Die Fete

Die Fete fand in Valentino Mansion statt, dem ältesten Gebäude in New Pretty Town. Es erstreckte sich am Fluss entlang und war nur wenige Stockwerke hoch, wurde aber von einem Sendemast gekrönt, der auf der halben Insel zu sehen war. Die Innenwände waren aus echten Steinen, deshalb konnten die Zimmer nicht sprechen, aber das Haus hatte eine lange Geschichte von riesigen und sagenumwobenen Partys vorzuweisen. Die Warteliste für Zimmer im Valentino war mindestens so lang wie die Ewigkeit.

Peris, Fausto, Shay und Tally gingen durch die Vergnügungsgärten, in denen es schon von Partygästen wimmelte. Tally sah einen Engel mit wunderbaren Federschwingen, die sicher bereits vor Monaten angefordert worden waren, was einfach Betrug war, und sie sah ein paar frische Pretties in Fettanzügen und Masken, die ihnen Dreifachkinne verpassten. Eine mehr oder weniger nackte Gruppe von Partygästen gab sich als Prä-Rusties aus, sie zündeten Lagerfeuer an und trommelten und veranstalteten ihre eigene kleine Satellitenparty, aber so war das immer bei tollen Festen.

Peris und Fausto stritten sich darüber, wann genau sie wieder Funken schlagen sollten. Sie wollten einen flammenden Auftritt haben, sie wollten ihre Strahler gleichzeitig aber auch für die anderen Krims aufsparen. Als sie sich dem Lärm und Glitzer des Hauses näherten, spielten Tallys Nerven verrückt. Die Smokey-Kostüme sahen eigentlich nach nichts aus. Tally trug ihren alten Pullover und Shay eine Kopie davon, dazu grobe Hosen, Rucksäcke und handgemacht aussehende Schuhe, die Tally dem Loch in der Wand beschrieben hatte, nachdem ihr eingefallen war, dass jemand in Smoke solche getragen hatte. Um original ungewaschen auszusehen, hatten sie sich Dreck in Gesicht und Kleidung gerieben, und auf dem Weg hierher war ihr das prickelnd vorgekommen, jetzt aber fühlte sie sich nur noch schmutzig.

In der Tür standen zwei als Wächter ausstaffierte Valentinos und sorgten dafür, dass niemand ohne Kostüm hineinkam. Zuerst hielten sie Fausto und Peris an, aber dann lachten sie, als die beiden ihre Strahler auflodern ließen, und winkten sie durch. Als sie Shay und Tally sahen, zuckten sie mit den Schultern, ließen sie aber passieren.

"Wartet nur, bis die anderen Krims uns sehen", sagte Shay. "Die werden das schon kapieren."

Die vier drängten sich durch die Menge und in ein wildes Chaos aus Kostümen. Tally sah Schneemänner, Soldaten, Computerspiel-Figuren und ein ganzes Pretty-Komitee aus Wissenschaftlern mit Gesichtogrammen in der Hand. Überall standen historische Persönlichkeiten in verrückten Kleidern aus aller Welt, und das erinnerte Tally daran, wie unterschiedlich alle damals ausgesehen hatten, als es viel zu viele Menschen gegeben hatte. Ein großer Teil der älteren neuen Pretties trug moderne Kostüme; sie gingen als Ärzte, Wächter, Konstrukteure oder Politiker - je nachdem, welchen Beruf sie nach der Mittel-Pretty-Operation zu ergreifen hofften. Eine Gruppe von Feuerwehrleuten versuchte lachend, Peris’ und Faustos Flammen zu löschen, schaffte es aber nur, den beiden auf die Nerven zu gehen.

„Wo sind sie?", fragte Shay immer wieder, aber die Steinmauern gaben keine Antwort. "Das ist so ex. Wie können Leute hier leben?"

"Ich nehme an, die haben immer Handfone bei sich", sagte Fausto. "Wir hätten uns auch eins besorgen sollen."

