7. KAPITEL

Was in der Speisekammer geschehen war, wurde zwar nicht wieder erwähnt, aber es stand doch zwischen den beiden Männern auf ihrer Fahrt in die Stadt. Wade erkannte, dass Jack Hanna ein Mann war, dem das Leben einiges aufgebürdet hatte. Und dass er ganz offensichtlich an einer Frau interessiert war, die auch ihr Scherflein zu tragen hatte. Und auch wenn Wade es nicht laut aussprach, so hörte Jack im Innern doch, was Charlies Bruder dachte: Du solltest erst einmal dein eigenes Leben auf die Reihe kriegen, bevor du dich in Charlies drängst.

„Wenn du mich bei der Werkstatt absetzen würdest, könnte ich meinen Jeep abholen. Ich komme dann nach ins Revier.“

Wade musterte ihn abschätzend. „Ich weiß es wohl zu schätzen, dass du noch bleibst, obwohl Shuler wieder aufgetaucht ist.“

„Das ist doch selbstverständlich“, meinte Jack leise. „Ich werde nirgendwo erwartet und außerdem wissen wir ja immer noch nicht, wer Shuler entführt hat, und ob das nicht noch mal passiert.“

„Sag so was bloß nicht!“ Wade war allein schon von der Vorstellung entsetzt, dass Shuler wieder verschwinden könnte. „Aber was ganz anderes. Du hast gesagt, du wirst nirgendwo erwartet. Hast du denn nicht vor, wieder nach Tulsa zurückzukehren?“

Jack zuckte die Achseln. „Kaum. Wenn etwas vorbei ist, kehre ich nie dahin zurück.“

Wade dachte an Charlie. „Tu ihr nicht weh“, meinte er leise und hielt vor der Werkstatt.

Jack stieg aus und trat in die Werkstatt. Wade sah ihm nach, dann fuhr er weiter in Richtung Revier.

Victor Shuler war wieder zu Hause und erholte sich gut. Die Entzündung heilte allmählich ab und zumindest nach außen hin vermittelte er den Eindruck, durchaus guter Dinge zu sein. Er schien es zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen. Nachbarn und Bekannte gaben sich die Klinke mehr oder weniger in die Hand, um sich nach ihm zu erkundigen und um die grausigen Einzelheiten aus erster Quelle zu erfahren. Innerlich jedoch litt Shuler immer noch an der Schmach, dass man ihn nackt auf den Stufen zur Bücherei gefunden hatte und er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er dort hingekommen war.

Nur einmal zuvor in seinem Leben hatte er einen ähnlichen Gedächtnisverlust gehabt. Damals, einige Monate vor seinem Highschool-Abschluss. Bis zum heutigen Tage konnte er sich nicht daran erinnern, was in jener Nacht geschehen war. Er wusste nur noch, dass er abends nach einem Footballspiel ausgiebig gefeiert hatte. Am nächsten Morgen dann war er im Wald aufgewacht, mit dem Rücken gegen einen umgefallenen Baum gelehnt, der halb in einen Bach hineinragte. Die Eichhörnchen keckerten und die Vögel zwitscherten, und er hatte die übelsten Kopfschmerzen gehabt, die man sich nur vorstellen konnte. Mühsam war er damals auf die Knie gekommen, hatte sich schmerzhaft übergeben und war dann auf allen vieren zu dem kleinen Bach gekrochen, wo er den Kopf ins Wasser steckte, in der Hoffnung, so die Schmerzen zu lindern. Es hatte nicht funktioniert. Und als er den Kopf wieder aus dem Wasser gehoben hatte, um nach Luft zu schnappen, hatte er etwas in dem Bach gesehen, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ein Schuh. Der Schuh einer Frau.

Für Bruchteile einiger Sekunden waren ihm daraufhin Bilder eines Mädchens erschienen, das um sein Leben zu laufen schien, und das dann gellend schrie. Und da hatte ihn eine weitere Welle der Übelkeit erfasst. Als die dann vorbei gewesen war, war auch sein Erinnerungsvermögen wieder verschwunden. Er war nach Hause gegangen, hatte halb erwartet, dass der Vater irgendeines Mädchens mit dem Gewehr bei ihm zu Hause auftauchen würde, doch die einzige Person, die auf der Veranda gestanden hatte, war seine Mutter gewesen, die bei seinem Anblick in Tränen ausbrach. Für den Rest des Monats hatte er dann Hausarrest gehabt.

