Glück reden; sie jedoch fürchteten sich, das Wort auszusprechen.
»Kennst du die eindrucksvolle Darstellung von Michelangelo, in der Gott Adam berührt?«, fragte Fritz am Abend, als die Worte wieder an Selbstverständlichkeit gewonnen hatten.
»Ich kenne noch nicht mal Michelangelo«, antwortete Fanny. Sie wunderte sich, dass ihr der schwierige Name gelungen war, und wagte ihr erstes Tochterlächeln. »Ehe Großmutter kam, habe ich überhaupt keinen Menschen gekannt, der von Bildern spricht. Und von Musik. Ich werd das nie können.«
»Hast du eine Ahnung, was du alles können wirst! Warte nur, bis ich reich genug bin, um für uns beide eine Bahnfahrkarte nach Rom und Florenz zu kaufen. Und nach Paris. Ja, nach Paris fahren wir zuallererst. Zur Mona Lisa. Ihr ist das Lächeln nie vergangen. Und dann fahren wir nach Amsterdam. Amsterdam ist eine wunderschöne Stadt, wenn man keine deutschen Uniformen sieht und nicht Angst um sein Leben hat.«
»Was machen wir, wenn wir verreisen?«
»Wir holen alles nach, was die Nazis uns gestohlen haben. Das Leben und die Kunst. Und das Lachen. Wir werden nie mehr traurig sein, du und ich, und wir kaufen uns ein fettes Huhn.«
»Zum Schlachten?«
»Wo denkst du hin? Zum Eierlegen. Goldene Eier in einem Nest aus Sternenstaub. Das Nest habe ich mir schon als kleiner Junge gewünscht.«
»Ich wünsche mir eine Bratpfanne. Für Anna. Ihre ist ganz verrostet.«
»Dafür müssen wir Fortuna nicht bemühen. Und den lieben Gott schon gar nicht. Bratpfannen gibt es im PX.«
Am ersten Tag auf der neuen Lebensroute reichte Fritz und Fanny die Gewissheit, dass er wieder Vater sein durfte und sie Tochter; bereits am nächsten Morgen gelang es beiden, einander anzuschauen, ohne dass sie fürchteten, das Schicksal halte sie zum Narren. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, hatte Fanny geflüstert. Sie wollte ihrem Vater sagen, dass sie ihren Bruder nicht vergessen hatte und schon gar nicht ihre Mutter, doch es gelang ihr nicht, von denen zu sprechen, die die Mörder im grauen Todesnebel zur Frankfurter Großmarkthalle getrieben hatten. »Anna«, schluckte sie, »hat mich rausgezogen. Sie war schwanger. Mit Sophie.«
»Ich weiß, ich werde es immer wissen.«
»Sie hat mir auf der Straße den Mantel ausgezogen. Den mit dem Stern. Weißt du, dass Juden in Deutschland einen Stern auf ihre Kleider nähen mussten? Damit man uns erkennen konnte. Einen gelben Stern.«
»In Holland war es genauso.«
»Meinst du, man kann so was vergessen?«
»Hoffentlich nicht. Die Toten vergessen zu wollen war schon immer eine Sünde.«
»Ich meinte das, was sie uns angetan haben.«
»Wir können uns nicht aussuchen, was wir vergessen wollen, Fanny.«
Am dritten Tag sagte Betsy: »Auch dem Glücklichsten schlägt die Stunde. Ehe wir uns versehen, muss Fritz zurück nach Nürnberg. Warum geht ihr zwei nicht mal in den Zoo? Der ist ja um die Ecke, und ihr könnt richtig allein miteinander sein. Ihr könnt euch all das erzählen, was nur für vier Ohren bestimmt ist. Es gibt dort auch Bänke, hab ich neulich festgestellt, schöne altmodische Bänke wie früher, als die Leute nicht sofort an ihren Ofen oder an ihren Küchenherd dachten, wenn sie eine Bank sahen.«
»Sag nur, dass es schon wieder einen Zoo in Frankfurt gibt. Wo in aller Welt kriegen die Leute denn das Futter für die Tiere her, wenn das ganze Land hungert? Ich hätte gedacht, dass man in Deutschland eher Löwen schlachtet, als sie zu füttern.«
»Keine Sorge«, hatte Hans erklärt, »im Frankfurter Zoo wird keinem Tier ein Haar gekrümmt, doch leider sind so gut wie keine Tiere mehr da.«
So saßen Vater und Tochter auf einer Bank vor dem ehemaligen Löwengehege, in dem ein allerliebstes Löwenkind aus Plüsch auf einem blauen Kissen aus goldgelben Glasaugen in die Sonne schaute. Ein weißer Papierbogen mit einem Rahmen aus schwarzem Isolierband erinnerte an die beiden Löwen, die bei dem letzten großen Bombenangriff auf Frankfurt umgekommen waren. Von der Bank hatten Holzdiebe die Lehne abgesägt, und eine Narrenhand hatte mit einem Messer »Alles Kacke!« auf die Sitzfläche geritzt, aber solcher Pessimismus entsprach an dem warmen Maitag nicht der Stimmung. Das Gras um den Teich war kräftig, die Blumen blühten sommerrot, kornblumenblau und zitronengelb. Primeln am Weg, Veilchen und Vergissmeinnicht hießen selbst die Verzweifelten hoffen. Bäume und Sträucher dufteten, als wäre die Stadt nicht tausend Tode gestorben; die Bienen und Schmetterlinge verstanden es noch immer, die Botschaften des Lebens zu entschlüsseln. Eine butterblumengelbe Sonne schaute aus leichten Wolkenstores hervor. Sie bestrahlte müde Knochen und verwundete Seelen. Menschen, die sich plagten, Fragebogen auszufüllen und dabei ihre Nazivergangenheit zu verschleiern, gaukelte die Sonne vor, das große Vergessen und die große Vergebung seien nur eine Frage von Energie und Zeit. Weil die Vögel im Bombenkrieg weder ihre Habe noch ihre Würde und Zuversicht verloren hatten, bauten sie Nester und zirpten Zukunftslieder.
