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DIE IMPONDERABILIEN
DES LEBENS

April 1946

Der Zivilangestellte der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte Friedrich Feuereisen wurde bei seinem Arbeitgeber als staatenloser Dolmetscher mit »guten Sprachkenntnissen in Englisch und Niederländisch, fließenden Deutschkenntnissen in Wort und Schrift und abgeschlossenem Jurastudium« geführt. Seit Januar 1946 lebte dieser Dolmetscher in einer vom Krieg geschundenen Straße in der Nähe der Nürnberger Frauenkirche. Die Stadt war im Bombenkrieg bis ins Mark getroffen worden; seine Bürger und auch die in die Stadt geströmten Ostflüchtlinge sprachen bei Gelegenheiten, die sie als noch niederdrückender als die üblichen Tiefpunkte ihres Daseins in Not und Hoffnungslosigkeit empfanden, von einem »unmenschlichen Racheakt der Sieger an unschuldigen Zivilisten«.

Das Haus der Kriegerwitwe von Hochfeld, in dem die US-Armee Friedrich Feuereisen zwangseinquartiert hatte, war der Zerstörung entkommen – die auffälligen Einschüsse an den Außenmauern hatten keine Menschenleben gekostet. Sie stammten von ausgelassenen jungen Helden aus Texas, die im August 1945 den Abwurf der Atombomben über Nagasaki und Hiroshima mit altem Bocksbeutel und noch älterem französischen Cognac gefeiert und Frau von Hochfelds kriegsverschontes Haus als Zielscheibe für ihre mitternächtlichen Schießübungen genutzt hatten; der Bocksbeutel in den bauchigen Flaschen, die sie selbst im leeren Zustand als »souvenirs from fucking Germany« schätzten, war den texanischen Hünen bei der Erstürmung einer stadtbekannten Weinstube in die Hände gefallen, der Cognac nebst einer wertvollen Sammlung bayerischer Bierseidel und ebenso kostbarer Feuerwaffen aus dem 18. Jahrhundert bei der Beschlagnahmung einer Villa in Fürth.

Der staatenlose Zivilist Feuereisen lebte, wie er seiner Schwiegermutter in dem Brief mitteilte, der die beiden nach den Jahren der Todesangst und erloschener Hoffnungen wieder zusammenführte, »auf fürstlichem Fuß, und jeden Morgen fragt mich Gott: ›Fritz, wo nimmst du bloß die Chuzpe her?‹ Mein neuer Wohlstand und der Gewinn an gesellschaftlicher Reputation sind ausschließlich dem Umstand zu verdanken, dass ich berechtigt bin, im sogenannten PX einzukaufen, dem Paradies für amerikanische Soldaten und Armeebedienstete. Hier kann man alles bekommen, was wir auch in Holland seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Einschließlich Selbstvertrauen und Lebensmut. Auch der Inhalt meines Pakets an Dich und Anna stammt aus diesem unglaublichen Teil Amerikas. Es kann sich höchstens um ein paar Wochen handeln, da macht mir meine adelige Wirtin deswegen einen Heiratsantrag. Nebbich!«

Bei ihrer Schwägerin pries Frau von Hochfeld ihren Mieter als »das einzige Geschenk, das der Himmel mir je hat zukommen lassen«. Sie tat ihr Bestes, damit sich Fritz in ihrer Wohnung und vor allem in ihrer Gegenwart »wie zu Hause« fühlte. Behaftet mit den üblichen Gedächtnislücken, die zu dieser Zeit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu eigen waren, entging ihr, dass Menschen wie Fritz nirgendwo mehr zu Hause waren und dass sie das Wort »Heimat« als besonders schmerzlich empfanden.

Von dem Tag an, da die Wehrmacht in Holland einmarschiert war, bis zur Befreiung der Alliierten im Jahr 1944 hatte Fritz Feuereisen um sein Leben gefürchtet und keine Hoffnung mehr für das seiner Familie gehabt. Bereits im Dezember 1945 hatte er durch das Rote Kreuz erfahren, dass seine Frau, seine Tochter, sein Sohn, seine Mutter und seine Schwiegereltern aus Frankfurt deportiert worden waren. Obwohl er sich fortwährend Vorwürfe machte, er hätte nicht die Charakterstärke, das Land der Mörder zu meiden, hatte er sich sofort entschlossen, das Angebot anzunehmen, als Dolmetscher nach Nürnberg zu gehen. »Ein Zufallstreffer«, berichtete er Betsy, »aber ich empfand ihn als einen Fingerzeig des Himmels.«

Zum ersten Mal seit dem Tag seiner Emigration hatte der ehemalige Rechtsanwalt und Notar in Nürnberg ein regelmäßiges Einkommen und eine Unterkunft, deren er sich nicht schämte. Er bewohnte das größte Zimmer in Frau von Hochfelds Wohnung. Es war ein großzügig geschnittener, mit dem Kunstgeschmack der Hochgebildeten eingerichteter Raum, der noch im Hungerwinter 1945/46 vom Selbstbewusstsein des deutschen Adels zeugte. Die cremefarbenen Tapeten hatten eine feine Samtstruktur, die Bücherschränke waren mit Klassikerausgaben und Kunstbänden bestückt, die Ledersessel erinnerten an die Stühle in elitären englischen Clubs. An der Wand hingen in Goldrahmen gefasste Kopien von Adolph Menzels »Flötenkonzert in Sanssouci« und Böcklins »Toteninsel«. Fritz kannte beide Bilder; sie hatten im Wohnzimmer seiner Eltern gehangen. Zu seiner Verblüffung erzählte er ihr, als sei dies selbstverständlich für einen Mann mit seiner Vergangenheit, von der Begeisterung seiner Mutter für Böcklin. Obwohl Frau von Hochfeld zu diesem Zeitpunkt lediglich Fritzens Namen kannte und durch die Einweisung wusste, dass er »bei den Amis« in Diensten stand, hatte sie mehr verstanden, als er ihr hatte mitteilen wollen. »Entschuldigung«, sagte er verlegen, »ich rede sonst nicht so viel.«

»Ich finde es gut, wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen«, beruhigte ihn Frau von Hochfeld.

Genau wie es seine Mutter getan hatte, bezeichnete sie ihre Gardinen als »Portieren«. Auch die Art, wie sie eine silberne Schale zurechtrückte und dass in einem Biedermeierschrank silberne Messerbänkchen standen, setzten Erinnerungen frei.

»Fehlt Ihnen was?«, fragte sie besorgt.

