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BEDROHUNG UND ERLÖSUNG

März bis April 1944

»Schlimmer kann es weiß Gott nicht mehr kommen«, sagte die noch im fünften Kriegsjahr wohlgenährte Frau Schmand. Sie zeigte mit ihrer Stricknadel in Richtung Kellerdecke, zählte namentlich die Mitbewohner auf, die mit ihr zwischen Kartoffelkisten, Kohlen, Weckgläsern und ausrangierten Decken auf Schemeln, Küchenstühlen und Matratzen hockten, und betonte: »Schlimmer wahrhaftig nicht.« Allerdings lagen zwei Knäuel dunkelblauer Wolle in Frau Schmands Schoß, und die waren ein eindeutiger Hinweis dafür, dass sie mit einem Luftangriff von längerer Dauer rechnete. Um an so schöne Wolle in Vorkriegsqualität zu kommen, hatte sie einen Pullover ihres jüngsten Sohns auftrennen müssen. Hans-Dieter war vor zehn Monaten in Russland gefallen. Nun strickte Frau Schmand warme Socken für ihren Ältesten. Obwohl von Eberhardt, dem fleißigen und mitteilsamen Briefeschreiber, seit vier Monaten keine Nachricht mehr eingetroffen war, glaubte die Mutter ihn wohlauf an der Ostfront. Kleingläubigkeit wäre für sie Verrat an der deutschen Sache gewesen. Sie versäumte keine Gelegenheit, ihrem Lebensmotto zu dienen. In der NS-Frauenschaft und auch in der Gemeinschaft ihrer Kirchenschwestern, zu denen sie weiter Kontakt hielt, wenn auch einen sehr losen, galten ihr Optimismus und ihre Energie als vorbildlich und beispielhaft für die Gemeinschaft. Auch ihr Mann fand es aufbauend, dass seine Gudrun selbst zu Hause, wo sie keiner hörte, nie am glücklichen Ausgang des Kriegs zweifelte.

Die baumstarke Gudrun Schmand mit dem dicht geflochtenen Zopf um den Kopf und einer Vorliebe für Trachtenblusen war die Frau des Blockwarts im Haus Thüringer Straße 11; bei Luftalarm ging sie grundsätzlich mit fünf Scheiben Brot, einem Gläschen Schweineschmalz, Paketschnur, einem kleinen Küchenmesser und Strickzeug in den Luftschutzkeller.

Hinter den eingeweckten grünen Bohnen, die Frau Schmand für Eberhardts Rückkehr von der Ostfront aufbewahrte, denn sie hatte ihm Bohnensuppe mit Speck für den ersten Tag in der Heimat versprochen, hatte sie einen kleinen Schreibblock und einen Bleistiftstumpf deponiert. Es war Frau Schmand viel daran gelegen, Äußerungen von Mietern, die ihr defätistisch und somit staatsgefährdend erschienen, umgehend zu notieren. »Belastende Bemerkungen müssen sofort aufgeschrieben werden, auf das Gedächtnis ist kein Verlass«, hatte sie von ihrem Mann Willibald gelernt. Er war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden, auf dem linken Ohr taub und hatte nur zwei Finger an der rechten Hand. Seine Pflicht für Führer und Vaterland vermochte er also nur an der Heimatfront zu tun, aber dort stand er seinen Mann wie ein germanischer Recke. Willibald Schmand war ein aufmerksamer, zuverlässiger und harter Streiter für die deutsche Sache. Seine Frau folgte seinem Beispiel.

Bis Kriegsausbruch war sie Verkäuferin in einem renommierten Hutgeschäft in der Töngesgasse gewesen. Die Chefin, die wählerischen Herren, die in den Laden kamen, und die eleganten Damen schätzten ihre Hilfsbereitschaft und ihren Geschmack. Das Leben an der Seite eines Mannes, der lange Zeit arbeitslos gewesen war und dem die Nazis nicht nur zu einer Stellung bei der Frankfurter Stadtverwaltung, sondern auch zu neuem Stolz und Selbstbewusstsein verholfen hatten, hatte auch Gudrun Schmand verändert. Schon in den frühen Dreißigern wurde sie eine loyale Dienerin des Führers. Im Krieg und selbst dann, als die alliierten Bomber Nacht für Nacht über Deutschland flogen und auch Frankfurt eine Geisterstadt war, glaubte sie fest an Hitlers Wunderwaffe. Sie berauschte sich am Gedanken, Frauen wie sie wären dazu berufen, die Fackel hochzuhalten.

Im Jahr 1937 hatten die Behörden dem Ehepaar Schmand und seinen beiden Söhnen eine Wohnung im Parterre des Mietshauses Thüringer Straße 11 zugeteilt. Ursprünglich hatte dort die jüdische Familie Wolfsohn gewohnt, die buchstäblich über Nacht Wohnung und Heimat hatte verlassen müssen. Frau Schmand benutzte das schöne Rosenthalservice, das den Wolfsohns gehört hatte, und deren Tafelsilber nur an Festtagen. Das kostbare Biedermeierbüfett rieb sie regelmäßig mit Möbelpolitur ein. Die vielen Bücher hatte sie einer Buchhandlung überlassen, die Bilder einem Antiquar, der sich äußerst erfreut gezeigt hatte. Willibald Schmand wurde unmittelbar nach seinem Einzug in die Thüringer Straße 11 zum Blockwart. Im fünften Kriegsjahr erzählten sich die Hausbewohner hinter vorgehaltener Hand, er würde selbst sechsjährige Kinder belauschen und sie ausfragen, wo »die liebe Mami ohne Marken einkaufe«. Es hieß auch, Schmand summe den Kleinen das verräterische »Ta Ta Ta Taaa« vor, um herauszubekommen, ob sie das Kopfmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie kannten – die Erkennungsmelodie vom deutschsprachigen Programm der BBC. Der Sender aus London galt als einzig verlässliche Quelle für Nachrichten über den Kriegsverlauf. Auf das Abhören von BBC und anderen »Feindsendern« standen hohe Haftstrafen. Auch von Todesurteilen war die Rede.

