7
DER PAUKENSCHLAG

Dezember 1945 bis März 1946

»Der liebe Gott schmeißt Bomben auf unser Haus«, schrie Sophie, »wir müssen ganz schnell in den Keller.«

»Nein«, beruhigte sie ihr Vater, »das sind nur die bösen Gewitterteufel. Die wollen uns Angst machen, aber wir fürchten uns nicht. Wir wissen, dass es nie wieder einen Krieg geben wird. Kein Kind muss sich mehr im Keller verstecken.«

»Lena sagt, die Russen kommen. Sie jagen Frauen in den Wald und kochen Kinder in ganz großen Töpfen.«

»Nicht im Frieden, Sophie. Sag das Lena.«

In Frankfurt verabschiedete sich das Elendsjahr 1945 mit einem gewaltigen Sturm. In der verwundeten Stadt bebten die zerstörten Häuser, Ruinen fielen in sich zusammen, notdürftig reparierte Haustüren lagen auf der Straße, die wenigen Trambahnen, die wieder in Betrieb waren, standen still. Die ganze Nacht trieb der peitschende Wind riesige Stücke von Dachpappe, die wie monströse Drachen aussahen, durch die lichtlosen Straßen. Auf den Gehwegen stürzten Menschen über Steine und Äste. Einbrecher nutzten die Gunst des Unwetters, stiegen in fensterlose Keller ein und raubten den Hungernden die letzten Vorräte, stahlen Kartoffeln und Krückstöcke, rostige Fahrräder, Kinderwagen ohne Räder und den Schrott, den die Besitzer selbst gerade gestohlen hatten. »Ein ganz schlechtes Omen für 1946«, unkten die Abergläubischen. »Gottes Strafe«, wussten die Frommen.

Das Unheil hatte sich lange vor Weihnachten angekündigt. Von Tag zu Tag war die Versorgungslage schlechter geworden, die Verzweiflung größer. Unermüdlich hatten Zeitungen, Rundfunk und öffentliche Verlautbarungen darauf hingewiesen, dass die täglichen 1500 Kalorien, die bis dahin jedem Erwachsenen zugestanden hatten, selbst in der amerikanischen Besatzungszone, die als besser versorgt galt als die drei übrigen, nicht mehr gehalten werden konnten. Metzger, Lebensmittelhändler und Bäckersfrauen standen hinter leeren Theken und bekamen Volkes Zorn zu spüren. Es hieß, die Milch für Säuglinge und Kleinkinder wäre gepanscht, das Mehl mit Insektenpulver versetzt, die Margarine mit Wasser verlängert und die Schweineschnitzel, wenn es sie gab, vom Pferd. Den Bäckern wurde unterstellt, sie würden die Rationen für Normalverbraucher auf dem Schwarzmarkt verschieben; von den Metzgern erzählte man, sie äßen schon zum Frühstück Speck und stopften ihre Babys mit Leberwurst. In den Warteschlangen vor den Läden und auf den Fluren der Ämter schimpften die Menschen im Flüsterton auf die Amerikaner und verteufelten lautstark die Demokratie. Sie scheuten sich nicht, öffentlich zu bejammern, dass sie sich »beim Adolf wenigstens hatten satt essen können«. Ungeniert schwärmten sie von der guten Butter, die ihre Ehemänner und Söhne aus dem besetzten Holland »nach Hause geschickt« hätten. Sie trauerten der »guten polnischen Knoblauchwurst« nach und der feinen belgischen Schokolade.

»Und den Cognac aus Frankreich und den Lachs aus Norwegen wollen wir nicht vergessen«, höhnte Hans, als er auf der Berger Straße für fünfzig Gramm Fleischmarken die einmalige Zuteilung von fünfhundert Gramm Fisch (ungeputzt, mit Kopf und Schwanz) abholte. »Die Ironie«, beklagte er sich später bei Betsy, »hat keiner gemerkt. Ich hätte sie alle beuteln können, alle, wie sie da standen, diese Gesinnungssäue.«

»Hungrige Menschen haben keinen Sinn für Ironie«, sagte Betsy. »Und Schamgefühl haben sie schon gar nicht. Das hab ich in Theresienstadt begriffen.«

Böse und bösartige Geschichten machten die Runde. Das »Flüchtlingspack aus dem Osten, das uns das bisschen wegfrisst, das uns noch geblieben ist«, hätte Krätze und Läuse in den Westen eingeschleppt, die »Leut aus denen KZs« Fleckfieber, Cholera und Tuberkulose, und von den »Amis hat jeder zweite die Syphilis«. Von alten Menschen wurde berichtet, die in ungeheizten Stuben erfroren wären, von rachitischen Kindern, die ihre Eltern zum Betteln in die Sperrgebiete der Amerikaner tragen müssten, und von gewissenlosen Schiebern, die die Stärkungsmittel für untergewichtige Säuglinge und selbst Entlausungspulver auf dem Schwarzmarkt verhökerten. »Moral und Anstand nur auf Bezugsschein«, wusste der Volksmund.

Ein jeder hatte Verwandte oder Nachbarn, die zum Wohl der darbenden Familie hamstern gefahren waren und denen Polizei und Feldjäger in den Bahnhöfen und Zügen die Hamsterbeute wieder abgenommen hatten. Auf dem Schwarzmarkt katapultierten die Preise in neue Höhen. Die sieche Reichsmark war nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt war; nur aus »Amizigaretten« wurden Butter, Mehl, Kleiderstoffe, Schuhe und ein Stück Lebenswille. Und doch hungerten die Menschen nicht nach Brot allein. Sie standen stundenlang Schlange vor den wenigen Kinos, die wieder geöffnet waren, Zeitungen, die nur zwei Mal in der Woche erschienen, wurden von so vielen Leuten gelesen, dass sie aufgebügelt werden mussten. Mit leerem Magen, in Hut und Schal bibberten die Frankfurter im ungeheizten Börsensaal – und lachten Tränen, weil ein gewisser Herr Harpagnon mit Zipfelmütze in einem Lehnstuhl hockte und sorgenvoll in einen Nachttopf aus feinem Porzellan starrte. Siegfried Nürnberger hatte Molières unsterbliche Komödie »Der eingebildete Kranke« inszeniert. Für Theaterkarten standen die Menschen ebenso lange an wie für Brot, doch man war sich einig, dass die Strapazen sich lohnten. Zu Weihnachten gab es für die Kinder, die in den Trümmern spielten und die keine Väter mehr hatten, die Geschichte vom »Lügenpeter«.

