12. KAPITEL
„Warst du je verlobt?“, wollte sie wissen.
„Nein.“
Sie musterte ihn offen. „Sind die Frauen in Tulsa blind, oder sind sie einfach nur dumm?“
„Sie sind zumindest nicht so schön und intelligent wie die Frauen in Call City“, gab er leise zu, mit dem Anflug eines Lächelns.
Charlie wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, aber sie sehnte sich nach Wärme, nach Jacks Wärme. „Was macht dir Spaß?“
Er runzelte die Stirn. Mit ehrlichen Antworten würde er viel zu viel von sich preisgeben, aber er wollte sie auch nicht belügen. Er seufzte. Am besten, er sagte die Wahrheit, dann wäre alles schnell vorbei, und sie würden einander nicht irgendwann später verletzen. „Nicht viel.“
Charlie zögerte. „Wie meinst du das? Willst du damit sagen, dass du nicht viel Zeit hast für deine Hobbys, oder heißt das, dass du nichts mit deiner Freizeit anzufangen weißt?“
„Ich bitte dich, Charlotte, was soll das?“
„Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen, den ich nicht kannte, und ich habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.“ Charlie unterdrückte nur mühsam ihre Unsicherheit. „Willst du mir damit sagen, dass du dir nicht gestattest, Spaß zu haben?“
Er konnte es nicht glauben, diese Frau nahm ihn auseinander, schien in ihm lesen zu können wie in einem aufgeschlagenen Buch. „Warum habe ich nur das Gefühl, dass du mich besser kennst, als ich mich selbst“, murmelte er und sah ihr in die Augen.
Abrupt stand sie auf und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Nervös sah er sie an. „Was denn nun?“
„Komm mit.“
„Wo wollen wir hin?“
„Nach draußen, spielen“, erklärte Charlie. „Das ist gut für die Seele.“
Der Schweiß lief Charlie über Gesicht und Rücken. Ihre Pyjamajacke klebte an ihrem Körper. „Hast du genug?“, fragte sie und ließ den Ball vor sich auf den Boden springen.
Jack stand vornübergebeugt, hatte die Knie umfasst und rang nach Atem. Seine Beine fühlten sich an, als seien sie aus Pudding, der Schweiß lief ihm in die Augen, brannte und ließ ihn alles verschwommen wahrnehmen. Charlie andererseits war überhaupt nicht aus der Puste und ein Glitzern in ihren Augen warnte ihn, dass sie nicht nachgeben würde, bis er sich geschlagen gab. Er stöhnte und setzte sich auf den Boden.
„Und das soll Spaß machen?“, beschwerte er sich.
Charlie lachte. Wenigstens hatte sie ihn jetzt so weit. Sie warf den Ball ins Gebüsch, schlenderte zu ihm rüber und setzte sich neben ihn.
Jack konnte es nicht fassen, dass eine Frau ihn geschlagen hatte.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Charlie.
Er stöhnte dramatisch. „Das sage ich dir morgen.“
„Ich nehme an, das bedeutet, dass du jetzt zu müde für weitere Spielchen bist?“
Er sah sie an, bemerkte das Glitzern in ihren Augen und lachte. Und plötzlich wusste er, dass er sich gut fühlte, nicht körperlich, aber in seinem Herzen. Impulsiv packte er Charlie bei den Schultern und rang sie zu Boden.
„Es gibt keinen Mann auf Erden, der das zugeben würde“, sagte er und hielt sie mit seinem Körper gefangen.
„Igitt“, sagte sie lachend. „Du stinkst.“
Er grinste. „Du riechst auch nicht gerade gut, Schätzchen. Und deinen Pyjama kannst du vergessen.“
Sie verzog das Gesicht. „Also noch mal duschen. Da ich dich geschlagen habe, darf ich zuerst unter die Dusche.“
Er grinste verschwörerisch, rollte von ihr runter und stand auf. „Bist du sicher, dass du als Erste duschen willst?“
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Was hatte dieses Glitzern in seinen Augen zu bedeuten?
