6. KAPITEL

Im Vertrauen auf das, was der Filialleiter ihm gesagt hatte, sowie darauf, dass der kontinuierliche Wasserstrahl in ihrem Rücken war, legte Sam seine Hand flach an die Wand. Indem er diese als Leitlinie benutzte, zählte er im Geiste die Länge der Strecke, die sie zurücklegen mussten.

Charlie tippte ihm auf die Schulter, um ihm zu zeigen, dass er genau hinter ihm war. Sam stellte das Funkgerät an.

„Wir sind drin“, sagte er.

Sofort hörten sie Reeds Stimme, die ihnen den Eindruck vermittelte, dass sie nicht allein waren.

„Gut, aber geht kein Risiko ein! Ihr dürft keine Zeit verlieren. Schaut euch einmal gründlich dort um, wo es noch nicht brennt, und dann kommt so schnell wie möglich wieder raus!“

„Ja, Sir“, sagte Sam.

Dann ließen er und Charlie sich auf die Knie nieder und begannen, durch den Rauch zu kriechen, den Lageplan der Räume fest in ihrem Gedächtnis verankert. Währenddessen standen die beiden anderen Feuerwehrmänner kurz hinter der Tür und versorgten sie mit Wasser.

Dem Filialeiter zufolge handelte es sich bei den ersten beiden Räumen, an denen sie vorbeikamen, um Büros, die abgeschlossen waren. Danach kam eine kleine offene Nische mit einem Aktenvernichter. Diese Öffnung sollte etwa drei Meter breit sein. An ihr mussten sie vorbei, um den nächsten Teil der Wand zu erreichen. Dann würden sie auf den Kühlraum des Supermarktes stoßen, und die nächste Tür rechts wäre schließlich die Herrentoilette. Falls der Junge an der Stelle war, wo seine Mutter ihn vermutete, dann musste er entweder dort drin sein oder irgendwo in der Nähe.

Sam kroch weiter, mit der Taschenlampe in einer Hand, während er mit der anderen immer in Kontakt mit der Wand blieb. Das Wasser aus den Schläuchen, das auf ihren Rücken gerichtet war, strömte um sie herab, half jedoch wenig dabei, den Rauch zu lichten. Sam war klar, dass die Rückseite des Gebäudes jeden Moment explodieren könnte, so wie es an der Vorderseite bereits geschehen war. Und dann stünden ihre Chancen, dem Inferno zu entkommen, wesentlich schlechter. Charlie hielt sich dicht hinter Sam.

Wieder rief Sam den Namen des Jungen, und wieder wurde sein Rufen einerseits durch die Sauerstoffmaske und andererseits durch das Tosen des Feuers erstickt. Er hatte wenig Hoffnung, dass er gehört werden konnte. Wenige Sekunden später traf er auf einen Türknopf und versuchte ihn zu drehen, doch er gab nicht nach.

Das erste verschlossene Büro.

Ein gutes Zeichen, denn das bedeutete, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Sam hielt kurz inne, tippte Charlie an und zeigte auf die Tür. Charlie nickte, und sie bewegten sich weiter voran.

Einige Meter weiter ertastete Sam den zweiten Türknopf, der ebenfalls verschlossen war. Doch inzwischen waren sie außerhalb der Reichweite der Wasserstrahlen, sodass sich die Hitze verstärkte. Plötzlich war keine Wand mehr da. Das musste die offene Nische sein. Sam kroch weiter, wobei ihm durchaus bewusst war, dass sie mit jedem Meter der Flammenhölle immer näher kamen.

Noch ein Stück, und dann spürte er wieder eine Wand rechts von sich. Durch eine Berührung an seinem Bein bedeutete Charlie ihm, dass auch er die Wand gefunden hatte. Sam blieb in Bewegung, doch seine Taschenlampe war nur wenig mehr als ein heller Fleck in dem dichten, beißenden Qualm.

Sam bemühte sich, seine Atmung zu verlangsamen, sonst würde die Druckluft in seinem Atemgerät nur noch für fünfzehn Minuten reichen. Ihr Ziel konnte nicht mehr allzu weit entfernt sein. Doch der Abstand bis zu ihrem nächsten Orientierungspunkt war länger, als er vermutet hatte. Gerade als Sam befürchtete, sie wären vom Weg abgekommen, spürte er einen langen Hebel aus Metall unter seiner Hand. Dies versetzte ihm einen heftigen Adrenalinstoß.

Das musste der Kühlraum sein. Nur noch ein paar Schritte, und dann sollte die Tür zur Herrentoilette kommen. Lieber Gott, bitte lass das Kind noch da drin sein, flehte Sam im Stillen.