Es war indes noch mehr Frau Schmand als ihr gefürchteter Ehemann, die ständig auf der Lauer lag, um Hausbewohner und Nachbarn bei verbotenem Tun und verdächtigem Verhalten zu erwischen. Drei Frauen, zwei aus dem eigenen Haus und eine Kriegswitwe mit siebenjährigen Zwillingen, die sie wochenlang beim Lebensmittelhändler bespitzelt hatte, hatte sie bereits angezeigt – zu ihrem Zorn ohne die erwarteten Folgen. Zum Glück witterte die aufmerksame Frau Gudrun jedoch zu keinem Zeitpunkt, dass die Geschichte des Mädchens Fanny, das immer so brav im Hausflur vor ihr knickste, ein Meisterwerk der Tarnung war.

Noch an dem Schicksalssonntag vor drei Jahren, als Anna sie vor der Großmarkthalle aus dem Deportationszug gerissen hatte, hatten Hans und Anna das Kind zum Hausmeisterehepaar Schmand geführt. Sie erzählten, Fanny hätte bei einem Attentat in Prag beide Eltern verloren, hätte vier Wochen in einem Krankenhaus gelegen und wäre nun durch die Vermittlung einer Krankenschwester, mit der Hans entfernt verwandt sei, zu ihnen gekommen. Von der Schule sei die Kleine so lange zurückgestellt, bis sie ihren Schock überwunden habe.

Hans und Anna, deren Mut, Opferbereitschaft und Liebe Fanny ihr Leben verdankte, trauten sich nicht, ein Kind, das ohne Identifikationspapiere war, polizeilich anzumelden. An Schule war gar nicht zu denken. »Je weniger man von Fanny sieht, umso sicherer sind wir alle«, sagte Hans.

Den Gedanken, dass es auf lange Zeit im Hause Dietz keine Sicherheit mehr geben würde, sprach er nie aus. Staunend erlebten Hans und Anna jedoch, dass die Ruhe wieder in ihr Leben zurückkehrte. »Einer von uns scheint eine direkte Verbindung zum Himmel zu haben«, sagte Hans, und obwohl er seiner Lebtag kein Vertrauen zum Himmel gehabt hatte, meinte er, was er sagte.

»Alle drei«, erwiderte Anna. »Mit einem einzigen Schutzengel kommen Leute wie wir nicht mehr aus.«

Im Haus kam keiner der Mieter je auf das Prager Attentat zu sprechen. Tratschten die Nachbarn im Hausflur oder tauschten sie an der Hecke vom Vorgarten Vertraulichkeiten aus, waren sie sich einig, dass das schweigsame Kind, das die Familie Dietz aufgenommen hatte und das so »schäbig angezogen war, dass es selbst in Kriegszeiten einen Hund jammert«, immer ängstlich und verschüchtert wirkte und nach seinen furchtbaren Erlebnissen geschont werden sollte.

In den langen Nächten im Luftschutzkeller rührte Fanny Alt und Jung, Mann und Frau. Das »Prager Wurm«, wie man sie nun nannte, wenn Anna und Hans nicht in Hörweite waren, kümmerte sich liebevoll wie eine Mutter um die kleinen Dietz-Kinder. Sie schaukelte sie in den Schlaf, sang ihnen vor und erzählte ihnen Geschichten, die sie nicht verstanden. Wenn der Keller bebte, der Lärm infernalisch war und die Angst alles Leben erstickte, blieb Fanny ruhig. Das Schlimmste, was ein Kind erleben kann, war ihr ja schon widerfahren. Bei Tag verließ sie nie die Wohnung. Wenn sie allein zu Hause war, hatte sie Befehl, nicht die Tür zu öffnen, und sie hielt sich an die Losung. »Wie bei den sieben Geißlein«, sagte sie immer.

Zu ihrer Freude pflegte Anna meistens zu erwidern: »Du bist genau wie dein Onkel Erwin. Der hat sich auch nie den Mut nehmen lassen. Von niemandem. Bis zum Schluss. Ich hab ihn immer bewundert.« Allein Erwins Namen zu hören und dass es im fernen Palästina einen Onkel gab, der zu ihr gehörte und vielleicht auch an sie dachte, tat ihr gut.

Blockwart Schmand und Frau Gudrun, die es für ihre vaterländische Pflicht hielten, Menschen zu bespitzeln und sie zu denunzieren, hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie unter einem Dach mit einem jüdischen Kind wohnten, das die Ehefrau eines Kommunisten vor dem Tod errettet hatte. Allerdings war für die Schmands ein wohlerzogenes Waisenkind mit rötlich schimmernden Haaren und leuchtenden grünen Augen auch nicht das klassische Beispiel für die »Untermenschen«, die zum Wohl des deutschen Volks »ausgerottet« werden sollten. Ab und an geschah es gar, dass Frau Schmand im Luftschutzkeller der kleinen Sophie und auch Fanny ein halbes Schmalzbrot hinschob. In der Weihnachtszeit erwachte bei ihr der Kleinmädchenglaube zu neuem Leben, dass Gott die guten Taten belohnte. Am ersten Adventssonntag schenkte sie Anna jedes Jahr einen kleinen Kopf Weißkohl vom Bauernhof ihrer Schwester aus dem Odenwald.

»Ich hätte ihr den verdammten Kohlkopf am liebsten an den Schädel geworfen«, fluchte Anna Jahr für Jahr im Schutz der eigenen vier Wände.

»Stolz können wir uns erst nach dem Krieg leisten, meine Liebe.«

»Ich kann mir das überhaupt nicht mehr vorstellen«, sagte Fanny, »wie es ist, stolz zu sein und keine Angst zu haben.«

»Warte nur ab«, versprach Hans der Dreizehnjährigen, »dann haben die anderen die Angst und wir den Kohl. Das verspreche ich dir. Dann klettern wir auf die Dächer und singen die Internationale.«

»Falls es dann noch irgendwo in dieser Stadt ein Dach gibt«, sagte Anna.

»Aber ja, frag Frau Schmand. Die weiß Bescheid.«

Frau Schmand schwor, dass auf ihren Instinkt und ihre Zukunftsprognosen Verlass war. Sobald sie bei Alarm im Luftschutzraum ihren Platz eingenommen, den Strickstrumpf herausgeholt und geboten unauffällig nach Block und Bleistift hinter dem Glas mit den Grünen Bohnen für Eberhardts Heimkehr geschaut hatte, referierte sie über Deutschlands »Endsieg«. Immer öfter schwärmte sie nun von der Wunderwaffe, die die Wende bringen würde, wobei sie scharf in die Runde sah, wenn sie sprach. Auch eine Frau wie sie brauchte die Sicherheit, dass alle ihrer Meinung waren.

