3. KAPITEL

Schon bevor sie das Haus ihrer Eltern verließen, hatte Harley sich entschlossen, es mit ihrer Ehe wirklich zu versuchen. Sie wusste nicht mehr genau, wann sie diesen Entschluss gefasst hatte, aber es war irgendwann in der Zeit gewesen, als Sam Marcies ständiges Gejammer zum Schweigen gebracht hatte, indem er einen Witz erzählt hatte, bei dem ihr Vater lauthals gelacht hatte.

Harley konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren Vater zuletzt so gesehen hatte – mit funkelnden Augen und wie er sich vor Lachen auf die Schenkel geschlagen hatte. Wenn Sam eine solche Wirkung auf ihre gesetzten Eltern hatte, lohnte es sich vielleicht, darüber nachzudenken, wie ihr Leben mit ihm aussehen könnte.

Ihr eigenes Leben hatte sich schon lange in einem Alltagstrott festgefahren. Sich der Nähe von Sam, der neben ihr im Wagen saß, nur allzu sehr bewusst, lächelte sie ihm nervös zu. Sie krampfte ihre Hände im Schoß zusammen und bemühte sich verzweifelt darum, sich zu beruhigen.

Sam merkte, dass Harley Angst hatte. Er hatte es ihr bereits angesehen, als sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatten.

Das Taxi hielt vor ihrer Wohnung an. Sam stieg aus, und während der Fahrer seine Reisetasche aus dem Kofferraum holte, suchte er nach Geld, um die Fahrt zu bezahlen.

Harley war zumute, als habe sie die Grippe. Ihre Zähne klapperten, und ihr drehte sich der Magen um. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, als wolle sie weglaufen. Und dennoch sehnte sie sich danach, in Samuel Clays Armen zu liegen.

Im fahlen Licht der Straßenlaterne an der Ecke erschienen seine Schultern breiter, und er wirkte beinahe einschüchternd, als er sich aufrichtete und sich zu Harley umdrehte. Er lächelte ihr zu, und sie atmete erleichtert aus. Es würde alles gut werden.

Sam nahm seine Tasche, ergriff Harleys Hand, und gemeinsam gingen sie auf die Eingangstür ihres Apartmentgebäudes zu. Kurz vor der Tür stolperte sie, und Sam fing sie rasch auf.

„Liebling … bist du okay?“

Sie seufzte. „Ja.“

Er drückte ihre Hand. Wenige Sekunden später betraten sie das Haus und stiegen die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf. Dort schloss Harley ihre Wohnungstür auf und schaute Sam an.

„Willkommen bei mir zu Hause!“, sagte sie leise.

Sam stellte seine Tasche ab, sobald er eingetreten war, stieß die Tür mit dem Fuß zu und nahm Harley in die Arme. Sie seufzte erneut.

„Die Tür … schließ ab …!“

Sam fasste hinter sich und schob den Riegel vor, ohne hinzuschauen. Er wollte den Blick nicht von Harleys Gesicht abwenden.

„Hiervon träume ich schon seit Tagen.“

Unwillkürlich wurden Harley die Knie weich. „Ich habe ein bisschen Angst.“

„Junikäfer, ich würde dir niemals wehtun.“

„Junikäfer?“

„Ja. Von denen gibt es viele bei uns in Oklahoma. Das sind kleine hartnäckige Dinger. Sie kommen nachts raus und verbringen den größten Teil ihres Lebens damit, sich an den hellsten Lampen umzubringen, die sie finden können.“

Harley musste beinah lächeln. „Willst du damit etwa sagen, dass ich auch einen Todeswunsch habe?“

Sam schüttelte den Kopf und umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen.

„Nein, aber du bleibst verdammt hartnäckig bei der Behauptung, dass du dich an nichts erinnerst, was uns beide betrifft. Und das kann ich nicht akzeptieren. Ich will es nicht akzeptieren. Ich glaube, je länger wir zusammen sind, desto mehr wirst du dich erinnern.“

Er streifte ihren Mund mit seinen Lippen, was ihr ein leises Stöhnen entlockte.

„Ich weiß, dass du dich an den Champagner und die Erdbeeren erinnern konntest. Ich habe es in deinen Augen gelesen.“

Sam ließ die Hände unter ihren Blazer gleiten und knöpfte ihren Rock auf. Als er sie eng an sich zog, spürte Harley die harte Wölbung seiner Männlichkeit an ihrem Unterleib, und ein erregendes Prickeln überlief sie.