Das Problem war, dass man in Valentino Mansion niemanden einfach durch Namensnennung herbeiholen konnte, denn die Zimmer waren alt und stumm - es war, wie draußen zu sein. Tally presste eine Handfläche gegen die Mauer, als sie weitergingen, es gefiel ihr, wie kühl die uralten Steine sich anfühlten. Für einen Moment erinnerten diese Steine sie an die Dinge draußen in der Wildnis, rau und stumm und unveränderlich. Sie war nicht besonders scharf darauf, die anderen Krims zu finden; sie alle würden sie anstarren und sich fragen, wie sie abstimmen sollten.

Sie wanderten durch die überfüllten Gänge und schauten in Zimmer voller altmodischer Astronauten und Entdecker. Tally zählte fünf Kleopatras und zwei Lillian Russells. Es gab sogar einige Rudolph Valentinos - es stellte sich nämlich heraus, dass das Haus seinen Namen einem geborenen Pretty aus alten Rusty-Zeiten verdankte.

Andere Cliquen hatten sich Themenkostüme besorgt. Die Sportis schwangen Hockeyschläger und wackelten auf Hubskates herum, die abgedrehten Twister gingen als kranke Hundebabys mit riesigen tütenförmigen Plastikkragen. Und natürlich war der Schwarm überall und seine Mitglieder redeten über ihre Interface-Ringe wild durcheinander. Schwärmer ließen sich Hautantennen einoperieren, und deshalb konnten sie einander von überall her anrufen, sogar innerhalb der stummen Wände von Valentino Mansion. Die anderen Cliquen machten sich immer über den Schwarm lustig, denn die Schwärmer trauten sich nur in riesigen Gruppen aus dem Haus. Sie alle hatten sich als Fliegen mit riesigen Insektenaugen verkleidet, und das ergab doch immerhin einen Sinn.

Im Wirrwarr der Kostüme waren keine anderen Krims zu finden und Tally fragte sich schon, ob sie die Party hatten sausenlassen, um nicht für sie stimmen zu müssen. Paranoide Gedanken begannen sie zu plagen und immer wieder erhaschte sie einen Blick auf jemanden, der in den Schatten lauerte, von der Menge halb verborgen, aber immer da. Doch wenn sie sich umdrehte, verschwand das graue Kostüm aus ihrem Blickfeld. Tally wusste nicht, ob diese unbekannte Person ein Junge oder ein Mädchen war. Sie trug eine Maske, unheimlich, aber auch schön, die grausamen Wolfsaugen funkelten im Licht der tief hängenden flackernden Partylampen. Das Plastikgesicht rüttelte etwas in Tally wach, eine schmerzliche Erinnerung, die einen Moment brauchte, um Form anzunehmen.

Dann ging ihr auf, was das Kostüm darstellen sollte: einen Agenten der Besonderen Umstände, einen Special eben.

Tally sank gegen eine der kühlen Steinmauern und erinnerte sich an die grauen Seidenoveralls, die die Specials trugen, an die grausamen hübschen Gesichter, die ihnen verpasst wurden. Bei diesem Anblick wurde ihr schwindlig, wie immer, wenn sie an ihre Tage in der Wildnis zurückdachte.

Dieses Kostüm hier in New Pretty Town zu sehen ergab einfach keinen Sinn. Außer ihr selbst und Shay hatte fast niemand jemals einen Special gesehen. Für die meisten waren sie nicht mehr als ein Gerücht oder ein modernes Märchen, jemand, den man verantwortlich machte, wann immer etwas Merkwürdiges passierte. Die Specials blieben stets im Verborgenen. Ihre Aufgabe war es, die Stadt vor Bedrohungen von außen zu bewahren, wie Soldaten und Spione damals zu Zeiten der Rusties. Nur totale Kriminelle wie Tally Youngblood traten ihnen jemals von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Trotzdem hatte jemand bei diesem Kostüm verdammt gute Arbeit geleistet. Dieser Jemand musste irgendwann einen echten Special gesehen haben. Aber warum folgte diese Gestalt ausgerechnet ihr? Wann immer Tally sich umdrehte, war sie da und bewegte sich mit der gleichen entsetzlichen Raubtiereleganz, mit der die Specials sie damals durch die Ruinen von Smoke gejagt hatten, an jenem schrecklichen Tag, als sie gekommen waren, um sie in die Stadt zurückzuholen.