Die Feststellung, die Frankfurter hätten nach den heftigen Luftangriffen vom 26. November und 20. Dezember 1943, vom 29. Januar und vom 8. Februar 1944, die riesige Teile der Stadt und bestürzend viele Menschenleben gefordert hatten, nichts wirklich Schlimmes mehr zu erwarten, traf Frau Gudrun am 18. März 1944. Sie lächelte, als sie dies sagte, das jüngste Mitglied der Hausgemeinschaft an, doch ausnahmsweise erwiderte der kleine Erwin Dietz ihr Lächeln nicht. Er war dabei, seine Abendmilch zu trinken – allerdings missgestimmt und unruhig, die Fäuste geballt und mit den Beinen strampelnd. Dem Kind behagte es nicht, dass die Milch wie Wasser schmeckte. Die Rationierung machte dies nötig. »Deutschlands Kühe sind feige Vaterlandsverräter und garstige Saboteure«, erklärte der Vater, wenn er mit seinem Einjährigen allein war und die beiden über den Kriegsverlauf diskutierten.

Gründlicher als mit ihrer Prognose vom 18. März, dass es in Frankfurt »weiß Gott nicht schlimmer kommen kann«, hätte sich Frau Gudrun nicht täuschen können. An diesem Samstag warfen siebenhundert amerikanische Bomber und achthundert Flugzeuge der Engländer ihre tödliche Fracht über Frankfurt ab. Der gesamte Stadtkern wurde vernichtet. Die Schuttschneise dehnte sich von der Alten Brücke bis zur Konstablerwache. Der Hauptbahnhof und auch die Außenbezirke, das Heilig-Geist-Hospital, das Gaswerk Ost, die Fahrgasse mit ihren Nebengassen hatten schwerste Treffer abbekommen. Siebentausend Wohngebäude waren zerstört, über vierhundert Menschen tot und mehr als fünfzigtausend obdachlos. Überall standen verzweifelte Menschen. Alte, Kranke und Kleinkinder warteten auf Evakuierung. Durchhalteparolen waren nirgends mehr zu hören.

Am Montag machte sich Hans Dietz im Morgengrauen auf, um zu sehen, ob die Stadt, in der er zur Schule gegangen war, in der er Bubenglück, die erste Liebe und die ersten Berufsjahre erlebt hatte, noch atmete. An der Mauer eines zerstörten Hauses in der Lange Straße klebte eine von einer Widerstandsgruppe angebrachte Drohung. »Es kommt der Tag« stand geschrieben, am Galgen baumelte ein Hakenkreuz.

»Es dauert nicht mehr lange«, sagte Hans Dietz, als er nach Hause kam.

»Psst«, warnte Anna. Sie schob ihm seinen Kaffeebecher zu und schenkte mit einem kleinen Seufzer den ungeliebten Muckefuck ein. »Bei uns haben die Wände neuerdings Ohren.«

»Und Zungen«, flüsterte Fanny. Sie legte ihre Finger auf die Lippen.

»Was«, fragte Sophie, »saut nicht mehr lange?«

Sophie, sieben Wochen nach Fannys Rettung zur Welt gekommen, war nun drei Jahre alt, neugierig wie Frau Schmand und unermüdlich mitteilsam. Das muntere Kind war eine permanente Gefahr für Eltern, die viel von Deutschlands Niederlage sprachen und nie von einem deutschen Sieg. Sophie Dietz, die ihrem Puppenjungen ein Bein abgeschnitten hatte, weil »mein Papa auch nur ein Bein hat«, ängstigten weder die Bomben, die die Menschen in die Keller trieben, noch der Anblick von zerstörten Häusern. Sophie, im Krieg geboren und aufgewachsen, wachte nicht auf, wenn die Totenglocken für Deutschland läuteten. Die Bomben nannte sie Bären, doch weshalb ihr Teddy Bomba hieß und nur auf dem Fußboden schlafen durfte, wollte sie keinem erzählen.

Der Sohn der Eheleute Dietz war nach Erwin Sternberg benannt worden, Annas geliebtem Halbbruder. Dessen Unerschrockenheit hatte Anna schon früh imponiert. Der Mut, ihr Leben für das von Fanny einzusetzen, war auch ein Ergebnis von Erwins Schulung; ohne sie zu schonen, hatte er ihr die Augen für das geöffnet, was in Deutschland mit den Juden geschah. Bei einer Hausdurchsuchung hätte seine Adresse in Palästina die Familie in Todesgefahr gebracht. »Lern sie auswendig, wenn ich sie dir schreibe«, hatte Erwin der Weitsichtige ihr beim Abschied empfohlen. Anna hatte sich daran gehalten. Sie übte täglich vor dem Schlafengehen.

Als das Familiengefüge sich aufzulösen begann, war Fanny erst sechs Jahre alt gewesen, doch konnte sie sich gut an ihren Onkel Erwin, seine Zwillingsschwester Clara und deren Tochter Claudette erinnern. Erwin hatte ihr an seinem letzten Tag in der Heimat ein Bild von Moses mit einem Zauberstab in der einen Hand und einer weißen Fahne mit blauen Streifen und einem Davidstern in der anderen gemalt. Clara hatte ihrer Nichte die Geschichte vom kleinen Lord im marineblauen Samtanzug vorgelesen, und Claudette, damals neunzehn Jahre alt und noch bestens mit dem vertraut, was Kinder lieben, war mit ihrer Cousine in einem grasgrünen Flugzeug zu den Sternen geflogen.

Über die Bilder, die ihr kamen, wenn sie im Bett lag und der Schlaf sie nicht erlöste oder wenn sie im Keller saß und den Tod vom Himmel stürzen hörte, sprach Fanny noch nicht einmal mit Anna. Es quälte sie, dass sie ihren Bruder nicht mehr sah, wenn sie die Augen schloss, und dass die Stimme ihrer Mutter verstummt war. Auch schämte sie sich, weil sie kein einziges von den Gebeten mehr kannte, die sie einst am Familientisch und in der Schule gelernt hatte. In den Nächten ohne Gewissensnot und Angst begegnete Fanny ihrem Vater in Holland, der immer nur leise mit ihr gesprochen hatte, der aber wunderbar singen konnte und seine Tochter mit geheimnisvollen Kosenamen bedachte, die nur er und sie hatten aussprechen können. Auch die Kosenamen waren ihr entfallen. Einmal eilte der holländische Vater in einem Pferdeschlitten über das gefrorene Meer, um Fanny aus Deutschland zu holen. »Wie schön du geworden bist«, sagte er und kaufte ihr noch in der Nacht einen neuen Mantel. Den alten durfte sie ja nicht tragen, jeder hätte die Stelle gesehen, an der der gelbe Stern aufgenäht worden war.

