10. KAPITEL
„Holla!“, entfuhr es Charlie, als sie mit Jack in die Bücherei trat. „Sieh sich einer die Wilma an!“
Jack musterte die Frau hinter dem Tresen aufmerksam. „Ich sehe sie zwar, aber was ist so bemerkenswert an ihr?“
„Diese roten Haare! Sonst waren ihre Haare immer mausbraun mit einigen grauen Strähnen. Und in einem solchen Kleid habe ich sie auch noch nie gesehen.“
Jack fiel immer noch nichts Ungewöhnliches auf. „Du meinst dieses geblümte Ding?“
„Es ist so kurz!“, zischelte Charlie. „Ich kann ja schon fast ihre Knie sehen!“
„Ich weiß nicht, Charlie, aber da gibt es weitaus kürzere Kleider, glaub mir.“
Charlie warf ihm einen verlegenen Blick zu. „Das meine ich doch gar nicht“, erklärte sie. „Ich bin nur total überrascht, das ist alles. So kurz waren Wilmas Röcke noch nie!“
In diesem Moment sah Wilma sie, lächelte kurz und winkte. „Guten Morgen, Charlotte“, grüßte sie munter. „Wollen Sie wieder Bücher für Ihren kleinen Schatz ausleihen?“
„Nein, Ma’am“, mischte sich Jack verschmitzt ein. „Diesmal wollte ich sie mir gern selbst aussuchen.“
Es war schwer zu sagen, wer entsetzter dreinblickte, Charlie oder Wilma. Jack auf alle Fälle amüsierte sich königlich.
„Wilma, dieser unmögliche Mann ist Jack Hanna. Er ist Wades Deputy, während Hershel auf Hochzeitsreise ist.“
Wilmas Augen weiteten sich bewundernd. „Natürlich, ich weiß, wer Sie sind“, platzte sie erregt heraus. „Sie sind der Mann, der die kleine Rachel vor diesem schrecklichen Stier gerettet hat.“
Diesmal war es an Jack, verlegen zu sein. „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er schnell und wechselte das Thema. „Wir möchten uns alles ansehen, was Sie über Call City und seine Bürger haben, sagen wir, die letzten zwanzig oder besser noch fünfundzwanzig Jahre.“
Wilma wirbelte auf ihrem Drehstuhl herum, fuhr sich kurz über ihre neue Haarpracht und ging dann leichtfüßig rüber zu den Mikrofilmen, wobei sie sich in den Hüften wiegte. Charlie folgte ihr mit amüsiertem Blick. Wilma fühlte sich wie neugeboren, seitdem sie Victor Shuler auf den Stufen der Bibliothek entdeckt hatte: Sie hatte einen völlig nackten Mann gesehen – und überlebt! Jetzt war sie ganz offiziell eine Frau und jeder sollte das auch bemerken.
Sie stellte das Lesegerät für die Mikrofilme an. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
„Alles, was mit Victor Shuler zu tun hat“, sagte Jack.
Wilma schnappte geradezu nach Luft und griff sich dramatisch an den Busen. „Ach du meine Güte! Hat das was mit seiner Entführung zu tun? Gehört das zu Ihren Ermittlungen?“
Jack zögerte kurz. „Gewissermaßen ja.“
Wilma warf einen Blick auf Charlie und fragte dann im Flüsterton: „Ist es denn in Ordnung, das hier vor ihr zu besprechen?“
Jack schmunzelte. „Ja, Ma’am. Tatsache ist, dass dieser Teil der Ermittlung Charlies Idee war.“
„Sieh an“, meinte Wilma und musterte Charlie mit neuem Respekt. „Und ich habe Sie die ganze Zeit über nur für so ein süßes harmloses Ding gehalten.“ Sie sah sich verschwörerisch um, obwohl sie die Einzigen in der Bücherei waren. „Wenn Sie irgendetwas brauchen, egal was, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Ich halte am Tresen Wache.“
Jack musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu lachen. „Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie einfach wie gewohnt weitermachen würden. Verstehen Sie, das wäre am unauffälligsten. Tun Sie einfach so, als wären wir gar nicht da.“
„Ja! Genau! So wird nichts bekannt und der Verbrecher ist nicht vorgewarnt.“
„Richtig“, pflichtete Jack ihr bei. „Wenn Sie also nichts dagegen haben, machen wir uns jetzt an die Arbeit.“
„Wilma haben Sie nicht sämtliche Ausgaben der ‚Cougar‘- Jahrbücher in Ihrer Bücherei?“
Wilma klatschte begeistert in die Hände. „Ja! Das ist wirklich eine gute Idee, Charlotte. Folgen Sie mir.“
„Ich bin da drüben“, meinte Charlie zu Jack. „Übrigens, wonach genau suchen wir eigentlich?“
„Fang einfach an mit den Jahren, als Shuler noch auf der Highschool war“, schlug Jack vor. „Markiere alles, wo er erwähnt wird. Dann sehen wir uns das später gemeinsam noch einmal an.“
Sie nickte und schickte sich an zu gehen.