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, stiegen stets verpfuschte Erinnerungen in ihr auf, die nicht zueinander passten. Die Specials hatten Tally natürlich nicht gejagt. Warum hätten sie das tun sollen? Sie hatten sie gerettet, hatten sie nach Hause geholt, nachdem Tally die Stadt verlassen hatte, um Shay zu suchen. Wenn sie an die Specials dachte, wurde ihr immer schwindlig, aber das lag nur daran, dass deren grausame Gesichter eben zu diesem Zweck entworfen worden waren, so, wie der Anblick der normalen Pretties angenehme Gefühle auslöste.

Vielleicht folgte diese Gestalt ihr auch gar nicht, vielleicht war es nicht eine einzelne Person, sondern eine Clique, die sich identisch verkleidet und auf der Party verteilt hatte, weshalb es Tally so vorkam, als ob jemand sie belauerte. Der Gedanke hatte schon gleich einen viel geringeren Wahnsinns-Faktor. Tally ging zu den anderen und alberte mit ihnen herum, während sie nach den übrigen Krims suchten. Aber sie hielt weiterhin Ausschau nach einer Bewegung im Schatten und langsam wuchs ihre Überzeugung, dass es keine Clique war. Sie sah immer nur die eine Gestalt, die mit niemandem sprach und einfach nur lauerte. Und die eleganten Bewegungen dieser Person ...

Tally versuchte sich selbst zu beruhigen. Die Specials hatten keinen Grund, sie zu verfolgen. Und es ergab doch keinen Sinn, dass ein Special als Special verkleidet ein Kostümfest besuchte!

Sie rang sich ein Lachen ab. Bestimmt wollte irgendein Krim ihr einen Streich spielen, jemand, der Tallys und Shays Geschichten hundertmal gehört hatte und alles über die Specials wusste. Und wenn das so war, dann wäre es total verpfuscht, vor aller Welt gehirnfern zu werden. Besser also, sie ignorierte den falschen Special ganz und gar.

Tally schaute an ihrem eigenen Kostüm hinab und fragte sich, ob die Smokey-Kleidung dazu beitrug, dass sie fast ausflippte. Shay hatte Recht gehabt: Der Geruch des alten, handgestrickten Pullovers ließ die Zeit außerhalb der Stadt wieder auferstehen, die Tage voll harter Plackerei und die Nächte, in denen sie sich am Lagerfeuer gewärmt hatten, und all das war durchsetzt mit Erinnerungen an die alternden hässlichen Gesichter, die sie noch immer ab und zu schreiend aus dem Schlaf hochfahren ließen.

Das Leben in Smoke hatte in Tallys Kopf wirklich ganze Arbeit geleistet.

Niemand sonst erwähnte die Gestalt, Steckten sie alle mit ihr unter einer Decke? Fausto machte sich Sorgen, dass seine Strahler leer sein könnten, ehe die anderen Krims sie gesehen hatten. "Vielleicht sind sie ja in einem der Türme", sagte er.

"Von einem richtigen Haus aus können wir sie wenigstens rufen", sagte Peris zustimmend.

Shay schnaubte und steuerte die nächstgelegene Tür an. "Solange wir nur aus diesem verpfuschten Felshaufen rauskommen."

Die Party schwappte ohnehin ins Freie über und breitete sich außerhalb der uralten Steinmauern aus. Shay führte sie aufs Geratewohl zu einem Partyturm, durch ein Gewühl von Frisur-Gurus mit Bienenkorbperücken, jede mit einem eigenen kleinen Hummelschwarm, bei dem es sich in Wirklichkeit um winzige gelb und schwarz bemalte Mikroheber handelte.

"Das Summen haben sie nicht richtig hingekriegt", sagte Fausto, aber Tally merkte doch, dass er von den Kostümen beeindruckt war. Die Strahler in seinen Haaren waren fast ausgebrannt und die anderen Partygäste sahen ihn an, als dächten sie: Hä?