Einmal erlebte Fanny, dass ihre Großmutter sie in einen Wald mit blühenden Kastanienbäumen führte und dort eine Büchse mit rosa Keksen auspackte. Doch der Traum explodierte in tausend todbringende Funken, ehe Fanny die Großmutter nach dem Großvater fragen konnte. Kehrte die Betäubte dann in die Welt zurück, in der solche Träume verboten waren, murmelte sie mit aller Kraft, die sie hatte, »Betsy und Johann Isidor Sternberg« vor sich hin. Unmittelbar nach der Trennung von ihrer Familie, schon in Sicherheit bei Anna und Hans, aber paralysiert von Angst und Schock, hatte Fanny Feuereisen nämlich das Wesentliche im Leben eines jüdischen Kindes begriffen: Es musste um jedes Stück seiner Vergangenheit kämpfen, wollte es nicht schon zu Lebzeiten tot sein.

Der einjährige Erwin verschlief wie seine Schwester Sophie die Luftangriffe, die seine Heimatstadt vernichteten. Er weinte selten, er krähte und lächelte, ohne dass einer mit ihm sprach. Trotz der ständig kleiner werdenden Lebensmittelrationen hatte der Junge rote, runde Friedensbacken. In den Kellernächten spielte er auf Fannys Schoß mit einer Kette, die sie ihm aus bunten Knöpfen gefädelt hatte. Selbst Frau Schmand, die nicht zurückschaute, wenn dies zu vermeiden war, bemerkte einmal: »Solche Ketten habe ich als Kind auch gefädelt. Ich hatte immer die schönsten Knöpfe. Meine Mutter war Schneiderin. «

Beim Angriff vom 18. März wurden die Paulskirche und das Liebieghaus, das Städel, das prächtige Palais Thurn und Taxis, die Großmarkthalle und mehrere Krankenhäuser getroffen. Der Dom, das Dominikanerkloster, die gesamte Altstadt und Wohnhäuser in allen Stadtgebieten brannten. Die Menschen hatten nicht mehr die Kraft, zu klagen. Das Leben verlor sein Gesicht, das Wort Zukunft seine Bedeutung. Frankfurt starb noch vor dem letzten Todesschlag.

Gudrun Schmand rief nach Vergeltung. Sie forderte von Gott, dass er den Feind vernichtete, und von ihrem Vaterland Kampfesmut und Durchhaltewillen. Über die Lage in Frankfurt referierte sie nicht mehr. Die treue Dienerin ihres Führers wies die Bewohner der Thüringer Straße 11, die Kundinnen beim Bäcker und die graugesichtigen Hausfrauen, die beim Kaufmann Habermann für das Lebensnotwendige Schlange standen, in flammenden Reden darauf hin, dass Deutschlands große Stunde unmittelbar bevorstünde. »Dann möchte ich nicht in dem fetten Churchill seine Haut stecken«, sagte sie und leckte ihre Lippen, als hätte sie einen krossen Schweinebraten mit Kartoffelklößen und Specksoße auf den Tisch gebracht.

Der Kalender zeigte den 22. März 1944 an. Unter dem Datum stand ein Spruch aus der Edda: »Treu leben, trotzend kämpfen, lachend sterben.« Auf der Rückseite waren ein Rezept für einen Brotaufstrich aus Gerstengrütze und die Empfehlung eines Arztes, »möglichst mehrmals in der Woche Eier durch Eiaustauschstoffe zu ersetzen«. Frau Blockwart war an diesem Mittwoch nicht nach Eiern zumute. Sie war auffallend still und blass. Nachdem sie ihren Platz im Keller eingenommen hatte, schmierte sie keine Schmalzbrote, sie schraubte noch nicht einmal das Glas mit der Aufschrift »Achtung, Gift!« auf – ein Einfall von Eberhardt, dem lustigen Sohn, bei seinem letzten Heimatbesuch. Frau Schmand holte lediglich einen Apfel aus ihrer Vorratstasche, hielt ihn mit nachdenklichem Blick gegen das trübe Kellerlicht, schälte ihn aber nicht. Es war absolut nicht so, wie sie sofort klarstellte, als ihr die forschenden Blicke ihrer Kellernachbarn auffielen, dass sie einen Luftangriff wie den fürchterlichen vor vier Tagen befürchtete. »Das wahrhaftig nicht«, betonte die Unerschütterliche. Sie hob ihre Rechte wie eine, die vor Gericht steht und schwört, sie werde nichts als die Wahrheit sagen.

Für Gudrun Schmand blieb die Welt intakt. In dieser Welt von Illusion und Selbstbetrug gab es weder Schutt noch Asche. Da färbte sich kein Himmel feuerrot, keine deutsche Stadt duckte sich unter den Todesschlägen. Menschen, die starben, starben für Deutschland. Leute wie Frau Schmand drückten ihre Augen zu und verstopften ihre Ohren. Die zerstörten Häuser und aufgerissenen Straßen waren für sie vorübergehende Erscheinungen. Deutsche Heldenfrauen ließen sich nicht von der Anzahl der Toten einschüchtern, sie fühlten nicht mit denen, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten, nicht mit den Müttern, die ihre Kinder nicht versorgen konnten, und nicht mit Menschen, die nicht wussten, woher sie einen Sarg für ihre Toten beschaffen sollten. Für Gudrun Schmand zählten auch im Untergang nur Pflicht, Führer, Volk und Vaterland. Obgleich diese versteinerte Germania einen Sohn in Russland verloren hatte und von dem anderen nicht wusste, ob er noch lebte, blieb sie eine deutsche Eiche, die im Sturm nicht wankte. Ihre Gemütslage in den Bombennächten beschrieb sie ausgerechnet als »bombenstark«.