„Johnny! Johnny! Hier ist die Feuerwehr! Kannst du mich hören?“

Schon als er rief, war ihm jedoch klar, dass eine Antwort unmöglich war. Das Zischen und Krachen des Feuers ähnelte, dem eines aufziehenden Sturms, und die ständigen Explosionen von Spraydosen und Putzmitteln vorne im Supermarkt klangen wie Geschosse bei einem Bodengefecht. Rasch ließ Sam seine Hand an der Wand entlanggleiten, in der Annahme, gleich auf die Tür zur Herrentoilette zu stoßen. Aber unter seinem Handschuh war nichts zu spüren außer der glatten Mauer. Seine Wadenmuskeln fingen allmählich an, vom Kriechen zu schmerzen, und Sam schnürte es den Magen ab. Wenn wir noch immer auf der richtigen Spur sind, wo zum Teufel ist dann diese verdammte Tür? dachte er.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, ertastete er auch schon einen Türknopf. Das musste die Herrentoilette sein! Sam hockte sich hin, packte Charlie bei der Schulter und schlug auf die Wand. Charlie nickte, um zu zeigen, dass er die Tür ebenfalls gesehen hatte.

Sam machte eine Handbewegung und richtete sich zusammen mit Charlie abrupt auf. Sie rissen die Tür auf, gingen hinein und leuchteten rasch mit ihren Taschenlampen in jede Ecke. Fast sofort füllte sich der Raum mit Rauch, doch sie hatten genug Zeit, um zu wissen, dass die beiden Kabinen leer waren.

Oh nein!

Charlie deutete auf die Tür. Sam nickte, sie kehrten sofort um und verließen die Toilette. Vermutlich hatte der Junge einen Fluchtversuch unternommen und war dabei gescheitert.

Wieder ließen die beiden Männer sich auf die Knie nieder, um dem beißenden dichten Qualm so gut es ging auszuweichen. Die mittlerweile sehr intensive Hitze drang allmählich durch ihre Feueranzüge hindurch. Eine innere Stimme sagte Sam, dass er sich beeilen und hier so schnell wie möglich verschwinden sollte, solange noch Zeit dazu war. Seine Handschuhe waren so heiß, dass er das Gefühl hatte, sie würden mit seiner Haut verschmelzen. Noch länger hier zu bleiben war wie Selbstmord, aber er wollte unbedingt das Kind finden.

Er dachte an die Mutter, die draußen wartete, und stellte sich ihr Gesicht vor, wenn sie allein herauskommen würden. Nur noch ein Versuch sagte er sich. Wir gehen denselben Weg zurück, den wir gekommen sind, aber an der gegenüberliegenden Wand entlang. Vielleicht haben wir ja Glück.

„Wir müssen raus hier!“, schrie Charlie.

Sam nickte, nahm ihn jedoch beim Arm und streckte den Finger aus.

„Wir nehmen die andere Seite!“

„Alles klar!“, schrie Charlie zurück.

Sam griff nach dem Funkgerät, um den Einsatzleiter zu informieren.

„Captain! Hier ist Sam! Wir können den Jungen nicht finden. Wir kommen an der anderen Wandseite entlang raus.“

Durch den ihn umgebenden Lärm hörte er ein statisches Rauschen. Sam wusste, dass Captain Reed antwortete, konnte jedoch nichts verstehen außer „jetzt“. Dann hörte er noch, wie Reed schrie: “… kommt durch“, und das Blut stockte ihm in den Adern. Das Feuer musste nun auch im hinteren Teil durchs Dach geschlagen sein.

Sam steckte das Funkgerät wieder ein und schrie Charlie zu: „Wir müssen sofort raus!“

Charlie nickte, und gemeinsam bewegten sie sich vorwärts. Nur wenige Sekunden später spürte Sam, dass er keinen Beton mehr unter sich hatte. Selbst durch seine dicken Handschuhe hindurch konnte er den Umriss eines Körpers auf dem Fußboden spüren.

„Charlie! Wir haben ihn!“, schrie er.

Charlie kam zu ihm.

„Nimm du die Beine, ich nehme die Schultern!“, rief er.

Doch genau in diesem Augenblick explodierte ein Feuerball. Sam schaute auf, gerade als eine Feuerwand sich auf sie zubewegte. Er schlug Charlie auf den Helm und schrie laut.

„Feuerball! Runter!“

Dann warf er sich selbst auf den ungeschützten Jungen und zog ihn unter sich, gerade als der Feuerball über sie hinwegbrauste.