»Hast du mir als Kind nicht ›Die Vögel wollten Hochzeit halten‹ vorgesungen?«
»In dem grünen Walde. Mein Gott, Fanny, dass du das noch weißt! Es ist ein Leben her.«
»Ich bin ja erst fünfzehn. Vielleicht erinnert man sich da noch besser als später.«
Es gab im Zoo handbetriebene Karussells mit weißen Rössern vor vergoldeten Kutschen, altmodische Schiffsschaukeln, die von Männern im Unterhemd angeschoben wurden, Losbuden und einen Dosenwurfstand. Man konnte bunte Papierblumen und Tütchen mit Brauseersatz gewinnen – im Glücksfall ein leeres Einweckglas, einen hölzernen Kochlöffel oder einen Becher, der vor Kurzem noch ein Stahlhelm gewesen war. Für junge Burschen, die auch in Mangelzeiten ihre Muskeln trainierten, um den Mädchen zu imponieren, war ein Hauden-Lukas da – auf der Spitze der betagten Kraftprüfungsmaschine thronte ein beleibter Seemann im Ringelhemd und mit Admiralsmütze. Der Zirkus Helene Hoppe gastierte mit zwei Vorstellungen täglich. Er warb mit einem farbenfrohen Plakat, das achthundert Tiere ankündigte. Wenn sie davorstanden, bestaunten die Frankfurter eine lächelnde Giraffe und einen geschmückten Elefanten, auf dem ein rot gekleideter Edelmann aus dem Morgenland saß.
»Ich reite auch auf einem Elefanten«, entschied ein sechsjähriger Knabe mit spindeldürren Beinen und narbenroten Händen. Er trug eine tintenbeschmierte Lederhose, die groß genug war, um ihm noch in drei Jahren zu passen.
»Wenn Papa kommt«, versprach die Mutter.
»Du sagst immer ›wenn Papa kommt‹, wenn ich mir was wünsche. Der Willi sagt, Papa ist tot. Mausetot, sagt Willi.«
»Willi bekommt heute Abend eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat. Das nächste Mal überlegt er’s sich, ob er so von seinem Vater spricht.«
Im Zoo wurde auch Theater und Operette gespielt. Schauspieler hatten in Abgründe geblickt, nun hatten sie Träume statt Brot, doch ihre Augen lebten und ihre Stimmen wussten zu ergreifen. Sie rezitierten Gedichte, die trotz der Menschheitskatastrophe im Gedächtnis des Publikums geblieben waren, und die Texte, die sie lasen, kündeten von Glaube, Liebe und Hoffnung.
»Ich hab im Börsensaal den ›Gärtner von Toulouse‹ von Georg Kaiser gesehen«, erzählte Fanny, »und von Thornton Wilder ›Unsere kleine Stadt‹. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so hat mich das Stück aufgeregt. Hast du schon mal von Thornton Wilder gehört?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Der ist Amerikaner. Er hat noch ein Stück geschrieben. ›Wir sind noch einmal davongekommen‹ heißt es. Das würd ich für mein Leben gern sehen, aber unser Deutschlehrer sagt, sie spielen es nur in Darmstadt. Ach, am liebsten würde ich jeden Tag ins Theater gehen. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Ich schon«, sagte Fritz. Er kaute schwer an einem Seufzer, als Victoria erschien, dachte an die Tragödie seiner Ehe und seines Lebens und dass er seinen Zorn nie würde löschen können. Vicky war von ihrem Traum nie losgekommen, sämtliche Heldinnen der Bühnengeschichte zu spielen. Noch in ihrer zweiten Schwangerschaft hatte sie mit einer Nelke im Haar vor dem Spiegel mit dem Goldrahmen gestanden und Hamlets Ophelia geprobt. Würde Fritz je mit Fanny über ihre Mutter sprechen können, ohne dass sein Herz verglühte? Es gab kaum eine Nacht, in der er sich nicht richtete, weil er nicht energisch genug versucht hatte, Victoria ihre Illusionen auszureden.