Am darauf folgenden Montag war er zur Schule gegangen, voller Furcht vor dem, was unweigerlich würde kommen müssen. Als jedoch einige Wochen vergangen waren, ohne dass irgendetwas passiert war, hatte er sich selbst überzeugt, dass überhaupt nichts vorgefallen war.

Und jetzt, zwanzig Jahre später, litt er unter derselben Furcht. Nur war es so, dass es ihm diesmal nicht helfen würde, so zu tun, als wäre nichts passiert. Denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, spürte er, wie ihn die Dunkelheit wieder umfing, die Schmerzen in seiner Hüfte an ihm nagten und wie der Staub und Dreck ihn zu ersticken drohten. Er war überzeugt, dass irgendwo da draußen die Gefahr immer noch lauerte, darauf lauerte, dass er Schwäche zeigte, darauf wartete, dass er unaufmerksam war. Und er wusste, wenn sie ihn diesmal entführten, würde er es nicht überleben.

Daher geriet er auch fast in Panik, als seine Frau ihm mitteilte, dass ein Deputy ihn sprechen wollte. Einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass die Täter gefasst würden, andererseits hatte er eine Heidenangst davor, dass die Ermittlungen und Fragen der Polizei ein entsetzliches Geschehen aus der Vergangenheit ans Tageslicht befördern würden.

Victor riss sich zusammen und empfing Jack Hanna so gelassen, wie es ihm möglich war. „Und haben Sie Neuigkeiten für mich?“

„Ich fürchte nein, Sir. Und genau deswegen bin ich auch hier. Bisher haben wir außer dem Brandmal auf Ihrer Hüfte rein gar nichts, was uns als Hinweis dienen könnte.“

Victors Gesicht verfärbte sich zu einem hässlichen Dunkelrot. „Ich würde es vorziehen, wenn Sie … diese Wunde nicht als Brandmal bezeichnen würden.“

Jack lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog einen Notizblock und Kugelschreiber hervor. „Entschuldigen Sie. Dann bezeichnen wir es eben als Wunde.“

Victor nickte zustimmend.

„Die Wunde hat die Form eines ‚V‘, richtig?“

Wieder wurde Victor puterrot. Jack sprach schnell weiter, um dem Mann keine Gelegenheit zu geben, sich mit ihm zu streiten.

„Hören Sie, Mr Shuler. Ich weiß, dass das hier schmerzhaft für Sie ist, aber es gibt nur eine Möglichkeit, die wahren Umstände der Tat herauszufinden, und die ist, die Wahrheit zu sagen. Dem medizinischen Bericht zufolge hat jemand den Buchstaben ‚V‘ auf Ihrer Hüfte eingebrannt. Das ‚V‘ steht, so nehme ich an, für ‚Victor‘. So, wie es aussieht, wurde es nach Ansicht des Arztes mit einem elektrischen Brandeisen gemacht. Erinnern Sie sich daran, irgendetwas gehört zu haben?“

„Nein.“

Jack versuchte es noch einmal. „Überlegen Sie gut. Ihnen waren die ganze Zeit über die Augen verbunden, nicht wahr?“

Shuler nickte nur.

„Na gut. Dann erinnern Sie sich möglicherweise an einen Duft. Oder haben Sie vielleicht etwas gehört?“

„Nein“, wehrte Victor kurz angebunden ab. „Meinen Sie nicht, dass ich es Ihnen gesagt hätte, wenn ich mich an irgendetwas erinnern könnte?“ Er blickte kurz zu seiner Frau. „Betty, ich hätte gern ein Glas Limonade. Wärst du so lieb …?“

„Natürlich“, sagte sie und verließ schnell den Raum.

Jack musterte den Mann aufmerksam. Er war sich bewusst, dass er etwas verbarg. Vielleicht wollte er nicht, dass seine Frau es hörte.

„Sie müssen entschuldigen, dass ich das frage“, meinte Jack, „aber könnte es vielleicht irgendwo einen verärgerten Ehemann geben, der Ihnen möglicherweise eine Lektion erteilen wollte?“

„Ich kann Ihnen nicht folgen“, erwiderte Shuler verwirrt.

„Hatten Sie eine Affäre?“, fragte Jack.

