Jagd
Zuerst glaubte sie an einen Waldbrand.
Flammen bewegten sich zwischen den Bäumen, sie warfen zitternde Schatten über die Lichtung und jagten wie wilde brennende Insekten durch die Luft. Überall war Geschrei zu hören, unmenschliches Kreischen und unverständliche Wörter.
Tally kam mühsam auf die Beine und stolperte prompt über die Reste ihres Feuers. Die Glutreste erwachten funkend zum Leben. Sie spürte heiße Nadeln durch ihre Stiefelsohlen und fiel in die glühende Asche. Wieder hörte sie aus der Nähe einen Schrei - einen schrillen Wutausbruch. Eine menschliche Gestalt kam auf sie zu gerannt, in der Hand hielt sie eine Fackel. Die Fackel zischte bei jedem Schritt, als ob sie ihren Träger antreiben wollte.
Die Gestalt schwenkte etwas hin und her - einen langen, polierten Stock, der im Feuerschein leuchtete. Tally sprang gerade noch rechtzeitig zurück und die Waffe pfiff durch leere Luft. Sie ließ sich rückwärts auf dem Boden fallen und spürte das Brennen der Asche in ihrem Rücken. Sie sprang auf, wirbelte herum und stürzte auf die Bäume zu. Eine weitere Gestalt vertrat ihr den Weg und schwenkte ebenfalls eine Keule.
Das Gesicht des Mannes war von einem Bart verdeckt, aber sogar im flackernden Licht der Fackel konnte Tally sehen, dass es ein Ugly war – fett, mit aufgedunsener Nase, die bleiche Haut seiner Stirn voller pockenartiger Narben. Er hatte außerdem Ugly-Reflexe- schwang seine Keule langsam und vorhersehbar. Tally rollte unter der Waffe hindurch und trat zu, um ihm die Beine wegzuschlagen.
Bis er auf dem Boden aufschlug, rannte Tally schon weiter, brach durch die Zweige und steuerte den dunkelsten Teil des Waldes an.
Hinter ihr erhob sich erneut Geschrei, die Fackeln ihrer Verfolger warfen flackernde Schatten auf die Bäume vor ihr. Tally brach fast blind durch das Unterholz, drohte immer wieder zu stürzen, nasse Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Eine Schlingpflanze griff nach ihrem Knöchel und warf sie zu Boden. Tally streckte beide Hände aus, um den Sturz aufzufangen, und fühlte, wie ein Handgelenk mit einem heftigen Schmerz zu weit nach hinten knickte.
Sie drückte die verletzte Hand für einen Moment an sich und warf einen Blick zurück auf die hässlichen Jäger. Sie waren nicht so schnell wie Tally, aber sie folgten dem Weg durch die Bäume leichtfüßig und geschmeidig, sogar in der Dunkelheit kannten sie sich im Wald aus. Die Lichter der Fackeln sammelten sich um die Stelle, wo Tally lag, und das gierige Geschrei umgab sie ein weiteres Mal.
Aber was waren das für Wesen? Sie waren klein und schrien in einer Sprache, die Tally nicht erkannte. Wie aus dem Grab auferstandene Prä-Rusty-Geister ...
Was immer sie sein mochten, jetzt war nicht die Zeit, über diese Frage nachzudenken. Tally sprang auf und stürzte wieder auf die Dunkelheit zu, sie steuerte den Zwischenraum zwischen zwei Fackeln an.
Die beiden Jäger rückten zusammen, als sie näher kam, bärtige Männer, deren hässliche Gesichter von Narben und Wunden entstellt waren. Tally brach zwischen ihnen durch, nah genug, um die Hitze der Fackeln wahrzunehmen. Eine wild geschwungene Keule traf ihre Schulter mit voller Wucht, aber Tally konnte sich auf den Füßen halten und stolperte einen Hang hinunter in die Dunkelheit.
Die beiden schrien, als sie sie verfolgten, und von weiter vorn war noch mehr Gebrüll zu hören. Wie viele von ihnen gab es wohl? Sie schienen aus dem Boden zu wachsen.
Plötzlich traten ihre Füße in kaltes Wasser, Tally rutschte ab und fiel in einen seichten Bach. Hinter ihr taumelten die beiden nächsten Verfolger den Hang hinab, ihre Fackeln spuckten Funken, als sie gegen Bäume und Zweige schlugen. Es war ein Wunder, dass nicht bereits der ganze Wald brannte.