Drinnen im Partyturm rief Peris Zane, der sagte, die Krims seien wirklich hier oben. "Gut getippt, Shay."

Die vier drängten sich mit einem Chirurgen, einem Trilobiten und zwei betrunkenen Hockeyspielern, die verzweifelt versuchten sich auf ihren Hubskates aufrecht zu halten, in den Fahrstuhl.

"Jetzt schmink dir diese nervöse Miene ab, Tally-wa", sagte Shay und drückte ihre Schulter. "Du kommst rein, kein Problem. Zane mag dich."

Tally rang sich abermals ein Lachen ab und fragte sich, ob das wirklich stimmte. Zane wollte ständig etwas über ihre Ugly-Tage hören, aber so war er bei allen, er saugte mit seinen goldgefleckten Augen die Geschichten der Krims in sich auf. Konnte er Tally Youngblood wirklich für etwas Besonderes halten?

Eine Person tat das jedenfalls - als sich die Fahrstuhltüren schlossen, sah Tally für einen Moment graue Seide, die elegant durch die Menge glitt.

 

Spitzel

Die meisten anderen Krims waren als Holzfäller erschienen, sie trugen karierte Hemden mit grotesken Muskelpolstern und hatten riesige Kettensägenimitate und Sektgläser in der Hand. Es gab auch Metzger, einige Raucher, die mit selbst gemachten unechten Zigaretten herumwedelten, und eine Henkerin, die sich eine lange Schlinge über die Schulter drapiert hatte. Zane, der sehr viel über Geschichte wusste, ging als Assistent irgendeines Diktators, der nicht total modefern gewesen war, ganz und gar in enge schwarze Kleidung gehüllt, mit einer prickelnden roten Armbinde. Er hatte sich eine Kostümopi machen lassen, seine Lippen waren jetzt dünn und die Wangen eingesunken, wodurch er fast wie eine Art Special aussah.

Alle lachten über Peris’ Kostüm und versuchten Fausto wieder anzuzünden, aber sie schafften es nur, ein paar Haarsträhnen anzusengen, und das roch total verpfuscht. Es dauerte einen schrecklichen Moment, bis sie Tallys und Shays Kostüme eingeordnet hatten, aber schon bald umdrängten die Krims sie, um die groben Fasern des handgestrickten Pullovers zu berühren und zu fragen, ob der kratzte. (Das tat er, aber Tally schüttelte den Kopf.)

Shay trat dicht an Zane heran und brachte ihn dazu, ihre neue Augenopi zu bemerken.

"Was meinst du, haben die einen Pretty-Faktor?", fragte sie.

"Ich geb ihnen fünfzig Milli-Helenas", sagte er.

Das kapierte erst mal überhaupt niemand.

"Eine Milli-Helena ist Schönheit genug, um genau ein Schiff lossegeln zu lassen", erklärte Zane und die älteren Krims lachten alle. "Fünfzig ist ziemlich gut."

Shay lächelte, Zanes Lob ließ ihr Gesicht strahlen wie Champagner.

Tally versuchte prickelnd zu sein, aber beim Gedanken an den kostümierten Special wurde ihr noch immer schwindlig. Nach einigen Minuten floh sie auf den Balkon des Partyturms, um ihre Lunge mit frischer kalter Luft zu füllen.

Einige Heißluftballons waren am Turm vertäut, sie schwebten wie große schwarze Monde am Himmel. Die Heißluftis in der einen Gondel beschossen die anderen mit römischen Kerzen und lachten, wenn die Sicherheitsflammen in die Dunkelheit hinauszischten. Dann begann einer der Ballons aufzusteigen, das Brüllen des Brenners war durch den Partylärm hindurch zu hören und die Vertäuung schlug schlaff gegen den Turm. Der Ballon erhob sich mit Hilfe eines kleinen Flammenfingers und verschwand dann in der Ferne. Wenn Shay sie nicht bei den Krims eingeführt hätte, wäre Tally wohl zu den Heißluftis gegangen. Sie entschwanden immer in die Nacht, um dann irgendwo draußen zu landen und sich aus einem entfernten Vorort oder sogar von jenseits der Stadtgrenzen von einem Hubwagen abholen zu lassen.