»Das ist ein Weihnachtsmärchen«, erklärte Betsy.

»Kann man das essen?«, fragte Sophie, die noch nie eine Banane gesehen hatte.

»Nur mit den Augen, aber mit den Augen zu essen macht noch mehr Freude als mit dem Mund«, wusste Betsy. Sie dachte an Victoria, die in der Nazizeit, als Juden noch nicht einmal mehr auf öffentlichen Bänken hatten sitzen dürfen, im Schutz der Dunkelheit zu den Festspielen auf dem Römerberg geschlichen war. »Ihr Leben für Florian Geyer aufs Spiel gesetzt«, murmelte Betsy, »das glaubt einem heute niemand mehr.«

Obwohl sie rechtzeitig die Augen schloss, sah sie Victoria in Theresienstadt in den Zug steigen und hörte Salo nach der Mutter rufen. Victorias Tochter aber schickte sie mit Sophie zum »Lügenpeter« – die Stadt Frankfurt war bestrebt zu zeigen, dass die Zeiten anders geworden waren, und hatte dem jüdischen Altersheim zwei Karten zur Premiere geschickt. Für eine Märchenaufführung war allerdings bei Menschen, deren Enkelkinder im Konzentrationslager ermordet worden waren, kein Bedarf gewesen.

Am vorletzten Tag des Jahres, das im Krieg begonnen hatte und trotzdem als ein Friedensjahr bezeichnet wurde, war die Familie Dietz so gut gestimmt, als hätte sie in der Lotterie des Lebens den Hauptgewinn gezogen. Hans hatte zwei Kilo Brot, ein Glas Erdnussbutter, zwei Dosen weiße Bohnen in Tomatensoße und einen Liter amerikanischen Whisky beschafft. Auf der Flasche stand sowohl der Hinweis »Bourbon« als auch »Property of the US Army«.

»Was ist denn Bourbon?«

»Keine Ahnung. Frag Mister Morgenthau. Der weiß alles. Sogar wie man aus Deutschland einen Agrarstaat macht, damit wir nie mehr behaupten, uns gehöre die Welt. Stell das Zeug bloß weg, Anna. Wenn einer die Flasche sieht, denkt er, ich hab unsere Befreier bestohlen.«

»Das kann dir doch egal sein. Hauptsache, dein Gewissen belästigt dich nicht.«

»Das hat es noch nie getan. Wer von unseren Landsleuten kann das von sich behaupten?«

Anna gestattete Hans fünf Riechproben, dann sagte sie, sie wolle aus dem Bourbon eine Bowle machen. »Das ist eine Barbarei«, protestierte er, »so ein Whisky ist Medizin.«

»Willst du ihn etwa allein saufen? Zu Silvester muss der Mensch teilen. Das war schon immer so. Sonst wird es ein schlechtes Jahr.«

Anna streckte den Whisky mit reichlich Wasser und dem letzten Rest von ihrem selbst gebrauten Berberitzensaft, süßte die Mixtur mit Sacharin und fügte zur Geschmacksabrundung einen Eierbecher echten Bohnenkaffee hinzu sowie drei Tropfen von der kostbaren Backessenz mit Rumaroma, auf die es Sophie abgesehen hatte. Zur Silvesterfeier wurde die Meisterkreation in ein bauchiges grünes Kristallgefäß umgegossen, das Anna aus dem Sternberg’schen Haushalt hatte retten können.

Betsy zwang sich, die Bowlenschale anzuschauen, ohne dass die Erinnerungen brannten. »Dingen, die man mit Geld kaufen kann, weint man nicht nach«, sagte sie zu ihrer Enkeltochter, und obgleich Fanny den Lebenslauf der Bowlenschüssel nicht kannte, wusste sie, dass ihre Großmutter nicht von Geschirr sprach. Sie schaute zu Boden und sagte: »Das finde ich auch.«

Auf die jüngsten Festteilnehmer hatte der Silvestertrunk eine berauschende Wirkung. Sophie, die am Glas von Vater und Mutter hatte nippen dürfen, war so kinderfroh, dass sie sämtliche Lieder aus ihrem umfangreichen Repertoire vortrug, einschließlich Zarah Leanders »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, gefolgt von »Der Wind hat mir ein Lied erzählt« und dem brandneuen Erfolg der Gosse »Oder, Neiße, alles Scheiße«.

»Lass das«, befahl ihr Vater, »und zwar sofort!«

»Lass sie!«, widersprach Betsy, »Kinder haben keine bösen Lieder.«

Erwin war nach dem ersten Schluck Bowle so friedfertig, dass er sich widerstandslos von seiner Schwester die Hälfte seines mit Erdnussbutter bestrichenen Brots abnehmen ließ. Fanny lachte ihren Hals heiser, als Anna erzählte, dass es in der Familie Sternberg früher Brauch gewesen war, zu Silvester einen Kreppel mit Senf statt mit Pflaumenmus zu füllen. »Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass es so viel zu essen gab, dass man Senf in Kreppel gestopft hat.«

»Ich auch nicht«, sagte Anna. »Auch nicht, dass wir alle um Schlag zwölf an den Fenstern gehangen haben, um Feuerwerk zu gucken. Die arme kleine Alice ist auf den Balkon gerannt und hat festgestellt, dass dort der Himmel auch brannte. Sie hat herzerweichend geweint.«

»Die arme kleine Alice hat immer herzerweichend geweint«, erinnerte sich ihre Mutter. »Hoffentlich hat sie sich das in Südafrika abgewöhnt.«

»Wie sieht denn Feuerwerk aus?«, wollte Fanny wissen.