»In der Schule lesen wir Wilhelm Tell. Das ist alles ganz neu für mich. Ich hab noch nie ein Theaterstück gelesen. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Ich finde das wunderschön.«
»Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten«, fiel Fritz ein, »das war immer mein Lieblingszitat. Ich kann gar nicht fassen, dass ich es noch im Kopf hab. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.«
»Deutsch ist das einzige Fach, das mir Freude macht. Da komme ich mir nicht so vor, als hätte ich auf dem Mond gelebt und müsste mich dafür entschuldigen.«
»Würdest du eines Tages vielleicht selbst auf der Bühne stehen wollen?«
»Bloß das nicht. Ich kann gar nicht verstehen, wie einer überhaupt auf die Idee kommt, Schauspieler zu werden. Ich stelle es mir fürchterlich vor, wenn mich alle anstarren. Du hast ja Tränen in den Augen. Hab ich was Falsches gesagt?«
»Im Gegenteil. Du hast etwas Wunderbares gesagt, außerdem weißt du gar nicht, wie man etwas Falsches sagt. Das ist mir sofort an dir aufgefallen.«
Mütter schoben abgenutzte Kinderwagen mit eiernden Rädern, doch mit blitzsauberen Kissen und kleinen Federbetten in feinen Bezügen. Babys in Häkelmützen nuckelten an Schnullern aus Friedenszeiten, die schon ihre Geschwister beruhigt hatten. »Die sehen alle aus, als würde Mami sie durch das Land von Milch und Honig rollen«, fand Fritz.
»Mir wären Erdbeeren mit Schlagsahne lieber«, malte sich Fanny aus. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal eine Erdbeere gegessen habe.«
»Heute«, versprach ihr Vater. »Wenigstens als Erdbeereis. Wenn wir in den PX gehen, um Anna die Bratpfanne zu kaufen, die nie rostet, wirst du dein blaues Wunder erleben. Nein, ein rotes. Erdbeeren sind ja rot. Die Amerikaner haben nicht nur den Blitzableiter, die Glühbirne und den Revolver erfunden. Sie machen herrliches Eis. Du darfst so viel essen, bis dir schlecht wird.«
»Muss das schön sein, wenn einem vom vielen Essen schlecht wird! Mir ist das noch nie passiert.«
»Dann wird’s höchste Zeit, Madam.«
Buben in kurzen Hosen aus umgefärbten Uniformen und mit Hemden, die ihre Mütter aus Küchenhandtüchern geschneidert hatten, trugen Schuhe mit abgeschnittenen Spitzen und offenen Fersen, damit sie überhaupt hineinpassten. Ihre Suppen wurden aus Brennnesseln gekocht, sie klauten Kohlen von Lastwagen und Eisenbahnwaggons und stahlen Greisinnen die Lebensmittelkarten aus der Handtasche, doch sie glaubten an Gott und dass ihre in Russland vermissten Väter eines Tages an der Wohnungstür stehen würden.
An der rußschwarzen Mauer eines Wasserhäuschens, in dem es ursprünglich bunte Brause, Lakritzschlangen und Negerküsse, Sahnebonbons und Bier in Flaschen zu kaufen gegeben hatte, klebte ein großes Plakat mit dem mahnenden Text »Bauer, denk an die Not in der Stadt«. Ein Mann mit Schmerbauch, Hut, Lederweste und festen Stiefeln rauchte genussvoll eine lange Pfeife. Ein putziges kleines Mädchen, wie Rotkäppchen gekleidet und mit den gesunden runden Backen, die man den immer satten Bauernkindern nachsagte, biss in ein dick bestrichenes Butterbrot. Im Vordergrund stand die ausgehungerte Stadtbevölkerung Schlange vor einem Bäckerladen in einem Trümmerhaus.