Als sie über den Fluss in die Dunkelheit von Uglyville starrte, kamen Tallys wirbelnde Gedanken fast zur Ruhe. Es war seltsam. Ihre Zeit in der Wildnis war verschwommen, aber Tally konnte sich genau daran erinnern, wie sie als junge Ugly von ihrem Wohnheimfenster aus die Lichter von New Pretty Town beobachtet hatte und alles darum gegeben hätte, sechzehn zu sein. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie auf dieser Seite des Flusses stand, in irgendeinem der hohen Türme, über ihr Feuerwerk, um sie herum lauter Pretties und sie selbst eine von ihnen.

Natürlich hatte die Tally dieser Fantasien meistens ein Ballkleid getragen - und nicht Wollpullover und Arbeitshosen zu einem mit Dreck verschmierten Gesicht. Sie fingerte an einem Faden herum, der sich aus den Maschen löste, und wünschte sich, Shay hätte den Pullover nicht gefunden. Tally wollte Smoke vergessen, wollte die vielen verworrenen Erinnerungen an Flucht und Verstecken und das Gefühl von Verrat abschütteln. Sie fand es schrecklich, jede Minute wieder auf die Fahrstuhltür zu starren und sich zu fragen, ob der kostümierte Special ihr auch hierher gefolgt war. Sie wollte das Gefühl haben, irgendwohin zu gehören, statt darauf zu warten, dass die nächste Katastrophe zuschlug.

Vielleicht hatte Shay ja Recht und die Abstimmung heute Abend würde alles in Ordnung bringen. Die Krims waren eine der eingeschworensten Cliquen in New Pretty Town. Man musste per Abstimmung aufgenommen werden, aber wer dabei war, konnte sich immer auf Freunde und Partys und prickelnde Gespräche verlassen. Tally würde nicht mehr weglaufen müssen.

Das einzige Problem war, dass bei den Krims nur Leute reinkamen, die in ihren Ugly-Tagen wirklich tolle Streiche durchgezogen hatten und die gute Geschichten erzählen konnten, vom Wegschleichen und nächtelangen Umherjagen mit dem Hubbrett und vom Weglaufen. Die Krims waren Pretties, die nicht vergessen hatten, dass sie einmal Uglies gewesen waren, und sich noch immer über die Streiche und die kriminellen Tricks freuten, die Uglyville auf seine eigene Weise prickelnd gemacht hatten.

"Was würdest du dem Ausblick geben?" Zane stand plötzlich neben ihr. Die historische schwarze Uniform betonte seine zwei Meter Maximum-Pretty-Größe.

"Geben?"

"Hundert Milli-Helenas? Fünfhundert? Vielleicht eine ganze Helena?"

Tally holte tief Atem und schaute auf den dunklen Fluss hinab. "Ich würde gar nichts geben. Das ist doch schließlich Uglyville."

Zane kicherte. "Aber, Tally-wa, es gibt keinen Grund, gemein über unsere hässlichen Brüderchen und Schwesterchen zu reden. Ist ja nicht ihre Schuld, dass sie nicht so hübsch sind wie du." Er schob eine Locke, die sich aus Tallys Frisur gelöst hatte, hinter ihr Ohr.

"Die meine ich ja nicht, ich meine den Ort. Uglyville ist ein Gefängnis." Die Worte fühlten sich falsch an, zu ernst für eine Fete.

Aber Zane schien das nichts auszumachen. "Du bist doch entkommen, oder nicht?" Er strich über die fremdartigen Fasern des Pullovers, so wie alle anderen das gemacht hatten. "War es in Smoke denn besser?"

Tally überlegte, ob er wohl eine richtige Antwort wollte. Sie hatte Angst, irgendwelchen Pfuschkram zu sagen. Wenn Zane Tally abseitig fand, dann würde es Vetos hageln, egal, was Shay und Peris ihr versprochen hatten.