»Genau wie das Zeug, das unsere Befreier uns auf den Kopf geschmissen haben«, sagte Hans. »Nur haben wir bei den Luftangriffen im Keller gehockt, nichts gesehen und fromm gebetet, die Bomben mögen aufs Nachbarhaus fallen. Erinnerst du dich nicht mehr, Fanny? Frau Schmand hat von der Wunderwaffe geschwärmt, und unsere Anna war eine richtige Spielverderberin. Sie hat nicht erlaubt, dass ich der Schmand den Hals umdrehe.«

»Ich weiß noch alles. Ich hab mir immer ausgemalt, Frau Schmand trifft der Schlag, ich stehe ganz ruhig auf, packe ihre Grünen Bohnen in unsere Nottasche und futtere vor ihren starren Augen ihre Erdbeermarmelade.«

»Braves Kind.«

»Ich war nicht in keinem Keller«, wusste Sophie, »ich hab mit den Engeln gespielt.«

»Du bist doch selbst ein Engel«, lächelte Betsy, »die wissen auch nicht, was eine doppelte Verneinung ist.«

Sie war es, die den Abend zu einem sehr besonderen machte. Zehn Minuten vor Mitternacht stellte sie ihr Glas auf den Tisch. Sie schaute Hans und Anna an, griff nach Fannys Hand und erklärte in einem Ton, der Bewegung verriet, obwohl sie gerade das nicht wollte: »Ihr habt alle recht gehabt, von Anfang an habt ihr klar gesehen. Nur die kluge Frau Sternberg musste tagelang mit sich selbst Krieg führen, bis sie zu dem Ergebnis kam, dass Gott sie nicht hat Theresienstadt überleben lassen, damit sie in einem Altersheim vor sich hindämmert und die Schafe auf dem Rasen zählt. Wenn ihr es euch wirklich gut überlegt habt, ob ihr euch eine alte Frau antun wollt, die einen Sack voll Albträumen auf dem Buckel schleppt und die noch nicht einmal mehr einen Suppentopf halten kann, ohne dass jeder um sein Mittagessen fürchtet, würde ich sehr gern zu euch ziehen. Jedenfalls bis ein Wunder geschieht und man den Juden, die die Nazis nicht mehr beizeiten haben umbringen können, zurückgibt, was man ihnen gestohlen hat. Das kann allerdings dauern. Generationen, nehme ich an. So, das war eine überlange Rede. Es soll nicht wieder vorkommen. Alte Frauen quatschen zu viel.«

Ihre feuchten Augen, setzte sie hinzu, hätten nichts mit ihrem Entschluss zu tun, in die Thüringer Straße zu ziehen. Die Tränen kämen ausschließlich von der Bowle. »Meinen letzten Alkohol habe ich in der Rothschildallee getrunken, und sehr trinkfest war ich nie.«

»Einmal hast du zu Silvester sogar vergessen, dass ich nicht deine Tochter bin«, lächelte Anna.

»Das vergesse ich immer noch. Nicht nur zu Silvester.«

Um Mitternacht waren in der erschöpften Stadt trotz des fauchenden Winds Kirchenglocken zu hören, vereinzelt sogar Stimmen, die den Frohsinn vergessener Zeiten ahnen ließen. Im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte die Frau, von der es hieß, sie hätte drei Söhne gehabt und alle wären an der Ostfront gefallen, eine Schallplatte aufgelegt und ein Fenster aufgemacht. Heinz Rühmann, Willy Fritsch und Oskar Karlweiss sangen »Ein Freund, ein guter Freund«.

»Die drei von der Tankstelle«, schluckte Betsy. »Mein Gott, auch das noch. Johann Isidor hat für Rühmann geschwärmt. Wir sind zwei Mal ins Kino gegangen, um den Film zu sehen, und zu seinem Geburtstag habe ich ihm die Schallplatte geschenkt. Stimmt, jetzt weine ich tatsächlich.«

»Ich auch«, sagte Anna, »hört das denn nie auf?«

»Nie. Das Gedächtnis ist ein Sadist.«

Im fahlen Licht einer Laterne, die sonst nur bis abends um zehn brennen durfte, standen einige Halbwüchsige, schwenkten dürre Zweige und lachten. Ihr Gelächter war so dürr wie sie selbst. Einer machte eine Bewegung, um einen der Stöcke anzuzünden, die anderen hielten ihn zurück; Brennstoff war mehr wert als die kurze Freude an einer Fackel. Trotzdem brüllten zwei Jugendliche: »Prost Neujahr.« Sie warfen ihre Mützen in den dunklen Himmel und sprangen ihnen nach, und einen Moment wirkten sie, als hätten sie jeden Tag genug zu essen und einen warmen Wintermantel im Schrank.

»Ist das Frieden?«, fragte Fanny.

»Und ob!«, bestätigte Betsy. »Schon meine Großmutter hat gesagt, Fröhlichkeit vertreibt Leid.«

»Ich hab gedacht, früher hat man gar nicht gewusst, was Leid ist.«

»Juden haben immer gewusst, was Leid ist. Vierzig Jahre durch die Wüste zu laufen und das gelobte Land zu suchen war auch kein Vergnügen. Da kann es noch so viel Manna vom Himmel regnen.«

Erwin schlief, am Daumen nuckelnd, im Sessel, Sophie schlummerte vor dem Ofen, der durch zwei zusätzliche Briketts das Jahr der Erwartung mit Flammen empfing. Hans versorgte den bockigen Küchenherd mit den Überresten einer Bank, die er zerhackt in der Habsburgerallee aufgespürt hatte, ehe der Missetäter seine Beute hatte abschleppen können. Anna wärmte eine Suppe aus getrockneten Brennnesseln, getrocknetem Löwenzahn, frischen Kartoffelschalen und eigens für Silvester gehüteten Streifen von Wirsing auf. Den Mitternachtsschmaus bezeichnete sie als Gulaschsuppe, denn zum Würzen hatte sie sowohl echten Pfeffer als auch den ungarischen Paprika genommen, den Hans als Zugabe zum Whisky erhandelt hatte. Betsy sah so entspannt aus wie an keinem Tag seit ihrer Rückkehr aus der Hölle. Sie löschte die Kerze im blauen Porzellanhalter. »Wir wollen sparen«, sagte sie, »wo es jetzt einen Esser mehr in der Familie gibt.«

»Ich freue mich so schrecklich«, raunte Fanny ihr zu, »ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Mir ist noch nie ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Jedenfalls nicht mehr seit dem Tag, als du gesagt hast, ich muss mir die Schuhe für die große Reise putzen. Weißt du denn noch, dass du das gesagt hast? Ich hab damals auch Salos Stiefel geputzt. Du hast es gesehen, aber ich weiß nicht mehr, ob du was gesagt hast.«

Es war das erste Mal, dass Fanny den Namen ihres Bruders aussprach. Betsy presste Fanny so fest an ihren Körper, wie sie keines ihrer Kinder je gedrückt hatte. Sie dankte Gott, dass er sie wieder lieben ließ, und warnte Fanny: »Freu dich nur nicht zu früh, mein Kind. Am Ende bringt deine Großmutter den Mut auf, dir ihren Herzenswunsch zu verraten.«

»Tu das. Wirklich! Du musst dich nur trauen. Du wirst auch nicht enttäuscht sein. Ich kann nähen, stricken, sticken und häkeln. Ich kann vorlesen, ohne müde zu werden, und ich kann ganz gut malen und zeichnen. Jedenfalls hat mich meine Lehrerin im Philanthropin oft gelobt. Schade, dass Papier so knapp ist, und ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein Tuschkasten aussieht. Also muss ich mir Malen verkneifen, bis die Zeiten besser werden.«