Tally kam auf die Füße und rannte durch den Bach, dankbar für die Schneise, die er durch das Unterholz schnitt. Sie glitt auf dem glitschigen nassen Boden aus, stellte aber fest, dass sie schneller war als die brennenden Augen auf beiden Ufern. Wenn sie nur eine offene Stelle erreichen könnte, dann würde Tally die kleineren, langsameren Uglies abhängen, das wusste sie.
Hinter ihr waren klatschende Schritte zu hören, dann ein Grunzen und eine Reihe von Verwünschungen in dieser unbekannten Sprache. Einer war gefallen. Vielleicht würde sie es schaffen.
Allerdings befanden sich ihr Proviant und der Wasserreiniger in ihrem Rucksack auf der Lichtung, bei den kreischenden, Keulen schwingenden Uglies. Unerreichbar.
Sie verdrängte diesen Gedanken und rannte weiter. Ihr Handgelenk pochte noch immer vom Sturz und sie fragte sich, ob es wohl gebrochen war.
Vor Tally ertönte lautes Brüllen, der Bach kochte um ihre Knöchel, der Boden rumpelte. Dann plötzlich schien die Erde unter ihren Füßen zu verschwinden, als sie weiterrannte ...
Tally stürzte mit fuchtelnden Armen durch die Luft und registrierte zu spät, dass das Brüllen jetzt hinter ihr war - sie war über einen Wasserfall hinweggerannt. Ihr Flug durch die Leere dauerte nur einen Moment, dann traf sie aufs Wasser, einen tiefen, brodelnden Tümpel, der sie mit Kälte umhüllte und alle Geräusche zu einem leisen Grollen dämpfte. Sie merkte, wie sie hinab in Dunkelheit und Stille schoss und sich dabei langsam mit dem Kopf nach unten drehte.
Eine Schulter streifte den Boden und Tally stieß sich nach oben. Sie kam keuchend an die Oberfläche und schlug wild um sich, bis ihre Finger eine Felskante fanden. Sie klammerte sich fest und zog sich aus dem Wasser, auf Händen und Knien, würgend und zitternd.
Gefangen.
Fackeln schwebten überall um sie herum und spiegelten sich wie Feuerfliegen im brodelnden Wasser. Tally schaute auf und ein Dutzend Verfolger, die sie von den steilen Ufern her anstarrten, und ihre bleichen hässlichen Gesichter sahen im Licht der Fackeln noch viel entsetzlicher aus.
Ein Mann stand vor ihr im Bach - sein Schmerbauch und seine dicke Nase gaben ih als den Jäger zu erkennen, den sie auf der Lichtung umgeworfen hatte. Sein nacktes Knie blutete an der Stelle, wo sie ihn getroffen hatte. Er brüllte einen wortlosen Befehl und hob seine grobe Keule hoch in die Luft.
Tally starrte ungläubig zu ihm auf. Wollte er sie wirklich schlagen? Brachten diese Leute ohne irgendeinen Grund Fremde um?
Aber es kam kein Schlag. Während der Mann auf sie herabblickte, nahm sein Gesicht einen bestürzten Ausdruck an. Er stieß die Fackel in ihre Richtung und Tally wich zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Der Mann fiel vor ihr auf die Knie und sah sie genauer an. Sie ließ die Hände sinken.
Seine milchigen Augen blinzelten im Fackellicht und er schaute sie verwirrt an.
Hatte er sie etwa erkannt?
Tally sah zu, wie die Gedanken über die groben Züge jagten: wachsende Furcht, Zweifel, dann die plötzliche Erkenntnis, dass etwas Entsetzliches geschehen war ...
Die Fackel fiel aus seiner Hand und landete im Bach, wo sie mit ersticktem Zischen verlosch. Der Mann brüllte noch einmal, diesmal wie vor Schmerz, er wiederholte immer wieder dasselbe Wort. Dann ließ er sich vorwärts sinken, so dass sein Gesicht fast das Wasser berührte.
Die anderen folgten seinem Beispiel und fielen auf alle viere, ihre Fackeln rollten zischend zu Boden. Alle stießen denselben Klageschrei aus, der das Tosen des Wasserfalls fast übertönte.
Tally erhob sich mit einem Husten auf die Knie und fragte sich, was zum Teufel hier denn wohl los war.