Sam hatte Angst um das reglose Kind unter ihm. Seine Gedanken überstürzten sich. Ob der Junge schon tot war? Und wenn nicht, wie könnte er jetzt noch überleben? Sie konnten nicht auf demselben Weg hinaus, wie sie hereingekommen waren, und es gab keinen anderen Ausgang als direkt durchs Feuer, was in dieser Situation vollkommen unmöglich war.

Auf einmal kam ihm die Antwort auf seine Fragen so klar und deutlich, als ob sie ihm jemand ins Ohr gesprochen hätte.

Der Kühlraum. Geht in den Kühlraum!

Sam blickte auf und berührte dabei gleichzeitig Charlie, aber da blieb ihm beinahe das Herz stehen. Auf dem Fußboden lag ein großes Stück qualmendes Metall, das eben noch nicht da gewesen war – und Charlie bewegte sich nicht.

„Charlie! Charlie!“, schrie Sam, doch Charlie antwortete nicht. Nun musste sich Sam um zwei Opfer und um sich selbst kümmern.

Fieberhaft suchte er seine Umgebung mit den Augen ab, während um sie herum brennende Teile von der Decke fielen. Der Kühlraum konnte nicht mehr als zwei Meter entfernt hinter ihnen sein. Sam zerrte sein Funkgerät heraus.

„SOS! SOS! Wir sitzen in der Falle, ungefähr in der Mitte. Ich habe den Jungen gefunden, aber Charlie ist bewusstlos. Ich wiederhole! Habe den Jungen gefunden, und Charlie ist bewusstlos!“

Eine weitere ohrenbetäubende Explosion erschütterte das Gebäude. An der Decke züngelten die Flammen, – wunderschöne, tödliche Spiralen in Gelb und Orange, die an der Decke entlangliefen, wie Wellen am Meeresufer, und die gierig alles Brennbare auf ihrem Weg fraßen.

Noch einmal betätigte Sam das Funkgerät.

„Captain, wir gehen in den Kühlraum!“, schrie er. „In den Lagerkühlraum.“

Dann stopfte er das Gerät in die Tasche zurück, packte Charlies Jacke und ein Bein des Jungen und begann, rückwärts zu rutschen, wobei er die beiden leblosen Körper mitschleppte.

Sams Rückenmuskeln brannten wie Feuer, und er wusste nicht, ob wegen der ungeheuren Anstrengung oder wegen der glühenden Hitze. Mit seiner Last kam er nur langsam vorwärts, und er hatte das Gefühl, dass schon zu viel Zeit vergangen war. Überzeugt, dass er vom Weg abgekommen war, stieß er einen Ausruf der Erleichterung aus, als er plötzlich eine Tür ertastete. Er ließ Charlie und den Jungen gerade lange genug los, um hinter sich zu greifen. Und als seine Finger sich um den Metallhebel des Kühlraums schlossen, schickte er ein kurzes Dankgebet gen Himmel. Irgendeine höhere Macht schien ihn zu führen.

Der Kühlraum ließ sich problemlos öffnen. Zuerst schob Sam den Jungen hinein, dessen lebloser Körper leicht über die glatte, kalte Fußbodenoberfläche glitt. Danach zog er Charlie ebenfalls herein und schlug dann hastig die Tür hinter sich zu.

Noch immer auf Händen und Knien nahm er den Helm ab und fiel vornüber zu Boden, wobei ihm das Herz wie wild in der Brust hämmerte.

Die Kälte an seiner Wange tat ihm wohl. Seine Erleichterung, der Hitze des Feuers entkommen zu sein, war andererseits auch verbunden mit dem Bewusstsein, dass der Kühlraum ohne Strom war, was bedeutete, dass es keine Luftzufuhr gab. Wenn die Dinge schlecht liefen, würden sie ersticken, bevor man sie fände.

Mühsam rappelte sich Sam auf. Er musste wissen, ob der Junge noch atmete. Außerdem musste er sich Charlies Verletzung ansehen. Doch die Stille im Kühlraum war geradezu hypnotisch. Nur ganz gedämpft drangen Geräusche durch die dicken Wände.

Schließlich stand Sam auf, tastete über den Boden und wünschte, er hätte seine Taschenlampe nicht verloren. Zuerst fand er Charlie, zog die Handschuhe aus und fühlte dessen Puls an der Halsschlagader. Der Puls war da, stark und gleichmäßig. Obwohl Sam Charlies gesamten Körper abtastete, bemerkte er kein Blut. Allerdings fühlte er eine deutliche Delle in Charlies Helm, die vorher nicht da gewesen war. Hoffentlich war Charlie nur bewusstlos.