„Ich habe dir ja gesagt, dass ich mich daran erinnere.“

Er zog ihr die Kleider aus, Stück für Stück, und seine Berührung löste sehnsüchtiges Verlangen in ihr aus.

„Dann lass uns noch mehr Erinnerungen schaffen! Und zwar jetzt gleich, ehe du vergisst, wie sehr es dir gefallen hat.“

Harley öffnete seine Gürtelschnalle. „Die erste Tür rechts den Flur entlang.“

Das war alles, was Sam wissen musste.

Die Bettfedern quietschten. Sam lag auf Harley, wobei er sich mit seinen langen Armen so abstützte, dass nur die Hälfte seines Körpergewichts auf ihr lastete. Was immer auch in ihrer Beziehung fehlen mochte, die sexuelle Chemie zwischen ihnen stimmte jedenfalls.

Harleys Herz hämmerte, und sie hatte die Augen geschlossen. Jede Faser ihres Seins war auf den Körperkontakt zwischen ihr und Sam konzentriert. Mit den Fingernägeln krallte sie sich in seine Oberarme, die Beine hatte sie um seine Hüften geschlungen und überließ sich vollkommen ihrer Lust mit diesem Fremden, der ihr Ehemann war. Ihre Erregung steigerte sich immer weiter und trieb sie an den Rand der Ekstase.

Das Ende kam unvermittelt. In der einen Sekunde war es lediglich ein schönes Gefühl, und in der nächsten war es dann da. Harley spürte, wie es ihren gesamten Körper durchzuckte, und ihrer Kehle entrang sich ein tiefes, heiseres Stöhnen.

In diesem Moment verlor Sam die Kontrolle. Ein Herzschlag, und er war völlig hilflos. Der Höhepunkt überschwemmte ihn wellenförmig. Ein Stoß, noch einer und noch einer – und auf einmal war sein Kopf absolut leer. Erst danach dachte Sam daran, Harley wieder mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Er schloss die Arme um sie und rollte sich herum, sodass sie oben lag. Er vergrub die Finger in ihren langen Haaren.

„Wow!“, flüsterte er und gab Harley einen Kuss auf die Stirn.

Sie war still, viel zu still. Stumm lag sie in seinen Armen.

Sam hob den Kopf. „Junie bist du okay?“

„Nein“, wisperte sie kaum hörbar.

Ihm wurde schwer ums Herz. Er schob sie von seiner Brust auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen, um sie anzusehen. Selbst in dem dunklen Schlafzimmer konnte er erkennen, wie ihr dir Tränen übers Gesicht liefen.

„Liebes … was ist los? Bitte sag, dass ich dir nicht wehgetan habe!“

Harley schüttelte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht.

Sam musste sich anstrengen, um sie zu hören.

„Nein, du hast mir nicht wehgetan“, sagte sie.

„Aber was ist es dann? Warum weinst du?“

Sie schaute ihn verwirrt an. „Mir war nicht klar, dass ich solche Gefühle empfinden kann, dass ich so … sein kann. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“

Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich.

„Ich schon“, meinte er leise. „Ich weiß, wer du bist. Du bist meine Ehefrau.“

Harley stieß einen tiefen Seufzer aus. „Aber das ist es ja gerade. Verstehst du das nicht? Wie kann ich eine Ehefrau sein, wenn ich meinen Ehemann gar nicht kenne?“

Sam konnte ihre Verwirrung nachvollziehen. Wenn er ehrlich war, machte auch er sich so seine Gedanken. Aber die größte Hürde hatte er bereits überwunden, als er sie wiedergefunden hatte.

„Sieh es doch mal so, Darling! Wir harmonieren wunderbar im Bett, und wir haben den Rest unseres Lebens, um uns richtig kennenzulernen.“

„Du bist verrückt, weißt du das?“, flüsterte sie.