»Nur Haltung.«

»Wie können Sie so was sagen? Die meisten Leute können das Wort noch nicht einmal mehr buchstabieren.«

Obwohl Fritz es zunächst nicht wahrhaben wollte, hatte er nach seinem Einzug bei Frau von Hochfeld sehr bald das Gefühl, er wäre trotz allem, was die Nazis ihm angetan hatten, in seine alte Welt zurückgekehrt. Er schämte sich seiner Wehmut, und noch mehr beschämte ihn seine Zufriedenheit. Am meisten beunruhigte ihn jedoch seine Sympathie für eine Frau, deren Mann nicht nur für Hitlerdeutschland gekämpft, sondern auch daran geglaubt hatte. Frau Adelheid scheute sich nicht, die Wahrheit zuzugeben. Fritz, immer noch geübt im objektiven Denken, das sein Berufsbild so lange bestimmt hatte, sträubte sich indes, der Witwe die Sünden ihres Gemahls anzulasten.

Adelheid von Hochfeld hatte die tiefe, melodische Stimme, die ihn seit jeher bei Frauen erregt hatte, und sie hatte Brüste, denen die Mangelernährung wenig von ihrer Festigkeit und nichts von der Anziehungskraft auf einen Mann in noch guten Jahren genommen hatte. Ihre Vornamen – nebst Adelheid noch Beatrix, Alexandra und Louisa-Marie – kamen Fritz vor, als entstammten sie einem Drama von Kleist, noch in seiner Studentenzeit sein Lieblingsdichter.

Frau Adelheid türmte ihr üppiges blondes Haar zur Hochfrisur und trug eine moosgrüne Trachtenjacke, die Fritz an die Wanderungen mit seinen Eltern in Oberbayern erinnerte. Die kinderlose Witwe war in Fritzens Alter, wirkte allerdings jünger, als sie war, und sehr viel jünger, als er sich fühlte. Sie war groß und vollschlank und dies, obgleich sie zu den »Normalverbrauchern« zählte, von denen es in allen vier Zonen hieß, ihre Rationen wären zu knapp zum Leben und zu groß zum Sterben. Frauen mit einem Hang zur Üppigkeit hatten Fritz schon früh fasziniert; dass sich sein Geschmack so wenig verändert hatte, machte ihn nachdenklich.

Noch mehr als ihre äußere Erscheinung gefiel Fritz, dass Frau Adelheid es nie versäumte, ihn mit seinem Doktortitel anzureden. Kurz nach seinem Einzug sagte er ihr, dies sei er durch seine Zeit in Holland absolut nicht mehr gewohnt, sie widersprach ihm jedoch mit dem Charme, von dem er fand, er sei beredter Ausdruck von Bildung und Kultur. »Für Ihren Doktor«, erklärte sie, »haben Sie gearbeitet. Darauf haben Sie Anspruch.«

Fritz imponierte, dass Adelheid von Hochfeld ihr Los nicht bejammerte. Schon gar nicht versuchte sie, ihre Vergangenheit zu retuschieren, und mit der Gegenwart arrangierte sie sich geschickt und klug. Durch die Umstände war sie gezwungen, ihr gepflegtes Heim mit Flüchtlingen aus dem Osten zu teilen, die sie in der Zeit der überschaubaren Wertfeststellungen allenfalls als »Leute« bezeichnet hätte. In der herrschaftlichen Wohnung logierte nun die Witwe eines Spenglers aus Oppeln. Laut wohnungsamtlicher Auflage stand der Frau ein Zimmer mit »täglicher Küchenbenutzung zu und ein Mal in der Woche die Benutzung des Bads mit Bezug von heißem Wasser, soweit dies möglich ist«. Frau Konietzkys harte oberschlesische Stimme empfand ihre Wirtin wider Willen als Kränkung für bayerische Ohren, die achtjährigen Zwillinge Konietzky als Zumutung für gottesfürchtige Menschen. Die Kinder hatten beide Keuchhusten, vergaßen grundsätzlich, in der Toilette die Wasserspülung zu ziehen, wachten nachts schreiend auf und brüllten markerschütternd »Die Polen sind da«.

Den »kleinen Salon« mit einer künstlerisch bemerkenswerten Sitzgruppe aus den Deutschen Werkstätten hatte Frau von Hochfeld an den ehemaligen Oberlehrer Hugo Winter und seine Ehefrau Edeltraut abtreten müssen. Dem Paar stand ebenfalls Bad- und Küchenbenutzung zu. Die Winters waren aus Königsberg nach Nürnberg geflüchtet; obgleich ihre Vermieterin sie korrekt behandelte, ließen sie immer wieder durchblicken, dass sie Bayern für einen noch nicht zivilisierten Teil des Deutschen Reichs und seine Bewohner für sprachlich retardiert und unbegründet arrogant hielten.

Anders als viele ihrer Bekannten und beide Schwägerinnen hatte Adelheid von Hochfeld ihren Adelstitel nicht erheiraten müssen; ihre Familie war seit Jahrhunderten in der Würzburger Gegend ansässig und hatte durch den Krieg nichts verloren außer ihren Glauben an Führer und Vaterland. Dass sich ausgerechnet Frau von Hochfelds Wohnverhältnisse so sehr zum Nachteil veränderten, hing nicht allein mit dem Umstand zusammen, dass die Offiziellen für Wohnraumbewirtschaftung schonungslos mit der besitzenden Klasse verfuhren. Bei der Witwe von Hochfeld hatte sowohl das städtische Wohnungsamt zugegriffen als auch das amerikanische Besatzungsamt. Anders als der Jurist Friedrich Feuereisen, der schon in der Mittelstufe des humanistischen Lessinggymnasiums in Frankfurt Objektivität und Gerechtigkeit als Maß der Dinge zu schätzen gelernt hatte, empfanden die Amerikaner Sippenhaft durchaus als legitim im Umgang mit den Besiegten. Generalmajor Victor Franz Ludwig von Hochfeld, hochdekoriert im Feldzug gegen Russland und dann in der letzten Kriegsphase in der Normandie nach einem Luftangriff auf sein Dienstfahrzeug ums Leben gekommen, war Parteimitglied der allerersten Stunde gewesen. Im Zivilleben Architekt und ein Stadtplaner von überlokalem Renommee, hatte von Hochfeld in seiner Vaterstadt viel dazu beigetragen, um den Erfolg des Marksteine setzenden Nürnberger Reichsparteitags vom Jahr 1935 zu sichern.