„Charlie?“
Sie wandte sich fragend zu ihm um.
„Du bist der erste Mensch, mit dem ich zusammenarbeite, seit Dan erschossen wurde.“
„Oh Jack, ich wollte nicht …“
„Nein, nein, das ist in Ordnung. Tatsache ist, es ist ein verdammt gutes Gefühl, Unterstützung zu haben.“
Sie lächelte und hob dann entschlossen das Kinn. „Ich kann zwar nicht schießen, aber mit den Fäusten bin ich gar nicht mal so schlecht.“
Er nickte und erinnerte sich an die furchtlose Art und Weise, wie sie sich dem Stier stellen wollte, als ihr Kind in Lebensgefahr schwebte. „Oh ja, Lady, darauf möchte ich wetten.“
Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an. Da rief Wilma.
„Charlotte, ich hab jetzt alles vorbereitet für Sie.“
Charlie blinzelte verwirrt. „Ja, ich sollte wohl mal …“
Jack atmete tief ein. „Ja, und ich muss …“
Und den ganzen Morgen über waren sie sich, trotz der konzentrierten Nachforschungen, die sie betrieben, der Gegenwart des anderen überdeutlich bewusst.
Es war fast Mittag, als Jack aufblickte. Er rieb sich müde den Nacken, versuchte, die Verspannung aus den Schultern zu vertreiben und ging dann rüber zu Charlie.
„Hast du irgendetwas gefunden?“
Charlie zuckte die Achseln. „Viele Fotos, aber ich weiß nicht, ob sie was zu bedeuten haben. Was ist mit dir?“
Er schüttelte den Kopf. „Nichts, was mit der Entführung in Verbindung zu bringen wäre. Shulers Vater war seinerzeit wohl der mächtigste Mann von Call City, wie?“
„Ich denke schon. Aber eigentlich erinnere ich mich gar nicht an ihn. Er starb, glaube ich, als ich noch klein war.“
„Schauen wir uns doch mal an, was du hast“, schlug Jack vor und setzte sich neben sie.
Gemeinsam sahen sie sich die Highschool-Fotos an. Das Einzige, was daraus hervorging, war, dass Victor Shuler seinerzeit wohl kein Fest ausgelassen hatte und ein großer Mädchenschwarm war. Es gab eine Unzahl von Bildern, die ihn im Arm von irgendwelchen Mädchen zeigten.
„Sieh mal“, meinte Charlie plötzlich, „ist das nicht Wilma?“
„Ja, richtig“, bestätigte Jack. Er drehte sich um und musterte die Bibliothekarin interessiert. Dann rief er: „Wilma, könnten Sie mal kurz kommen?“
Wilma wirbelte herum und sah ihn strafend an und legte den Finger auf den Mund. Schließlich war man hier in einer Bücherei. Jack grinste in sich hinein, während sie mit schwingenden Hüften auf ihn zuging.
„Haben Sie was gefunden“, flüsterte Wilma neugierig.
„Nichts Konkretes“, erklärte Jack. Dann wies er auf das Foto in dem Jahrbuch, das vor Charlie lag. „Sind das nicht Sie?“
„Ach du meine Güte, ja, das bin ich tatsächlich. In dem Jahr war ich Präsidentin des Debattierklubs.“
„Und hier, das ist doch Victor, der da den Arm um Sie gelegt hat?“
Sie kniff die Augen leicht zusammen, um besser sehen zu können und errötete dann leicht. „Ja, ich denke schon.“
Jack beobachtete sie. Sie schien plötzlich so nervös. Warum nur?
