Specials
Der Lärm der Hubwagen füllte das Observatorium und hallte von den Wänden wider wie das Geschrei von Raubvögeln. Die von den Rotoren hervorgerufenen Wirbelwinde fegten durch den Spalt in der Kuppel und ließen das Feuer auflodern. Staub trübte die Luft und graue Gestalten jagten durch den Eingang und gingen in den Schatten in Stellung.
"Ich brauche hier einen Arzt", erklärte Tally mit zaghafter Pretty-Stimme. "Mit meinem Freund stimmt etwas nicht."
Ein Special löste sich neben ihr aus der Dunkelheit. Er war bewaffnet. "Nicht bewegen. Wir wollen dir nicht wehtun, aber wir tun es, wenn wir müssen."
"Bitte, helft meinem Freund", sagte Tally. "Er ist krank." Je eher die Ärzte aus der Stadt sich um Zane kümmerten, umso besser. Vielleicht würden sie mehr tun können als Maddy. Der Special sagte etwas in ein Handfon und Tally warf einen Blick auf Zane. Angst flackerte in seinen Augen auf.
"Ist schon gut", sagte sie. "Sie werden dir helfen."
Zane schluckte und Tally sah, wie seine Hände zitterten und der letzte Rest seiner tapferen Fassade in sich zusammenfiel, jetzt, wo ihre Häscher eingetroffen waren.
"Ich sorge dafür, dass du geheilt wirst, so oder so", sagte sie.
"Ein medizinisches Team ist unterwegs", teilte der Special mit und Tally strahlte ihn an. Die Ärzte aus der Stadt würden Zanes Zustand vielleicht für eine Art Gehirnkrankheit halten, vielleicht würden sie auch begreifen, dass irgendwer versucht hatte, die Läsionen zu heilen, aber niemals würden sie durchschauen, wie Tally sich selbst verändert hatte. Sie konnte so tun, als sei sie nur zum Spaß mitgekommen, wie Maddy das ausgedrückt hatte. Tally war jetzt vor der Operation sicher.
Vielleicht konnte Zane auch ohne weitere Pillen wieder geheilt werden. Vielleicht konnten alle in der Stadt sich ändern. Nach ihrer Flucht im Ballon und einer weiteren "Rettung" durch die Specials würden Tally und Zane noch berühmter werden. Sie könnten irgendeine Riesenaktion lostreten, eine, gegen die auch die Specials machtlos wären.
Eine rasierklingenscharfe Stimme ertönte in den Schatten und Tally fuhr zusammen.
"Ich dachte schon, dass ich dich hier finden würde, Tally." Dr. Cable trat ins Licht und streckte ihre Hände zum Feuer, als sei sie hereingekommen, um sich aufzuwärmen.
"Hallo, Dr. Cable. Können Sie meinem Freund helfen?"
Das Wolfslächeln der Frau leuchtete in der Dunkelheit auf. "Zahnschmerzen?"
"Schlimmer." Tally schüttelte den Kopf. "Er kann sich nicht bewegen, kann kaum sprechen. Mit ihm stimmt etwas nicht."
Weitere Specials strömten in das Observatorium, drei von ihnen hielten eine Tragbahre und ihre Uniformen waren aus blauer statt aus grauer Seide. Sie schoben Tally beiseite und stellten die Bahre neben Zane ab. Er schloss die Augen.
"Mach dir keine Sorgen", sagte Dr. Cable. "Er wird bald gesund. Wir wissen ja durch euren kleinen Besuch im Krankenhaus von seinem Zustand. Offenbar hat irgendwer Zane ein paar Gehirn-Nanos zugesteckt. Gar nicht gut für seinen hübschen Kopf."
"Sie haben gewusst, dass er krank ist?" Tally sprang auf. "Warum haben Sie ihn nicht geheilt?"
Dr. Cable tätschelte ihre Schulter. "Wir haben die Nanos zum Stillstand gebracht. Aber das kleine Implantat in seinem Zahn war darauf programmiert, Kopfschmerzen zu erzeugen - falsche Symptome, um eure Motivation zu erhalten."