»Ich fürchte, du hast dir die falsche Großmutter ausgesucht. Schon als Mutter war ich nicht nach dem Geschmack meiner Kinder. Ich bin nicht in Entzückensschreie ausgebrochen, wenn sie mit ihren selbst gemachten Geschenken anrückten. Die Bilder, die sie gemalt haben, habe ich nicht in die Küche gehängt, die Ketten und Armbänder, die sie für mich fädelten, wanderten in Kästchen und die Kästchen irgendwann auf den Speicher. Ich war keine jiddische Mamme, ich hielt meine Kinder nicht für Genies. Heute schäme ich mich, dass ich noch nicht einmal die Begabung von deinem Onkel Erwin erkannt habe. Ich schaute mir seine Bilder an, sagte ›schön, schön‹ und steckte sie in die Schublade.«

»War er da nicht schrecklich traurig?«

»Bestimmt, aber ich hab’s nicht gemerkt. Weiß Gott, wo ich mit meinen Gedanken war. Übrigens tu ich mich besonders schwer mit Gehäkeltem, aber versuch dir vorzustellen, wie viele Topflappen vier Töchter im Laufe ihrer Kindheit häkeln. Zu jeder Gelegenheit, und manchmal zwei auf einmal. Später war Claudette das fleißige Lieschen. Meine erste Enkeltochter hat mehr Topflappen produziert, als ich Töpfe hatte. Für jeden Blumentopf hat sie ein Deckchen gestickt, sämtliche Taschentücher hat sie mit Häkelrand versehen. Du siehst, Fanny, mit Leuten, die alles schon mal erlebt haben, hat man es schwer. Jedenfalls brauchst du für meinen Herzenswunsch weder Tuschkasten noch Wolle. Nur Courage, aber davon jede Menge. Ich wünsche mir nämlich so sehr, dass du in die Schule gehst. Nur was man im Kopf hat, können sie einem nicht nehmen.«

»Ich weiß«, sagte Fanny. »Das habe ich schon damals gespürt, als alles zu Ende war. Es ist ja auch nicht so, dass ich nicht lernen will. Aber ich habe Angst vor den Mädchen, mit denen ich lernen muss. Und Lehrerinnen, die noch nie eine jüdische Schülerin gesehen haben, kann ich mir schon gar nicht vorstellen.«

»Ich leider doch«, seufzte Betsy, »Theo Berghammer aus der Rothschildallee 9 war eine gute Einführung in das Thema. Es ist gut, dass du dabei warst.«

Betsys Habe passte immer noch in den kleinen braunen Fiberglaskoffer, den ihr die amerikanische Krankenschwester mit der harten Stimme und dem weichen Herzen bei der Befreiung aus Theresienstadt in die Hand gedrückt hatte. Auf dem Koffer stand, genau wie auf der Whiskyflasche, »Property of the US Army«. Selbst die Monate im Krankenhaus hatte der wehrhafte Koffer überdauert – im Gegensatz zu dem ebenfalls in Theresienstadt überlassenen Rock. Auch die eine der beiden Blusen war Betsy im Hospital gestohlen worden, zuletzt die ihr von einer jungen Ärztin überlassenen zehn Aspirintabletten. Ihr jüngster Schatz war ein Ausschnitt aus der »Münchner Zeitung« mit der Silvesterrede des von den Nazis verfolgten Kabarettisten Werner Finck. Der von Betsy schon in den frühen Dreißigerjahren bewunderte Meister der Pointe verabschiedete das alte Jahr mit den Worten: »Können wir diesem fünfundvierzigsten Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts eine Träne nachweinen? Nein, denn wir haben keine mehr.« An das Jahr 1946 richtete Finck die Bitte: »Wende unsere Not, gib uns neue Illusionen!«

Am Donnerstag, dem 3. Januar, verabschiedete sich die viel beneidete Frau Sternberg, von der das Gerücht weiterhin wissen wollte, sie sei eine geborene Rothschild und entsprechend vermögend, von ihren Schicksalsgenossen im Altersheim. Mit dem Koffer in Erwins Bollerwagen und Anna als Stütze auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt lief Betsy kräftigen Schrittes und berührten Herzens auf die Thüringer Straße 11 zu. Eisblumen glitzerten an den Fensterscheiben, Reif lag auf den Bäumen und auf den letzten Rosenkohlpflanzen in den Vorgärten. An einer kleinen Tanne vor einem heil gebliebenen Haus flatterten Lamettafäden.

»Ich möchte bloß wissen, wo die das Zeug herhaben.«

»Den ganzen Krieg über gehütet«, mutmaßte Betsy, »so wie ich meine Kopfbilder. Warum ist Fanny nicht mitgekommen?«

»Sie putzt zum zigsten Mal Erwins Zimmer, in dem du ja jetzt schlafen wirst.«

»Und was sagt Erwin dazu, dass er durch eine alte Frau vertrieben wird, die ihm seine Eltern als Oma andrehen?«

»Nichts. Seine Schwester hat ihn gut erzogen. Außerdem nörgeln Kriegskinder nicht so viel wie wir früher.«

»Du hast nie genörgelt, Anna. Das haben die anderen für dich besorgt. Die haben aus dem Vollen geschöpft, wenn ihnen was gegen den Strich ging. Ist Fanny immer so fleißig und genau?«

Fanny scheuerte keine Fußböden, sie klopfte weder Bettvorleger noch Kissen aus. Sie saß am Küchentisch, lutschte einen gelben Knopf, von dem sie sich vorstellte, er wäre ein Zitronenbonbon, und bemalte ein Stück Pappe, das ihr Hans in allerletzter Stunde verschafft hatte, mit Primeln, Rosen und Vergissmeinnicht. In roter Blockschrift schrieb sie: »Willkommen zu Hause, Betsy Sternberg!« Das Ausrufezeichen war tintenblau. Obendrauf saß eine Schwalbe mit einem Brief im Schnabel. In ihrer Aufregung war der eifrigen Gestalterin entfallen, dass ihre Großmutter ein getrübtes Verhältnis zu jungen Menschen hatte, die sich mit Farbstift und Pinsel ausdrückten.

»Darf ich das Schild behalten?«, fragte Betsy dennoch. Sekunden später verdoppelte sie gar Lob und Herzenswärme; sie zwinkerte Fanny zu.