Er schmunzelte. „Ja, verrückt nach dir. Und jetzt komm her zu mir, Liebling, und mach deine hübschen Augen zu! Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns und sollten etwas Schlaf bekommen.“

Harley versteifte sich unwillkürlich. „Wieso? Was ist denn morgen?“

„Erst mal müssen wir alles packen, was du mitnehmen willst, wenn wir nach Hause fliegen. Den Rest können wir uns schicken lassen.“

„Nach Hause?“

„Ja, Süße. Nach Hause, nach Oklahoma City. In zwei Tagen habe ich wieder Dienst.“

„Dienst.“

Lächelnd meinte Sam: „Wenn du alles wiederholst, was ich sage, kriegen wir nie unseren Schlaf.“

„Du meinst, als Feuerwehrmann.“

Er lachte leise. „Das ist mein Beruf, schon vergessen?“

„Du bekämpfst Feuer.“

Er merkte, worauf sie hinauswollte. „Ja, und das mache ich schon seit vierzehn Jahren.“

„Bist du jemals … ich meine … warst du …?“

„Junikäfer, in Las Vegas, als ich dich von dem Pokertisch heruntergeholt habe, war ich in größerer Gefahr als bei irgendeinem Feuer. In dem Moment, als du die Arme um meinen Hals geschlungen hast, wusste ich, dass ich rettungslos verloren war.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Harley seufzte. „Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern.“

Bedauern schwang in Sams Stimme mit. „Ja, ich auch, Junikäfer. Ich auch.“

Der Flug nach Oklahoma war harmlos im Vergleich zu dem Theater, das Harleys Mutter am Flughafen von Savannah veranstaltete. Sie schrie, bettelte und versuchte es schließlich mit Drohungen. Doch da riss Sam der Geduldsfaden. Er wusste, dass Harley ohnehin schon nervös genug war, und das Verhalten ihrer Mutter verstärkte ihre Schuldgefühle. Auch wenn er sich nicht den Zorn seiner Schwiegereltern zuziehen wollte, hatte er zu große Angst davor, Harley doch noch zu verlieren, als dass er länger schweigen konnte. Als Marcie Harley am Arm packte und drohte, sie zu enterben, schaltete sich Sam ein.

Er trat zwischen die beiden Frauen.

Leise, aber mit höchst verärgerter Stimme sagte er: „Mrs Beaumont, ich möchte nicht, dass Sie meiner Frau drohen.“

„Sie ist meine Tochter!“, rief Marcie.

„Dann hören Sie auf, sich wie eine Furie zu benehmen!“

Marcie schnappte empört nach Luft und hätte noch mehr gesagt, doch Dewey brachte sie zum Schweigen.

Entnervt fuhr sich Sam mit der Hand durchs Haar und blickte zu Harley, die mit den Tränen kämpfte.

„Hören Sie, ich kann verstehen, dass Sie Ihre Tochter nur ungern gehen lassen. Aber niemand zwingt sie dazu. Wollen Sie denn nicht, dass sie glücklich wird?“

„Ja, aber …“

Harley holte tief Atem und unterbrach ihre Mutter. „Dann musst du mir auch zugestehen, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe, Mama.“

Marcie, die noch immer böse dreinschaute, wollte offensichtlich nicht nachgeben.

„Ich habe immer davon geträumt, dich im Hochzeitskleid deiner Urgroßmutter den Mittelgang in unserer Kirche hinunterschreiten zu sehen. Der Altarraum wäre mit Lilien und Forsythien geschmückt, und ich hätte ein rosa Kleid an. Die Farbe steht mir am besten, wie du weißt.“

Harley seufzte. „Mama, das ist dein Traum, nicht meiner. Außerdem sind Lilien für Beerdigungen, und ich bin viel größer und schwerer als Urgroßmutter. Ich könnte ihr Hochzeitskleid niemals tragen.“

„Sei still, Marcie!“, erklärte Dewey. „Es ist Harley Junes Leben, nichts unseres.“ Dann wandte er sich an Sam: „Ich habe diese Anrufe getätigt. Ihrem Boss zufolge sind Sie einer seiner besten Männer. Ihr Pastor hält große Stücke auf Ihre gesamte Familie, und die Auskunft Ihrer Bank war ebenfalls sehr beruhigend. Ich vertraue Ihnen, dass Sie gut für meine Tochter sorgen werden.“ Er sah zu Harley June hin. „Und ich bin davon überzeugt, dass meine Tochter klug genug ist, auf sich selbst aufzupassen. Falls es nicht gut gehen sollte, weiß sie, wie sie nach Hause kommt.“

Sam seufzte. „Natürlich.“ Ein letztes Mal schaute er Marcie an. „Mrs Beaumont, ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, und ich habe Junie versprochen, dass wir zu Weihnachten wieder nach Savannah kommen. Einverstanden?“

Marcies Zorn legte sich ein wenig. „Wirklich?“

Harley nickte lächelnd. „Ja, Mama, ganz bestimmt.“

„Na ja!“, sagte Marcie. „Ich nehme an, das war’s dann.“

Kurz darauf wurde ihr Flug aufgerufen. Erleichtert nahm Sam Harley bei der Hand und führte sie den Gang zum Flugzeug hinunter.