Sie sah sich um und stellte fest, dass sie es nur mit Männern zu tun hatte. Ihre Kleider waren unregelmäßig, viel gröber als die handgemachten Teile der Smokies. Alle hatten ungesunde Flecken und Narben auf Gesichtern und Armen und lange Bärte. Ihre Haare sahen aus, als wären sie im ganzen Leben nie gekämmt worden. Sie waren bleicher als die durchschnittlichen Pretties und sie hatten die sommersprossige, Haut von Winzlingen mit besonderer Sonnenempfindlichkeit.
Niemand erwiderte Tallys Blick. Ihre Gesichter waren in den Händen verborgen oder wurden zu Boden gepresst.
Endlich kam einer angekrochen. Er war dünn und entsetzlich runzlig, seine Haare und sein Bart waren weiß, und Tally erinnerte sich aus ihrer Zeit in Smoke, dass alte Uglies so aussahen. Ohne die Operation verfielen ihre Körper wie von ihren Erbauern aufgegebene Ruinen. Der Mann zitterte, als er sich bewegte, entweder vor Angst oder weil er krank war, und er starrte sie endlos lange an.
Dann sagte er endlich etwas, seine bebende Stimme war durch das Tosen des Wasserfalls kaum zu hören. "Ich weiß ein wenig Götterzunge,"
Tally blinzelte. "Was?"
"Wir Feuer gesehen und Eindringling gedacht. Nicht Gott."
Die anderen waren verstummt, sie warteten voller Angst und achteten nicht auf ihre Fackeln, die auf dem Boden erloschen. Tally sah einen Busch, der Feuer fing, aber der danebenhockende Mann schien vor Angst wie gelähmt und rührte sich nicht.
Sie hatten also plötzlich alle Angst vor ihr? Waren diese Leute denn verrückt?
"Nie Götter Feuer benutzt. Bitte verstehen!" Seine Augen flehten sie um Verzeihung an.
Sie erhob sich unsicher. "Na ja, ist schon gut. Kein Problem."
Der alte Ugly sprang so plötzlich auf, dass Tally zurückwich und fast wieder in den Tümpel gefallen wäre. Er brüllte ein einzelnes Wort und die Jäger wiederholten es. Der Schrei schien sie aus ihrem Bann zu lösen; sie erhoben sich und traten die kleinen Feuer aus, die ihre hingeworfenen Fackeln entzündet hatten.
Plötzlich kam Tally sich wieder bedroht vor. "Aber hört mal", fügte sie hinzu. "Schluss mit den ... Keulen, okay?"
Der alte Mann lauschte, verbeugte sich und schrie weitere Befehle in der unbekannten Sprache. Die Jäger gehorchten sofort, einige lehnten ihre Keulen gegen Bäume und zerteilten sie mit einem Tritt, andere zerschlugen sie am Boden oder warfen sie einfach in die Dunkelheit.
Der alte Mann drehte sich zu Tally um und öffnete die Hände, er wartete eindeutig auf ein Lob. Seine Keule lag in zwei Teilen vor ihren Füßen. Die anderen hoben die leeren, offenen Hände.
"Ja", sagte sie. "Viel besser."
Der alte Mann lächelte.
Und dann sah sie es, das vertraute Funkeln in seinen uralten trüben Augen. Den Blick von Sussy und Dex, als sie zum ersten Mal Tallys Pretty-Gesicht gesehen hatten. Dieselbe Verehrung, denselben Wunsch zu gefallen, dieselbe instinktive Faszination - das verlässliche Ergebnis von einem Jahrhundert kosmetischer Chirurgie und einer Jahrmillion der Evolution.
Tally sah sich um und stellte fest, dass alle ihrem Blick auswichen. Sie konnten ihr kaum in die großen, kupfergesprenkelten Augen schauen, sie konnten den Anblick ihrer Schönheit fast nicht ertragen.
Götter, hatte er gesagt. Das alte Rusty-Wort für die unsichtbaren Superhelden im Himmel.
Das hier draußen war ihre Welt - diese grobe grausame Wildnis mit ihren Seuchen und ihrer Brutalität und dem tierischen Kampf ums Überleben. Wie diese Menschen, so war diese Welt hässlich. Wer hier draußen hübsch war, musste aus einer anderen Welt stammen.
Hier draußen war Tally eine Gottheit.