Mit dem Auszug aus dem Altersheim wurde sie die, die sie gewesen war. Wenn sie lachte, schämte sie sich nicht ihrer Heiterkeit, sie konnte an die Zukunft denken, ohne sich zu ängstigen, sie würde das Schicksal herausfordern. In guten Momenten war sie sicher, sie würde bald von Erwin und Clara hören und Alice würde aus Südafrika schreiben. In Tagträumen sah sie Claudette, die ihren Großvater »Opa Bär« genannt hatte, Orangen in Palästina pflücken. Nachts aber betete sie um das Wunder, Fannys Vater hätte in Holland überlebt. »Wenn wir nicht bald was von ihm hören«, sagte sie zu Hans, »ist es vorbei mit der Hoffnung.«

»Ich wollt, ich könnte dir widersprechen.«

Am 7. Januar, es war der erste Montag im Jahr, verließ Betsy die Wohnung morgens um acht. Auf dem gleichen Polizeirevier, in dem sie im Jahr 1938 hatte melden müssen, dass die Familie Sternberg nicht mehr in ihrem eigenen Haus in der Rothschildallee 9 wohnhaft war, gab sie nun ihre neue Adresse an. »Als Untermieterin bei meinem Schwiegersohn Hans Dietz«, sagte sie.

»Das gehört nicht hierher«, knurrte der Beamte, »wir sind nicht das Standesamt.« Er lutschte an einer Brotrinde, denn er hatte seit Wochen Schwierigkeiten mit seiner Prothese und keine geeignete Tauschware, um den Zahnarzt an seine Pflicht zur Hilfe zu erinnern. »Das gehört nicht hierher«, wiederholte er.

»Für mich schon«, betonte Betsy.

Der Mann in Uniform starrte auf seinen tintenbefleckten Schreibtisch; sein Gesicht zeigte an, dass Privatgespräche nicht erwünscht waren. Trotzdem fragte Betsy nach Fräulein Josepha Krause. Die hätte bis zum Jahr 1938 in der Rothschildallee 9 gewohnt. Der Befragte fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. Er schüttelte den Kopf und zeigte Zahnfleisch. »Wenn Sie Auskunft über lebende Personen zu erhalten wünschen, müssen Sie sich zum Einwohnermeldeamt begeben«, kaute er.

»Ich hab gedacht …«, wagte es Betsy.

»Wenn die Leut nur nicht so viel denken würden. Dann könnt unsereiner in Ruhe arbeiten. Warum muss heutzutage jeder auch noch betonen, dass er denkt?«

»In einer Demokratie steht Denken nicht unter Strafe.«

Es verblüffte Betsy, dass ausgerechnet sie das gesagt hatte. Gewöhnlich taten das Leute, die die Demokratie für ihre missliche Lage verantwortlich machten. Der Beamte stierte vor sich hin. Sein Gesicht war rot, die Augen ohne Leben. Er stopfte den Rest der Brotrinde in seine Jackentasche, stellte die vielen Stempel um einen Blechbecher mit einer kaffeebraunen Flüssigkeit und hauchte mehrere Male auf ein eingetrocknetes Stempelkissen. Aus einer Schublade holte er eine auffallend dicke Akte, machte Anstalten, in ihr zu blättern, klappte sie aber wieder zu und schüttelte erneut den Kopf – nicht so heftig wie zuvor, eher beschwörend und verlegen. »So hab ich’s doch nicht gemeint«, stellte er klar. »Kein bisschen. Ich bin froh, dass wir eine Demokratie haben. Und beleidigen habe ich Sie erst recht nicht wollen.«

»Es wäre Ihnen nicht gelungen, mich zu beleidigen«, versicherte Betsy. »Zum Beleidigen gehören nämlich zwei: einer, der beleidigt, und einer der sich beleidigen lässt.«

Der verlegene Ton des Mannes tat ihr wohl. Sie sah, dass seine Lider flatterten und er blass geworden war. Das Gefühl, dass ein deutscher Beamter an seinem Schreibtisch saß, Angst vor ihr hatte und sie nicht vor ihm, belebte sie, machte sie stark, auf eine beängstigende Weise sogar verwegen. Selbst die Erkenntnis, dass auch Menschen zu Sadismus fähig sind, die Bosheit und Brutalität verabscheuen, beunruhigte sie nicht. Es war die Erinnerung an das, was geschehen war, die Betsy freisprach. Sie dachte an das Jahr 1938, als Juden in deutschen Amtsstuben schikaniert, gedemütigt und gequält worden waren. Johann Isidor Sternberg, der Furchtlose und Unbeugsame, hatte sich nicht getraut, die Familie im »Judenhaus« anzumelden. Betsy war es, die damals zum Polizeirevier gegangen war. Sie hatte drei Stunden auf dem Flur stehen müssen, und wen immer sie nach einer Toilette gefragt hatte, war wortlos weitergegangen. Der junge Uniformierte mit Rechtsscheitel und Schnurrbart wie sein Führer, der die Ummeldung endlich vorgenommen hatte, hatte Betsy geduzt und sich, mit einem Taschentuch vor Mund und Nase, bei seinem Kollegen beschwert: »Die Schlampe stinkt zehn Meter gegen den Wind nach Zwiebeln.«

»Das tun sie doch alle. Das steht schon bei Wilhelm Busch. Die Zwiebel ist des Juden Speise.«

»Ich kann noch mehr. Kennst du das, Sara? Und der Jud’ mit krummer Ferse, krummer Nas’ und krummer Hos’ schlängelt sich zur hohen Börse, tief verderbt und seelenlos.«

»Vielleicht können Sie mir die Adresse der Jüdischen Gemeinde geben«, sagte Betsy. Weder Stimme, Gesicht noch Hände deuteten darauf hin, dass sie den Weg zu den Gespenstern zurückgegangen war, Gespenstern, die nie aufhören würden, sie zu peinigen. »Die Gemeinde muss hier ganz in der Nähe sein«, sprach sie weiter. »Oder habe ich die Anschrift anderswo zu erfragen? Vielleicht beim Bestattungsamt. Oder beim Gartenamt? Eine ganze Menge von uns war ja zur Zwangsarbeit auf den Friedhöfen verpflichtet, ehe man uns auf die Reise schickte. Die letzte Reise.«