„Ich denke schon.“
Er wandte sich ab und ging auf die Seite des Hauses zu.
„Du bist ganz sicher?“
„Ja, verflixt und zugenäht, ich bin sicher, dass ich als Erste duschen möchte“, rief sie ihm nach.
Sie wollte gerade aufstehen, da traf sie der erste Wasserstrahl. „Jack! Hör auf! Das ist kalt! Es ist kalt!“ Sie sprintete los in die Dunkelheit, aber es hatte keinen Zweck, er war direkt hinter ihr, den Gartenschlauch im Anschlag.
„Deinetwegen muss ich kalt duschen, seit ich in diesem Haus bin. Kaltes Wasser wird dich nicht umbringen, glaube mir“, rief er lachend.
Charlie konnte nicht entkommen. Als sie versuchte, zum Haus zu gelangen, erwischte sie der kalte Strahl im Gesicht. Um die Kälte ging es ihr inzwischen gar nicht mehr. Jetzt sann sie nur noch auf Rache – und sie wusste genau, wie sie das anstellen würde.
Das kalte Wasser peitschte ihren Rücken, aber sie ignorierte es, blieb stehen und drehte sich langsam um. Sie sah, wie Jack das Grinsen im Gesicht gefror, während sie sich ganz langsam und bewusst das Pyjamaoberteil auszog. Die zarten Knospen ihrer Brüste waren hart von der Kälte und lockten ihn erbarmungslos. Er stöhnte und ließ den Schlauch fallen. Das Wasser lief ihm über die Füße und weiter die Einfahrt entlang.
Charlie hatte die Daumen in den Hosenbund gesteckt und kam langsam auf ihn zu, wobei sie sich leicht in den Hüften wiegte. Als sie direkt vor ihm stand, bot sie ihm ihr Gesicht und alles, was er begehrte. Sie sah, wie er erschauerte, und als er kurz blinzelte, machte sie ihren entscheidenden Zug. Blitzschnell hob sie den Schlauch auf, und noch ehe Jack wusste, wie ihm geschah, stand er mitten im kalten Wasserstrahl. Er hustete, dann lachte er und rang nach Luft, als ihm das Wasser in den Mund floss.
„Das wird dir noch leidtun“, krächzte er und lief davon.
Aber sie war sehr zielsicher, genau wie er. In kürzester Zeit war Jack bis auf die Haut durchnässt und hielt die Hände hoch, um zu signalisieren, dass er sich geschlagen gab. „Du hast gewonnen, Mädchen, in jeder Hinsicht. Ich tue alles, was du willst.“
„Dann sprich mit mir“, sagte sie leise. „Sag mir, warum du nie einfach nur ausgelassen bist und spielst.“
Ja, gab sie denn nie auf? Aber ein Blick in ihr Gesicht sagte ihm, dass sie so lange dort stehen bleiben würde, bis sie eine Antwort hatte.
„Weil der Lärm Joe Hanna zur Weißglut gebracht hätte. Und wenn der wütend war, hat er es stets an mir ausgelassen.“
Charlie brauchte nicht zu fragen, wer Joe Hanna war. Jacks Blick jetzt war genau derselbe, wie an dem Tag in der Küche, als er zugegeben hatte, dass ihn sein Vater täglich geschlagen hatte.
„Oh Jack, es tut mir so leid.“
„Das war nicht deine Schuld.“
„Richtig, das stimmt“, sagte sie leise. „Wenn ich dir also das nächste Mal meine Freundschaft anbiete, dann hab keine Angst davor, sie anzunehmen. Ich werde dich weder schlagen noch verfluchen. Tatsache ist, dass ich seit mehreren Tagen versuche, dich zu lieben, aber du wehrst dich vehement dagegen. Ich gebe ja zu, ich habe selbst eine Todesangst davor, wieder verletzt zu werden, aber ich weiß etwas, was du nicht weißt.“
„Und was ist das?“
„Menschen werden einen immer verletzen können und wollen. Das ist mir widerfahren. Das ist der hässliche Teil des Lebens. Aber es gibt auch Menschen, die dich lieben werden, sosehr, dass du dir die Freude, die daraus entspringt, nicht einmal vorstellen kannst. Doch wenn du Angst hast, zu vertrauen, wenn du dich selbst aufgibst, dann siegt letztendlich derjenige, der dich verletzt, auch wenn er nicht länger Teil deines Lebens ist.“
Jack stand ganz still, überwältigt von dem, was sie gerade gesagt hatte, und dann spürte er, dass ihm eine schreckliche Last genommen war.