Es blieb nicht aus, dass nach dem Krieg gerade dieser Einsatz seiner Witwe angelastet wurde. Dass ihr von den Amerikanern ein Mieter jüdischen Glaubens zugewiesen wurde – nach nur knapp einer Woche war sie sich über dessen Konfessionszugehörigkeit im Klaren –, empfand sie keineswegs als eine ironische Pointe des Schicksals. Ganz im Gegensatz zu dem, was ihr ihre Freunde hämisch unterstellten, wertete sie die Einquartierung des »hochgebildeten Mannes aus Amsterdam« als Vertrauensbeweis »unserer werten Herren Befreier«. Sie sei, ließ sie ihre grinsenden Verwandten und Bekannten wissen, »weiß Gott mehr als zufrieden«.

Dr. Feuereisen gefiel Frau von Hochfeld unabhängig von allen politischen Überlegungen und den zeitüblichen Anstrengungen, der Demokratie Reverenz zu erweisen. Fritzens Augen, die Frau von Hochfeld in ihrem Tagebuch poetisch als »dichternah und weltverloren« bezeichnete, rührten sie. Seine Zurückhaltung und seine Höflichkeit taten ihr gut. Nie ließ er sie fühlen, dass er zu den Siegern zählte und sie zu den Besiegten. Dass Fritz Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen war, imponierte ihr. »Ein ganz hohes Tier«, berichtete sie ihrer Schwägerin Sieglinde, die nicht allein zu Neid, sondern auch zu unglaublichen Gehässigkeiten neigte. »So einer wird nicht irgendwo einquartiert.«

»Nur bei ehemaligen Parteimitgliedern, hab ich mir sagen lassen«, erwiderte die Schwägerin. Politisch war sie in einem Zustand, den die Umgangssprache als »fein raus« umschrieb. Ihr Mann hatte sich trotz ihres ständigen Drängens nicht dazu aufraffen können, Mitglied der NSDAP zu werden; nun galt er als »politisch nicht belastet«. Nirgends war vermerkt worden, dass der verbeamtete Hochbauingenieur zur Wiederverwendung 1938 in der Nacht der brennenden Synagogen als einer der ersten die Wohnung seines ehemaligen jüdischen Hausarztes geplündert hatte.

Frau von Hochfeld stellte den schönen Empireschreibtisch von ihrem Schlafzimmer, wohin sie ihn vor den oberschlesischen Zwillingen gerettet hatte, in den »Salon vom Herrn Doktor«. Der saß am frühen Nachmittag des dritten Freitags im April an dem Prachtstück bayerischer Handwerkskunst und las zum wiederholten Mal den unfassbaren, sein Herz zersprengenden Brief aus seiner einstigen Heimatstadt.

Es war Karfreitag. Einige der zerstörten Kirchen hatte man mit Notdächern versehen, vor vielen war gekehrt worden. Viele dunkel gekleidete Frauen waren unterwegs, klapperdürre Greise und junge Kriegsversehrte in umgefärbten Uniformmänteln und auf Krücken. Kinder mit sorgfältig gezogenem Scheitel liefen an der Hand der Mutter. Die Ermahnung »Heb deine Füße« hatte zwei Weltkriege, Inflation und Hungersnot überdauert. Kleine Mädchen hatten Puppen im Arm, die besser gekleidet waren als sie selbst, Buben schauten sehnsüchtig zu den Trümmergrundstücken, in denen sie sonst tobten. Wenn die Mutter es nicht sah, winkten sie einem vorbeifahrenden Jeep nach. In den Kirchen, in denen es hieß, Gott höre alles, beteten sie, er möge ihnen eine Schiffskarte nach Amerika unter das Kopfkissen legen. Zu Ostern hatte es in der amerikanischen Zone für Kinder über sechs Jahren eine Sonderzuteilung von einem Ei gegeben.

Für das Militärgericht in Nürnberg war der Karfreitag ein gewöhnlicher Werktag. Morgens erklärte sich der ehemalige Generalgouverneur Polens, Hans Frank, vor dem internationalen Tribunal als erster der sechsundzwanzig Angeklagten für schuldig. In der Mittagspause wurde dem Dolmetscher zur speziellen Verwendung, Friedrich Feuereisen, der auf der Poststelle für Zivilbedienstete irrtümlich als »Fredric Fereisen« geführt wurde, trotz der falschen Eintragung ein Brief aus Frankfurt ausgehändigt.

»Aus Polen«, wunderte sich der Postverteiler, schaute Fritz streng an und fasste sich an die Stirn. Der Mann stammte aus Minnesota und galt in den Augen der Armee als exzellenter Kenner Europas. In diesem Fall hatte Corporal Kingston allerdings übersehen, dass es nicht nur das nun zu Polen gehörende Frankfurt an der Oder gab. Fritzens Vaterstadt, in der das Hauptquartier der amerikanischen Zone untergebracht war, war keine zweihundert Kilometer entfernt.

»Am Main«, murmelte Fritz in seiner Muttersprache. »Polen hat mir der liebe Gott erspart.« Seine Lippen brannten, als er das sagte. Auch sein Kopf fing Feuer.

Er verzichtete auf das den Dolmetschern zustehende Mittagessen und sogar auf die beiden Tassen Kaffee, auf die er sich jeden Tag aufs Neue freute. Erleichtert stellte er fest, dass die Sitzung ausfiel, für die er am Nachmittag eingesetzt war. Wie ein Mann, der um sein Leben rennt, hetzte er zu Frau von Hochfelds Wohnung. Der Regulator in seinem Zimmer schlug drei, als er den Brief aus Frankfurt aufriss. Als die Sonne unterging, die den Tag zu einem besonderen gemacht hatte, saß er immer noch, tränenblind und betäubt, am Schreibtisch.

Einmal meinte Frau von Hochfeld, sie hätte ihren Untermieter schluchzen gehört, jedoch hatte sie ihrer Lebtag nicht ohne Not zugegeben, dass sie die Angewohnheit hatte, an fremder Menschen Türen zu lauschen. So musste sie auf die Bekundung einer Teilnahme verzichten, die sie als ihre Pflicht empfand – in Anbetracht der Konfession ihres Mieters mochte Frau von Hochfeld weder in Gedanken noch in dem daraus resultierenden Selbstgespräch von »Christenpflicht« sprechen.