»Komisch, die Deutschen glauben immer noch, an Plakaten könnte die Welt genesen«, stellte Fritz fest. »Das war im Ersten Weltkrieg schon so. Ich konnte mich als Schüler gar nicht satt lesen an den Dingern. Ein Plakat in gotischer Schrift klebte an einer Litfaßsäule, an der ich jeden Tag auf meinem Schulweg vorbeikam. ›Fort mit dem welschen Gruß, Adieu. Deutschland sagt auf Wiedersehen.‹ Das hat mir aus dem Herzen gesprochen. Ich konnte nämlich den Französischlehrer nicht ausstehen. Und er mich erst recht nicht. 1933 ging’s dann richtig los mit den Plakaten. ›Der Führer ist unser Gewissen!‹ und ›Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‹. Und gestern, als ich am Gericht vorbeiging, weil es den Obertrottel Friedrich Feuereisen dorthin drängte, als würden sämtliche Frankfurter Richter auf ihn warten und ihm goldene Schüsseln hinhalten, was stand auf einem Plakat an der alten Eingangstür? ›Hier wird wieder Recht gesprochen, wo die Nazis es gebrochen‹. Wer’s glaubt, wird selig, hätte meine Mutter gesagt.«
»Deine Mutter«, wagte Fanny und staunte sehr, dass sie den Satz fertig zu sprechen wagte, »sie war doch meine Großmutter, nicht wahr? Genau wie Betsy.«
»Ja, natürlich. Kannst du dich denn gar nicht mehr erinnern? Sie hat dir bei jedem Besuch eine Tüte Salmiakpastillen aus der Apotheke und ein altes Spielzeug von mir mitgebracht, und du hast ein so unglückliches Gesicht gezogen, dass ich mich jedes Mal in Grund und Boden genierte. Und ausgerechnet bei dem dreibeinigen Karnickel, das ich liebte, als wäre es lebendig, und mit dem ich noch als Neunjähriger ins Bett ging, hast du gesagt: ›Das ist ja kaputt, das kommt in die Kiste.‹ Mein Gott, war Mutter gekränkt. Sie war so sparsam, dass uns die Dienstmädchen der Reihe nach weggelaufen sind und ich meinem Banknachbarn die Schulbrote geklaut habe, weil meine immer nur mit Butter bestrichen waren. Trotzdem war sie eine fabelhafte Frau, mutig, stark, hilfsbereit und eine Gerechtigkeitsfanatikerin. Betsy hat mir in dem ersten Brief, der mich in Nürnberg erreichte, geschrieben, dass sie bis zuletzt mit meiner Mutter in Theresienstadt zusammen war. Im selben Haus. Es tut mir gut zu wissen, dass sie nicht allein war, als sie starb. Ach, wahrscheinlich ist dein Vater ein sentimentaler alter Esel, aber ich finde, du bist ihr ähnlich. Nur bist du viel hübscher, als sie war. Verzeih mir, Mama! Aber du hast immer gesagt, ich darf nicht lügen. Ach Fanny, weißt du, was Gottes schlimmste Strafe ist? Selbst wenn er uns den letzten Kanten Brot und das letzte Stück Hoffnung nimmt, er lässt uns unsere Erinnerungen.«
»Ich weiß. Ich weiß auch zu viel. Zu viel von früher, meine ich. Was meinst du, wie ich die Mädchen in meiner Klasse beneide. Die reden immer nur von der Zukunft, von ihrer Konfirmation, von den weißen Kniestrümpfen, die sie aus Zuckersäcken stricken, dass sie ihre Zöpfe abschneiden wollen und mit sechzehn in die Tanzstunde gehen werden. Ich glaube, die haben den Krieg und die Bomben total vergessen. Und sie reden so selbstverständlich von ihren Müttern wie ich von meinem Taschentuch.«
Sie spürten beide im gleichen Augenblick, dass Schmerz der Tribut für Überleben war. Trotzdem lächelten sie einander zu, denn sie waren ohne Furcht. Obwohl sie es noch nicht wussten, war dies der Moment, da Vater und Tochter endgültig zueinander fanden. »Wenn wir Philemon und Baucis wären, würden wir jetzt zu einem Baum zusammenwachsen«, sagte Fritz.
»Woher kennst du denn so viele Leute? Ich denke, du hast auch versteckt leben müssen und konntest nur bei Dunkelheit auf die Straße?«
»Von wem magst du deinen Humor haben? Von deinen Eltern bestimmt nicht.«
»Großmutter sagt, von meinem Onkel Erwin. Hast du Erwin gekannt?«
»Natürlich! Es war Sympathie auf den ersten Blick. Mehr als das. Wenn ich noch einen Wunsch bei Gott frei hätte, jetzt wo ich dich wiederhabe, würde ich mir wünschen, dass ich Erwin in diesem Leben noch einmal sehe. Hoffentlich kalkuliert der Allmächtige ein, dass es rationell wäre, das Tempo seiner Wunder ein klein wenig zu beschleunigen. Jedenfalls, was Friedrich Feuereisen betrifft. Der ist nämlich schon sechsundvierzig.«
»Ist das viel oder wenig bei einem Mann?«.
»Sechsundvierzig ist eine winzige Einheit von Zeit, wenn du an Methusalem denkst und in welchen Alter Abraham seinen Sohn gezeugt hat, aber sechsundvierzig ist ein gewaltiger Brocken, wenn du dir klarmachst, dass ich ganz von vorn anfangen muss.«
»Ich glaub, du hast auch Humor«, sagte Fanny.
Sie trug ein blau-weiß kariertes Kleid mit einem schwingenden Rock, eng anliegendem Oberteil, rosa leuchtenden Perlmuttknöpfen und Spitzen um den Kragen. Zur Maienkönigin fehlten ihr nur eine Blumenkrone und das Selbstbewusstsein derer, die nicht im Schatten aufgewachsen sind. Anna hatte das Kleid aus einem Bettbezug von vorkriegsmäßiger Qualität genäht, die Knöpfe und die Brüsseler Spitze stammten noch aus der Posamenterie Sternberg in der Hasengasse und hatten den Krieg in Erwartung modisch guter Zeiten in einer Teedose verbracht. Das Modell hatte Anna in einer amerikanischen Frauenillustrierten gefunden, die Hans aus dem Verlag mitgebracht hatte, weil das Blatt sich hauptsächlich mit Mode für Backfische beschäftigte – in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten wurden sie Teenager oder Bobbysoxer genannt, trugen weiße Söckchen und sahen trotz Lippenstift und Rouge immer noch aus wie in den Dreißigerjahren der Kinderstar Shirley Temple mit den Ringellocken und den Grübchen.