Danach suchte Sam den Jungen, den er rasch fand und bei dem er ebenfalls nach dem Puls fühlte. Anders als bei Charlie war dieser kaum zu spüren, und Sam konnte kaum Anzeichen dafür feststellen, dass der Junge atmete. Deshalb setzte er ihm schnell sein Atemgerät auf, um ihm Luft zuzuführen. Mit einem erschöpften Stöhnen ließ sich Sam dann auf den Fußboden fallen. Jetzt konnte er nur noch warten.

Innerhalb kürzester Zeit spürte Sam die Kälte. Zuversichtlich, dass Charlie durch seinen Anzug geschützt war, öffnete er seine Jacke, nahm den Jungen in seine Arme und drückte ihn eng an seine Brust.

„Johnny kannst du mich hören? Du bist jetzt in Sicherheit, aber du musst bei mir bleiben. Deine Mutter ist draußen und macht sich große Sorgen. Du musst jetzt stark sein, Junge. Stärker als je zuvor.“

Da er wusste, dass er nichts weiter tun konnte, hielt Sam den Jungen dicht an sich gedrückt. Und während er dasaß, dachte er an Harley, an das Lachen in ihren Augen und daran, wie sie sich liebten. Ihr Leben würde weitergehen, wenn er stürbe, und es machte ihn wütend, dass seines vielleicht zu Ende wäre, ohne dass sie die Chance gehabt hätten, aus ihrer Ehe etwas Richtiges zu machen.

Draußen hatte Captain Reed genug von Sams letztem Funkspruch verstanden, um zu wissen, dass sie in Schwierigkeiten waren. Er rannte los und schrie dabei seine Befehle.

„Ich will die schnelle Eingreifgruppe hier haben, und zwar sofort.“

Die Feuerwehrmänner liefen herbei, legten neue Schläuche und packten ihre Atemgeräte auf dem Weg zur Rückseite des Gebäudes.

„Was ist los?“, schrie die Mutter des Jungen. „Haben sie meinen Jungen gefunden?“

Captain Reed schrie einen Polizisten an, der in der Nähe stand.

„Bringen Sie sofort die Frau hier weg! Für Zivilisten ist es hier viel zu gefährlich.“

Die Frau packte Reed am Arm, ihre Augen dunkel vor Angst und Schrecken.

„Ich gehe nicht, bevor Sie mir nicht sagen, was Sie wissen“, beharrte sie. „Es geht um meinen Sohn. Ich habe ein Recht darauf.“

Reed zögerte, dann legte er seine Hand auf ihre.

„Ma’am, es sieht nicht gut aus. Alles, was ich von meinen Männern gehört habe, ist, dass sie ihn zwar gefunden haben, aber sie sitzen in der Falle. Ich weiß nicht, in welchem Zustand er ist. Ich weiß nicht, ob er tot ist oder noch lebt, aber wenn ich meine Männer nicht dort rausholen kann, dann werden sie alle sterben. Bitte gehen Sie mit dem Polizeibeamten mit! Er wird Sie an einen sichereren Platz bringen, und ich schwöre Ihnen, sobald ich etwas Bestimmtes weiß, werde ich es Ihnen zuerst sagen.“

„Lieber Gott!“, flüsterte sie und ließ sich mit gesenktem Kopf von dem Polizisten wegführen.

Reed überlief unwillkürlich ein Schauder, doch er hatte keine Zeit, sich seinen eigenen Gefühlen hinzugeben. Mehrere Leben hingen von rationalen Entscheidungen ab. Er rannte wieder auf das Feuer zu und gab noch im Laufen seine Anweisungen.

Seit ungefähr einer Stunde war Harley klar, dass mit Sam irgendetwas nicht stimmte. Jeder Atemzug schmerzte sie, während die Sekunden verrannen. Regungslos saß sie da und starrte das Telefon an, das nicht klingelte.

Sam durfte nicht sterben, weil sie ihm noch nicht gesagt hatte, dass sie ihn liebe. So ungerecht konnte das Leben doch nicht sein.

Einige Zeit später läutete es an der Tür, doch sie schaffte es nicht zu öffnen. Dann hörte sie ein lautes Klopfen und die vertraute Stimme von Tisha Sterling.

„Harley! Harley! Hier ist Tisha. Bist du da drin?“

Harley schauderte. Ihr war schwach vor Angst, aber sie musste es wissen. Langsam schleppte sie sich zur Haustür und machte auf.

Tisha packte Harley bei den Schultern.