"Sie haben mit und gespielt", sagte Tally und sah zu, wie die Specials Zane fortbrachten.
Dr. Cable schaute sich im Observatorium um. "Ich wollte sehen, was ihr vorhattet und wohin ihr wolltet. Ich hoffte, du würdest uns zu denen führen, die für Zanes Krankheit verantwortlich sind." Sie runzelte die Stirn. "Ich wollte noch ein wenig damit warten, den Sucher zu aktivieren, aber nachdem du meinen lieben Freund Dr. Valen heute Morgen so unhöflich behandelt hast, dachte ich, ich sollte dich lieber nach Hause holen. Du bist wirklich ein Talent als Unruhestifterin."
Tally schwieg und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Der Sucher in Zanes Zahn war aus der Ferne aktiviert worden, aber erst, als die anderen Wissenschaftler Dr. Valen entdeckt hatten. Ein weiteres Mal hatte Tally die Specials mitgebracht.
"Wir brauchten einen Wagen, um wegzukommen", sagte sie und versuchte sich prettyhaft anzuhören. "Aber wir haben uns verirrt."
"Ja, wir haben den Wagen in den Ruinen gefunden. Aber ich glaube nicht, dass ihr den ganzen Weg hierher zu Fuß geschafft habt. Wer hat euch geholfen, Tally?"
Sie schüttelte den Kopf "Niemand."
Ein Special in grauer Seide trat neben Cable und erstattete Bericht. Seine rasierklingenscharfe Stimme machte Tally eine Gänsehaut, aber sie konnte von seinem Gemurmel nichts verstehen.
"Schick die Neuen hinter ihnen her", befahl Dr. Cable, dann wandte sie sich wieder Tally zu. "Niemand, sagst du? Und was ist mit den Kochfeuern und den Jagdschlingen und den Latrinen? Hier haben ganz schön viele Leute gehaust, wie es aussieht, und lange sind sie auch noch nicht weg." Sie schüttelte den Kopf. "Schade, dass wir es nicht schneller geschafft haben."
"Sie werden sie nicht fangen", sagte Tally mit einem Pretty-Lächeln.
"Nicht?" Dr. Cables Zähne funkelten rötlich im Feuerschein. "Auch wir haben ein paar neue Tricks, Tally."
Sie wandte sich um und schritt zum Eingang. Als Tally ihr folgen wollte, packte ein Special ihre Schulter mit eisernem Griff und zwang sie sich neben das Feuer zu setzen. Gebrüllte Befehle und der Lärm weiterer landender Hubwagen drangen in die Kuppel, aber Tally versuchte gar nicht erst durch den Eingang zu sehen, was da passierte, sondern starrte traurig in die Flammen.
Jetzt, wo man Zane weggebracht hatte, war Tally nichts geblieben außer einem Gefühl der absoluten Niederlage. Wieder hatte Dr. Cable gekonnt mit ihr gespielt, hatte sie dazu gebracht, New Smoke zu finden und alle hier um ein Haar ein zweites Mal zu verraten. Und nach dem, was sie zuletzt zu David gesagt hatte, hasste er sie jetzt wohl.
Aber immerhin waren Fausto und die anderen Krims aus der Stadt entkommen, hoffentlich für immer. Sie und die New Smokies hatten einige Minuten Vorsprung. Auf gerader Strecke konnten sie den Wagen der Specials nicht davonfliegen, aber die Hubbretter waren beweglicher. Jetzt, wo sie nicht mehr von Zanes Sucher verraten wurden, konnten sie einfach in den Wäldern der Umgebung verschwinden. Tallys und Zanes Rebellion hatte den New Smokies ein paar Dutzend neue Mitglieder gebracht. Und jetzt, wo das Heilmittel getestet worden war, konnten sie es in die Stadt bringen, und auch in andere Städte, und irgendwann würden dann alle frei sein. Vielleicht hatte die Stadt diesmal doch nicht gewonnen.