»Der gönn ich alles Übel der Welt«, hatte sich Anna nach dem großen Angriff vom Samstag ausgemalt. »Erst soll sie der Schlag treffen, diese verdammte Hexe, und dann eine Bombe. Eine Bombe ganz für sich allein soll sie haben. Das wünsch ich ihr von Herzen.«

»Aber nicht im Luftschutzkeller«, machte Hans klar. »Die würde uns ja alle treffen.«

»Meinst du, Gott könnte so ungerecht sein?«

»Das meine ich. Beweist er uns nicht schon jahrelang, dass er mit Gerechtigkeit nichts am Hut hat?«

»Gut, dann soll sie der Schlag beim Scheißen treffen. Das hat Erwin immer gesagt, wenn er Wut hatte – allerdings nur, wenn Vater es nicht hörte. Ach Hans, manchmal glaube ich, ich werde nie lernen, mit meinen Erinnerungen zu leben.«

»Du musst. Fanny wird dich nach der Familie fragen. Sie hat das Recht auf Antwort.«

Am 22. März, als Frau Schmand so erholsam schweigsam war, war es nicht Deutschlands aussichtslose Lage, die ihr zu schaffen machte, sondern Halsschmerzen. In der Apotheke hatte sie noch nicht einmal mehr Emser Pastillen oder ein Gurgelmittel bekommen. Nur den Rat, Lindenblütentee zu trinken und kräftig zu schwitzen. »Eigentlich wollte ich oben im Bett bleiben«, erzählte die Unpässliche. Sie zupfte an dem braunen Wollstrumpf, den sie um ihren Hals gewickelt hatte. »Unten drunter warmes Gänsefett«, belehrte sie, »das hilft besser als jeder Doktor. Das hat schon meine Großmutter mit uns Kindern gemacht, wenn wir krank waren. Gänsefett ist ein todsicheres Heilmittel, hat sie immer gesagt.«

»Komisch, wir haben das Gänsefett immer gegessen, wenn wir mal welches hatten«, erwiderte Hans, »das hat zwar bei Halsschmerzen nicht die Bohne geholfen, aber es hat uns satt gemacht. So ist das bei den armen Leut’, Frau Schmand. Sie sind dumm und unbelehrbar und verfressen. Futtern die Medizin auf, die ihnen helfen soll, und wundern sich, dass sie wie eine Dampfmaschine rotzen.«

Anna zupfte ihren Mann unauffällig am Ärmel – wenn Hans gereizt war, vergaß er jegliche Vorsicht. Sobald die Wut ihn beutelte, war er imstande, sich um Kopf und Kragen zu reden. Anna stellte ihren Fuß auf seinen gesunden; sie schaute in Richtung von Frau Schmands Grünen Bohnen und ihrem gefürchteten Notizbuch, das im Hause Dietz nur die »Denunziationskladde« genannt wurde. Hans war den ganzen Abend schlecht gestimmt gewesen und wollte beim Alarm nicht einmal in den Keller gehen. Nun tat er so, als würde er nicht kapieren, was Anna von ihm wollte. Er starrte weiter Frau Schmand an, wobei er zwei Mal fest auf seine Beinprothese klopfte, um an das Opfer zu erinnern, das er seinem Vaterland gebracht hatte.

»Nein«, krähte der kleine Erwin. Er hatte vor zwei Wochen zum ersten Mal »Nein« gesagt und seitdem mit Wonne bewiesen, dass er Vaters Sohn und allzeit zum Widerspruch bereit war. Obwohl dieser Vater gelernt hatte, was in Deutschland aus der Lust der freien Meinungsäußerung zu werden vermochte, weigerte er sich, das Schweigen zu erlernen. Je heftiger die Luftangriffe wurden und je größer die Verzweiflung der Menschen, desto mehr Äußerungen machte er, die als »wehrkraftzersetzend« galten und die Denunzianten wie das Ehepaar Schmand dazu brachten, Familienväter und Greise, junge Mütter und Halbwüchsige anzuzeigen.

»Nein«, sagte Erwin noch einmal.

»Du kommst in die Mülltonne«, drohte Fanny mit erhobenem Finger.

»Keineswegs, mein Kind«, schalt sie Hans, »der Führer braucht Deutschlands Söhne.«

»Nein«, widersprach Erwin.

Der Tag war ruhig gewesen. »Friedensmäßig ruhig. Fast schon Frühling«, hatte Anna gesagt, als sie abends den Brotgulasch mit Rotkraut auf den Küchentisch gestellt und in einem Anfall von Fröhlichkeit, den sie sich nicht erklären konnte, den alten Zungenbrecher »Rotkohl bleibt Rotkohl« rezitiert hatte. Die Kinder hatten gelacht und Hans gegrinst, als hätte sie einen Männerwitz gemacht. Selbst Fanny, am Familientisch für gewöhnlich in sich zurückgezogen und schweigsam, hatte gelächelt. Sie hatte »Blaukraut bleibt Blaukraut« gesagt und dann nach einer Weile hinzugefügt: »Das hat mir Onkel Erwin beigebracht. Ich hab’s gleich gekonnt. Damals.«

Zwei Tauben hatten sich von der Wärme des Tages verleiten lassen, auf dem winzigen Balkon, auf dem die Hausfrau Schnittlauch und Petersilie und im Sommer auch Tomaten zu ziehen versuchte, von Liebe und vom Frieden zu gurren. »Arme Irre«, hatte Hans gesagt, »die täuschen sich auf der ganzen Linie. Friedenstauben gibt’s seit Noah nicht mehr. Und Liebe nur auf Sonderzuteilung. Parteigenossen, Frontkämpfer und Frauen mit dem Mutterkreuz in Gold hervortreten. Augen auf, Maul halten.«

Wie sonst auch, hatte der Rundfunk um Viertel nach acht sein Abendprogramm begonnen. Durch einen fatalen Irrtum hatte er die achthundert britischen Lancaster-, Halifax- und Mosquitobomber, die Kurs auf Frankfurt genommen hatten, überhaupt nicht erwähnt. Es war nur von einem einzigen alliierten Bomber die Rede gewesen, der auf Frankfurt zufliegen würde. »Hoffentlich wird’s dem nicht einsam«, hatte Hans noch gescherzt, »in der Nacht ist ein Flugzeug nicht gern allein.«

Viele Menschen in der zerstörten Stadt gingen davon aus, die Nacht würde ihnen so gnädig sein wie der Tag und würde die verschonen, die am Ende ihrer Kräfte waren. Sie vertrauten ihrem Fatalistenmut, gingen nicht in die Luftschutzkeller und blieben in ihren Wohnungen. Nicht nur die Optimisten und Leichtsinnigen täuschten sich, nicht allein die Kurzsichtigen, die Wunschdenker und die zu Tode Erschöpften. Auch die Luftabwehr irrte. Sie ließ sich von einem Scheinangriff der Alliierten auf Kassel täuschen. Als endlich um Viertel vor zehn der Alarm für Frankfurt ausgelöst wurde, hatte der Tod die Stadt schon fest im Würgegriff.