„Wir müssen hin! Ich habe einen Anruf bekommen“, erklärte sie. „Es ist …“

„Sam ist in Schwierigkeiten“, sagte Harley dumpf.

Tisha runzelte die Stirn. „Wer hat dich angerufen?“

„Niemand“, erwiderte Harley, die an Tishas Schulter vorbei starr ins Leere blickte.

„Woher weißt du es dann?“, fragte Tisha.

Harley fasste sich ans Herz. „Ich fühle es.“

„Nimm deine Handtasche und komm mit! Ich werde nicht darauf warten, dass Captain Reed anruft. Charlie ist auch in Gefahr, und ich muss wissen, was los ist.“

Harley schauderte erneut, drehte sich um und blieb wie gelähmt stehen. Tisha stieß einen frustrierten Ausruf aus und stürzte zu dem Tischchen im Flur, wo Harley ihre Handtasche aufbewahrte. Tisha griff danach und rannte wieder zur Tür, wobei sie Harley hinter sich herzog.

Die schnelle Eingreifgruppe kämpfte vergeblich. Die Mauern an der Nordseite des Gebäudes waren bereits eingestürzt, und die Stahlträger des langen Metalldachs hatten schon längst nachgegeben.

In Franklin Reed stieg Übelkeit auf. Er war siebenundvierzig Jahre alt und hätte dennoch am liebsten geweint. Seit dem Einsturz machte er sich Vorwürfe, dass er Sam und Charlie hatte hineingehen lassen. Wenn nicht, dann wären sie jetzt noch am Leben. Und sie waren sicher tot, daran hegte er keinen Zweifel. Die Druckluft in ihren Atemgeräten wäre längst aufgebraucht.

Reed versuchte sich zu sagen, dass sie wahrscheinlich am Rauch erstickt wären, ehe das Feuer sie erreicht hätte, aber wissen konnte er das natürlich nicht. Obwohl die Übertragungswagen mehrerer lokaler Fernsehstationen etwa vier Häuserblocks entfernt standen, spürte er, dass die Kamera-Zooms auf ihn gerichtet waren. Deshalb ließ er sich seine Gefühle nicht anmerken. Wenn er trauerte, dann auf keinen Fall vor einer Kamera.

Als er wegschaute, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und zog die Brauen zusammen. Die Polizisten hatten zwei Frauen durch die Absperrung gelassen, und sie rannten jetzt auf ihn zu. Reed erkannte Charlie Sterlings Frau, doch nicht die andere in ihrer Begleitung.

„Verdammt!“, fluchte er vor sich hin. Er wollte Patricia Sterling nicht sagen müssen, dass ihr Mann aller Wahrscheinlichkeit nach tot sei.

Die Luft war voller Rauch und Lärm, und sobald Tisha und Harley die Absperrung hinter sich hatten, liefen sie durch Wasser.

Harley ließ sich von Tisha mitziehen, blickte jedoch nicht zu dem hochgewachsenen, uniformierten Mann, der mit strenger Miene am Ende des Gebäudes auf sie wartete. Sie hatte nur Augen für die Flammen, die hinter ihm zum Himmel emporloderten.

„Mein Gott!“, flüsterte sie und stolperte.

Tisha hielt sie am Ellbogen fest.

„Bleib nicht stehen, und schau nicht zum Feuer!“, sagte sie, ihre Augen glänzend vor ungeweinten Tränen. „Captain Reed wird uns sagen, was wir wissen müssen.“

Reed kam ihnen entgegen.

„Patricia, nicht wahr?“, fragte er und berührte Tisha am Arm.

Ihr Kinn zitterte, aber sie rang sich ein Lächeln ab.

„Ja, Sir, und dies hier ist Sams Frau Harley.“

„Sie sollten nicht hier sein, wissen Sie.“

„Wo sollten wir denn wohl sonst sein?“, gab Tisha zurück.

Reed zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf Harley. Er ergriff ihre Hand und merkte sofort, dass sie sich dessen nicht einmal bewusst war. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Pupillen vergrößert, während sie ungläubig auf das Feuer starrte.

„Mrs Clay, es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen begegnen. Ich wollte zu Sams Barbecue letzten Monat kommen, aber mein jüngster Sohn hat sich an dem Tag beim Baseball-Spiel den Knöchel gebrochen. Meine Frau und ich haben den Nachmittag und den größten Teil des Abends in der Notaufnahme verbracht.“

Harley blinzelte. „Verzeihung!“, murmelte sie. „Was sagten Sie?“

Seufzend sah Reed zu Tisha hinüber. „Ich nehme an, jemand hat Sie angerufen. Sonst wären Sie nicht hier.“

„Was können Sie uns sagen?“, fragte Tisha.