Nur wenige Stunden später landeten sie bereits am Will-Rogers-Flughafen in Oklahoma City – für Sams Geschmack keine Minute zu früh.

„Das ist es“, erklärte Sam, als er in die Einfahrt einbog.

Harley beugte sich auf dem Beifahrersitz vor und betrachtete den weitläufigen Klinker-Bungalow.

„Das sieht wirklich hübsch aus“, meinte sie.

Sam lächelte. „Das klingt, als wärst du überrascht.“

Sie wurde rot. „Ich wollte damit nicht sagen, dass …“

„Ich habe dich nur ein bisschen geneckt“, erwiderte Sam, der den Motor abstellte und auf die Vorderveranda deutete. „Ich habe es von meinem Großvater geerbt. Es ist eine nette Gegend. Hier brauchst du keine Angst zu haben. Das verspreche ich dir.“

„Vor dem Haus habe ich keine Angst.“

„Aber ich hoffe, auch nicht vor mir.“

Sams Stimme klang erschrocken und verletzt zugleich, was Harley nicht entging. Sie sah ihn an, da sie sich noch immer nicht daran gewöhnt hatte, dass dieser große, attraktive Mann tatsächlich ihr Ehemann war.

„Nur vor der Situation ganz allgemein“, sagte sie.

Sam nickte zögernd. „Das verstehe ich.“ Er lehnte sich zu ihr herüber und streifte ihre Lippen mit einem Kuss. „Es wird alles gut, Junikäfer.“

Harley zwang sich zu einem Lächeln. „Dann musst du mir jetzt das Haus zeigen, okay?“

Sie stiegen aus und gingen auf die Veranda zu, als jemand Sams Namen rief. Sie wandten sich um und erblickten eine ältere Frau auf der anderen Straßenseite, die ihnen zuwinkte.

Sam winkte zurück.

Ehe er sie davon abhalten konnte, kam die Frau von ihrer Veranda herunter und ging über die Straße.

„Entschuldige bitte“, sagte er zu Harley. „Das ist Mrs Matthews. Sie ist ziemlich neugierig, aber nett.“

„Ich habe die Erziehung meiner Mutter überlebt. Ich schaffe alles.“

Sam lachte leise in sich hinein. „Deine Mutter ist schon in Ordnung.“

„Sie ist verwöhnt, will alles bestimmen und lebt in der Vergangenheit. Abgesehen davon ist sie vermutlich nicht viel anders als jede andere Mutter auch.“

Sam drückte warnend ihre Hand, sobald Edna Matthews den Gehweg überquert hatte und den Weg zum Haus heraufkam.

„Stell dich darauf ein, dass du gleich ausgequetscht wirst!“

„Nun ja, da du noch immer glasige Augen davon hast, was meine Mutter mit dir gemacht hat, werde ich das sicher überstehen.“

Sam grinste. Harleys Kommentar, den sie in dem langsamen, gedehnten Georgia-Tonfall von sich gegeben hatte, war köstlich.

„Sammy, ich bin ja so froh, dass ich dich erwischt habe“, verkündete Edna, die schwer atmend auf sie zukam, und überreichte ihm eine kleine Schachtel. „Der Paketbote hat das vorgestern vor deine Tür gelegt, aber Henrys Hund hat es erwischt, bevor ich ihn zurückhalten konnte. Es ist ein bisschen angeknabbert. Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen.“

Sam nahm die Schachtel. „Vielen Dank, Mrs Matthews! Das ist ein Ersatzteil für meinen Rasenmäher, da dürfte also nicht viel passiert sein. Ich bin froh, dass Sie so aufmerksam gewesen sind.“

Sie strahlte. „Dazu sind gute Nachbarn ja da.“ Dann warf sie einen betonten Blick auf Harley.

Sam zwinkerte Harley zu.

„Mrs Matthews, ich möchte Ihnen gerne meine Ehefrau vorstellen. Sie heißt Harley June und stammt aus Savannah in Georgia. Ich verlasse mich darauf, dass Sie ihr dabei helfen werden, dass sie sich hier in der Nachbarschaft willkommen fühlt.“

Edna Matthews blieb der Mund offen stehen. Sam Clay galt allgemein als hervorragender Fang. Zu hören, dass er dem Heiratsmarkt nicht mehr zur Verfügung stand, war eine echte Sensation. Edna konnte es kaum erwarten, die Neuigkeit zu verbreiten. Sie musterte Harley von oben bis unten und streckte ihr dann lächelnd die Hand entgegen.