Fräulein Feuereisen aus Frankfurt am Main hatte ebenfalls Grübchen, wenn sie lachte. Nur hatte das vor ihrem Vater keiner bemerkt. War Fanny in guter Stimmung oder verwandelte sie gar die Freude der Unbeschwerten in das Kind, das sie nicht hatte sein dürfen, funkelten die Sterne in den schönen Katzenaugen, die Fritz acht verzweifelte Jahre in seinen Albträumen hatte lodern sehen.
»Ich hab nie gedacht, dass Beten sich lohnt«, erklärte die Philosophin im neuen Kleid.
»Beten hält die Welt zusammen. Man muss nur glauben können.«
Arm in Arm spazierten Vater und Tochter um den Teich im Zoo und freuten sich an einem Entenpaar, das seine Gemeinsamkeit genoss und nichts von Bezugsscheinen für Kleider oder von Brotmarken wusste. »Ich hab nur gebetet, weil Hans immer sagt, man soll keine Gelegenheit auslassen, um sich im Himmel in Erinnerung zu bringen. Dabei betet er selbst nie. Er sagt, ein Katholik mit nur einem Bein braucht nicht zu beten, weil er sich ja nicht hinknien kann.«
»Das nennen die Juristen einen Dispens. Dein Ziehvater ist ein kluger Mann, Fanny.«
»Ist er. Klug, gerecht und geduldig. Ich habe ihn nie wütend gesehen. Nicht mit Anna und nicht mit uns Kindern. Man kann wunderbar mit ihm lachen, selbst dann, wenn’s nichts zu lachen gibt. Er sagt immer, er sei froh, dass er nur sein Bein hat hergeben müssen und nicht sein Lachen. Ich habe Hans schon als Kind bewundert, aber mein Ziehvater ist er nicht. Nicht mehr. Ich habe nämlich wieder einen richtigen Vater, Herr Feuereisen. Bitte merken Sie sich das. Pardon, Herr Doktor Feuereisen. Großmutter sagt, den Doktor darf man nie weglassen. Für seinen Doktor hat der Herr Doktor was leisten müssen, sagt sie.«
In dem Augenblick, da sich der Himmel schwarz färbte, hörte Fritz Adelheids tiefe Stimme. Er sah auch ihr Gesicht und dass ihr Haar dicht und blond war. Entsetzt schloss er die Augen, doch zur Flucht war es zu spät. Schon beugte sich die Königin der Nacht über ihn und fragte: »Wer ist Salo?« Ihre Hände dufteten nach Rosen, ihr schwarzer Seidenmantel klaffte über der nackten Brust, das Orchester spielte die Ouvertüre zur »Zauberflöte«. Sein Herz stolperte, und er taumelte. Trotzdem kehrte er aus dem Land der Versuchung mit erhobenem Kopf zurück.
»Sie dürfen mich ruhig duzen, gnädiges Fräulein«, sagte er. Der so lang vermisste, für immer verloren gewähnte Geschmack von Scherz gab ihm Sicherheit. Er begriff, dass die Götter dem verzeihen, der sich zu seinen Verfehlungen bekennt. Seine Stimme war jugendleicht, das Gewissen ohne Blessuren, die Stirn trocken. Er steckte das Taschentuch weg. »Übrigens«, erzählte er, »hat Ihr Vater heute eidesstattlich im Himmel bekundet, dass er sich nie mehr freiwillig von seinem Kind trennen wird, Fräulein Fanny. Sünden und Unterlassungen, selbst wenn sie aus Dummheit oder Unkenntnis begangen werden, verzeiht uns Gott nur ein Mal im Leben. Wiederholungstäter können nicht damit rechnen, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Verzeih, offenbar hab ich in Holland das Denken verlernt! Bestimmt weißt du nicht, was ein Wiederholungstäter ist. Mich wundert’s selbst, dass ich das Wort noch kenne. Nach tausend Jahren.«
»Hauptsache, ich weiß, dass mein Vater nicht dumm ist – kein bisschen. Und gesündigt hast du auch nicht. Als ich zu begreifen anfing, was mit uns geschah, hab ich irgendwie gefühlt, dass du nicht anders gekonnt hast, als allein nach Holland zu gehen. Doch selbst wenn ich das Anna oder Hans hätte sagen wollen, wären mir die Worte im Hals stecken geblieben. Bestimmt weißt du nicht, wie das ist, wenn man sich nicht richtig ausdrücken kann und wie ein Schaf dasteht und dumm vor sich hinglotzt.«