Sie sah den Herrscher am Schreibtisch wie eine Marionette einknicken, bei der ein Faden gerissen ist. Er umklammerte seinen Becher, die Knöchel wurden weiß. »Jüdische Gemeinde«, wiederholte er. Zwischen dem ersten und dem zweiten Wort atmete er ein. Seine Oberlippe zitterte. Er starrte Betsy an, als hätte sie ihn von hinten angesprungen und würde ihn mit einer Waffe bedrohen. Einen Moment lang war sie gar sicher, der Mann hätte sich weggeduckt und würde versuchen, sein Gesicht mit den Händen zu schützen. Ihre Fantasie hielt sie in der Welt fest, in der es nur Rache und Niederträchtigkeit gab und in der auch Menschen zu Monstern wurden, die an Gott glaubten, ihre Kinder liebten und abends gestickte Deckchen über den Vogelkäfig hingen. Betsy spürte den Druck im Kopf, der Tränen vorausging. Ihre Rachegelüste beschämten sie, und doch ließ das Verlangen nicht nach, weiter nach dem Mann zu treten, der am Boden lag und sich nicht wehren konnte. Nicht wehren durfte. Nicht mehr. Würde sie fortan immer vom Zwang besessen sein, Menschen die Angst einzujagen, die sie selbst hatte erdulden müssen?

»Können Sie mir sagen, wo hier die Toilette ist«, bat sie.

»Für Damen im ersten Stock, zweite Tür links«, antwortete ihr Opfer. Er ließ den Becher los, schob ihn zum Rand des Schreibtischs, suchte Halt bei einer rostigen Schere.

»Danke. Es muss nicht gleich sein. Ich wollt’s nur wissen. Für alle Fälle. Ich nehme an, die Toiletten sind für alle zugänglich.«

»Nur für Besucher des Hauses«, betonte der Korrekte, »nicht für Fremdpersonen.« Er blätterte in einem handschriftlich beschriebenen Heft, in dem jede Zeile mit Rotstift unterstrichen war. Das Heft erinnerte Betsy an die Kladde, in der Oberlehrer Gotthold Grundig aus Pforzheim die Verfehlungen und Missetaten von sechsjährigen Kindern eingetragen hatte. Das Wiedersehen mit Oberlehrer Grundig verwirrte sie über alle Maßen. Es war das erste Mal in achtundsechzig Jahren, dass Grundig sich in ihr Leben drängte. Er war ein Hüne mit Goldzahn und Monokel gewesen, hatte einen Oberlippenbart wie Kaiser Wilhelm II. gehabt und einen Rohrstock mit blutrotem Griff. »Hand aufs Pult«, befahl Gottfried Wilhelm Grundig, »ausgestreckt!« Seine Stimme war immer noch donnerlaut, und wenn er schrie, wurde sein Kaiserbart regennass und Hass verbrannte sein Gesicht.

»Hier haben wir’s«, sagte der Beamte, »Baumweg 5 bis 7.«

»Wie bitte?«, fragte Betsy.

»Die Juddegemeinde. Sie haben doch gesagt, dass Sie die Adresse haben wollen. Hier steht allerdings jüdische Hilfsstelle. Na ja, geholfen wird uns ja allen, sag ich immer. Fragt sich nur, wann und von wem.«

Betsy, die Bescheinigung in der Handtasche, dass sie sich von der Gagernstraße 36 in die Thüringer Straße 11 umgemeldet hatte, erreichte nach nur einer Viertelstunde den Baumweg. Sie erinnerte sich sofort an die kurze Straße; bei einem Gemüsehändler an der Ecke zum Sandweg hatte sie vierzig Jahre lang Frühkartoffeln und die ersten Erdbeeren aus Kronberg gekauft. Im Gegensatz zum Gemüseladen war die Linde noch da, die besonders früh und besonders üppig geblüht hatte. In der Freude, dass dem Baum im Krieg kein Leid widerfahren war, unterließ es Betsy, ihr Herz zu schützen. Sie sah sich mit dem noch nicht einmal vierjährigen Otto, damals noch umhätscheltes Einzelkind und schon Thronfolger mit Klassenbewusstsein, zur Berger Straße laufen, um den Karpfen für die hohen Feiertage zu holen. Es war das letzte Rosch Haschana im 19. Jahrhundert. Otto hatte seinen ersten Matrosenanzug bekommen; die Mütze durfte er bereits in der Woche vor den Feiertagen tragen. »Otto, heb deine Füße beim Laufen. Du willst doch ein ordentlicher Soldat werden. Der Kaiser ist ganz traurig, wenn du mit den Füßen schlurfst.«

Im Baumweg hatten die Häuser, die den Krieg überstanden hatten, stark beschädigte Dächer und Mauern, von denen der Putz bröckelte. Die Fenster waren nur notdürftig repariert, in manchen Vorgärten lag noch Schutt, in einem zwei Gartenzwerge ohne Kopf. Die Litfaßsäule aber, vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber einer Schreinerei aufgestellt, war unversehrt und so beklebt wie in Zeiten des Wohlstands. Auffallend war ein Plakat, das eine ausgebombte Kirche zeigte. »Alle Kirchen sind vernichtet, das hat Hitler angerichtet«, stand unter dem Bild.

»Nicht nur die Kirchen!«, entfuhr es Betsy.

Eine alte Frau in einem schwarzen Mantel und mit einem Kopftuch, das noch in der januarkalten Luft nach Mottenpulver roch, stellte ächzend ihre Tasche auf den Boden. Sie stützte sich auf ihren Krückstock und nickte.

»Zunächst haben sie die Synagogen niedergebrannt«, sagte Betsy. »Die zerstörten Kirchen sind nur die Quittung. Gottes Strafe, könnte man sagen.«

»Davon weiß ich nichts«, murmelte die Frau. »Für die Politik hab ich mich nie interessiert. Ich hab fünf Kinder gehabt und einen Mann mit Staublunge. Da hat man keine Zeit, in die Kirche zu gehen. Mein Gustav hat immer gesagt, Gott braucht uns nicht.«

Sie starrte Betsy wütend an, griff nach ihrer Tasche und humpelte weg.

Das Haus im Baumweg hatte zwei Stockwerke und graue Mauern, zwischen Tor und Haustür war ein langer Gang, der in einen Hinterhof führte. Die Kriegsschäden waren nicht zu übersehen, doch das Gebäude war auf dem Weg in den Frieden – fast jedes Fenster schon mit Glas, an einigen waren graue Gardinen angebracht und die Rahmen gestrichen. Auf einem kleinen Metallschild, am schwarzen Eisenzaun mit Draht befestigt, stand »Jüdische Gemeinde. Hilfsstelle. Besuch nur nach Vereinbarung«.