„Zum Teufel, nein!“, wehrte Shuler empört ab. „Ich habe meine Frau noch nie betrogen und habe auch nicht vor, damit anzufangen. Sie ist eine gute Frau. Ich würde Sie nicht derart respektlos behandeln.“

„Entschuldigen Sie, aber ich musste diese Frage stellen.“

Shuler zwang sich, sich zu entspannen. „Ich weiß“, sagte er und lächelte schwach. „Es fällt mir einfach schwer zu akzeptieren, dass Sie nur das fragen, was wahrscheinlich Dutzende von Leute überlegen.“ Er seufzte. „Aber ich schwöre Ihnen, dass nichts dergleichen je vorgefallen ist.“

„Was ist mit Feinden? Als Banker haben Sie bestimmt schon einige Leute verärgert, ich denke da an gesperrte Konten oder Kündigungen von Krediten.“

Shuler zuckte die Achseln. „Ich mache nur meine Arbeit, wie jeder andere auch. Aber Sie können gern meine Sekretärin anrufen, und Sie wird Ihnen eine Liste geben mit den entsprechenden Vorgängen. Ich werde sie davon in Kenntnis setzen, dass Sie vorbeikommen werden.“

Jack nickte dankend und machte sich eine Notiz. Als er wieder aufblickte, sah er, dass Shuler ihn anstarrte.

„Wissen Sie, Sie sind seit Jahren der einzige Fremde, der hier nicht nur auf der Durchreise ist.“

Sofort wusste Jack, worauf er hinauswollte und grinste amüsiert. „Tut mir leid, Mr Shuler. Aber wenn ich den zeitlichen Ablauf richtig in Erinnerung habe, dann habe ich in Wade Franklins Gästezimmer geschlafen, als Sie entführt wurden.“

Shuler wurde rot. „Ich dachte ja nur“, murmelte er.

Jack nickte. „Und gar nicht mal so schlecht, abgesehen von einer Sache.“

„Und die wäre?“

„Das, was Ihnen widerfahren ist, geschah aus Rache. Irgendjemand scheint noch eine Rechnung mit Ihnen offen gehabt zu haben. Und die hat er jetzt beglichen.“

Shuler wurde ganz still. Jack sah, wie ihm plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht wich. Sein Kinn fing an zu zittern und mühsam brachte er hervor: „Rache?“

„Ja. Wenn Ihnen also in den nächsten Tagen irgendetwas einfallen sollte, was uns weiterhelfen könnte, wäre es zu Ihrem eigenen Vorteil, wenn Sie es Wade oder mir mitteilen würden. Rache ist ein eigenartiges Gefühl. Manchmal dauert es viele Jahre, bevor Leute, die sich rächen wollen, tatsächlich zur Tat schreiten.“

„Jahre“, flüsterte Shuler entgeistert.

Jack nickte. „Das wäre nicht das erste Mal.“ Dann stand er auf, gerade als Shulers Frau mit der Limonade zurückkam. „Nun, Sir, ich gehe jetzt. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, egal, was, sagen Sie bitte uns sofort Bescheid.“

Charlie parkte vor dem Polizeirevier, stieg aus und hob dann Rachel aus dem Wagen. Sie wollte gerade in das Gebäude gehen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah, dass Davie mit dem Leiterwagen die Straße entlangkam und ihr aufgeregt zuwinkte. Sie lächelte, winkte zurück und drückte Rachel fester an sich, dankbar, dass ihr Kind in jeder Hinsicht gesund war. Sie kannte Davie schon ihr ganzes Leben lang, sie waren ungefähr gleich alt. Doch während er sie an Körpergröße längst überflügelt hatte, hatte er immer noch den Verstand eines Sechsjährigen. Einige Leute in der Stadt beschimpften ihn und fanden, dass er in ein Heim gehörte und sie verachteten Judith Dandrigde dafür, dass sie ihn bei sich behielt. Charlie jedoch war froh, dass Davie in die Gesellschaft integriert werden konnte. Er war eben so, wie er war – ein Mann Anfang zwanzig mit dem Verstand eines Kindes.

„Charlie, sieh mal, meine Uhr“, rief Davie aufgeregt und zeigte auf seinen Leiterwagen. Er kramte umständlich zwischen den leeren Dosen und brachte eine elegante Herrenuhr zum Vorschein.

Charlie machte große Augen. „Du meine Güte, Davie, das ist ja eine tolle Uhr. Darf ich sie mir mal genauer ansehen?“

Davie zögerte. „Gibst du sie mir auch wieder?“

„Aber natürlich“, gelobte Charlie, „versprochen.“ Rachel fing an, auf ihrem Arm zu zappeln, sie wollte runter. „Moment, Schätzchen. Ich will mir nur kurz Davies Uhr ansehen.“

Es war eine Rolex. Nicht gerade das, was man üblicherweise am Straßenrand fand. Sie drehte sie um und konnte gerade noch einen erstaunten Aufschrei unterdrücken, als sie die Gravur las. „Für Victor in Liebe, Betty“.