Sie schaute in seine Augen. Die schimmerten metallisch golden und reflektierten das Feuerwerk wie winzige Spiegel. Etwas in ihnen schien Tally anzuziehen und es war nicht nur die übliche Pretty-Magie, sondern etwas, das ihr ernsthaft erschien, so, als sei die Fete plötzlich unwichtig geworden. Zane hatte ihren Smokegeschichten immer begeistert zugehört. Er kannte sie inzwischen alle, aber vielleicht wollte er noch etwas anderes wissen.

"Ich bin in der Nacht vor meinem sechzehnten Geburtstag gegangen", sagte sie. "Also ging es eigentlich nicht darum, aus Uglyville entkommen."

"Stimmt." Zane befreite sie von seinem Blick und schaute über den Fluss hinaus. "Du bist vor der Operation weggelaufen."

"Ich bin Shay gefolgt. Ich musste hässlich bleiben, um sie finden zu können."

"Um sie zu retten", sagte er, dann richtete er seine goldenen Augen wieder auf sie. "War das wirklich der Grund?"

Tally nickte nachdenklich und der Champagner von letzter Nacht sorgte noch immer dafür, dass ihr Kopf sich drehte. Oder der von heute. Sie schaute das leere Glas in ihrer Hand an und fragte sich, wie viel sie schon getrunken hatte.

"Ich musste das einfach tun." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass sie verpfuscht geklungen hatten.

"Ein besonderer Umstand?", fragte Zane mit seinem trockenen Lächeln.

Tally hob die Augenbrauen. Sie fragte sich, welche Streiche Zane wohl in seinen Ugly-Zeiten durchgezogen hatte. Er erzählte selber nicht sonderlich viele Geschichten. Obwohl er nicht viel älter war als sie, schien Zane niemals unter Beweis stellen zu müssen, dass er ein echter Krim war. Er war es einfach.

Selbst jetzt, da die Kostümopi seine Lippen schmal gemacht hatte, war er schön. Sein Gesicht war zu extremeren Formen modelliert worden als bei den meisten, so, als hätten die Ärzte die Grenzen ausloten wollen, die die Vorschriften des Pretty- Komitees setzten. Seine Wangenknochen waren unter seinem Fleisch scharf wie Pfeilspitzen und seine Augenbrauen hoben sich zu einer absurden Höhe, wenn er belustigt war. Tally wurde plötzlich klar, dass er entsetzlich aussehen würde, wenn auch nur einer seiner Züge sich um wenige Millimeter verschöbe, und doch war es unmöglich, sich vorzustellen, dass auch er einmal ein Ugly gewesen war.

"Warst du je in der Ruinenstadt?", fragte sie. "Damals, als du ... jung warst?"

"Fast jede Nacht, letzten Winter."

"Im Winter?"

"Ich finde die Ruinen wunderschön, wenn sie mit Schnee bedeckt sind", sagte er. "Das macht die Kanten weicher und fügt dem Anblick Mega-Helenas zu."

"Ach." Tally dachte daran, wie sie im frühen Herbst durch die Wildnis gewandert war. Es war schrecklich kalt gewesen. "Klingt total... verfroren."

"Ich konnte auch nie irgendwen überreden, mit mir zu kommen." Er kniff die Augen zusammen. "Wenn du von den Ruinen erzählst, erwähnst du nie, dass dir dort jemand begegnet ist."

"Begegnet?" Tally schloss die Augen und spürte, wie sie plötzlich das Gleichgewicht verlor. Sie lehnte sich gegen das Balkongeländer und holte tief Atem.

"Ja", sagte er. "Also?"

Das leere Sektglas rutschte aus ihrer Hand und verschwand in der schwarzen Nacht.

„Aufgepasst, da unten", murmelte Zane mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ein Klirren stieg aus der Dunkelheit nach oben, überraschtes Lachen breitete sich aus wie die Ringe um einen ins Wasser geworfenen Stein. Es schien tausend Kilometer weit weg zu sein.

Tally atmete die kalte Nachtluft ein und versuchte sich zu fassen. Ihr Magen schien einen Salto zu schlagen. Es war so peinlich, kurz davor zu stehen, nach ein paar schnöden Gläsern Sekt ihr Frühstück von sich zu geben.