Unwillkürlich zuckte ein Muskel in Reeds Unterkiefer, und unbewusst verstärkte sich sein Griff um ihren Arm.

„Sam und Charlie sind reingegangen, um ein Kind zu suchen, das noch drin war.“

Tisha stöhnte und presste sich dann die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien.

„Und?“

„Sie haben den Jungen gefunden, haben es aber nicht mehr geschafft rauszukommen“, berichtete Reed. „Der letzte Funkspruch war ein SOS von Sam. Er sagte etwas davon, dass sie eingeschlossen seien, aber der Rest war nicht mehr zu verstehen. Wir haben sofort eine schnelle Eingreifgruppe reingeschickt, aber sie hatten kein Glück.“ Er schöpfte tief Atem. „Es tut mir so leid.“

Tisha schlug die Hände vors Gesicht und fiel auf die Knie. Harley legte ihr die Hand auf den Kopf.

Reed sah, wie Harley die Augenlider senkte und schwankte. Da er glaubte, sie würde gleich ohnmächtig, hielt er sie an den Schultern fest, doch sie starrte nur durch ihn hindurch.

„Sie frieren“, sagte Harley.

„Ma’am … Harley, nicht wahr?“

Sie nickte und lächelte. „Aber Sam nennt mich lieber Junie.“

Reed seufzte.

„Harley, ich bringe Sie jetzt am besten …“

„Nein, ich warte auf Sam“, widersprach sie. „Er friert bloß. Jemand muss ihm eine Decke bringen.“

Reed stiegen die Tränen in die Augen. „Mrs Clay, bitte! Sie und Patricia müssen jetzt mit mir kommen.“

Abrupt und mit gerunzelter Stirn entzog sie sich seinem Griff.

„Sie hören mir nicht zu“, sagte sie mit erhobener Stimme. „Sie sind nicht tot. Sie frieren.“

Der Filialleiter, der in der Nähe stand, hatte das Gespräch mit angehört, und auf einmal fiel ihm etwas ein.

„Captain Reed. Captain Reed!“

Reed drehte sich zu ihm um. „Was ist denn?“

„Was ist, wenn sie recht hat? Wir konnten den letzten Teil des Funkspruchs nicht verstehen, aber erinnern Sie sich daran, dass Sie dachten, er wolle, dass jemand sie raushole. Vielleicht hat er ja Kühlraum gesagt? Der Lagerkühlraum ist genau neben den Toiletten. Vielleicht haben sie ja dort Schutz gesucht?“

Zum ersten Mal, seit das Dach eingestürzt war, glomm ein Fünkchen Hoffnung in Captain Reed auf. Es war nicht viel, aber er hatte schon früher Wunder miterlebt. Er deutete auf Tisha und Harley.

„Sie bleiben bei den Frauen“, befahl er und lief auf das Feuer zu.

Sie saßen im Wasser, worüber Sam nicht erstaunt war, denn er hatte das Gefühl, die ganze Welt sei von der glühenden Hitze geschmolzen. Einmal glaubte er, Charlie stöhnen zu hören, und rief ihm etwas zu, um ihn wissen zu lassen, dass er da sei. Aber Charlie antwortete nicht, deshalb zog Sam es vor, sparsam mit seiner Atemluft umzugehen.

Der Junge atmete. Sam konnte das leichte Heben und Senken seiner mageren Brust spüren. Es war klar, dass der Junge eine Rauchvergiftung erlitten hatte und dringend medizinische Hilfe benötigte. Und dennoch, ihn auf dem Schoß zu halten war alles, was er für ihn tun konnte. Sie waren so nah dran gewesen. Es war verdammt unfair, dass es so enden würde.

Sam atmete langsam und gleichmäßig ein, wobei er den Geruch nach auftauendem Fleisch und nassem Papier wahrnahm. Der Sauerstoff im Kühlraum nahm rapide ab. Sam wurde schläfrig … so schläfrig. Einmal dachte er daran, aufzustehen und an der Tür nachzusehen, ob das Feuer vorbei war. Aber das Risiko war zu groß.

Also blieb er in dem Kühlraum, den Jungen in seinen Armen, und wartete darauf, dass das Atmen aufhören würde. Ob ich wohl der Erste sein werde? fragte er sich.

Vergiss mich nicht, Junie! Ich werde dich ganz bestimmt nicht vergessen.

Der Junge war so schwer, und Sam wurde müde … so schrecklich müde. Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Sie brannten ein wenig, aber noch mehr juckten sie. Ach ja, das war der Rauch!