»Komm uns so bald wie möglich besuchen«, hatte Betsy an ihren Schwiegersohn geschrieben. »Und wenn du nachts um drei vor der Tür stehst. Ehe wir Dich nicht sehen und anfassen können, werden wir nicht wirklich davon überzeugt sein, dass es Dich gibt. Dass Gott gleich drei Wunder in einer einzigen Familie getan hat und unsere Fanny, Dich und mich alte Frau hat überleben lassen, das werde ich bis zu meiner letzten Stunde nicht begreifen. Er muss sich verzählt haben, unser unfehlbarer Allmächtiger. Wir aber werden den Rest unseres Lebens nötig haben, um einander zu erklären, warum es uns noch gibt. Wie hätte ich Deiner lieben Mutter gewünscht, dass sie das hätte erleben können. Sie hat bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgegeben, Dich wiederzusehen. Ich weiß gar nicht, ob ich Dir das schreiben darf. Auch das ist typisch für uns: Wir wissen nie, ob wir reden dürfen oder ob wir schweigen müssen. Ich zum Beispiel bringe es nicht fertig, mit Fanny über ihre Mutter und ihren Bruder zu reden und als sie es neulich doch tat, konnte ich nicht über Victoria und Salo sprechen. Und auch nicht über Johann Isidor, der lange bevor er in Theresienstadt an Hunger starb, gesagt hat: ›Ich hab mich selbst überlebt.‹

Erst nach langem Grübeln ist mir klar geworden, dass Du von der hiesigen Jüdischen Gemeinde meine Adresse erhalten haben musst, ehe ich im Baumweg war, um Fanny dort anzumelden. Anna und Hans sind gar nicht auf den Gedanken gekommen, das zu tun. Sie haben jahrelang gezittert, einer könnte dahinterkommen, dass Fanny jüdisch ist, und sie dann an die Gestapo verraten. Fanny wird heute noch blass, wenn sie im Hausflur der Hausmeisterin von damals begegnet, obgleich die inzwischen Angst vor uns hat. Hans und Anna wohnen seit Kriegsende in ihrer Wohnung und sie mit ihrem Gatten, dem gnadenlosen Herrn Blockwart, in der Mansarde. Falls Du Dich erinnerst: In Frankfurt hat Justitia am Gerechtigkeitsbrunnen vor dem Frankfurter Römer nie eine Augenbinde getragen! Erwin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ach Fritz, Erinnerungen, nichts als Erinnerungen, die einem das Herz brechen!

Du wirst über Fanny staunen. Nicht nur weil sie nach meinem Dafürhalten Dir so ähnlich sieht, wie nur eine Tochter ihrem Vater ähnlich sehen kann. Sie ist auch sonst von Deiner Art, zurückhaltend, bedächtig und auch klug. So nach und nach merke ich (wir beide kennen uns ja noch kein Vierteljahr), dass sie trotz allem, was sie erlebt hat, auf das Leben zugeht. Zwar lacht sie selten, doch hat sie Humor und zwar einen, der mich manchmal an den von Erwin erinnert. Ach, wie sich mein unerreichbarer Sohn freuen würde, Fritz, dass Du überlebt hast. Er hat seinen Schwager sehr geschätzt – solange wir miteinander in Verbindung stehen konnten, hat er Dich immer erwähnt. Bisher ist es mir noch nicht einmal gelungen herauszufinden, ob man nach Palästina schreiben kann oder ob von dort Briefe nach hier befördert werden. Hans geht jede Woche zur Post, um sich zu erkundigen.

Komm, lieber, lieber Fritz, komm. Komm, ehe es Mai wird und die Ungeduld uns alle umbringt. Die Ungeduld und die Freude! Mein Gott, dass Freude den Menschen so zu beuteln vermag wie Sorge und Angst. Fanny läuft jedes Mal aus dem Haus, wenn sie auf der Straße ein Auto sieht, und stundenlang sitzt sie am Fenster. Bisher wollte sie durchaus nicht zur Schule gehen, weil sie sich fürchtet, mit Menschen zusammenzukommen, die nichts von dem wissen, was ihr angetan wurde. Seit Deinem Brief ist sie jedoch fest entschlossen, sich für Dich zu überwinden. Sie betont das Wort Vater so, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, der einen Vater hat. Ich habe jedes Mal Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Stell Dich bloß darauf ein, Fritz, dass Deine Schwiegermutter nicht mehr die starke Betsy ist, die den Ton angibt, sondern eine alte Frau, die immer einen braucht, der ihr sagt, was sie zu tun hat.«

Fritz faltete den Brief zusammen. Immer wieder versuchte er, sich eine alte Frau vorzustellen, die Mann, Tochter und Enkelkind in den Tod hatte gehen sehen und die Gott zum Überleben verurteilt hatte. Aus den Mosaiksteinen seiner furchtbaren Fantasie wurde jedoch nie das Stück Wirklichkeit, das er brauchte, um zu verstehen. Er merkte nicht, dass er fröstelte, dass er sich klein machte wie ein Mensch, der die Häscher anrücken sieht, sich aber nicht mehr bewegen kann, weil er bereits im Vorfeld der Hölle erstarrt ist. Die Zimmerdecke mit der üppigen Stuckverzierung stürzte auf ihn zu, von Menzels Bild vom Flötenkonzert in Sanssouci kamen beruhigende, vertraute, geliebte Weisen.

Noch waren die Erinnerungen ohne Schmerz, noch schaute Fritz ohne Angst zurück. Es gelang ihm gar, als wäre dies nach acht Jahren in einem Leben ohne Wurzeln und ohne Licht selbstverständlich, sich an seine Tochter zu erinnern. Er sah Fannys rötlich schimmerndes Haar, ihre grünen Augen, entdeckte den kleinen Lorbeerkranz auf ihrer Brust, den Victoria ihr zum ersten Geburtstag auf das weiße Kleid gesteckt hatte. Mit der bekränzten Tochter auf dem Arm stand Fritz vor dem Bild von Franz Marc. Drei Kühe in Rot, Senfgelb und Grün waren es gewesen. Ein meisterlicher Druck. »Eine Zumutung fürs Auge«, schimpfte Victoria, »du bist ja total übergeschnappt, einem kleinen Kind so etwas zu zeigen.«

Hatte Vicky nicht immer alles abgelehnt, was ihrem Mann gefiel? Bücher, Bilder, Menschen, seine Freunde. Hatte sie sich vielleicht deswegen geweigert, zu ihm nach Holland zu kommen? Mein Gott, Victoria, ich musste es versuchen. Sie haben es alle versucht, die Männer in meinem Alter. Es ist doch keine Sünde, wenn ein Mann hofft. Wer jene Hoffnung gab verloren und böslich sie verloren gab, der wäre besser ungeboren; denn lebend wohnt er schon im Grab. Gottfried Keller. Meine Mutter hat das Gedicht geliebt. Ich hab’s extra für sie auswendig gelernt. Im Jahr 1938 habe ich doch geglaubt, wir würden es in Holland schaffen, Vicky. Alle vier.