„Harley June? Das ist jedenfalls ein ungewöhnlicher Name.“

„Es ist der Mädchenname meiner Mutter“, antwortete Harley. „Dort, wo ich herkomme, ist das durchaus üblich.“

„Ich verstehe“, meinte Edna. „Savannah sagten Sie?“

„Ja, Ma’am. Es ist eine schöne Stadt. Waren Sie schon einmal dort?“

„Nein. Mein verstorbener Mann und ich bevorzugten eher die westlichen Bundesstaaten. Besonders gern war er in Las Vegas und Reno. Kennen Sie diese Städte?“

Harley vermied es, Sam anzusehen, und widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen.

„Ja, Ma’am, ich kenne Las Vegas.“

Edna strahlte übers ganze Gesicht. „Na, dann haben wir ja schon eine Gemeinsamkeit. Und was unseren Sammy hier angeht, kann man Ihnen nur gratulieren. Er gilt als ein guter Fang.“

„Ich bin aber der Glückspilz“, sagte Sam und ergriff die Gelegenheit, das Gespräch zu beenden, bevor Edna sich selbst einlud, wofür sie bekannt war. „Noch einmal herzlichen Dank dafür, dass Sie mein Päckchen gerettet haben. Zu meinem nächsten Kochfest sind Sie eingeladen, okay?“

„Oh, vielen Dank, Sammy! Es wäre mir eine Ehre. Dann bringe ich meine italienische Cremetorte mit.“ Sie schaute zu Harley. „Alle lieben meine italienische Torte.“

„Hört sich gut an“, erwiderte diese.

„Oh, sie ist wunderbar!“, bestätigte Edna. „Kochen Sie gerne, meine Liebe?“

„Ja, Ma’am. Alle Südstaaten-Frauen werden dazu erzogen, sich um ihre Männer zu kümmern. Und Sie wissen ja, wie es heißt: Liebe geht durch den Magen.“

Harley warf Sam einen Blick zu, denn sie war sich nur allzu bewusst, dass der Weg zu seinem Herzen nicht das Geringste mit dem Essen zu tun hatte.

„Wir sind jetzt ziemlich müde“, erklärte Sam daraufhin rasch. „Nochmals vielen Dank, Mrs Matthews! Ich melde mich bei Ihnen.“

Er lotste Harley zur Haustür, in der Hoffnung, dass Edna Matthews die entgegengesetzte Richtung einschlagen würde. Als er aufschloss, schaute er über die Schulter und stellte erfreut fest, dass sie in ihrem eigenen Haus verschwand. Dann öffnete er die Tür, hob Harley auf die Arme und trug sie über die Schwelle.

Harley, die auf diesen symbolischen Moment nicht vorbereitet war, ertappte sich dabei, wie sie mit den Tränen kämpfte.

„Willkommen zu Hause, Harley June!“, meinte Sam sanft, setzte sie im Flur ab und küsste sie.

Harleys Herz pochte wie wild, als er den Kopf wieder hob, doch Sam war noch nicht fertig. Er griff in seine Hosentasche und holte einen schmalen, goldenen Trauring heraus, den er ihr an den Finger steckte.

„Das habe ich mir für den richtigen Zeitpunkt aufgehoben. Ist das in Ordnung?“

Sie starrte auf ihre Hand und erinnerte sich daran, mit welch gemischten Gefühlen sie ihn in dem Motel abgenommen hatte. Dann blickte sie wieder zu Sam auf, ohne zu merken, dass sich ihre Gedanken in ihrem Gesicht widerspiegelten.

„Ja, das ist in Ordnung.“

Sam hob ihre Hand an die Lippen, drückte einen Kuss auf den Ring und umarmte Harley dann.

„Das Gästebadezimmer ist den Flur entlang, die zweite Tür links. Sobald ich unser Gepäck aus dem Wagen geholt habe, führe ich dich durch dein neues Heim.“

Er war fort, ehe Harley noch etwas sagen konnte. Doch anstatt sich umzuschauen, starrte sie erneut auf den Goldring an ihrem Finger und fragte sich, weshalb sie sich durch etwas so Kleines und Zerbrechliches derartig gebunden fühlte.