"Ist schon gut, Tally", flüsterte Zane. "Sei einfach prickelnd."

Tally ging auf, wie verpfuscht es war, angewiesen zu werden, prickelnd zu bleiben. Aber hinter seiner Kostümopi war Zanes Blick sanfter geworden, als wolle er sie wirklich beruhigen.

Sie wandte sich von dem schwarzen leeren Abgrund ab und packte hinter sich mit beiden Händen das Geländer. Shay und Peris waren jetzt auch auf den Balkon herausgekommen, sie war umgeben von ihren neuen Krimfreunden, beschützt und ein Teil der Gruppe. Aber die anderen behielten sie auch wachsam im Auge. Vielleicht erwarteten an diesem Abend alle etwas Besonderes von ihr.

"Mir ist da nie jemand begegnet", sagte Tally. "Irgendwer sollte eigentlich kommen, hat sich aber nie blickenlassen."

Sie hörte Zanes Antwort nicht.

Die lauernde Gestalt war wieder aufgetaucht - sie stand auf der anderen Seite des überfüllten Turms und starrte Tally an. Die blitzenden Augen der Maske schienen für einen Moment ihren Blick zu erwidern, dann wandte die Gestalt sich um, schlüpfte zwischen den weißen Kitteln des Pretty-Komitees hindurch und verschwand hinter deren riesigen Gesichtogrammen, die jeden wichtigen Pretty-Typ zeigten. Und obwohl Tally klar war, dass sie sich verpfuscht benahm, riss sie sich von Zane los und drängte sich durch die Menge, denn sie würde in dieser Nacht nicht zur Ruhe kommen, solange sie nicht wusste, wer diese Person war, Krim oder Special oder dahergelaufener neuer Pretty. Sie musste wissen, warum irgendwer ihr die Specials unter die Nase rieb.

Tally tauchte zwischen den Weißkitteln hindurch und flutschte wie ein Gummiball durch eine Clique in Fettanzügen, so dass die weich gepolsterten Schmerbäuche sich um sie drehten. Sie schubste den Großteil einer Hockeymannschaft aus dem Weg, deren Spieler auf ihren rutschigen Schwebeskates herumwackelten wie Winzlinge. Vor ihr tauchte immer wieder für einen Moment graue Seide auf, aber die Menge war dicht und in hektischer Bewegung, und als sie das mittlere Treppenhaus des Turms erreicht hatte, war die Gestalt verschwunden.

Sie schaute zu den Lichtern über der Fahrstuhltür hoch und sah, dass die Kabine sich aufwärts bewegte, nicht abwärts. Der falsche Special war noch immer in der Nähe, irgendwo im Turm.

Dann bemerkte Tally den Notausgang, knallrot und voller Warnungen, dass der Alarm losschrillen würde, wenn jemand die Tür öffnete. Sie schaute sich noch einmal um - keine graue Gestalt. Wer immer es war, musste über diese Treppe verschwunden sein. Alarmanlagen ließen sich ausschalten, sie hatte diesen Trick als Ugly eine Million Mal geschafft.

Tally streckte die Hand nach der Tür aus, und ihre Finger zitterten. Wenn jetzt eine Sirene losplärrte, würden alle sie anstarren und tuscheln, bis die Wächter einträfen und den Turm evakuierten. Und das wäre dann ein wirklich prickelndes Ende für ihre Karriere als Krim.

Klasse Krim, dachte sie. Sie wäre eine ziemliche Pfusch-Kriminelle, wenn sie es nicht schaffte, ab und zu einen Alarm auszuschalten.

Sie schob die Tür auf. Kein Laut war zu hören.

***

Tally trat ins Treppenhaus hinaus. Die Tür fiel hinter ihr zu und erstickte den Partylärm. In der plötzlichen Stille konnte sie ihr hämmerndes Herz und ihren keuchenden Atem hören. Der Rhythmus der Musik schien unter der Tür hindurchzusickern und brachte den Betonboden zum Zittern.

Die Gestalt saß einige Stufen über ihr auf der Treppe. "Du hast es geschafft." Es war eine Jungenstimme, die hinter der Maske nicht zu identifizieren war.