„Waren Sie beide ein Paar?“
„Eigentlich nicht“, stotterte sie verlegen. „Ich meine, wir sind ein-, zweimal miteinander ausgegangen, aber wir haben uns nicht mal richtig geküsst.“ Sie riss sich zusammen, erinnerte sich daran, dass sie jetzt eine erwachsene Frau war, eine Frau mit Erfahrung. „Victor war ein Frauenheld“, erklärte sie. „Immer auf der Durchreise, wenn Sie wissen, was ich meine. In meinem Leben hat er nur kurz Station gemacht.“
Charlie unterdrückte ein Grinsen und beschäftigte sich dann mit einem anderen Jahrbuch. Aber Jack wollte noch mehr wissen.
„Und was ist mit diesen Mädchen hier?“ Er deutete auf verschiedene Fotos, auf denen Victor stets ein Mädchen küsste oder umarmte.
Wilma sah näher hin. „Also, mal überlegen. Das war Anna Mankin, heute Anna Stewart. Ich glaube, sie wohnt in Dallas. Und das – wie hieß sie noch? Ach ja, Mary Lee. Mary Lee Howards. Sie kam vor ungefähr zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben.“
Während Wilma sprach, machte sich Jack hin und wieder Notizen. Und je länger er zuhörte, desto überzeugter war er, dass die Antwort in diesen Büchern zu finden war. Er wollte Wilma gerade unterbrechen, als sie einen Namen erwähnte, der sein Interesse erweckte.
„Das ist Judy“, sagte Wilma. „Die kennen Sie ja sicher schon.“
Jack betrachtete das große elegante Mädchen mit den dunkelbraunen Haaren. Irgendwie kam sie ihm schon bekannt vor, aber dieses strahlende Lächeln? Er konnte sich nicht erinnern. „Nein, Ma’am, ich glaube nicht.“
„Aber natürlich kennst du sie, Jack! Das ist Judith Dandridge. Du weißt schon, Davies Tante“, erinnerte ihn Charlie.
„Du machst Witze!“ Er konnte es nicht glauben, dass diese heute so strenge und zurückgenommene Frau einst so ein strahlendes Wesen war. „Also, die hat sich aber sehr verändert.“
Wilma blickte nachdenklich drein. „Stimmt, ist mir aber irgendwie gar nicht so aufgefallen. Na ja, sie ist jetzt Apothekerin, und das ist eben schon fast wie Ärztin. Da muss sie seriös und verantwortungsbewusst aussehen. Das schafft Vertrauen.“
„Wilma war Judith nicht im selben Jahrgang wie Sie und Victor?“
Wilma nickte.
„Und wieso gibt es dann kein Abschlussfoto von ihr?“, bohrte Jack weiter.
„Aber es muss eins geben. Ganz bestimmt.“ Eifrig blätterte Wilma im Jahrbuch. „Oh, jetzt erinnere ich mich. Sie und ihre Eltern hatten einen schlimmen Autounfall. Judy hatte es ziemlich erwischt, Knochenbrüche, Kratzer, Prellungen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde sie in den letzten zwei Monaten ihres Abschlussjahres zu Hause unterrichtet.“
„Und was bedeutet das?“, wollte Jack wissen.
„Wenn ein Schüler aus gesundheitlichen Gründen nicht am normalen Unterricht teilnehmen kann, bekommt er einen Hauslehrer“, klärte ihn Charlie auf.
Jacks Augen wurden schmal. Vielleicht war das der Grund, warum Judith ihr strahlendes Lächeln verloren hatte.
„Das muss ja ein ziemlich schwerer Unfall gewesen sein“, meinte er. „Was für ein Glück, dass sie nicht fürs Leben gezeichnet wurde. Wurden ihre Eltern auch verletzt?“
Wilma zog die Stirn kraus. „Nein. Irgendwie war das eigenartig. Nur Judy hatte Verletzungen erlitten. Alles, woran ich mich sonst noch erinnere, ist, dass die Dandridges danach einen nagelneuen Wagen hatten.“
„Und sind Victor und Judith auch miteinander gegangen?“
„Aber nein“, erklärte Wilma. „Ich glaube, Judy hatte damals einen Freund, der in einer anderen Stadt wohnte. Sie war an Victor überhaupt nicht interessiert, und das hat ihn zur Weißglut gebracht. Victor wurde von seinen Eltern derart verwöhnt, dass es für ihn ganz normal war, alles zu bekommen, was er wollte.“ Sie sah sich das Foto noch einmal an. „Nur Judy bekam er eben nicht.“
„Warum sie wohl nie geheiratet hat?“, fragte sich Jack laut.