»Wenn ich etwas weiß, dann, dass auf die Zunge kein Verlass ist. Und das weiß ich nicht aus meiner großen Zeit, als ich Anwalt sein durfte und mit »Herr Doktor« angeredet wurde und Gustel jede Woche meine Robe gebügelt hat. Im Krieg konnte es in meinem sogenannten Gastland nämlich den Kopf kosten, auf der Straße den Mund aufzumachen. Jedes Kind und vor allem jede stinkende Ratte, die auf den Sieg der Deutschen setzte, hätte mich bei den Behörden als Juden melden können. Hosen runter, brauchte in meinem Fall keiner zu sagen. Man hat beim ersten Wort gemerkt, dass ich kein Holländer, sondern ein erbärmlicher Flüchtling war. Friedrich Feuereisen war zum Abschuss freigegeben. Ab nach Westerbork! Westerbork war ein Sammellager, die Vorhalle zur Hölle. Von Westerbork aus wurden die Juden Hollands in die KZs deportiert.«
»Das wusst ich nicht. Sonst hätte ich viel mehr gebetet. Ich habe immer gedacht, bei den Feinden Deutschlands seien die Juden sicher gewesen.«
»Vogel sicher ist leicht zu fangen. Das hat meine Mutter immer gesagt. Ich hab erst kapiert, was das bedeutet, als ich in Amsterdam jeden Schritt, den ich tun wollte, drei Mal im Voraus berechnen musste. Auch nach dem Krieg tut mir meine Muttersprache Bärendienste. Für die Holländer bleibe ich ein Moffe, ein verachtenswerter Deutscher. Kein Volk ist in Holland unbeliebter als die Deutschen, während sämtliche Holländer, die mir heute über den Weg laufen, gestern Widerstandskämpfer gewesen sind und persönlich dafür gesorgt haben, dass Hitler den Krieg verloren hat. Schwamm drüber, pflegte unser Mathematiklehrer zu sagen, und schwupp zerfiel der Satz des Pythagoras zu Kreideschlamm und Hirnstaub. Warum lachst du, Fanny? So ist das, wenn man einen Vater hat, dem das Herz voll ist und dem der Mund überläuft. Der verliert erst das Empfinden für das Maß der Dinge und dann den Verstand. Die meisten Männer, die in einen solchen Zustand geraten, landen in einem schwarzen Anzug und heiraten. Das werde ich ebenfalls tun. Guck nicht so erschrocken, Schneewittchen. Du bekommst keine böse Stiefmutter, die dir deine Schönheit neidet und dir mit vergifteten Äpfeln nach dem Leben trachtet. Ich heirate die Zukunft.«
»Hurra, ich streue Blumen und trage rote Lackschuhe! Ach, mir geht’s ja so gut! Selbst wenn ich hundert Jahre alt werde, diesen Tag vergesse ich nie.«
»Ich auch nicht. Allerdings bin ich jetzt schon hundert Jahre. Ich habe mich selbst überlebt. Das ist die neue jüdische Krankheit. Man steht an seinem eigenen Grab. Weißt du, wo ich zuvor allerdings noch hin möchte? Am besten sofort. In die Rothschildallee, in das Haus deines Großvaters. Es wurde von einem derzeit namentlich noch nicht bekannten Schurken an sich gebracht. Bestimmt fleht der jeden Tag Gott an, dass niemand der Familie Sternberg überlebt hat und dass es nirgendwo irgendwelche Nachkommen gibt, die Erbansprüche stellen.«
»Anna würde sagen, es geht auf keine Kuhhaut, was dir alles einfällt.«
»Ich kann noch besser. Hör zu! Dr. Friedrich Feuereisen, ehemals Rechtsanwalt in der Biebergasse zu Frankfurt und amtlich bestellter Notar, erklärt hiermit an Eides statt, dass er binnen vier Wochen herausfinden wird, wer dieser braune Usurpator war. Wir fangen gleich heute mit den fälligen Recherchen an. Du und ich und der liebe Gott mit seinen berühmten langsam mahlenden Mühlen. Nur, wenn ich mich richtig erinnere, ist es ein ganz schönes Stück zu laufen. Von hier bis zur Rothschildallee, meine ich.«