„Wie bist du so klug geworden?“, fragte er sie voller Hochachtung.
„Ich bin nicht klug. Ich bin nur eine Frau, die weiß, wie man liebt.“
Sein Herzschlag schien einen Moment auszusetzen. Er konnte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, schon hören, bevor er sie überhaupt aussprach, und er wusste, dass er nie wieder derselbe sein würde, wenn er sie aussprach.
„Charlotte.“
Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Ja?“
„Wenn ich dir eine Frage stelle, wirst du mir die Wahrheit sagen?“
Sie blinzelte, überrascht, dass er jetzt die Führung übernommen hatte. Dann nickte sie.
„Ja, das werde ich.“
„Wenn ich dich bitten würde, würdest du dann mit mir schlafen?“
Sie atmete tief ein und hob dann das Kinn.
„Wenn du fragen würdest, würde ich das vielleicht tun.“
Ein Lächeln begann sein Gesicht zu erhellen. „Charlotte?“
„Was?“
„Willst du mit mir schlafen?“
Sie streckte die Hand aus.
Irgendwo zwischen Hintertür und seinem Schlafzimmer entledigten sie sich ihrer restlichen Kleidung. Das weiche regelmäßige Atmen von Rachel war zu hören, als Jack Charlie aufhob und sie über die Schwelle in sein Zimmer trug. Er legte sie auf das Bett. Dann drehte er sich um und verriegelte die Tür. Die Botschaft war unmissverständlich.
„Jetzt sind wir allein, Liebste, nur du und ich“, flüsterte Jack.
Charlie steckte die Arme nach ihm aus und zog ihn zu sich hinunter, bis sie nebeneinanderlagen und sich tief in die Augen blickten. Strähnen nassen Haares lagen auf ihrem Gesicht und er strich sie zurück. Dann zeichnete er mit seiner Hand ihre Wangen nach, ließ die Hand über den Hals gleiten und schließlich zu ihren aufrechten Brüsten.
Sie bog sich ihm entgegen, bot sich ihm dar.
Er machte ein ersticktes Geräusch, als wäre er schwer getroffen, und dann gab er sich der Liebe hin. Er stahl sich den ersten Kuss, sie schenkte ihm den Zweiten. Und danach schien die Zeit stillzustehen, war nichts weiter als die Brücke zur nächsten Berührung. Sie flüsterten in der Dunkelheit und berührten sich gegenseitig, nicht neugierig, sondern eher wissend, dass sie zueinander gehörten. Charlies Hände waren überall, streichelten Jack, fordernd, verheißend. Er begehrte sie so sehr, dass er kaum noch atmen konnte. Aber er durfte sich noch nicht ganz hingeben. Er hatte noch etwas zu tun. Er musste für Schutz sorgen. Und erst nachdem er das getan hatte, drang er in sie ein und sie begannen ihre sinnenverwirrende erlösende Reise zum Höhepunkt.
Gegen Morgen wachte Jack auf, allein. Nach dem, was sie gemeinsam erlebt hatten, bereitete Charlies Abwesenheit ihm beinahe schon körperliche Schmerzen. Er stand auf und ging in den Flur. Die nassen Sachen waren nirgendwo mehr zu sehen, Charlie hatte schon alle Spuren der vergangenen Nacht entfernt.
Er sah in ihr Zimmer, aber es war leer. Ein Lichtschimmer aus dem Wohnzimmer lockte ihn an, doch als er näher kam, wurde ihm klar, dass es die Lampe am Fenster war. Sie leuchtete für Wade, der noch nicht zu Hause war. Wo konnte Charlie nur sein?