Die Kerze, der Stromrationierung wegen allabendlich angezündet, brannte ihrem Ende entgegen; es war ihr flackerndes Licht, das Fritz in die Hölle der Verschonten trieb. Mit einem Mal war es ihm eine Frage von Leben und Tod, noch einmal das Gesicht seiner Frau zu sehen, doch Victoria, so erregend und katzengeheimnisvoll und mit dem Temperament einer Tigerin, so unnachgiebig und immer voller Widersprüche, erschien nicht. Hörte sie nicht, dass Fritz nach ihr rief, sah sie nicht, dass er die Arme ausstreckte? Nur ein einziges Mal kam sie zurück. Es war in Brixen auf der Hochzeitsreise. Die Sonne schien, der Ärmel ihrer Bluse blähte sich im Wind. Die schöne Grazile stand in einem Garten mit blühendem Mohn und gelben Rosen, doch sie hatte kein Gesicht. Verzeih, Vicky, verzeih die Hochzeitsnacht. Ich war jung. Und enttäuscht!

Als Fritz zu Bett ging, schlug eine Kirchenglocke zwölf Mal. Er zählte mit, verkroch sich beim letzten Schlag unter das schwere Federbett und malte sich ein Leben aus, in dem ein Mann sein Nachtgebet sprach, ehe er einschlief, doch obwohl alle sagten, Fritz Feuereisen hätte ein unglaublich gutes Gedächtnis, fiel ihm das Wort nicht ein, das er Gott zu sagen hatte. Später sah Fritz, dass der Kalender den 10. Mai 1940 anzeigte, die Deutschen waren in Holland einmarschiert.

In dem Moment, da er die Stiefel der Wehrmacht sah, färbte sich der Himmel sturmschwarz. Gott, zu dem er nicht hatte sprechen können, befahl Friedrich Feuereisen, sich auf der Stelle zu entscheiden, ob er glücklich war, dass seine Tochter lebte, oder ob er sterben wollte, weil die Nazis seinen Sohn ermordet hatten? Als Gott mit Blitz drohte, weil Fritz die Augen zumachte und den Kopf schüttelte, obwohl er als Jurist doch wissen musste, was vor Gericht eine Verweigerung bedeutete, hörte er die Schreie. Er wusste sofort, dass die achtjährigen Zwillinge aus Oppeln um Hilfe riefen, denn ihr Vater war vor ihren Augen erschlagen worden. Es verwunderte ihn, dass die Mutter sich nicht über ihre Kinder beugte – wie es seine Mutter getan hatte, sobald er nachts in Not geriet. Er sagte sich jedoch, Frau Konietzky wäre zu sehr an Kindertränen gewöhnt, wahrscheinlich wäre ihre Seele stumpf geworden und sie gar nicht mehr fähig, mit einem weinenden Kind zu leiden. Über den jüdischen Vater jedoch, der nach seinem ermordeten Sohn rief, beugte sich Victor von Hochfelds Witwe.

Am letzten Urlaubstag seines Lebens hatte der Generalmajor den Keller aufgeräumt und eine Spätlese vom Rhein aus dem Jahr 1937 aufgestöbert. Auf leeren Magen hatte er die ganze Flasche ausgetrunken, und noch vor dem letzten Schluck hatte er in einer weinerlichen Stimmung, die seinem Naturell absolut nicht entsprach, seiner erschrockenen Frau vom »verdammt dreckigen Krieg gegen die Zivilbevölkerung« im Osten erzählt. »Aber keiner von uns«, hatte der deutsche Held auf der Kellertreppe der Gattin klargemacht, »darf sich heute zu schade sein, sich die Hände schmutzig zu machen. Auch wir Offiziere nicht. Wer vergisst, dass es die Juden sind, die schuld am deutschen Unglück sind, versündigt sich an seinen Vätern und an seinen Kindern.«

»Wer ist Salo?«, fragte Adelheid.

Sie trug einen Hausmantel aus schwarzer Seide, der mit goldenen Blumen und roten Vögeln bestickt war, und malte mit ihrer Taschenlampe einen Kreis von besänftigendem Licht an die Wand. Fritz erkannte die Königin der Nacht, während das Orchester noch die Ouvertüre zur »Zauberflöte« spielte. Obwohl er sich sofort die Ohren zuhielt und seinem Herzen Kraft, Würde und Anstand befahl, spürte er den Schmerz und machte sich bereit zu fliehen. Der Ritter fand den Graben, über den er zu springen hatte, aber die Dämonen der Versuchung waren nicht aufzuhalten. Salo hörte nicht auf zu schreien, und doch gelang es dem Flüchtenden, seinem Sohn klarzumachen, dass Gott Kinder in Not nie im Stich ließ. Fritz versprach dem zitternden Jungen, sie würden spätestens mittags beide in Sicherheit sein. Gemeinsam sprachen sie das Gebet für Menschen auf der Reise. In dem Moment jedoch, da dieser starke, mutige, zu allem fähige und zu allem entschlossene Vater sich aufrichten wollte, stolperte er und stürzte in die Dunkelheit zurück. Für immer.

»Ich bin deutsche Federbetten nicht mehr gewohnt«, sagte Fritz. »Sie sind so schwer. Da muss man ja Albträume kriegen.«

»Es wird alles gut«, sagte die, die gelernt hatte, nur nach vorn zu schauen.

Ihre Stimme war tief und weich. Im Schein der Taschenlampe hatte ihr Haar die Farbe des Sommers; es lag wie ein fein gewebtes Tuch auf ihren Schultern. Ihre Haut duftete wie Rosen in der Mittagssonne. Die Rosenseife hatte Fritz am Tag zuvor aus dem PX mitgebracht. Frau von Hochfeld war wie ein junges Mädchen errötet. Gelächelt hatte sie und den Schenkenden, der das Lächeln einer dankbaren Frau nicht mehr gewohnt war, an Mona Lisa erinnert. Nun beruhigten die Hände der Gioconda seinen bebenden Körper. Rosenhände rieben ihm die Verzweiflung und die Angst des Versagers von der Stirn.