»So weit ist es nicht, vom Zoo aus schon gar nicht. Nur die Wittelsbacherallee hoch, die Berger Straße kreuzen und dann die Höhenstraße entlang. Wir waren schon mal da, Großmutter und ich. Sie war furchtbar aufgeregt. Es war kurz nachdem sie zu uns gekommen ist.«
»Ich weiß, sie hat mir ausführlich von eurem Besuch berichtet. Es regt sie heute noch auf, von der Begegnung mit dem Gespenst aus der Vergangenheit zu sprechen. Theo heißt der Bursche, nicht wahr?«
»Ja, Theo.«
»Obwohl unsere Betsy ja sonst einen messerscharfen Verstand hat, versagt der komplett in Bezug auf die Rothschildallee. Sie ist der Meinung, sie habe alle Ansprüche auf ihr Haus verwirkt. In ihrem Kopf hat sich festgesetzt, der Diebstahl der Nazis an jüdischem Eigentum sei verjährt und auch in einem Rechtsstaat nicht rückgängig zu machen. Gräm dich nicht, Fanny, wenn du kein Wort von dem verstehst, was dein Vater hier probeweise vor sich hinbabbelt. Mir haben die Nazis nur den Beruf genommen, die Berufskrankheit haben sie mir hingegen gelassen. Immer nur im Fachjargon reden, es könnte dich ja einer verstehen.«
»Ich hab schon verstanden, dass du was vorhast.«
»Sieh mal einer an. Vielleicht stellt sich doch noch heraus, dass es sich gelohnt hat, Jura zu studieren. Als ich in der Untertertia bei einem Täuschungsversuch erwischt wurde, wollte ich Großwildjäger in Afrika werden.«
»Und was hat deine Mutter gesagt?«
»Sie war eine Seele von Mensch. Ein jüdisches Kind schießt nicht mit dem Gewehr, hat sie gesagt, und dann stellte sie meinen Lieblingspudding auf den Tisch. Schokolade mit Vanillesoße, die Soße im silbernen Schälchen der Großmutter. Mein Gott, ich kann ja wieder an meine Mutter denken und von ihr reden, ohne dass mein Körper brennt und ich mir Vorwürfe mache, dass ich sie im Stich gelassen habe, als ich nach Holland ging. Das hab ich dir zu verdanken, Fanny, nur dir. Kannst du verstehen, was das für mich bedeutet?«
»Und ob ich das kann!«
Sie brauchten nur eine Viertelstunde bis zur Rothschildallee. Fanny war es gewohnt, in einer Stadt, in der es nicht genug Trambahnen gab, weite Strecken zu Fuß zu gehen, und Fritz drängte es zur Tat. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch kann. Du bringst mir Glück, Fanny.«
»Du mir auch.«
»Do ut des, sagen wir Lateiner.«
»Was heißt das?«
»Sag ich dir zu Hause.«
»Wo ist bei dir zu Hause?«
»Nie sollst du mich befragen.«
Das Haus Nummer 9 wirkte trotz der Kriegsschäden gepflegt. Der dritte und vierte Stock fehlten. Der Hof war gefegt, an fast allen Fenstern hingen Gardinen, jemand hatte selbst die am schmiedeeisernen Zaun befestigte Hausnummer geputzt und die Kratzspuren an den Hausbriefkästen im Hof mit Bleistift übermalt. Wieder angebracht war das alte Schild »Betteln und Hausieren verboten«. Das einstige Rosenrondell im Vorgarten war mit Kartoffeln bepflanzt, unter dem standhaften Fliederbaum, der die Bomben auf das Haus überlebt hatte, wuchsen Kresse, Schnittlauch, Petersilie und drei Salatköpfe. Spaten, Rechen und ein kleines hölzernes Kinderauto mit blauen Rädern lagen unter dem Balkon vom Parterre.
»Die Petersilie werde ich euch ganz schnell verhageln«, drohte Fritz.
Er fasste Fanny so fest am Ellenbogen, dass sie aufschrie. Einen kurzen Moment trieb sie die Unsicherheit aus den Tagen der Angst in die alte Not, doch sie lächelte und sagte: »Das ist gut.« Beide rannten im gleichen Augenblick los. Hand in Hand und schwer atmend standen sie vor der Haustür, blass und gespannt.
»Das ist der Name, ich weiß es genau«, erkannte Fanny, sie fuhr mit dem Finger über das Schild, auf dem Berghammer stand.