Die Bomber warfen ihre Fracht in drei Wellen ab. Als sie abzogen, war Frankfurt, die Stadt mit der stolzen Bürgertradition und den in ganz Deutschland bewunderten Fachwerkhäusern, im Feuerorkan untergegangen. An Goethes 112. Todestag wurde seine Heimatstadt zur Trümmerwüste geschlagen. Sein Geburtshaus im Hirschgraben, die Pilgerstätte der literarischen Welt, gab es nicht mehr. Die gesamte westliche Altstadt brannte. Zerstört wurden die Hauptwache, Schillerstraße, Börse, Hauptpost und der Römer. Die imposanten Geschäftsgebäude auf der Zeil standen in Flammen, Wohnhäuser im Nord- und Ostend wurden tödlich getroffen, ebenso die in Bockenheim und Rödelheim. Ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf. Die Energieversorgung brach zusammen, Kanalnetze, Straßen und Schienenwege wurden aufgerissen. Menschen erstickten und verbrannten. Tote verkohlten und sahen aus, als wären sie nie Menschen gewesen.

Die Stadt am Abgrund erlebte ihre größte Katastrophe seit dem Mittelalter. Mit den Menschen starben die Tiere. Der Frankfurter Zoo wurde flach gebombt. In Panik brüllende Raubkatzen, verendende Menschenaffen, Hirsche und Bären wurden durch Gnadenschüsse von ihrem Leid erlöst. Die Löwen, während der Feuersbrunst ausgebrochen, mussten zum Schutz der Bevölkerung erschossen werden.

Das Haus in der Thüringer Straße 11 blieb vom Tod verschont. Die Mauern hielten stand. Nur die Fenster zerbarsten; weiße Stores, nun kohlschwarze Fetzen, hingen aus tiefen Höhlen heraus. Überall lagen Glassplitter und Teile der Rahmen. Die Haustür, lediglich leicht beschädigt, war auf die gegenüberliegende Straßenseite katapultiert worden. Auf ihr lag eine tote Katze. Blockwart Schmand, dem seine Mitbewohner mehrmals am Tag das Übelste vom Üblen wünschten und so manches Mal den Tod am Galgen, mit dem er selbst Kindern drohte, führte auf dem Speicher mit den Sandsäcken, die er seit fünf Jahren bunkerte, einen erfolgreichen Kampf gegen die Brandbomben.

Im Keller machten Höllenlärm und Feuerluft die seelenkranken Menschen blind und taub. Sie starben tausend Tode und flehten dennoch um ihr Leben. Frauen riefen in einem Atemzug nach Vergeltung und nach Gottes Beistand. Zwei Männer, zu alt und schwach, um im Bombenhagel Dienst zu tun, wähnten sich zurück in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Sie schrien, als Nächstes käme das Giftgas, und beteten, der Tod möge zu ihnen kommen. Hans Dietz hielt seinen Sohn fest umklammert; er flüsterte ihm ein Geheimnis ins Ohr, das Frau Schmand auch in Zeiten von Daseinsnot und Lebensgefahr nicht hören durfte. Ihre mit Schrankpapier abgedeckten Regale verloren den Halt. Die Einweckgläser mit den kostbaren Grünen Bohnen für den vermissten Kriegersohn fielen samt dem Notizbuch und dem Bleistiftstumpf, mit denen sie für die gute Stimmung an der Heimatfront kämpfte, auf den Boden. Eine junge Kriegerwitwe mit drei Kindern schrie mit der ganzen Kraft ihrer Lunge: »Jetzt haben Sie Ihre Wunderwaffe, Frau Blockwart Schmand!«

»Sei still«, befahl ihr zehnjähriger Sohn. Er hielt seiner Mutter den Mund zu und flüsterte: »Das darfst du nicht sagen.«

Mitten im Feuersturm fragte eine durchdringende Unschuldsstimme: »Bin ich tot?« Mit dem Rüschenrock ihrer einbeinigen Puppe rieb sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Nein, Sophie«, beruhigte sie Fanny. Ausgerechnet in dem Moment, da die Welt auseinanderbrach, begriff sie, dass Lügen, die sein müssen, weder Sünde noch Feigheit sind. »Kinder sterben nicht«, sagte sie, »das hat der liebe Gott verboten.«

Lange Zeit hatten viele Menschen nicht wahrhaben wollen, dass es in Deutschland die Zivilbevölkerung sein würde, die die Rechnung für die deutschen Bomben auf Rotterdam, Coventry und London würde zahlen müssen. Fassungslos, dass die Alliierten nun Gleiches mit Gleichem vergolten und das mit wesentlich mehr militärischer Schlagkraft, flohen viele aus der Stadt – wie die hilflosen Menschen im Mittelalter vor Feuersbrünsten und Seuchen. Die Flüchtenden hofften auf Rettung in Dörfern und bei Verwandten. Sie setzten selbst auf die, mit denen sie seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Wer alles verloren hatte außer seinem Leben, war noch bereit, an die Einigkeit des deutschen Volks zu glauben. Wie Ertrinkende an das rettende Seil klammerten sich die Ausgebombten an die immergrüne Hoffnung, dass Menschen in Not Liebe und Brot zuteil werden wird.

Hans und Anna Dietz packten keine Koffer. Obwohl sie seit drei Jahren Tag für Tag bewiesen, zu welcher Opferbereitschaft Menschen fähig sind, glaubten sie nicht an die Mär von der Selbstlosigkeit der deutschen Bauern. Ihre Angst, auf dem Dorf könnten der Bürgermeister oder seine Untergebenen nach Fannys Papieren und ihrer Herkunft fragen, war größer als ihr Sicherheitsbedürfnis. Auf dem Dorf ließ sich schnell entdecken, was man in der Großstadt hatte verschleiern können. In Frankfurt stellte selbst Frau Schmand keine Fragen mehr.

»Müsst ihr wegen mir hier in der Stadt bleiben?«, schwante es Fanny.