Und dass man sie gefangen hatte, war für Zane vielleicht die beste Lösung. Die Ärzte in der Stadt würden besser für ihn sorgen können als eine Horde von Flüchtenden. Tally musste sich jetzt darauf konzentrieren, wie sie ihm bei der Genesung helfen und zur Not dafür sorgen konnte, dass er wieder durch und durch prickelnd wurde.
Vielleicht würde sie mit einem Kuss anfangen …
***
Etwa eine Stunde nach dem Eintreffen der ersten Specials war das Feuer heruntergebrannt und Tally nahm die Kälte wieder wahr. Als sie die Heizung ihrer Jacke hochdrehte, bewegte sich ein Schatten in dem roten Strahl aus Sonnenlicht, der durch den Spalt in der Kuppel fiel.
Tally fuhr zusammen. Da kam jemand mit einem Hubbrett. War das David, der sie retten wollte? Sie schüttelte den Kopf. Maddy würde das niemals zulassen.
"Wir haben ein paar erwischt", rief eine harte Stimme. Die graue Seide einer Special-Uniform glitzerte im Zwielicht.
Zwei Gestalten tauchten im Spalt auf. Ihre Hubbretter waren länger als üblich und vorne und hinten saßen kleine Rotoren. Die Drehflügel ließen die Glut wieder auflodern.
Das ist also ihr neuer Trick, dachte Tally. Specials auf Hubbrettern, wie gemacht für die Jagd auf New Smokies. Sie fragte sich, wen sie wohl erwischt hatten.
"Uglies oder Pretties?", rief Dr. Cable. Tally schaute auf und sah, dass sie ebenfalls zum Feuer gekommen war.
"Nur ein paar Krims. Die Uglies sind alle entkommen", war die Antwort. Tally ging auf, dass sie die Stimme dieser Special unter der Rasierklingenschärfe kannte.
"O nein", sagte sie leise.
"O doch, Tally-wa." Die Gestalt sprang vom Brett und trat ins Licht des Feuers. "Neue Opi! Gefällt sie dir?"
Es war Shay. Sie war eine Special.
"Dr. C hat mir noch ein paar Tätowierungen erlaubt. Haben die nicht den totalen Schwindel-Faktor?"
Tally sah ihre alte Freundin an und war überwältigt von der Verwandlung. Die wirbelnden Linien endlos vieler Tätowierungen überzogen sie fast vollständig, als sei ihre Haut in ein pulsierendes schwarzes Netz gehüllt. Ihr Gesicht war hager und grausam, ihre oberen Zähne zu spitzen Dreiecken zurechtgefeilt. Sie war größer und harte neue Muskeln definierten ihre bloßen Arme. Die Reihe von Narben, die sie sich selbst zugefügt hatte, hob sich klar ab und wurde von den wirbelnden Tätowierungen betont. Shays Augen funkelten im Feuerschein wie die eines Raubtiers und wechselten im Tanz der Flammen zwischen Rot und Violett.
Sie war noch immer hübsch, natürlich, aber ihre grausame, unmenschliche Eleganz ließ Tally zittern, es war, wie einer bunten Spinne beim Durchqueren ihres Netzes zuzusehen. Hinter Shay landeten die übrigen Hubbretter. Ho und Tachs, Shays Schlitzer-Genossen, hielten jeweils eine schlaffe Gestalt fest. Tally schnitt eine Grimasse, als sie sah, dass sie Fausto erwischt hatten, der bis vor einigen Tagen noch nie in seinem Leben auf einem Hubbrett gestanden hatte. Aber die meisten anderen hatten immerhin entkommen können ... und David war in Sicherheit,
New Smoke lebte noch.
"Was meinst du, hat meine neue Opi einen Pretty-Faktor, Tally-wa?", fragte Shay. "Oder ist sie zu viel für dich?"
Tally schüttelte müde den Kopf. "Nein. Absolut prickelnd, Shay-la."