Natürlich, bei Rachel. Bestimmt war sie bei der Kleinen.
Er ging zurück, den Flur entlang und sah ins Kinderzimmer. Und da saß sie, in einem langen T-Shirt, und schaukelte das schlafende Kind im Arm. Bei seinem Eintritt schaute Charlie auf.
„Ist alles in Ordnung mit ihr?“, flüsterte er.
Sie nickte. „Schlecht geträumt“, schien ihr Mund zu formen.
Jack lächelte. Schlechte Träume kannte er zur Genüge. Er nickte in Richtung Küche und formte das Wort „Kaffee“ mit dem Mund.
Sie lächelte in sich hinein, als er gegangen war. Er war splitterfasernackt. Sie fragte sich, wann ihm das wohl auffallen würde.
Einige Minuten später legte sie Rachel wieder in ihr Bettchen und deckte sie mit ihrer Lieblingsdecke zu. Die Kleine kuschelte sich ein, bis alles so war, wie es sein sollte, und schlief wieder tief und fest. Charlie seufzte erleichtert und ging leise aus dem Zimmer. Es passierte nicht oft, dass Rachel schlecht träumte, aber wenn es geschah, half nur, sie in die Arme zu nehmen und zu warten, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Sie konnte Jack in der Küche hören. Der Lärm, den er veranstaltete, war so typisch für einen Mann, der sich bemühte, leise zu sein, dass sie schmunzelte. Sie war schon fast in der Küche angelangt, als sie sich an das Geschenk erinnerte, das sie ihm gestern gekauft hatte. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer, um es zu holen.
Jack schenkte sich gerade die erste Tasse Kaffee ein, als Charlie hereinkam. Er stellte die Tasse ab und hielt sofort einladend die Arme auf. Charlie kuschelte sich an ihn, die kleine Schachtel verborgen in ihrer Hand.
„Ich habe gar nicht gehört, dass du aufgestanden bist“, sagte er. „Ich habe dich vermisst.“
Sie schloss die Augen, genoss die Zärtlichkeit in seiner Stimme. „Ich bin auch nur ungern aufgestanden“, gestand sie. „Ich hatte noch nie das Vergnügen, an einen so warmen Körper gekuschelt zu schlafen.“
Jack war verwirrt. „Hast du denn nicht mit …“
Sie ließ ihn nicht ausreden. „Nein. Pete hielt nichts davon, bei einer Frau zu schlafen. Er wollte nur Sex.“
„Entschuldige“, sagte er leise. „Ich scheine ständig schlechte Erinnerungen wachzurufen.“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Nach letzter Nacht habe ich gar keinen Platz mehr für schlechte Erinnerungen. Vom Standpunkt einer Frau aus, Jack Hanna, bist du perfekt in allem, was zählt.“
Er holte tief Luft. „Danke, mein Schatz.“
„Oh nein, glaube mir, es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen.“
Er lachte.
Sie stieß ihn spielerisch in den Bauch und hakte dann ihren Finger in den Bund seiner Jeans. „Ich hab was für dich“, verriet sie.
Sein Lächeln wurde breiter. „Schon wieder?“
„Nicht das“, schalt sie. „Mach die Hand auf.“
„Was?“
„Mach einfach die Hand auf“, sagte sie und packte ihn am Handgelenk.
Als sie die kleine Schachtel in seine ausgestreckte Hand legte, sah er ein wenig verwirrt drein.
„Was ist das?“
„Mach es auf, dann siehst du es.“
Ganz aufgeregt über das unerwartete Geschenk riss er das Papier auf und warf es beiseite. Dann öffnete er die Schachtel. Seine Augen weiteten sich, und das Lächeln verließ schlagartig sein Gesicht.
„Gefällt sie dir?“, fragte Charlie. Ohne auf seine Antwort zu warten, legte sie ihm die Uhr um.