Vierundzwanzig Stunden Dienst, vierundzwanzig frei, vierundzwanzig Dienst, vierundzwanzig frei, vierundzwanzig Dienst, vierundzwanzig frei und dann vier Tage zu Hause.

Nach dreiwöchiger Ehe kannte Harley Sams Dienstplan bei der Feuerwehr von Oklahoma im Schlaf. An den Tagen, an denen er fort war, kochte und putzte sie und arbeitete im Garten wie eine Besessene. An den Tagen, an denen er zu Hause war, fühlte sie sich ein wenig unbehaglich. Noch immer konnte sie nicht recht glauben, dass sie mit einem Mann zusammenlebte, den sie kaum kannte. Sie wusste, dass Sam alles tat, damit sie sich wohlfühlte, aber es war dennoch schwierig.

Seine Geschwister waren alle mit ihren Familien vorbeigekommen, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie äußerten sich anerkennend darüber, dass sie nach dem Vater aller Motorräder benannt worden war, neckten sie damit, dass sie in Las Vegas geheiratet hatte, und hinderten ihre Kinder nicht daran, Limonadeflecken auf dem Wohnzimmerteppich zu hinterlassen. Auch als Harley zu erklären versuchte, dass ihr Name der Mädchenname ihrer Mutter sei, hörten sie gar nicht richtig zu.

Sam hatte sie scherzhaft getadelt und gesagt, dass sie aufhören sollten, die große Liebe seines Lebens zu ärgern. Dann hatte er sie allesamt zu Grillrippchen in einem Lokal in der Nähe eingeladen. Harley fühlte sich von der ungestümen Art seiner Familie etwas eingeschüchtert, und die riesigen Platten voller Rippchen und die Mengen an Bier, die bei dem Mahl flossen, erschreckten sie ein wenig.

Sams Bruder hatte ihr ein Glas Bier angeboten, was sie jedoch schnell abgelehnt hatte.

„Hey, Sam!“, meinte sein Bruder. „Hast du etwa eine kleine Südstaaten-Abstinenzlerin geheiratet?“

Sofort hatte sich Harley umgedreht und Sam einen Blick zugeworfen, der besagte: „Ich bringe dich um, wenn du’s ihnen sagst“, was ihn zu einem Grinsen veranlasste.

Zu ihrer Erleichterung gab er mit seiner Antwort gar nichts preis.

„Kümmere du dich mal schön um deine eigene Frau, und überlass Harley mir!“, sagte er gedehnt. Dann lehnte er sich zu ihr herüber und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

Er schmeckte nach Barbecue und Bier. Und das heftige Verlangen, das sie in diesem Moment durchzuckte, traf sie bis ins Innerste.

Sam bemerkte ihren Ausdruck und flüsterte ihr ins Ohr: „Halt den Gedanken fest!“

Das tat sie dann auch.

Als am Abend schließlich alle gegangen waren, folgten den Gedanken auch die entsprechenden Taten.

Es gab immer noch gelegentlich Tage, an denen Harley davon überzeugt war, einen großen Fehler begangen zu haben, indem sie mit Sam nach Oklahoma gegangen war. Aber diese Tage wurden immer seltener.

Meistens beschäftigte sie sich mit ihrer Hausarbeit, bis er in die Einfahrt fuhr, mit langen Schritten zur Haustür hereinkam und rief: „Hey, Junie, ich bin wieder da!“

Das Leben war gut, und Sex mit Sam war fantastisch. Doch gerade, als sie sich an das Eheleben zu gewöhnen begann, versuchte sie die Heldin zu spielen, was sie allerdings lieber Sam überlassen hätte.

Eine Katze saß in dem Baum im Vorgarten.

Harley hatte sie miauen gehört, als sie hinausgegangen war, um die Zeitung hereinzuholen. Ohne weiter darauf zu achten, war sie wieder ins Haus zurückgekehrt. Später, als sie wieder hinausging, um einige Briefe zum Postkasten zu bringen, hörte sie wieder das Miauen und blieb unter dem Baum stehen.

Sie spähte in das Laub hinein und konnte zunächst nichts erkennen. Doch dann erblickte die Katze Harley, und das Miauen wurde zu einem lauten, kläglichen Geschrei.

„Armes Kätzchen!“, murmelte Harley und stellte sich so hin, dass sie ein wuscheliges orangefarbenes Katzengesicht sehen konnte, das durch die Blätter und Äste zu ihr hinunterblickte.