»Nicht mit mir«, sagte Betsy. »Ich hab genug Besuche in meinem Leben vereinbart.« Sie war betreten, als sie sich reden hörte, überlegte, ob sie lediglich erschöpft war oder bereits in dem Alter, in dem alte Menschen Selbstgespräche führen, weil ihnen keiner mehr zuhört. »Vorübergehend altersgemäß erschöpft«, entschied sie, »noch nicht meschugge.«

Die Ironie, die Pointe, dass sie sich nun bewusst für das Selbstgespräch entschieden hatte, und das vertraute Wort »meschugge« aus der erschlagenen Zeit belebten sie. Sie ging auf die Haustür zu, merkte, dass die nicht ins Schloss gefallen war, und stieß energisch gegen das dünne Holz. Ihre Sicherheit verlor Betsy erst, als sie im düsteren Hausflur stand und im Parterre drei geschlossene Türen entdeckte, jede mit einem kleinen, handgeschriebenen Schild beklebt. Zu sehen war niemand. Der Wind stieß ein Fenster auf. Betsy stellte sich auf die Zehenspitzen, machte es zu und rief so laut, wie sie sich getraute: »Hallo! Ist da jemand?«, doch niemand gab ihr Antwort.

Weil sie ein Klappern hörte, das sie als das Geräusch einer Schreibmaschine deutete, ging sie die steile Treppe nach oben. Eine von vier Türen stand offen. Betsy schaute in einen kleinen Raum, der offenbar ungeheizt war, denn auf dem Ofenrohr hingen Küchentücher und ein dunkelgrüner Männerpullover. Eine Stehlampe mit einer einzigen Birne und einem grünen Glasschirm, der den größten Teil des Lichts schluckte, war die einzige Leuchtquelle. An einem mit Wachstuch überzogenen großen Tisch saß ein grauhaariger, bärtiger Mann in Mantel, Schal und Hut. Er stapelte Akten aufeinander, die er stöhnend vom Boden aufhob, und brabbelte fortwährend vor sich hin. Betsy versuchte herauszuhören, ob er Deutsch, Jiddisch oder Polnisch sprach. Auch Tschechisch erschien ihr möglich – seit Theresienstadt hatte sie ein Ohr fürs Tschechische. Auf einem dicken Buch mit blauem Einband war ein graufarbener Becher abgestellt, der genauso aussah wie der auf dem Polizeirevier.

»Nein«, wehrte sich Betsy, »nicht wieder. Das kann ich nicht.« Sie begriff, dass es ihre Panik war, die Bilder und Emotionen verzerrte, doch es gelang ihr nicht mehr, aus der Hölle der Gewalt zu fliehen. Der Becher wurde zu einer mit Nägeln gespickten Keule, die Wand hinter dem Tisch wankte. Sturmstimmen brüllten Befehle, der Himmel brannte. Als Erstes starben die Kinder.

Betsy wurde taub und stumm und blind; noch aber wusste sie, dass es wichtig war, sich zu erinnern, was sie vorgehabt hatte, doch ihr Gedächtnis lief gegen die Mauern von Theresienstadt und versiegte. Sie suchte die Tür, durch die sie gekommen war, wollte sich entschuldigen und den Raum verlassen. Ihre Arme waren brettsteif, die Füße am Boden festgewachsen.

Der Mann schaute hoch. »Nu«, sagte er.

Diese schwingende, vertraute Silbe, ein Wort der Vergangenheit, lange nicht mehr gehört und nie vergessen. Johann Isidor hatte bei schwierigen Verhandlungen das fragende, von Nichtjuden häufig missdeutete Nu gebraucht, um dem Gesprächspartner Bedenkzeit zu gewähren und sich selbst zu besinnen. Betsy presste ihre Hände aneinander, sie spürte wieder Leben, war erlöst, atmete ohne Schmerz und Anstrengung. Den Mann, der sie mit seinem Nu von den Toten zurückgeholt hatte, schaute sie an, als wäre nichts mit ihr geschehen. »Ich bin gekommen, um meine Enkeltochter bei der Gemeinde anzumelden«, sagte sie.

Er nahm seinen Schal ab, knöpfte den Mantel auf, begann wieder nicht zu Verstehendes zu murmeln und fasste sich an die Stirn. »Ist sie denn jüdisch?«, fragte er.

»Wer?«

»Na, die Enkeltochter. Sprechen wir hier von Roosevelt oder von Moses?«

»Würde ich meine Fanny hier anmelden, wenn sie nicht jüdisch wäre? Finden Sie es denn ein Vergnügen, jüdisch zu sein?«

»Mich hat keiner gefragt, wie ich’s finde.«

»Ich und meine Enkelin sind auch nicht gefragt worden.«

Der Mann hatte im Oberkiefer nur zwei Zähne, die unteren waren schwarze Stumpen. Seine Augen berichteten von Erlebnissen, die sich der Sprache verweigerten. Trotzdem schien es Betsy, als hätte er gelächelt. »In Frankfurt«, erklärte er, »gibt es Juden, und es gibt Milchbüchsenjuden. Vor Milchbüchsenjuden muss sich die Gemeinde hüten. Sie sind wie Blutegel. Blutegel mit Zähnen.«

»Was in aller Welt ist ein Milchbüchsenjude?«

»Sagen Sie nur, das wissen Sie nicht? Wo kommen Sie denn her? Ein Milchbüchsenjude hat erst gemerkt, dass er Jude ist, nachdem ihm ein anderer Milchbüchsenjude erzählt hat, dass es bei der Jüdischen Gemeinde Frankfurt ab und zu eine Sonderzuteilung gibt. Meistens eine Spende von den Amerikanern. Zu Chanukka haben die einen ganzen Sack von Geschenkpaketen hier angeschleppt, und keine acht Tage später haben sich eine Menge Leute erinnert, dass sie zu Pessach immer Matze gegessen und die Nazis vom ersten Augenblick an gehasst haben. Sie haben alle versucht, die brennenden Synagogen zu löschen, und alle sind sie von guten Deutschen in Gartenlauben versteckt worden. Jetzt danken sie Gott auf den Knien, dass sie endlich wieder jüdisch sein dürfen. Wie soll ich wissen, ob Ihre Enkeltochter nicht auch erst vor einer Woche jüdisch geworden ist?«

»Wir hatten Pech. Wir waren von Anfang an jüdisch. Mein Mann, meine Tochter und mein Enkelsohn sind in Theresienstadt umgekommen. Und die Mutter von meinem Schwiegersohn. Meine beiden Schwestern sind in Südfrankreich verhungert. Nur ich hab überleben müssen. Und eben meine Enkeltochter. Fanny ist in der Nazizeit tatsächlich versteckt worden. Von Menschen, für die das Wort gut eine Untertreibung ist.«