„Das ist eine Mickymausuhr“, sagte er wie betäubt und schluckte den Kloß, der sich in seiner Kehle formte, runter. Abwesend verfolgte er mit dem Finger den Sekundenzeiger, der über das Zifferblatt kreiste.
Er war so lange still, dass Charlie plötzlich befürchtete, dass ihn das Geschenk peinlich berührte und er nicht wusste, wie er ihr sagen sollte, dass er es doof fand.
„Ich weiß, es ist irgendwie albern, aber ich dachte einfach, dass du ein wenig Spaß in deinem Leben gebrauchen könntest.“
„Ich war ein kleiner Junge. Wir hatten diese Wohltätigkeitsveranstaltung in der Schule. Der Schüler, der die meisten Süßigkeiten verkaufte, sollte eine Mickymausuhr bekommen. Ich wollte diese Uhr. Ich wollte sie mehr, als ich mir je etwas im Leben gewünscht hatte.“
Charlie wartete. Sie wusste, dass er gerade auf seine Weise dabei war, ihr seine Reaktion auf das Geschenk zu erklären.
„Ich hab also geschuftet, um diese Süßigkeiten überall an den Mann zu bringen, nach der Schule, am Wochenende, bis ich insgesamt siebenundzwanzig Schachteln davon verkauft hatte.“ Er rückte die Uhr so zurecht, dass sie das Licht widerspiegelte, und starrte fasziniert auf die kleine schwarze Maus mit der knallroten Hose. „Ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Der, der am nächsten an mir dran war, hatte nur zwölf Schachteln verkauft. An dem Tag, an dem der Wettbewerb beendet war, war ich so aufgeregt, dass ich kaum schlafen konnte. Am nächsten Tag sollten wir unser Geld dem Lehrer übergeben. Ich sah mich schon, wie ich vor die Klasse trete, um meinen Preis in Empfang zu nehmen.“
Charlie wurde ganz nervös. Sie ahnte schon das Ende der Geschichte und der Schmerz in seinen Augen brach ihr fast das Herz.
„Am nächsten Morgen, während ich mich für die Schule anzog, ging ich zur Kommode, um das Geld zu holen, aber es war nicht mehr da. Ich hatte es jeden Tag immer an dieselbe Stelle gelegt. Und obwohl ich das ganze Zimmer durchsuchte und mir sagte, dass ich es einfach woanders hingelegt hatte, wusste ich doch schon, dass es verschwunden war – und ich wusste auch, wer es genommen hatte.“ Er rang nach Atem. „Das war eines der wenigen Male, wo ich ihn angebrüllt habe. Ich habe ihn verflucht und ich habe geweint und geschrien, bis mir schier der Kopf zu platzen schien. Aber es nützte nichts. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er mir das Geld nicht zurückgeben können. Er hatte es schon ausgegeben – für Schnaps.“
„Oh Jack. Was passierte dann?“
„Ich bekam Ärger in der Schule. Jeder dachte, dass ich die Süßigkeiten entweder alle selbst gegessen oder sie verkauft und das Geld für mich behalten hatte. Ich war neun Jahre alt, und ich habe den Rest des Schuljahres damit verbracht, die Toiletten zu reinigen, um das, was mein Vater mir gestohlen hatte, zurückzuzahlen.“
Er sah sie an, wie sie da in der Küche stand in einem alten T-Shirt, ohne Make-up, und er fand, dass sie noch nie hübscher ausgesehen hatte. „Ich kann einfach nicht sagen, was ich in diesem Augenblick empfinde“, sagte er mit zittriger Stimme. „Aber ich denke, es geht ungefähr in die Richtung, dass, auch wenn du mir die nächsten zwanzig Jahre nur Grießbrei kochen würdest, es immer noch nicht reichen würde, um meine Freude über diese Mickymausuhr zu trüben.“
Charlie lächelte. „Siehst du, was du kriegst, wenn du selbstlos gibst?“
„Ja“, sagte er, „ein wirklich dynamisches Duo – dich und Mickymaus.“ Er zog sie in die Arme und drückte sie fest an die Brust. „Verflixt und zugenäht, Mädchen, das zwischen uns wird allmählich beängstigend.“
Sie seufzte. „Ich weiß, Jack, ich weiß.“
Es dauerte noch einige Tage, bis sich die UFO-Hysterie in Call City gelegt hatte und seine Bewohner wieder einigermaßen bei Verstand waren. In der Zwischenzeit verliebte sich Jack immer mehr in Charlie, und sie wachte jeden Morgen auf, voller Angst, dass dies der Tag sei, an dem er sich von ihr verabschieden würde.