»Was hast du?«, fragte sie. »Du musst geträumt haben. Du hast im Schlaf geschrien, als wären alle Furien der Welt hinter dir her. Ich hab dich gehört, obwohl die Zwillinge wie die Wilden getobt haben.«

Dem Mann, der erst ein paar Stunden zuvor erfahren hatte, dass seine Frau und sein Sohn umgekommen waren, fiel nicht auf, dass sie ihn geduzt hatte. Dass ihn Fremde duzten, war Fritz aus Holland gewohnt. Am Anfang seiner Emigration hatte ihm das holländische Du Hoffnungen gemacht, er würde sein Heimweh überwinden lernen und vergessen, dass ihm seine Heimat die Lebenswurzel abgeschlagen hatte, doch er hatte sehr schnell gemerkt, dass Vergessen nur ein Wort wie andere ist und dass sich der Mensch nie von seinen Erinnerungen befreit.

Im Moment des Geschehens ließ die Frau mit dem Lächeln der Mona Lisa den charakterfesten Mann mit Grundsätzen vergessen, was er nie hätte vergessen dürfen. Er schloss die Augen und lief in das Land der Täter. Als wäre er ein Mann, von dem keiner Rechenschaft forderte, gab er seinem Körper nach, doch es gelang ihm keinen Herzschlag lang zu verdrängen, was er mit seiner Schwäche den Toten antat – seiner Frau, seinem Sohn, seiner Mutter, dem Schwiegervater und den Millionen Juden, die in Deutschland ermordet worden waren.

»Ich hab gedacht, das kann mir nicht passieren«, flüsterte Adelheid.

»Das denke ich immer noch«, sagte er.

Als sich das Licht der Nacht taggrau färbte und eine Amsel in einer frühlingsgrünen Linde jubilierte, stieg die Königin der Nacht von ihrem Thron. Sie wickelte sich in ihren Morgenmantel und zog behutsam die Tür vom Zimmer ihres Untermieters von außen zu. Ihr Schritt war leicht, aber der Besiegte hörte sie im Flur gegen eine Holzkiste stoßen. Er meinte, er würde auch sein Herz schlagen und in seinen Schläfen die Trommeln des Zorns hören, doch da fragte er sich schon nicht mehr, weshalb er gestrauchelt war und warum sein Gefühl für Anstand, Würde und Respekt ihn nicht hatte zurückhalten können. Das Mal des Brudermords auf Kains Stirn fiel ihm ein. Der Schmerz spaltete Kopf und Körper, doch noch quälender als die Scham war ihm die Gewissheit, dass er sich die Nacht vom 19. auf den 20. April 1946 nie würde verzeihen können.

»Ich hab uns den Frühstückstisch nicht in der Küche gedeckt, sondern in meinem Zimmer«, sagte Adelheid. »Heute ist ja Ostersamstag. So ein bisschen Feiertagsgefühl braucht der Mensch. In schlechten Zeiten erst recht, sage ich immer. Weihnachten hab ich für mich ganz allein eine Kerze angezündet und Stille Nacht gesungen. Kannst du das verstehen?«

»Ich singe nie Stille Nacht.«

Das Wohnungsamt hatte Frau von Hochfeld nur ihr ehemaliges Schlafzimmer gelassen. Dort schlief sie, las, strickte aus den Pullovern ihres Mannes wollene Damensocken und wärmende Westen, stopfte Strümpfe und Unterwäsche, grübelte über Recht und Ungerechtigkeit nach und machte ihrem toten Mann Tag für Tag Vorwürfe, dass er »die Dinge, die kommen mussten, nicht hatte kommen sehen« und »bis zuletzt aufs falsche Pferd gesetzt« hätte. Mindestens zwei Mal in der Woche schrieb Frau von Hochfeld ausführliche Eingaben sowohl an die deutschen als auch an die amerikanischen Behörden. Es war ihr Bedürfnis, ausführlich darzulegen, dass sie weder in der Partei noch in einer anderen nationalsozialistischen Organisation gewesen war. Sie bat, »ihren berechtigten Anspruch auf die Benutzung eines weiteren Zimmers ihrer Wohnung wohlwollend zu prüfen«.

Ihr Schlaf-Wohnzimmer hatte Adelheid mit so vielen Möbeln eingerichtet, wie sie vor ihren aufoktroyierten Mietern hatte retten können. Von der breiten Chaiselongue, die sie in der Nacht hastig verlassen hatte, war das Bettzeug weggeräumt, die standesgemäßen Seidenkissen und das violette Wollplaid, das mit den Gardinen korrespondierte, lagen an ihrem Platz. Am Fenster stand ein zierlicher Damenschreibtisch aus dem späten 18. Jahrhundert, griffbereit in einem geblümten Porzellangefäß war ein Gänsekiel mit Schreibfeder. Auf das silberne Tintenfass, ein Erbstück ihrer Großtante Amalie in Würzburg, war sie besonders stolz. Noch vor einer Stunde hatte ein silberner Fotorahmen mit einem Porträt des toten Generalmajors in Uniform und mit allen Orden auf dem Schreibtisch gestanden. Als seine Witwe Kaffee einschenkte, stellte Fritz fest, dass das Bild verschwunden war. Obwohl er gerade das nicht wollte, lächelte er; es genierte ihn, als er gewahr wurde, dass Adelheid ihn beobachtete.

»Der Kaffee aus dem PX«, schwärmte sie beim ersten Schluck, »ist jede Sünde dieser Welt wert.«

»Nicht jede«, antwortete er.

»Wann willst du fahren und wie?«

»Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler! Ich weiß nur, dass ich in acht Tagen zum ersten Mal vier Tage am Stück frei habe. Die muss ich unbedingt nutzen. Sonst heißt es sechs Wochen warten, bis ich wieder dran bin. Ich meine, ein Vater braucht mindestens vier Tage, um seine Tochter kennenzulernen. Wenn wir uns auf der Straße begegnen würden, würden wir aneinander vorbeigehen.«

»So ging’s mir mit meinem Cousin, als er aus dem französischen Gefangenenlager im Badischen kam. Er war vollkommen verändert. Ich hab ihn nur noch an der Stimme erkannt.«

Es gab noch keinen regelmäßigen Eisenbahnverkehr zwischen Nürnberg und Frankfurt. In der Fahrbereitschaft für die Bediensteten des Militärtribunals gab es jedoch einen außergewöhnlichen Mann, dem es so viel Freude machte, Gutes zu tun, als wäre er gerade als Pfadfinder aufgenommen worden. Washington Gaylord Jones hieß er, war Corporal, stammte aus Charleston und hatte seiner Mutter, deren ältester Sohn in den Ardennen gefallen war, in die Hand versprochen, »jedem verfluchten Deutschen in seinen dreckigen Hintern zu treten«. Kaum im Feindesland, war Washington Gaylord allerdings wortbrüchig geworden. Für den Fall, er könnte abgerissenen Kindern mit bettelnden Augen oder gar einem schönen deutschen Frollein begegnen, das ihn seine Sehnsucht nach seinen drei kleinen Töchtern und dem Käsekuchen seiner »Mum« wenigstens kurz vergessen ließ, ging er nie ohne Kaugummi, Schokolade und Zigaretten auf die Straße.