»Meine Enkelkinder hat keiner versteckt. Ich hatte fünf. Nein, fünfdreiviertel. Meine Tochter war im siebten Monat schwanger. Nur meine Frau hat Glück gehabt.«

»Gott sei Dank. Wo hat Ihre Frau denn überlebt?«

»Auf dem Friedhof in der Eckenheimer Landstraße. Sie ist 1936 gestorben.«

»Entschuldigen Sie, dass ich so dumm gefragt habe.«

»Haben Sie nicht. Mir tut’s gut, mit einem Menschen zu reden, dem ich nichts erklären muss. Erklärungen sind wie Messer, die man sich ins Fleisch stößt. Schauen Sie, da! Ich sag’s ja, auch bei uns gibt’s gute preußische Ordnung. Frau Betsy Sternberg geborene Strauß wird seit Juni 1945 als Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt geführt.«

»Seit 1894«, sagte Betsy, »da habe ich geheiratet und bin von Pforzheim nach Frankfurt gezogen.«

Sie zeigte dem Mann ein Foto von Johann Isidor, ein kleines vergilbtes Bild. »Das Foto ist ein Gottesgeschenk«, erzählte Betsy, »meine Tochter Anna hat es die ganze Zeit in einem französischen Lexikon versteckt. Dabei kann keiner in der Familie Französisch.«

»Sie haben Glück. Meine Familienbilder muss ich alle im Kopf tragen.«

Als der alte Mann Fanny Mathilde Feuereisen als Gemeindemitglied eintrug, sah Betsy die eintätowierte Häftlingsnummer von Auschwitz auf seinem Arm. Sie spürte ein starkes Bedürfnis, ihm etwas zu sagen, das der Situation angemessen gewesen wäre, doch jedes Wort, das ihr in den Sinn kam, erschien ihr blasphemisch. »Wenn Anfragen oder Suchanzeigen bei der Gemeinde eintreffen«, fragte sie, »werden die auch beantwortet?«

»Natürlich. Was denken Sie, was ich den ganzen Tag hier mache? Ich schreib den Leuten, dass Gott leider keine Gelegenheit hatte, Wunder zu tun.«

»Fannys Vater ist ganz früh nach Holland emigriert. Auch wir klammern uns an die Hoffnung, dass ein Wunder geschieht und wir ihn wiedersehen.«

»Ich hab gehört, Holland ist nicht das Land gewesen, in dem Wunder an den Juden geschehen sind.«

Dennoch wurde der 10. März, ein sonniger Sonntag, ein Wundertag. Mittags um zwei stand Sophie auf der Straße und erklärte ihrem Bären das Leben. Vor den beiden bremste ein Jeep. Dem entstieg ein baumlanger Soldat schwarzer Hautfarbe, auf dem Kopf ein Stahlhelm und in der Hand ein Paket, das Sophie größer als alle Pakete erschien, die sie in ihrem viereinhalbjährigen Leben gesehen hatte. Der Riese in Uniform lachte gewitterlaut, er holte einen Zettel aus der Hosentasche, zeigte ihn Sophie und fragte nach »Dietz«, wobei das Wort in seiner Kehle erstickte und Sophie ihren Namen nicht erkannte. Obwohl sie nur »Candy«, »Cookies«, »Chesterfield« und »Thank you« sagen konnte und er auf Deutsch nur »Frollein«, führte ihn Sophie zum Haus Nummer 11 und klingelte so anhaltend, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Verlegen, verwirrt und stumm standen Anna und Hans, Betsy und Fanny um den behelmten Hünen. Erst sagte er »Hi«, dann »From Frizzie«. Er stellte das Paket, verschnürt mit einer wunderbar festen Schnur, wie es sie in Deutschland schon lange nicht mehr gab, auf den Boden, schaute jeden der Anwesenden an – Fanny in ihrem zu engen Pullover aufmerksamer als die übrigen –, steckte Sophie ein Päckchen Kaugummi in die erwartungsvoll geöffnete Hand und ging, weil sich immer noch niemand zu rühren wagte, unbegleitet zur Tür. »Wer ist Frizzie?«, rief Hans durch das eilig aufgerissene Fenster, doch da fuhr der Jeep schon ab.

Anna, die Familie im Gänsemarsch hinter ihr, trug das Paket in die Küche, packte es aus, ohne dass einer ein Wort wagte, und stellte die Schätze auf den Küchentisch: Kaffee, Eipulver in einer gelben, Milchpulver in einer weißen Dose, Corned Beef, Butter, Schweinefleisch, Speck, Haferflocken, Kakao, Backpflaumen, Puddingpulver und Ananas in Dosen. Zwei Stangen »Camel« tauchten auf. Hans fand seine Zunge und sagte, die Zigaretten würden reichen, um Brot für ein Jahr zu beschaffen.

»Und Schuhe für Sophie«, träumte Anna.

Sie holte zwei Pfund Rosinen aus dem Karton, Trockensuppen in Tüten und vier Tafeln Schokolade. Auf drei Packungen waren Kuchen abgebildet, alle mit rosa Zuckerguss überzogen und mit riesigen Walnüssen dekoriert. »Nur Milch, Eier und Butter zufügen«, übersetzte Betsy beim Lesen der Rezepte. »Na, die haben Nerven.«

»Schau mal!«, sagte Anna. Sie packte eine Dose Erdnüsse aus. »Es wird immer spannender.«

Auf dem Deckel klebte ein brauner Briefumschlag, adressiert an Frau Betsy Sternberg. Sie erkannte die Schrift nicht, und doch setzte ihr Herz sofort an, aus dem Körper zu springen. Obwohl ihre Hände zitterten, gelang es ihr, vier Seiten Luftpostpapier aus dem Kuvert zu holen. Sie las nur die Anrede, dann fiel ihr der Brief aus der Hand.

»Er lebt«, weinte sie. »Er lebt, Fanny. Er ist in Nürnberg.«

Sophie sah, dass auch ihre Mutter und Fanny weinten und dass ihr Vater auf dem Küchenschemel saß und sich nicht mehr bewegte. Seine praktische Tochter glaubte, er wäre gestorben. Sie nahm den Kaugummi aus ihrem Mund, steckte das Kügelchen sorgsam in ihre Schürzentasche und holte die erste der vier Tafeln Schokolade vom Küchentisch.