»Nein«, beschwichtigte sie Hans, »wir würden auch so nicht gehen.«

Der Angriff vom 24. März 1944 erfolgte morgens um neun. Es waren einhundertfünfundsiebzig amerikanische Maschinen, die die Ruinen der Trümmerstadt Frankfurt einebneten. Die Bomben töteten Bergungsmannschaften und trafen auch die Särge mit den Toten, die reihenweise auf den Gleisen standen, um abgeholt zu werden. Sie brachten Frauen, Kindern und den Alten, die in der Nähe des Hauptbahnhofs auf ihre Evakuierung warteten, den Tod.

Die Ausgebombten, Hilfsmannschaften aus ganz Südwestdeutschland, die man nach Frankfurt schaffte, Soldaten und Kriegsgefangene, die sich mit ihnen um die verschütteten und verstörten Menschen bemühten, wurden aus mobilen Küchen verpflegt. Wie in Trance standen die, die ihre Verwandten, Freunde und Nachbarn suchten, vor ausgebrannten und eingestürzten Häusern.

Neben den rauchenden Trümmern nahmen die Nazis den Menschen, die ihr Schicksal nicht fassen konnten, ein Treuegelöbnis auf Hitler ab. Um Moral und Stimmung zu heben, ließen sie neben Särgen einen Spielmannszug aufmarschieren. Gauleiter Jakob Sprenger erklärte Frankfurt zur Frontstadt. Plakate mit dem Text »Frontstadt Frankfurt wird gehalten« wurden eiligst an die Mauerreste von zerstörten Häusern geklebt. Auf den Plakaten standen Mann, Frau und Kind kampfbereit mit der Hakenkreuzfahne in der Hand vor einem unversehrt gebliebenen Dom, der in Wirklichkeit bis ins Mark getroffen war.

»Was ist denn eine Frontstadt?«, wollte Fanny wissen.

»In einer Frontstadt muss man erst das Gras anpflanzen, in das man beißen will«, sagte Hans.

»Ist das ein Witz?«

»Wie soll man heutzutage wissen, was ein Witz ist, Fanny? Da braucht es klügere Leute als einen Drucker mit einem Bein.«

»Du denkst doch nicht mit den Beinen.«

Fannys Vater, von dem weder sie noch Hans und Anna wussten, ob er noch lebte und wenn ja, ob in einem holländischen Versteck oder in einem deutschen Konzentrationslager, hätte sich bei diesem Gespräch gewiss erinnert, dass seine Tochter schon als Dreijährige sehr wortklauberisch gewesen war.

Als wäre dies eine Selbstverständlichkeit für ein jüdisches Mädchen im Jahr 1944, spazierte Fanny am ersten Montag des Aprils mit Hans durch die Stadt der zu Stein gewordenen Gespenster. Sie spürten die Sonne auf der Haut und, wenn sie zu sorglos wurden, einen Hauch von Wärme im Herzen. Zwischen zwei Trümmerbergen, die einst vierstöckige Häuser gewesen waren und in denen Menschen gelebt hatten, die goldumrandete Sammeltassen ins Büfett stellten und Bilder vom deutschen Wald an die Wand hingen, trotzten Grasstauden dem großen Sterben. Auf ihnen wuchsen Gänseblümchen mit unschuldsweißen Köpfen. Fanny bückte sich über eine Blume, doch sie nahm ihr nicht das Leben. Der Mann des Muts und das Kind, das zu weinen verlernt hatte, waren ohne Furcht. Beide erinnerten sich gar an so wunderliche Worte wie Glück und Hoffnung.

Vor einem Haus, von dem noch zwei Außenmauern standen, blieb Fanny stehen. Sie knetete ihre Hände ineinander und sagte schließlich: »Ich kann nicht an die Menschen denken, die hier gelebt haben. Ich versuche schon den ganzen Morgen, nicht so zu sein, wie ich bin, aber es klappt nicht. Ich schäme mich so.«

»Mir geht’s genauso mit dem Mitleid«, erwiderte Hans. Er drückte ihre Hand und wünschte sich, seine Tochter würde so werden wie Fanny. »Aber ich schäme mich nicht. In Dachau habe ich das Schämen verlernt.«

»Ich war doch gar nicht in Dachau.«

»Du hast Schlimmeres erlebt, mein Kind.«

Sie gerieten, ohne dass es Hans gewollt hatte, in die Biebergasse. Er schalt sich einen gefühllosen Narren, als er sich erinnerte, doch Fanny wusste nicht mehr, dass ihr Vater dort die Anwaltskanzlei gehabt hatte, die er im Jahr 1934 hatte aufgeben müssen. Das Haus hatte einen Volltreffer abbekommen, es war nur noch ein Trümmerhaufen. Im heil gebliebenen Nachbarhaus hatten nur die Fenster Schaden genommen. Sie waren mit Militärdecken und Verdunkelungspapier wieder benutzbar gemacht worden. Im Parterre ließ ein Friseur mit einem Pappschild und zwei Schreibfehlern wissen: »Was auch pasiert, es wird weiter rassiert.«

Die Mauern der zerstörten Häuser boten vielfach Platz für solche Durchhalteparolen. »Wir trotzen dem Terror«, »Lieber tot als Sklave«, »Führer befiehl, wir folgen Dir«, »Jetzt erst recht« und das altbekannte »Räder müssen rollen für den Sieg« waren am häufigsten zu lesen. In einigen zerbombten Wohnungen standen noch Innenwände. Kabel hingen von den Decken und führten ins Nirgendwo. In einem zerbombten Haus auf der Lange Straße lag eine Kloschüssel, die augenscheinlich unmittelbar vor dem Angriff geputzt worden war. In der Wittelsbacherallee inmitten eines Trümmerberges lag ein verkohltes Kinderbett, daneben auf dem Boden eine angesengte Puppe mit langen blonden Zöpfen. An eine der beiden noch stehenden Mauern hatte jemand in steiler Sütterlinschrift und mit weißer Kreide geschrieben: »Familie Meyer lebt. Wir sind bei Tante Anni in Karben.«

»Deutschland hat bekommen, was es verdient hat«, sagte Hans. »Die Schuldigen und die, die weggeschaut haben. Sie sind alle schon jetzt bedient worden. Wir brauchen den Krieg gar nicht mehr zu verlieren.«

Fanny schaute ihn an. »Das finde ich auch«, antwortete sie.