Fritz hatte den passionierten Philanthropen durch einen jener absurden Zufälle kennengelernt, die typisch für eine Zeit waren, in der sich die Menschen weder auf ihre Erfahrungen noch auf ihren Instinkt und schon gar nicht auf ihre Hoffnungen verlassen konnten. Corporal Jones hatte ihn in der Kantine angesprochen und sehr ausführlich und sehr bewegend von seiner Heimat und seinem Heimweh erzählt. Er hatte sein Erdbeereis schmelzen lassen, drei Tassen Kaffee getrunken, die vierte über seine Hose gegossen, den Koch einen »bloody bastard« genannt und Fritz stammelnd gebeten, in seinem Namen einen Brief an seine Frau zu schreiben. Mrs Jones waren nämlich so starke Zweifel an der Treue ihres Mannes gekommen, dass sie ihm mit Scheidung gedroht hatte. Washington war indes ein Mann der Tat, nicht der Schrift – für das fällige Dementi nach Charleston brauchte er, wie er klarsichtig erkannt hatte, »einen Mann mit Grips, der sich in der Welt auskennt«. Dass er mit Fritz die richtige Wahl getroffen hatte, bewies der Antwortbrief von Mrs Jones. Ihrem beglückten Mann schwor sie postwendend Liebe und Treue bis in den Tod. Zum guten Schluss zitierte sie zwei Zeilen aus einem Shakespeare-Sonett, was für Fritz, als er den Brief zu lesen bekam, ein todsicherer Beweis war, dass die entzückte Gattin ebenfalls einen Ghostwriter gefunden hatte.

Fortan nannte Washington den bewunderten Verfasser vom »schönsten Liebesbrief, den ich je in meinem Leben geschrieben habe«, Frizzie. Dem schlug er vor, er solle ihn »wie das Volk zu Hause« Washi nennen. Sehr glücklich war Washi mit der Bitte, er solle mit Fritz nach Frankfurt fahren. Dort hatte er nämlich auf einer Dienstreise ein besonders entgegenkommendes Frollein kennengelernt. Sie hatte einen Busen wie Jane Russell in dem Erfolgsfilm »Geächtet«, war blond, bereitwillig und immer fröhlich. Wenn sie »Auf der Lüneburger Heide« oder »Schwarzbraun ist die Haselnuss« sang, fühlte sich Washi Europas Kultur ganz nah. Träumte die schöne Blonde, was sie ihm in Ermangelung einer gemeinsamen Sprache allerdings nie verriet, dann stand sie in weißen Shorts an Bord eines Schiffs und reiste als Soldatenbraut nach Amerika.

Washi nannte seinen Frankfurter Sündenfall Veronika, obgleich sie Ortrud hieß. Für die Freuden auf ihrer schmalen Couch bedankte er sich mit Nylonstrümpfen, die spitze Entzückensschreie auslösten und die ihn ebenso stimulierten wie ihre festen Brüste. Aus Nürnberg brachte der Mann mit den vollen Taschen Stangen von »Chesterfield« und kiloweise Kaffee mit, Whisky für die depressive Mutter, die noch im Februar 1945 an die Wunderwaffe geglaubt hatte, und Schokolade für Bruder Hermann-Dietrich. Der hatte so geschickte Finger, dass er bei jedem Besuch Washi die Packung mit Präservativen klaute, die Soldaten beim Verlassen des Militärgeländes ständig mit sich zu führen hatten.

Washi war ein Meister der Organisation und Improvisation. Nach nur zwei Tagen hatte er Benzin für die Fahrt nach Frankfurt und zurück beschafft und für sich die Erlaubnis, einmal im Frankfurter PX einzukaufen und im Sperrgebiet vier Tage im Gästehaus für durchreisendes US-Militär zu übernachten. Der Weg in die Thüringer Straße 11 war ihm noch bekannt. Er war nämlich der dunkelhäutige Jeepfahrer mit dem imponierenden Helm und der ansteckenden Fröhlichkeit, der vor vier Wochen im Namen seines Freundes »Frizzie« das Paket abgeliefert hatte.

»Dem Paket verdanken wir unsere Reise«, erklärte ihm Fritz.

»Versteh ich nicht, aber meine Oma hat immer gesagt, man muss nicht alles verstehen.«

»Recht hat sie! Je weniger du von der Welt verstehst, desto besser ergeht es dir.«

Der 29. April, ein Montag, war bereits in den Mai gesprungen. Die Apfelbäume und der Flieder standen in voller Blüte, Schwalben flogen den Sommer ein, die Sonne vergoldete das noch unreife Korn auf den Feldern, das Wasser in Fluss, Bächen und Teichen und selbst die Trümmer in den Städten und die zerschossenen Häuser in den Dörfern. Die achtundachtzigste Zuteilungsperiode für Lebensmittel begann ebenfalls mit froher Botschaft. Zum ersten Mal seit Kriegsende erhielt die Bevölkerung eine Zuckerzuteilung. Die beliebte Revuetänzerin Marika Rökk, Star der Filme »Es war eine rauschende Ballnacht« und »Frauen sind doch bessere Diplomaten«, erhielt wegen ihrer Verbindungen zu den Nationalsozialisten von der amerikanischen Militärregierung Auftrittsverbot. Washi traf auf eine deutsche Vogelscheuche, er nannte sie »a fucking German« und requirierte ihren grünen Jägerhut. Der Hut mit einer langen rotbraunen Feder löste seine Zunge noch mehr als sonst. Seinen Redestrom unterbrach er nur noch, um den Kaugummi zu wechseln.