Ich muss mich ausruhen … nur für eine Minute.

Die Sekunden vergingen, und langsam glitt der Junge aus Sams kraftlosen Armen in seinen Schoß hinunter.

Abgesehen von dem stetigen Tropfen des schmelzenden Eises war es still – totenstill.

Captain Reeds Funkgerät knisterte, dann hörte er einen seiner Männer rufen:

„Wir haben sie gefunden!“

„Im Kühlraum?“

„Ja, Captain. Wir bringen sie jetzt raus.“

„Leben sie noch?“

„Sie haben einen Puls.“

Reeds Knie wurden weich.

„Gott, ich danke dir!“ Als er sich umwandte, stand dort Harley Clay. „Sie haben sie gefunden, Mrs Clay. Sie leben.“

„Ja“, sagte sie nur.

Reed sah sie einen Moment lang schweigend an, dann ergriff er ihre Hand.

„Harley?“

„Ja?“

„Woher haben Sie es gewusst?“

„Dass Sam noch lebt?“, fragte sie benommen.

Er nickte.

„Ich konnte es fühlen … hier drin“, erwiderte sie und legte die Hand auf ihr Herz.

Reed schüttelte den Kopf. „Ich denke, das ist ein Zeichen für eine verdammt gute Ehe. Sie beide sind zu beglückwünschen, dass Sie eine so gute Wahl getroffen haben.“

Harley nickte, und ihr Kinn bebte, als Captain Reed davonging. Je länger sie darauf wartete, dass die Männer evakuiert wurden, desto leichter wurde ihr ums Herz.

Eine Wahl?

Vielleicht. Aber es war weder ihr gesunder Menschenverstand noch eine Wahl gewesen, die sie zu Sam geführt hatte, sondern der Champagner. Nach jener irrwitzigen Trauzeremonie, an die sie sich nicht mehr erinnerte, ja, danach war es um eine Wahl gegangen. Sie hatte sich dazu entschieden, bei ihm zu bleiben, auch gegen ihre Vernunft. Nun standen sie am Anfang einer wunderbaren Ehe, und es war ein Baby unterwegs. Gott sei Dank war Sam am Leben, um diese gute Neuigkeit zu hören!

Auf einmal entstand Unruhe in der Gruppe an der Tür, und Harley wusste, dass sie die Verunglückten herausbringen würden. Sie ging auf die Rettungswagen zu, voller Sehnsucht danach, Sams Gesicht zu sehen. Es ging ihm gut. Das wusste sie ebenso sicher, wie sie gewusst hatte, dass er noch lebte.

Tisha war auch dort. Sie weinte zwar immer noch, aber jetzt waren es Tränen der Erleichterung. Harley ging an ihr vorbei zur ersten Trage.

Es war der Junge. Sie schaute auf ihn hinunter, vorbei an der Sauerstoffmaske in das schmale, rauchverschmierte Gesicht eines Jungen an der Schwelle zum Mannsein. Tränen stiegen ihr in die Augen vor Stolz über das, was Sam und Charlie vollbracht hatten. Gleichgültig, was das Schicksal dem Jungen zugedacht hatte, sie hatten ihm jedenfalls eine zweite Chance auf das Leben geschenkt.

Die nächste Trage wurde gebracht, und Harley lief ihr entgegen. Es war Charlie, dessen Kopf bandagiert war.

„Wird er in Ordnung kommen?“, fragte sie.

„Ja, Ma’am“, antwortete einer der Sanitäter.

Die Arme vor den Bauch gepresst, wandte sie sich dem Gebäude zu, aus dem noch immer der Rauch aufstieg, und wartete darauf, dass sie den Mann herausholten, dem ihr Herz gehörte.

Sekunden vergingen. Quälend lange, endlose Sekunden, bis Harley endlich sah, wie die Sanitäter mit der letzten Trage herauskamen. Sie begann zu laufen.

„Sam.“

Er hörte ihre Stimme und schlug die Augen auf. Harley lief neben ihm her, um mit den Rettungskräften Schritt zu halten.

„Junie?“

„Ich liebe dich, Sam. Ich habe beinahe zu lange gewartet, um es dir zu sagen. Aber jetzt sage ich es dir.“

Ein innerer Frieden erfüllte Sam, den er bisher nicht gekannt hatte. Er streckte die Hand nach ihr aus, und Harley ergriff sie, noch immer im Laufen.

„Danke, Junikäfer!“

Sie fing an zu weinen und bekam einen Schluckauf vom Schluchzen, weil sie neben der Trage herlaufen musste, um mit den langen Schritten der Feuerwehrmänner mitzuhalten.