Wieder miaute die Katze jammervoll.

„Du bist sicher hungrig, stimmt’s, Schätzchen? Wenn du jetzt von da oben runterkommst, kriegst du von mir ein großes Schälchen Milch. Komm her, Kätzchen! Komm! Komm runter! Komm doch!“

„Miiaauuu!“

Harley stürzte zurück ins Haus und kam gleich darauf mit einem Stück Brot zurück, in der Hoffnung, dass der Geruch von etwas Essbarem die Katze vom Baum herunterlocken könnte. Doch alles, was sie für ihre Mühe erntete, war ein weiteres klägliches Kreischen.

Fünf Minuten später und trotz einem Schüsselchen voll Milch auf der Erde saß die Katze immer noch oben im Baum, und Harleys Mitleid kannte keine Grenzen mehr. Anstatt ins Haus zurückzugehen und es der Katze zu überlassen, wann diese vom Baum herunter und zum Futter kommen wollte, glaubte sie fest, dass die Katze nicht in der Lage war, von selbst herunterzukommen. Harley wollte dem Kätzchen helfen, und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie das anstellen könnte.

An der Wand in der Garage hing eine Leiter. Harley holte sie herbei und lehnte sie an den Baum.

Vorsichtig stieg sie die Sprossen empor, und als sie ungefähr die Hälfte erreicht hatte, konnte sie bereits die untersten Zweige erfassen. Es fiel ihr auch nicht weiter auf, dass die Katze, sobald sie Harley erblickt hatte, noch höher geklettert war, anstatt zu ihr herunterzukommen.

Harley schaute auf, um ihre Position abzuschätzen. Dabei stellte sie fest, dass die Katze noch immer mehrere Zweige oberhalb von ihr hockte. Stirnrunzelnd dachte sie, dass das Tier wohl doch höher in den Baum gestiegen sei, als sie angenommen hatte. Sie hielt sich an den Zweigen fest, die ihr am nächsten waren, streckte ein Bein aus und stellte sich auf einen dicken Ast. Innerhalb von Sekunden hatte sie die Leiter verlassen und befand sich im Baum.

„Hierher, Kätzchen!“, rief sie schmeichelnd. „Komm her, mein Kätzchen!“

„Miiiaaauuu!“

Harley kletterte auf einen höheren Ast, woraufhin die Katze zu fauchen begann.

„Hey, Kätzchen, willst du denn nicht runterkommen und ein bisschen schöne warme Milch trinken? Komm her … komm, Kätzchen! Komm doch zu mir!“

Sie streckte ihre Hand aus. Die Katze reckte den Hals und schnüffelte in Richtung ihrer Finger.

„Braves Kätzchen. Komm her, kleine Katze!“

Ihr fehlten nur noch etwa fünfzehn Zentimeter, dann könnte sie die Katze am Nacken packen. Zuversichtlich, dass ihr das gelingen würde, kletterte Harley noch ein klein wenig höher. Das Geräusch eines großen Pick-ups, der unter ihr am Bordstein hielt, nahm sie nur flüchtig wahr.

Die Wagentür ging auf, und der Fahrer stieg aus, wobei in ohrenbetäubender Lautstärke Countrymusic aus der Fahrerkabine dröhnte. Harley blickte hinunter und sah einen dicken Mann mit einer Baseballkappe auf dem Kopf. Und dann beobachtete sie zu ihrem Schrecken, wie ihre Leiter plötzlich vom Baum fortgeschleppt und auf die Ladefläche des Pick-ups geladen wurde.

„Hey!“, schrie sie. „Das ist meine Leiter! Sie können doch nicht einfach meine Leiter nehmen!“

Wegen der lauten Musik hörte der Mann sie ganz offensichtlich nicht, sondern fuhr in aller Seelenruhe fort, die Leiter mit Stricken zu befestigen. Entsetzt musste Harley mit ansehen, wie er dann in sein Fahrzeug stieg und davonfuhr.

„Stopp! Dieb!“, brüllte Harley ihm nach.

Doch der Fahrer hielt nicht an, und die Katze kletterte noch zwei Äste höher, sodass sie nun gänzlich außer Sichtweite war.

„Na, das ist ja toll!“, brummte Harley vor sich hin. Plötzlich wurde sie von einem Schwindelanfall erfasst und hielt sich krampfhaft an den Zweigen fest, während unter ihr die Erde zu schwanken schien.