Fritz musste sich Mühe geben, Washis verschlungenen Memoiren zu folgen. Weil beide Joseph hießen und Jake genannt wurden, verwechselte er den gefallenen Bruder häufig mit dem Vater, der die Familie verlassen hatte, während seine Frau bei ihrer sterbenden Mutter war und seine Kinder in der Kirche um die Genesung der geliebten Großmutter beteten. Bei der Fahrt durch das zerstörte Würzburg versuchte Fritz hartnäckig, sich vorzumachen, die Stadt wäre für ihn eine ohne Bedeutung, doch er hatte in Würzburg nicht nur den Frankenwein und das deutsche Barock kennengelernt, er hatte auch die Illusion begraben, seine Kommilitonen würden ihn als einen der Ihren empfinden. Seine Gedanken waren noch bei einem Studenten mit sanfter Stimme und ebensolchen Augen, den er bis zur Stunde der Erkenntnis für einen Freund gehalten hatte. Da stellte er fest, dass der Wegweiser Hanau und Offenbach anzeigte. An den Fingern zählte er ab, wie lange es her war, seit er aus seiner Vaterstadt geflüchtet war. »Acht Jahre«, sagte er in seiner Muttersprache, »nein, acht Jahre und sieben Monate.«

»Hi«, protestierte Washi, »wir haben doch ausgemacht, dass du nicht Chinesisch redest. Wen besuchst du eigentlich in Frankfurt?«

»Meine Schwiegermutter«, erwiderte Fritz. Noch brachte er es nicht über sich, mit einem Fremden über Fanny zu sprechen.

»O Gott, ich laufe meilenweit, um meine nicht zu sehen. Sie stinkt und beißt und geht mir an die Hose.«

»Ich habe meine Schwiegermutter das letzte Mal vor acht Jahren gesehen.«

»Das nennt man Glück.«

»Sie war in Theresienstadt.«

»Wo ist denn das schon wieder? Ich war nicht schlecht in Geografie, aber ich werde mich in diesem verdammten Europa meiner Lebtag nicht auskennen.«

»Theresienstadt war ein KZ. Kannst du mal bitte anhalten, Washi? Mir wird schlecht. Ich hätte heute Morgen doch lieber Tee trinken sollen.«

Mit den Trümmern von Frankfurt und dem Main schon im Blick stand Fritz würgend unter einer deutschen Eiche und erinnerte sich an Fräulein Farn mit dem Haarknoten und den vorstehenden Zähnen. Fräulein Farn hatte ihm befohlen, zehn Mal den Satz »Je größer die Stürme, desto fester wurzelt die deutsche Eiche« zu schreiben. »Das wird dich lehren, dich wie ein deutscher Junge zu benehmen«, schrie die Pädagogin.

Es entsetzte Fritz, dass er seinem Körper hatte nachgeben müssen und seine Fantasie nicht hatte bändigen können. Trotzdem war er ruhig und ohne Furcht, als er wieder in den Jeep kletterte. Nur um seinem Reisefreund die Situation zu erklären, sagte er: »Wir sind jüdisch.«

»Da sitzen wir ja im gleichen Boot«, erkannte Washi. »Neger und Juden haben beide nichts zu lachen, wenn die anderen auf die Jagd gehen.«

»Das hast du wunderbar gesagt, mein Freund. Tu mir einen Gefallen, Washi. Wenn wir an der Thüringer Straße sind, halt bitte an der Ecke an. Das letzte Stück möchte ich allein gehen.«

»Du sagst immer bitte, wenn du was willst. Das gefällt mir. So was ist unsereiner nicht gewohnt.«

Der Mann, der erst seit zehn Tagen und vier Stunden wusste, dass er seine Tochter hatte behalten dürfen, stand vor dem Haus Nummer 11 und blickte in die Richtung, in der der Jeep verschwunden war. Er hörte sich atmen und hatte das Bedürfnis, Washi zurückzuholen. Zunächst wurden die Arme steif, dann auch die Lippen. Er fragte sich – doch ohne Furcht –, ob ein Mensch es mitbekam, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte.

Die Klingelleiste an der Haustür war weiß und auffallend. Fritz sah, dass auf einem der Schilder sowohl Dietz als auch Sternberg stand. Er buchstabierte beide Namen, ging auf die Tür zu, streckte die Hand vor, wagte aber nicht, den Klingelknopf zu berühren. »Ach«, sagte er. Schon das eine Wort verstopfte seine Kehle. Er stellte den Koffer auf den Boden, hob ihn sofort wieder hoch, senkte den Kopf und war sicher, er hätte zu atmen aufgehört.

»Wo willst du hin?«, fragte das Mädchen. Sie hatte eine geblümte Kinderschürze über ihrem blauen Kleid und eine weiße Haarschleife.

Sophie schob ihre Freundin Lena zur Seite, setzte die Puppe im rosa Ballkleid zwischen die Gitterstäbe des Zauns, hielt Fritz ihre Rechte hin und knickste tief, denn sie hatte ihn aus dem Jeep steigen sehen. Weil er den Koffer hatte abstellen müssen, wusste das schlaue Kind, dass der Koffer schwer war und dass sich Artigkeit empfahl. »Bist du ein Ami?«, fragte Sophie.

Fritz wollte sie anlächeln, ihre Puppe bewundern, ihr zu erklären versuchen, weshalb er gekommen war, doch seine Lippen klebten aufeinander. Sophie fing zu kichern an, erst leise, dann laut, schließlich mit hoch erhobenen Armen. Es war der Moment, da Fritz stolperte, seinen Mut und die Orientierung verlor. Er sah den Koffer brennen, die Flammen lodern, verwechselte Zeit und Ort, verwechselte das Glück des Wiederfindens mit der Verzweiflung des Verlusts. Weshalb waren ihm die Augen nicht vertraut, in die er blickte, weshalb war seine Tochter so blond, so klein? Warum sah sie weder Vicky noch ihm ähnlich? Wie konnte sie nach allem, was ihr im Leben angetan worden war, mit einer Puppe spielen und wie ein kleines Mädchen knicksen? Trotzdem sagte er: »Ich bin dein Papa.«

»Mich legst du nicht rein«, wusste Sophie, »mich nicht.« Sie kicherte abermals, stampfte mit ihrem rechten Fuß auf, schüttelte den Kopf. Ihre langen Zöpfe schlugen ihr ins Gesicht. »Mein Papa hat nur ein Bein«, kreischte sie. »Und er ist nicht zu Hause.«

»Aber Fanny wohnt doch hier, oder nicht? Fanny Feuereisen.«

»Natürlich wohnt sie hier. Fanny ist doch meine Schwester. Aber Fanny ist auch nicht zu Hause. Sie ist in der Schule.«