"Was geschafft? Zur Party zu kommen?"

"Nein, Tally. Durch diese Tür."

"Die war nicht gerade abgeschlossen." Sie versuchte durch die Juwelen-Augen der Maske zu starren. "Wer bist du?"

"Du erkennst mich nicht?" Er klang ehrlich überrascht, wie ein alter Freund, einer, der immer eine Maske trug. "Wie sehe ich aus?"

Tally schluckte und sagte leise: "Wie ein Special."

"Gut. Du erinnerst dich." Tally konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. Er sprach langsam und deutlich, als sei sie irgendeine Idiotin.

"Natürlich kann ich mich erinnern. Gehörst du zu ihnen? Kenne ich dich?" Tallys Gedächtnis zeigte ihr keinen besonderen Special, in ihrer Erinnerung verwischten alle ihre Gesichter zu einer einzigen grausam-schönen Masse.

"Warum schaust du nicht mal nach?" Die Gestalt machte keine Anstalten, die Maske abzunehmen. "Na los, Tally." Plötzlich wusste sie, was hier lief. Zu erkennen, was das Kostüm bedeutete, ihm quer durch die Party nachzujagen, der Tür mit der Alarmanlage zu trotzen - das alles war eine Art Test. Eine Art Aufnahmeprüfung. Er saß noch immer da und wartete, ob sie sich trauen würde, ihm die Maske wegzunehmen.

Tally hatte die Nase voll von Prüfungen. "Lass mich einfach in Ruhe", sagte sie.

"Tally ..."

"Ich will nicht für die Specials arbeiten. Ich will einfach hier in New Pretty Town leben."

"Ich bin nicht..."

"Lass mich in Ruhe!", brüllte sie und ballte die Fäuste. Der Schrei hallte von den Betonmauern wider und hinterließ einen Moment der Stille, als ob sie beide davon überrascht worden wären. Die Musik der Party schwebte gedämpft und zaghaft durchs Treppenhaus.

Dann drang ein Seufzer hinter der Maske hervor und die Person hob einen groben Lederbeutel hoch. "Ich hab etwas für dich. Falls du so weit bist. Willst du es haben, Tally?"

"Ich will nichts von ..." Tallys Stimme versagte. Von unten hörte man leise, schleppende Geräusche. Nicht von der Party. Jemand stieg die Treppe hoch.

Tally und der falsche Special bewegten sich im selben Moment, sie lugten über das Geländer in das enge Treppenhaus. Tief unten sah Tally graue Seide aufblitzen und Hände, die nach dem Geländer fassten. Ein halbes Dutzend Menschen kam unglaublich schnell die Treppe hoch, ihre Schritte waren durch die leise Musik kaum zu hören.

"Bis nachher", sagte der Maskierte und richtete sich auf.

Tally kniff die Augen zusammen. Er schob sie zur Seite, verängstigt vom Anblick echter Specials. Wer also war er? Ehe seine Finger die Türklinke erreichten, riss Tally ihm die Maske vom Gesicht.

Er war ein Ugly. Ein echter Ugly.

Sein Gesicht war nicht wie die Gesichter der kostümierten Fettsäcke, die sich für die Fete zurechtgemacht hatten, mit riesigen Nasen und Schielaugen. Es waren nicht einfach nur übertriebene Gesichtszüge, die ihn anders machten, es war alles. Er schien aus einer ganz anderen Substanz zu bestehen. In wenigen Sekunden nahm Tallys perfekte Pretty-Sicht jede offene Pore wahr, die willkürlichen Wirbel in seinen Haaren, die grobe Unausgewogenheit seines auseinanderklaffenden Gesichts. Seine Unvollkommenheit jagte ihr Schauer über den Rücken, der jugendliche Bartflaum, seine nicht behandelten Zähne, die Krater in seiner Stirn, die "Seuche" zu schreien schienen. Sie wollte zurückweichen, wollte Distanz zwischen sich und seine unselige, unreine, ungesunde Hässlichkeit legen.

Aber aus irgendeinem Grund kannte sie seinen Namen ...

"Croy?", fragte sie.