„Nicht weinen, Schatz!“, sagte Sam. „Ich bin nicht verletzt. Ich habe nur ein bisschen Rauch abgekriegt.“

„Ich weine ja gar nicht“, antwortete Harley.

Sam hätte am liebsten gelacht, doch seine Lungen schmerzten ihn.

Gleich darauf ließen ihn die Männer neben einem Rettungswagen auf die Erde hinab. Einer von ihnen klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Ich muss nur noch einen anderen Gurt besorgen, dann laden wir dich gleich ein, Sam.“

„Lasst euch Zeit!“, erwiderte dieser. „Alles, was ich brauche, habe ich hier direkt neben mir.“

Harley sank auf die Knie. Ohne auf die Ruß- und Rauchspuren zu achten, legte sie ihre Wange an Sams schmutziges Gesicht.

Es kostete Sam zwar all seine Kraft, aber es gelang ihm, seine Arme um Harley zu legen. Seine Stimme war leise, aber durch seinen Tonfall erfuhr sie viel mehr von dem, was er durchgestanden hatte, als ihr lieb war.

„Ich war mir nicht sicher, ob ich das hier jemals wieder tun könnte“, sagte er.

Harley fing wieder an zu weinen.

„Ach, Junie, nun wein doch nicht! Sonst fange ich gleich auch noch an zu heulen.“

Sie küsste ihn, wobei sie nicht nur Feuer und Rauch schmeckte, sondern auch ihren Ehemann.

„Sam?“

„Ja, Liebling?“

„Ich bekomme ein Kind von dir.“

Ein Schock durchfuhr Sam, als er so dalag. Ungläubig starrte er Harley an – die vertrauten Züge ihres Mundes, die beiden winzigen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken, und erinnerte sich daran, wie sie stöhnte, wenn er in sie hineinglitt.

Fast hätte ich diese Neuigkeit nicht erfahren, dachte er. Ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen, doch rasch blinzelte er die Tränen fort.

„Sam?“

Er griff nach ihrer Hand und presste sie an die Lippen, beinahe zu überwältigt, um zu sprechen.

„Danke, Harley, dass du uns eine Chance gibst!“

„Du bedankst dich bei mir? Ich sollte mich bei dir bedanken“, erklärte sie. „Du bist mir nachgefahren, als ich Angst bekommen habe und davongelaufen bin. Du hast mich geliebt, als ich Angst hatte, mich selbst zu lieben. Du bist mein Held, Sam Clay, jetzt und für immer.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Held. Ich bin bloß ein Mann, und der Himmel allein weiß, wie sehr ich dich liebe.“

Harley wollte ihn umarmen, fürchtete jedoch, einen Teil seines Körpers dabei zu drücken, der womöglich doch verletzt war. Deshalb begnügte sie sich lediglich mit einem weiteren Kuss.

„Ich mache dich ja ganz schmutzig“, meinte Sam und zeigte auf einen schwarzen Streifen an ihrem Kinn.

Harley fröstelte. Sie hätte ihn am liebsten vollständig ausgezogen, nur um sich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich unverletzt war. Und er ist beunruhigt darüber, dass er mich schmutzig macht? dachte sie. Wenn er wüsste …

Da sie ihm nicht verraten wollte, wie kurz davor sie gewesen war, die Fassung zu verlieren, zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Ich bin schon öfter schmutzig gewesen. Ich meine mich daran zu erinnern, dass du mir irgendetwas von unserer Hochzeitsnacht und von Erdbeeren mit Champagner erzählt hast.“

„Das war kein Schmutz. Das war guter, fantasievoller Sex.“

Harley war zum Lachen zumute. Die Angst, die sie den ganzen Nachmittag über beherrscht hatte, war fast verschwunden. Aber es war immer noch alles zu frisch, um Raum für Fröhlichkeit zu lassen.

„Sam?“

„Ja, mein Schatz?“

„Wenn es dir wieder gut geht, möchte ich etwas tun.“

„Alles, was du willst“, antwortete er.

„Ich möchte dich noch einmal heiraten. Ich will nicht durchs Leben gehen, ohne mich an unser Eheversprechen zu erinnern.“

Sams Augen wurden feucht. Mit diesen wenigen Worten hatte sie auch noch den letzten Rest seiner Selbstkontrolle erschüttert.

„Es wäre mir ein Vergnügen“, sagte er.

Harley grinste verschmitzt.

„Oh ja, Sam! Das wird es allerdings, das verspreche ich dir.“