Sie war seit vier Wochen dreizehn Jahre alt. Andere Mädchen in ihrem Alter gingen zur Schule. Sie hatten Mütter, die ihnen erzählten, Deutschland würde den Krieg gewinnen, wenn sie abends brav ihre Gebete sagten und Pulswärmer für die Soldaten im Osten strickten. Mädchen in Fannys Alter hatten Großeltern, die nicht im Nebel verschwunden waren. Sie träumten von einem grünen Lodenrock und einem Berchtesgadener Jäckchen, und trotz der Bomben waren sie sicher, dass Gott mit Deutschland war. Wenn sie Zara Leander »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n« singen hörten, bekamen sie feuchte Augen. Dreizehnjährige gingen ins Kino und kicherten, wenn zwei sich küssten. Sie sagten »Heil Hitler« und hoben den Arm, wenn sie morgens in die Schule kamen, doch ihr Herzensmann war Willi Forst, der auf der Schallplatte den Schlager »Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami« sang.

Das Mädchen Fanny aber, das vor der Frankfurter Großmarkthalle seine Mutter aus dem Leben hatte gehen sehen und das sich weder an den Vater noch an den Bruder erinnerte, wusste nichts von der Musik, die junge Mädchen entzückte. Sie durfte nie ins Kino gehen. Die einzige Familie, die ihr geblieben war, hatte Angst, das Kind könnte in eine Kontrolle geraten und ihnen entrissen werden. Fanny war zufrieden, wenn Anna ihr aus einer Decke einen Mantel nähte und aus Stoffresten eine Bluse. Sie träumte nicht von Trachtenjäckchen mit silbernen Knöpfen, sie rechnete nicht damit, dass ein junger Mann für sie je »Ich küsse Ihre Hand, Madame« singen würde. Jedoch wusste sie, dass ein Stern aus gelbem Stoff den Tod bedeutete und dass ein Konzentrationslager die Hölle des zwanzigsten Jahrhunderts war. Deshalb wusste sie auch, was Hans meinte, wenn er von deutscher Schuld sprach.

Sie standen vor einer zerbombten Schule am Zoo. Bleiche Kinder in zu kurz gewordenen Mänteln und mit Schulranzen auf dem Rücken liefen dennoch auf das Gebäude zu. Den Kleinen folgten ältere, ernst dreinblickende Mädchen mit adrett geflochtenen Zöpfen. Offenbar fand der Unterricht in Behelfsräumen statt, die von der Straße aus nicht zu sehen waren. Auch in der Totenstadt lernten die Kinder noch »Das Lied von der Glocke« auswendig und dass Gehorsamkeit und Heldenmut deutsche Tugenden seien. Vor allem lernten sie, dass die Frau dem Mann zu dienen habe und der Mann dem deutschen Vaterland.

»Siehst du, sie brauchen doch nicht sämtliche Schulen, um die Ausgebombten unterzubringen«, sagte Hans, »es sind welche für die Kinder übrig geblieben, die noch in der Stadt sind. Bald kannst du auch zur Schule gehen. Wir werden jetzt endlich Papiere für dich beantragen können. In diesem ganzen Durcheinander stellt niemand mehr irgendwelche Fragen. So viele haben ihre Unterlagen verloren.«

»Was für Papiere?«

»Papiere, damit wir dich anmelden können. Im Leben und in der Schule. Es nagt schon lange an mir, dass du keine Identität hast. Wir könnten, wenn es sein müsste, überhaupt nicht beweisen, dass du uns gehörst, dass du unsere Tochter bist. Wenn wir Glück haben, kriegen wir auch bald eine Lebensmittelkarte für dich.«

»Und wie heiße ich dann?«

»Fanny Dietz natürlich. Dann kann dich niemand uns wegnehmen. Dann hast du sogar die arische Großmutter, die ein deutscher Mensch zum Leben braucht. Um Gottes willen, Fanny, was hast du denn? Du bist ja bleich wie eine Wand. Du weinst ja.«

Er hielt sie fest, ehe sie fallen konnte, und er drückte sie, bis sie zu zittern aufhörte. Sie setzten sich auf einen Stein, der Teil einer Mauer gewesen war, und starrten in die Sonne. Auch Hans kamen die Tränen, doch er begriff nicht, was er ihr angetan hatte. Fanny hörte sich atmen; sie drückte beide Hände gegen ihre Brust und versuchte sich vorzustellen, was nicht vorstellbar war. Endlich stand sie auf. Sie strich die Feuchtigkeit aus ihrem Rock, und weil sie sehr leise sprechen musste und auch Hans aufgestanden war, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. »Ich kann mich doch nicht von meinem Namen trennen«, erklärte sie. »Stell dir mal vor, mein Vater lebt noch oder meine Mutter kommt von dort zurück. Oder meine Großeltern. Vielleicht kommt Onkel Erwin aus Palästina her und sucht mich. Wie sollen die mich denn finden, wenn ich nicht mehr Feuereisen heiße?«

Sie saßen abends am Küchentisch und aßen Brot mit der Marmelade aus den Ebereschen und Hagebutten, die Anna im vorigen Sommer im Riederwald gesammelt hatte. Hans träumte von einem Glas Bier und von einem Flanellhemd mit Knöpfen aus Perlmutt, Anna von einem Metzgerladen, in dem man Fleisch kiloweise und die Wurst per Meter kaufte. Sie sah, dass Fannys Augen immer noch gerötet waren, und sie überlegte, ob es nicht ein Segen war, wenn ein Kind, das seit Jahren nicht geweint hatte, endlich durch Tränen erlöst wurde. Als sie aufstand, um das Radio zu holen, küsste sie Fanny auf die Stirn. Das Mädchen lächelte, als wäre es glücklich – so wie es als Kind gelächelt hatte, wenn ihre schöne Mutter es gelobt hatte.

Der Sicherheit wegen verhüllte Anna das Radiogerät mit der blauen Decke vom Kinderwagen und stellte es so leise, dass das gut eingespielte Trio die Körper vorbeugen musste, um die Stimme der Wahrheit zu hören. BBC meldete, am Morgen wäre das deutsche Schlachtschiff »Tirpitz« getroffen worden.

»Kann Deutschland nicht jucken«, sagte Hans, »wir haben ja die Wunderwaffe.«

Anna sagte: »Du hast wie immer recht.« Trotzdem schüttelte sie den Kopf und nannte ihren Mann einen Trottel. »Einen Erztrottel«, stellte sie klar. »Hast du wirklich gedacht, eine Tochter von Johann Isidor Sternberg wird es zulassen, dass wir seiner Enkeltochter den Namen nehmen?«