Jack trat aus dem Polizeirevier und überquerte leichten Schrittes die Straße, um in das Café zu gehen. Er hatte soeben mit Roger Shaw, seinem Captain in Tulsa, gesprochen. Nachdem Shaw sich seinen Ärger über ihn von der Seele geredet hatte, hatte Jack ihm in aller Ruhe mitgeteilt, dass er nicht mehr nach Tulsa zurückkehre. Jetzt musste er nur noch in Erfahrung bringen, ob Wade das mit seinem Jobangebot ernst gemeint hatte. Er hatte es zwar noch nicht mit Charlie besprochen, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie nichts dagegen haben würde, wenn er bliebe. Der Gedanke, Call City wieder zu verlassen, gehörte der Vergangenheit an.
Er war gerade auf der anderen Straßenseite angelangt, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um und lächelte erfreut. Es war Davie, der offenbar unterwegs in den Laden seiner Tante war.
„Hallo, Kumpel, wie geht es dir?“, fragte Jack.
„Ich hab viele Dosen gefunden“, erklärte Davie und zeigte stolz auf seine Ladung.
„Na, da bekommst du aber ordentlich Pfand. Was willst du denn mit all dem Geld machen?“
Davie runzelte verschwörerisch die Stirn. „Etwas.“
Jack spürte, dass er ein Geheimnis hatte. „Ich bin ziemlich gut darin, Geheimnisse zu bewahren“, sagte er. „Willst du’s mir anvertrauen?“
Davie schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
„Das ist schon in Ordnung“, meinte Jack. „Du wirst allmählich ein großer Junge, nicht?“
Davie strahlte. „Ja. Ich bin ein sehr großer Junge. Tante Judy hat sogar erlaubt, dass ich das Feuerzeug benutze, um die Sachen von dem nackten Mann zu verbrennen.“
Jack hörte zwar seine Worte, aber für den Bruchteil einer Sekunde konnte er ihren Sinn nicht verstehen. Oder wollte sie nicht verstehen. Er holte tief Luft, hockte sich hin und tat so, als würde er in dem Dosenhaufen herumwühlen. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Doch je länger er nachdachte, desto sicherer war er, dass das Rätsel um Shulers Entführung gerade eben gelöst worden war.
„Du hast sie also verbrannt, ja?“
Davie nickte, aber gleichzeitig runzelte er verwirrt die Stirn. Er hatte sich gerade daran erinnert, dass er darüber gar nicht sprechen sollte. „Ich muss jetzt gehen“, sagte er hastig.
„Hast du dabei Victors Uhr gefunden? Die, die du ihm zurückgeben musstest? Lag sie bei den Kleidungsstücken, die Tante Judy dich verbrennen ließ?“
„Ich darf nicht darüber reden“, erklärte Davie und fing an zu weinen.
Jack fühlte sich ganz elend. Er wusste jetzt, wer hinter Shulers Entführung steckte – nur erleichterte ihn das in keiner Weise.
„Ich weiß, Junge. Ich weiß.“ Es hatte keinen Sinn, mitten auf der Straße die Angelegenheit weiter zu verfolgen. „Lauf du nur. Deine Tante wartet wahrscheinlich schon mit dem Mittagessen auf dich.“
Davie sah erleichtert aus. „Ja. Ich gehe jetzt zum Essen.“ Ohne nach links oder rechts zu schauen, stürzte er über die Straße davon.
„He!“, rief Jack.