Minutenlang hing sie an dem Baum, stumm und ohne sich zu bewegen. Währenddessen beschloss die Katze, die keine Lust darauf hatte, ihr Revier mit jemand anderem zu teilen, auf der gegenüberliegenden Seite des Baumes hinunterzuklettern. Unten angekommen tat sie sich an dem Brot und der Milch gütlich, die Harley dort hingestellt hatte, und lief dann die Straße entlang, um sich ein ruhigeres Plätzchen zu suchen.

Ungläubig starrte Harley der Katze hinterher, musste dann jedoch erneut die Augen schließen, weil sie von einem weiteren Schwindelanfall überfallen wurde.

„Undankbares Wesen!“, murmelte sie und schniefte ein wenig, als ihr unwillkürlich Tränen in die Augen schossen und ihr die Sicht verschleierten.

Sam würde erst morgen wieder nach Hause kommen, und der Abstand zum Erdboden war zu weit, als dass sie einfach bis zum untersten Ast hinabklettern und sich dann fallen lassen konnte. Harley wollte nicht riskieren, sich dadurch womöglich ein Bein oder einen Knöchel zu brechen. Leider kannte sie außer Edna Matthews niemanden in der Nachbarschaft, sodass auch kaum jemand sie vermissen würde. Der Gedanke, auf dem Baum festzusitzen, war ebenso unerfreulich wie die Tatsache, dass sie sich bei ihrer Aktion die Shorts zerrissen hatte. Obwohl sie zu ängstlich war, um den Schaden genauer zu begutachten, hegte sie den Verdacht, dass er nicht unbeträchtlich war. Denn sie konnte den Wind an ihrem Po spüren, an der Stelle, wo normalerweise ihre Gesäßtasche hätte sein sollen.

Die Zeit verging.

Nicht nur, dass Harley allmählich einen Krampf in den Beinen bekam und ihre Finger sich betäubt anfühlten. Hinzu kam, dass sie dringend auf die Toilette musste. Also fing sie an, nach Leibeskräften zu rufen, auch wenn ihr ihre Lage äußerst peinlich war.

„Hilfe! Hilfe! Ich brauche Hilfe!“

Beim siebten Mal hörte sie zu ihrer großen Erleichterung, dass jemand zurückrief.

„Wer ruft denn da um Hilfe?“

„Ich“, antwortete Harley mit erhobener Stimme und wagte einen Blick nach unten.

Edna Matthews stand auf dem Rasen vor Sams Haus und schaute sich verwundert um.

Sie drehte sich um. „Harley, meine Liebe, sind Sie das?“

„Ja“, schrie Harley.

„Wo sind Sie?“, schrie Edna zurück.

„Oben im Baum“, erwiderte Harley.

Ungläubig blickte Edna auf. „Du liebe Güte, wie sind Sie denn da raufgekommen?“

„Ich bin eine Leiter raufgestiegen, und dann hat sie jemand geklaut.“

„Oh je!“, meinte Edna. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“

„Nein“, entgegnete Harley, die sich bemühte, nicht in Tränen auszubrechen. „Ich kann nicht mehr runter.“

„Ja, das sehe ich“, gab Edna zurück. „Aber machen Sie sich keine Sorgen! Ich rufe sofort um Hilfe. Warten Sie so lange!“

Schon war sie verschwunden. Harley legte ihre Wange an ihren Arm und hätte beinahe gelacht. Was zum Teufel glaubt Edna, wohin ich wohl gehen könnte?

Nach wenigen Minuten kehrte Edna zurück. „Ich habe die Feuerwehr angerufen, Schätzchen. Sie sind gleich da.“

Harley stöhnte. Sam. Oh nein! Das wird er mir bis in alle Ewigkeit vorhalten …

„Schätzchen?“

„Ja?“, brummte Harley unwirsch.

„Nicht dass es mich etwas anginge, aber warum sind Sie überhaupt auf den Baum gestiegen?“

„Eine Katze saß in dem Baum, und ich dachte, sie könne nicht allein wieder runter.“

„Aber, Schätzchen … Wie ist sie denn eigentlich da hochgekommen?“

Harley unterdrückte ein Schimpfwort. „Tja, sieht aus, als hätte ich gar nicht nachgedacht, nicht wahr? Sonst wäre ich ja nicht in einer solch misslichen Lage.“

„Ich glaube, ich höre die Sirene“, sagte Edna da.

„Super“, murmelte Harley und schloss entnervt die Augen.