„Es ist doch kein Makel, nicht verheiratet zu sein“, begehrte Wilma kratzbürstig auf. „Ich hatte viele Angebote.“
„Das bezweifle ich in keinster Weise. Aber es muss eben doch der Richtige sein, nicht wahr?“, meinte Jack freundlich. Er warf Charlie einen kurzen Blick zu und wandte sich dann ab.
Was hatte dieser Blick zu bedeuten? Wollte Jack ihr etwas in Bezug auf den Fall mitteilen, oder war es etwas rein Privates, etwas, was nur sie und ihn betraf? Charlie schob entschlossen ihren Stuhl zurück und stand auf.
„Ich muss mir mal etwas die Beine vertreten.“
Jack sah ihr nach und sagte nichts. Müde rieb er sich die Augen.
„Haben Sie Kopfschmerzen?“, wollte Wilma wissen. „Das kommt vom Bildschirm.“
„Ja, wenn meine Augen sich erholt haben, werden die Kopfschmerzen bestimmt auch wieder verfliegen.“
„Ach, so lange brauchen Sie nicht zu leiden, Sie Armer. Ich hole Ihnen eine Tablette“, bot Wilma an und eilte davon. Kurz darauf war sie wieder da, in der einen Hand einen Plastikbecher mit Wasser, in der anderen das Röhrchen mit den Schmerztabletten. „Bedienen Sie sich.“
Jack nahm den flüchtigen Duft von Zitrusfrucht wahr, als sie ihm den Becher reichte. „Schönes Parfum“, meinte er und nahm eine Tablette.
Wilma wurde ganz verlegen. „Oh, danke, aber ich habe heute gar kein Parfum aufgelegt.“
„Ach nein? Ich hätte schwören können, dass ich Zitrusfrucht gerochen habe.“
„Ach so, das! Das ist die Waschlotion, mit der ich mir die Hände gewaschen habe, bevor ich die Tabletten geholt habe. Man sollte immer auf Hygiene achten.“
Jack nickte zustimmend. Etwas nagte an ihm. Und jetzt erinnerte er sich. Victor hatte erwähnt, dass er Apfelsinenduft wahrgenommen hatte. Er verschluckte sich und musste husten.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Wilma besorgt und klopfte ihm auf den Rücken.
Als Jack wieder sprechen konnte, nickte er. „Ich habe mich nur verschluckt. Danke.“
Wilma war hocherfreut. Wie hatte sich ihr Leben doch verändert, seit sie den nackten Mann in all seiner Pracht gesehen hatte. Sie hatte ihr Aussehen verändert und jetzt hatte sie sogar einem echten Deputy geholfen.
„Und wo haben Sie diese Seife gekauft?“
„Ich glaube, in Judiths Drugstore. Aber das ist schon eine Weile her.“
Aus dem Augenwinkel sah Jack, wie Charlie nach draußen ging. Anscheinend hatte irgendetwas vor der Bücherei ihre Aufmerksamkeit erregt.
„Wie ich sehe, will Charlie gehen“, meinte er. „Ich glaube, wir sind jetzt so weit durch. Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe, Wilma. Und Sie wissen ja, kein …“
„… kein Sterbenswörtchen wird über meine Lippen dringen“, versprach sie verschwörerisch.
Jack folgte Charlie nach draußen. Sie kniete auf dem Rasen und spielte mit einem kleinen braunen Hundebaby.
„Wer ist denn dein Freund?“
Charlie sah glücklich zu ihm auf. „Es ist eine Sie – ist sie nicht süß?“
Jack hockte sich neben sie und kraulte das Hündchen hinter dem Ohr. Dabei sah er Charlie an. „Ja, das ist sie wirklich“, bestätigte er zärtlich.