Davie blieb stehen. Als er sich umdrehte, schnürte sich Jack beim Anblick seines unschuldigen Blickes die Kehle zu.
„Was?“
„Du hast vergessen, nach links und rechts zu sehen, bevor du über die Straße gegangen bist.“
„O! Ja! Hab ich vergessen. Ich werde vorsichtig sein.“
Sobald Davie auf der anderen Straßenseite in Sicherheit war, eilte Jack in das Café, wo Wade schon saß und auf ihn wartete.
Wade sah auf von seinem Essen, als Jack eintrat. „Entschuldige, ich hatte so einen Hunger, ich konnte nicht warten“, nuschelte er mit vollem Mund.
„Schon recht“, meinte Jack und setzte sich Wade gegenüber. Dann beugte er sich vor und sagte leise: „Wir haben ein riesengroßes Problem.“
Wade rollte komisch mit den Augen, schluckte seinen Bissen runter und spülte nach mit Eistee. „Und, ich höre.“
„Wenn du wissen willst, wer Shuler entführt hat: Sie sind drüben im Drugstore.“
Wade saß plötzlich sehr gerade, die Augen weit aufgerissen.
„Das ist nicht dein Ernst!“, schrie er und senkte dann peinlich berührt die Stimme. „Verzeihung“, entschuldigte er sich dann bei den anderen Gästen. „Was du nicht sagst“, meinte er dann flüsternd.
Jack winkte die Kellnerin, die gerade an ihren Tisch getreten war, ab. „Ich möchte nichts. Nur die Rechnung, bitte.“
Wade war völlig durcheinander. „Es sind Gangster im Drugstore bei Judith? Um Gottes willen, ich muss das FBI benachrichtigen. Verdammt noch mal, Jack, sag endlich, was los ist.“
„Lass uns von hier verschwinden“, schlug Jack vor. „Ich erklär es dir draußen.“
Sie waren kaum auf der Straße, als Wade voller Ungeduld an Jacks Schulter rüttelte, damit er endlich redete.
Jack seufzte. „Ich habe mich gerade mit Davie unterhalten. Er tat so geheimnisvoll, als ich ihn fragte, was er sich denn von seinem Pfandgeld kaufen wollte, und unbeabsichtigt platzte er damit heraus, dass seine Tante Judy ihn die Klamotten des nackten Mannes verbrennen ließ.“
Wade war sprachlos. Er hörte zwar, was Jack sagte, aber sein Verstand weigerte sich, es aufzunehmen.
„Ich fragte Davie dann, ob er dabei Victors Uhr gefunden habe“, fuhr Jack fort. „Du weißt schon, in den Klamotten, die er verbrennen sollte.“
„Und, was hat er gesagt?“, wollte Wade wissen.
„Er bekam Angst. Plötzlich ist ihm klar geworden, dass er etwas verraten hat, was er hätte für sich behalten sollen. Daraufhin ist er in Judiths Drugstore gelaufen. Ich hab ihn gehen lassen. Ich fand, dass die beiden zumindest noch eine letzte ungestörte Mahlzeit zusammen haben sollten, bevor die ganze Sache ins Rollen kommt.“
Wade wischte sich übers Gesicht und fuhr sich ungläubig mit den Fingern durch die Haare. „Ich will ehrlich sein, Jack. Ich weiß nicht so recht, wie ich mich hierbei verhalten soll. Wir könnten Davie natürlich zu einer Vernehmung mit aufs Revier nehmen, was jedoch nicht viel bringt, denn vor dem Gesetz gilt er nicht als vollwertiger Zeuge. Juristisch gesehen bringt seine Aussage gar nichts.“
„Aber Judith weiß das möglicherweise nicht“, sagte Jack. „Wenn du Davie verhören wirst, garantiere ich dir, dass sie ihm helfen wird. Wenn irgendetwas an dem ist, was er gesagt hat, wird sie eher die Wahrheit sagen als zuzulassen, dass er leidet.“
Wade nickte. „Da hast du recht.“ Ihm war das Herz genauso schwer wie Jack.