»Wohl dem Vater, dem Gott eine kluge Tochter gibt.« Fritz nahm den Finger erst von der Schelle, als er den Haustürsummer hörte, schob die Tür mit der Schulter auf und sagte befriedigt: »Los! Die Herrschaften lassen bitten.«
Eine verängstigte Frauenstimme rief: »Wer ist da?« ins Treppenhaus und meldete in Richtung Wohnung: »Es ist ein Mann. Ein Mann mit einem jungen Mädchen.«
»Donnerwetter, muss die sich weit übers Treppengeländer gebeugt haben.«
In der Wohnung im ersten Stock zeterte eine weinerliche Mädchenstimme: »Das ist mein Brot, Dieter. Ich sag’s der Mutti, wenn du’s mir wegnimmst.«
Der augenscheinlich zu Raub und Körperverletzung entschlossene Dieter drohte: »Wenn du dein Maul aufmachst, du miese Petze, schlag ich dir alle Zähne aus.«
»Eine feine Familie!«, sagte Fritz. »So eine wollt ich schon immer kennenlernen.«
Theo Berghammer, das Haar akkurat gescheitelt und mit Wasser an den Kopf gepresst, in einer braunen Jacke, die ihm der Hungerzeit entsprechend zwei Nummern zu groß war, und mit einer weiß gepunkteten dunkelblauen Krawatte, erweckte den Eindruck eines Mannes mit Übersicht. Er kommandierte seine streitenden Kinder mit einem barschen Wort, das weder Fritz noch Fanny verstanden, in die Küche, machte eine Bewegung, die auch seiner Frau den Abgang befahl, und bat seine Besucher in einen Raum mit zwei Sesseln, Sofa und einem Couchtisch, auf dem ein Aschenbecher und eine Vase mit weißen Papierrosen standen. Fritz sah den Stuck an der Decke und begriff, dass Fanny und er im ehemaligen Esszimmer der Familie Sternberg standen. In dem furchtbaren Moment, da ihn der Schmerz verbrannte, sah er die weißen Kerzen in dem Sabbatleuchter und Johann Isidor den Mohnzopf mit einem langen silbernen Messer anschneiden. Der zweijährige Salo im weißen Rüschenhemd saß auf Victorias Schoß. Sie trug ein mokkafarbenes Seidenkleid mit einem tiefen Ausschnitt und einer dreireihigen Perlenkette. »Dein Kleid ist zu tief ausgeschnitten, Vicky, das ist einfach zu viel des Guten.« – »Wetten, dass Herr Doktor Feuereisen der einzige Mann in ganz Deutschland ist, der an meinem Dekolleté Anstoß nimmt?«
Obgleich Theo nur bei der kurzen Begegnung an der Haustür Fanny gesehen hatte, wusste er sie einzuordnen – und geriet prompt auf die falsche Spur. »Erwin?«, fragte er, als er Fritz seine Rechte entgegenstreckte. Er wunderte sich, dass er keinen einzigen Zug in Erwins Gesicht erkannte. »Mein Gott«, seufzte er, »ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Am besten nichts, Herr Berghammer. Nichts zu sagen hat sich in Deutschland seit jeher bewährt. Feuereisen heiß ich. Rechtsanwalt Dr. Friedrich Feuereisen. Jedenfalls bis zum deutschen Schicksalsjahr 1933.«
Noch während er sprach, kulminierte die Vergangenheit zu einem Berg von Zorn. Er sah sich in seiner Kanzlei den Brief lesen, der seine berufliche Vernichtung bedeutete. »Ich bin Victorias Mann«, sagte Fritz. Seine Stimme war überdeutlich. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an Victoria erinnern.«
»Aber natürlich erinnere ich mich. Wir sind doch zusammen aufgewachsen, Ihre Frau Gattin und ich. Ist sie noch, ich meine, hat sie …«
»Sie hat nicht, und sie ist nicht mehr, Herr Berghammer.«
»Das tut mir leid, Herr Doktor Feuereisen. Nehmen Sie mein aufrichtiges Beileid entgegen. Ihr Bruder Otto war mein Freund, mein bester Freund.«
»Otto ist 1914 gefallen. Aber nicht doch! Ich verstehe Sie sehr gut. Tote Juden waren in Deutschland immer gelitten.« Fritz wurde übel, als er das sagte. Die Vorstellung peinigte ihn, er würde fortan seine Muttersprache missbrauchen, um an die Schuld seines Vaterlands zu erinnern. Galt denn Gottes Wort »Mein ist die Rache« nicht mehr? Seit wann hatten die Opfer das Recht zur Selbstjustiz?
»Ich hab auch Clara gut gekannt«, wagte es Theo.
»Besonders gut, sagte mir ihre Mutter. Ich vermute, Sie bekennen sich anno 1946 auch zu Claudette. Sie wird zwar im Juni achtundzwanzig und ist nicht mehr auf väterliche Obhut angewiesen, aber bestimmt ist in Deutschland heute eine jüdische Tochter von Vorteil. Entschuldigung, der letzte Satz hat sich wohl ein wenig verselbstständigt.«
Fritz sah, dass Theo bleich war und dass seine Hände zitterten. »Wir wollen es kurz machen, Herr Berghammer«, sagte er. »Ich bin nicht hergekommen, um von der Vergangenheit zu reden. Mir geht es um die Zukunft. Ich gehe davon aus, dass Sie derzeit im Besitz dieses Hauses sind. Falls Sie den Unterschied kennen sollten, wird Ihnen aufgefallen sein, dass ich nicht von Eigentum gesprochen habe.«
»Nein«, sagte Theo. »Ich meine, ja. Nur weiß ich nicht, was Sie von mir wollen, Herr Doktor Feuereisen. Ich bin in diese Wohnung rechtmäßig vom Wohnungsamt eingewiesen worden. Das Haus gehört Herrn Baldur Ehrlich. Sein Vater Pius Ehrlich war einmal der Kompagnon vom verehrten Herrn Sternberg. Vielleicht haben Sie den Namen schon mal gehört.«
»Hab ich, nach 1933 immer öfter. Sollten Sie Herrn Baldur sprechen, wäre es ein Akt der Nächstenliebe, ihn darauf vorzubereiten, dass er von mir hören wird. Sehr bald.«