Charlie brauchte ein Weilchen, bis ihr klar wurde, dass er von ihr sprach. „Jack kann ich dich was fragen?“
„Aber sicher. Schieß los.“
„Spielst du nur mit meinen Gefühlen?“
Mit dieser Frage hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Aber seit er Charlotte Franklin kennengelernt hatte, wusste er, dass er von ihr nur absolute Aufrichtigkeit zu erwarten hatte.
„Charlotte, wirklich, ich dachte, vergangene Nacht sei mehr als nur ein Spiel gewesen.“
Sie erinnerte sich errötend.
Jemand rief den kleinen Hund und er raste fröhlich bellend von dannen. Charlie stand auf und klopfte sich die Hose ab. „Sind wir durch?“, fragte sie.
Jack war überrascht von dem abrupten Themenwechsel. „Ja, wir sind durch“, bestätigte er.
„Na gut.“ Und damit steuerte Charlie entschlossen auf den Jeep zu.
Erst jetzt wurde Jack klar, dass man ihre Frage und seine Antwort darauf auch anders auslegen konnte. Er war leicht verärgert, denn was ihn betraf, so waren sie noch lange nicht beim „wir“ angelangt, geschweige denn von der Tatsache, dass „sie“ durch waren.
Er stieg in den Jeep und knallte die Tür zu. „Danke für deine Hilfe heute.“
Sie nickte schweigend.
Er wünschte, dass sich die vertraute Atmosphäre wieder einstellen würde, aber das schien im Augenblick nicht möglich zu sein.
„Hast du noch irgendetwas in der Stadt zu erledigen, bevor ich dich nach Hause bringe?“
„Ich würde gern noch in Judiths Drugstore. Ich muss Geburtstagskarten kaufen.“ Sie blickte geradeaus auf die Straße. „Sieh mal, da ist Victor. Der sieht aber gar nicht glücklich aus.“
Betty Shuler, die hinterm Steuer saß, hielt vor dem Drugstore an. Mit wutverzerrtem Gesicht stieg Victor Shuler aus. Dann humpelte er in den Laden.
„Du hast recht“, meinte Jack. „Ich komme lieber mal mit rein, nur für den Fall der Fälle.“
„Nur für den Fall der Fälle?“ Charlie sah ihn irritiert an.
Victors Gebrüll war selbst schon auf der Straße zu hören, noch bevor sie die Tür zum Drugstore geöffnet hatten. Nicht einmal die Türglocke brachte ihn zum Verstummen.
„Ich warne dich zum letzten Mal! Sorge dafür, dass dieser Schwachsinnige sich von meinem Grundstück fernhält! Ich habe es endgültig satt, mir die Aussicht verderben zu lassen von einem Zurückgebliebenen, der meinen Müll durchwühlt wie irgend so ’n verdammtes Tier!“
Judiths Gesicht hatte alle Farbe verloren. Es war offensichtlich, dass sie kurz vorm Explodieren war. Die Adern an ihrem Hals standen hervor und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Als sie auf einige Krücken und Spazierstöcke zuging, die zum Verkauf auslagen, trat Jack schnell dazwischen.
„Was geht hier vor?“, wollte er von Shuler wissen.
„Das geht Sie gar nichts an“, fuhr ihn der erzürnte Mann an.