Ein breites, grausames Lächeln füllte Shays Gesicht. "Ungefähr eine Zillion Milli-Helenas, ja?"
"Mindestens", sagte Tally, wandte sich von ihrer alten Freundin ab und starrte ins Feuer.
Shay setzte sich neben sie. "Special zu sein ist prickelnder, als du dir das vorstellen kannst, Tally-wa. Jede Sekunde ist der totale Wirbel. Ich meine, ich kann deinen Herzschlag hören, kann das elektrische Vibrieren deiner Jacke spüren, die versucht, dich warm zu halten. Ich kann deine Angst riechen."
"Ich hab keine Angst vor dir, Shay."
"Doch, ein bisschen schon, Tally-wa. Du kannst mich nicht mehr belügen." Shay legte den Arm um Tally. "He, weißt du noch, die verrückten Gesichter, die ich entworfen habe, als wir Uglies waren? Dr. C lässt sie mich jetzt machen. Schlitzer können jede Opi kriegen, die sie wollen. Nicht mal das Pretty-Komitee kann uns vorschreiben, wie wir aussehen dürfen und wie nicht."
„Das muss ja toll sein, Shay-la."
"Ich und meine Schlitzer sind das neue Prickelelement bei den Besonderen Umständen. Sozusagen spezielle Specials. Hat das nicht den totalen Glücks-Faktor?"
Tally wandte sich Shay wieder zu, sie versuchte zu erkennen, was sich hinter den blitzenden rotlila Augen verbarg. Hinter den Pretty-Worten hörte sie in Shays Stimme eine kalte, gelassene Intelligenz, eine unbarmherzige Freude darüber, dass ihr ihre alte Verräterin ins Netz gegangen war.
Shay war eine neue Art von grausamer Pretty, das konnte Tally sehen. Sie war sogar noch schlimmer als Dr. Cable. Weniger menschlich.
"Bist du wirklich glücklich, Shay?"
Shays Mund zitterte, ihre scharfen Zähne bohrten sich für einen Moment in ihre Unterlippe und sie nickte. "Das bin ich, jetzt, wo ich dich wiederhabe, Tally-wa. Das war wirklich nicht nett, dass ihr einfach alle abgehauen seid, ohne mich. Totaler Frust-Faktor."
"Wir wollten dich doch dabeihaben, Shay, das schwöre ich dir. Ich hab dir jede Menge Pings geschickt."
"Ich hatte zu tun." Shay versetzte dem sterbenden Feuer einen Tritt. "Musste mich aufschlitzen. Ein Heilmittel suchen." Sie schnaubte. "Außerdem habe ich diese Campingsache satt. Und jedenfalls sind wir jetzt ein Team, du und ich."
"Wir sind Gegnerinnen", flüsterte Tally kaum hörbar.
"Nie im Leben, Tally-wa." Shays Hand grub sich in ihre Schulter. "Ich hab diese ganzen Missverständnisse und das böse Blut zwischen uns satt. Von jetzt an sind du und ich Freundinnen fürs Leben."
Tally schloss die Augen. Das war also Shays Rache.
"Ich brauch dich bei den Schlitzern, Tally. Die haben den totalen Prickel-Faktor."
"Das kannst du mir nicht antun", flüsterte Tally und versuchte sich loszureißen.
Shay hielt sie fest. "Das ist es ja gerade, Tally-wa. Ich kann."
"Nein!", schrie Tally, schlug um sich und versuchte auf die Beine zu kommen.
Blitzschnell schoss Shays Hand vor und Tally spürte einen scharfen Stich im Nacken. Gleich darauf senkte sich ein dichter Nebel über sie. Sie konnte sich noch losmachen und ein paar Schritte stolpern, aber ihre Glieder schienen sich mit flüssigem Blei zu füllen und sie sank zu Boden. Eine graue Wand schob sich zwischen sie und das Feuer, die Welt wurde dunkel.
Wörter taumelten durch die Leere auf sie zu, getragen von einer rasierklingenscharfen Stimme: "Find dich damit ab, Tally-wa, du bist ..."