„Da irren Sie sich gewaltig, Sir. Ich konnte Ihr Gebrüll schon auf der Straße hören und das ist eindeutig Ruhestörung. Und ich habe mitbekommen, wie Sie Miss Dandridge beleidigt haben. Es gibt für alles eine Zeit und einen Ort, Mr Shuler, aber hier haben Sie sich in beidem vergriffen.“
Hochroten Gesichtes zeigte Shuler mit dem Finger auf Judith. „Dieser … dieser Junge, der bei ihr lebt, kommt ständig unerlaubt auf mein Grundstück! Er durchwühlt die Mülltonnen in der ganzen Gegend, wie ein Tier! Ich habe sie schon ein paar Mal gewarnt. Wenn das nicht aufhört, sorge ich dafür, dass man ihn in eine Anstalt einweist, jawohl!“
Judith atmete tief durch und Jack merkte, dass sie sich mit aller Kraft zusammennahm. „Er hat nur nach Dosen gesucht“, erklärte sie ruhig. „Er hat nichts gestohlen. Betty Shuler hat ihm erlaubt, die Dosen zu nehmen.“
„Ich weiß nichts von irgendeiner Erlaubnis“, wütete Victor und wedelte gefährlich mit seinem Stock in der Luft. „Ich sage das jetzt zum letzten Mal, wenn du nicht dafür sorgst, dass dieser Schwachsinnige sich von meinem Grundstück fernhält, wird es dir noch leidtun!“
Jack entriss Shuler den Spazierstock. „Geben Sie den her“, herrschte er ihn an. „Jetzt hören Sie mir mal zu, sonst wird es Ihnen leidtun. Wenn Ihre Frau Davie erlaubt hat, Ihre Dosen zu nehmen, dann hat er das Recht, auf Ihrem Grundstück zu sein. Wissen Sie, es gehört nicht viel Mut dazu, einer Frau zu drohen, aber Sie können es ja gern einmal mit mir versuchen.“
Victor blinzelte ihn überrascht und eingeschüchtert an. „Machen Sie sich nicht lächerlich“, wehrte er ab, „ich habe kein Problem mit Ihnen.“
„Sie haben auch kein Problem mit Miss Dandridge“, erwiderte Jack. „Ich schlage vor, Sie entschuldigen sich jetzt bei ihr und gehen dann schön anständig wieder nach Hause.“
Shuler war so außer sich vor Wut, dass er am ganzen Körper zitterte. Er konnte es nicht ertragen, wenn man ihm vorschrieb, was er zu tun und zu lassen hatte. Bitterböse starrte er Judith an und wandte sich dann erbost an Jack. „Meinen Stock“, befahl er und streckte die Hand aus.
Jack gab ihn ihm und trat dann zur Seite, um Victor durchzulassen. Der verließ wutschnaubend den Drugstore.
Sobald er weg war, eilte Charlie zu Judith. „Judith ist alles in Ordnung? Können wir irgendetwas tun?“
Judith antwortete nicht. Sie starrte nur mit unbeweglichem Gesicht Shuler nach. Dann klingelte plötzlich ihr Piepser. Sie holte ihn aus der Tasche und las kurz die Nachricht. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie dann, als sei nichts geschehen.
Charlie erkannte, dass Judith nicht darüber sprechen wollte, und sagte ihr, dass sie sich ihre Sachen selbst zusammensuchen würde.
„Nehmen Sie sich ruhig Zeit“, sagte Judith. „Ich muss diesen Anruf beantworten, und dann muss ich Davie suchen. Er hat wahrscheinlich große Angst.“
„Das übernehme ich“, sagte Jack.
Judith sah ihn leicht entgeistert an, sah noch einmal auf ihren Piepser, nickte dann zustimmend, weil ihr klar war, dass ihr Telefonat wichtig war. „Das wäre nett“, sagte sie nur und eilte zum Telefon.
„Verstehst du jetzt, was ich meine“, fragte Charlie. „Die arme Judith und der arme Davie. Ich möchte wetten, dass Victor ihm eine Todesangst eingeflößt hat.“
„Wenn du hier fertig bist, könntest du dann zu Fuß aufs Revier gehen?“, fragte Jack abwesend.
„Natürlich.“
„Ich werde Wade kurz davon unterrichten, was passiert ist, und dann versuchen, Davie zu finden. Ich bring dich dann später nach Hause.“
„Sollte ich nicht in Wades Büro sein, dann sitze ich im Café gegenüber. Ich habe einen Mordshunger, es ist schon Mittag vorbei.“
Jack sah sie ganz erstaunt an und erinnerte sich erst in dem Moment, als er einen Blick auf seine Uhr werfen wollte, daran, dass er sie ja Davie geschenkt hatte.
„Entschuldige“, sagte er, „das habe ich ganz vergessen …“
Charlie zuckte nur mit den Achseln. „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Das mache ich nun schon seit Jahren.“
Jack ging. Es stimmte ihn traurig, dass sie gerade so distanziert miteinander umgingen. Er seufzte und setzte sich hinters Steuer. Ihm erschien es, als würde er immer dann davonlaufen, wenn er am dringendsten gebraucht wurde.