„Himmel, das ist ja Mr Shulers Uhr.“

Davie entriss ihr die Uhr und erst jetzt wurde ihr klar, dass sie laut gesprochen hatte. „Nein!“ Davie war außer sich. „Jetzt ist es Davies Uhr!“

Er warf sie in seinen Leiterwagen und machte sich beleidigt wieder auf den Weg. Charlie stand noch eine Sekunde lang verdutzt da, dann lief sie, so schnell sie konnte, ins Polizeigebäude, denn sie wollte Wade umgehend von Davies Fund unterrichten. Sie war so in Gedanken, dass sie mit Jack, der gerade auf dem Weg nach draußen war, zusammenstieß.

Jack hielt sie an den Schultern fest. „Immer langsam, meine Damen. Wieso so eilig?“

Er strich Rachel über das Lockenköpfchen und wünschte sich, Charlotte Franklin hier in aller Öffentlichkeit küssen zu können. Aber er hatte sich vorgenommen, sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Ihre Wunden über das öffentliche Gerede damals saßen einfach noch zu tief.

„Entschuldige“, platzte Charlie heraus. „Ich war in Gedanken. Wo ist Wade? Ich muss ihn dringend sprechen.“

„Wenn ich es richtig verstanden habe, ist er unterwegs, um Harold einzusammeln.“

„Oh nein! Das kann ewig dauern! Wahrscheinlich ist Harold mal wieder betrunken. Und dann ist er immer auf eine Schlägerei versessen.“

„Was ist denn los? Könnte ich vielleicht helfen?“

Charlie zögerte nur kurz. „Na klar! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Ich bin so sehr daran gewöhnt, mit allem zu Wade zu laufen …“ Sie packte Jack am Arm und zog ihn mit sich zurück auf die Straße. „Da drüben, gerade eben, in Davies Leiterwagen, zwischen den Dosen …“

„Ganz langsam. Atme tief durch und fang noch einmal an. Also, was ist in Davies Leiterwagen? Was gibt es da so Wichtiges?“

„Victor Shulers Rolex.“

Das Lächeln verschwand von Jacks Gesicht. „Bist du dir ganz sicher?“

Sie nickte. „Er hat sie mir gerade gezeigt“, erklärte sie. „Auf der Rückseite ist eine Gravur ‚von Betty für Victor‘ oder so ähnlich.“

Jack sah sich um, aber von Davie war nichts zu sehen. „Wo wollte er hin?“

„Er ging in diese Richtung“, zeigte Charlie.

„Martha soll Wade über Funk rufen. Wenn er dann da ist, erzähl ihm bitte, was du mir gerade gesagt hast.“

Charlie nickte und sah Jack nach, der sich zu Fuß auf die Suche nach Davie machte.

Davie hatte Angst. Charlie hatte behauptet, dass die Uhr nicht ihm gehörte, dabei wusste er doch ganz genau, dass derjenige, der etwas fand, auch der Besitzer war. Schnell bog er in die kleine Gasse zwischen Blumenladen und Friseur ein. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu verstecken.

Und in diesem Moment rief jemand seinen Namen. Er geriet derart in Panik, dass er stolperte und hinfiel.

„Davie! Davie, Liebling, ist alles in Ordnung? Warum hast du es denn so eilig?“

Er sah verschreckt auf. „Tante Judy, ich bin hingefallen“, sagte er kläglich. Und als er sah, wie sich Blutstropfen bildeten und über sein Knie liefen, fing er an zu weinen.

Judith Dandrigde umfing das große Kind mit beiden Armen. „Ja, mein Schatz, das sehe ich“, sagte sie beruhigend. „Komm mit, wir werden das sauber machen.“

„Mein Wagen“, klagte er.

Sie seufzte ergeben. „Nimm ihn mit“, schlug sie vor. „Wir stellen ihn nach hinten. Einverstanden?“

Davie nickte und folgte ihr dann unbeholfen.

Einige Minuten später saß er auf einem Hocker im Hinterzimmer des Drugstore, die Jeans bis über das Knie hochgerollt und lutschte hingebungsvoll an einem Lolli. Judith war damit beschäftigt, die Wunde zu versorgen. Hin und wieder jammerte er ein wenig. Und nachdem das Knie verbunden war, nahm sie ihre Fragen wieder auf.

„Davie, warum bist du denn so schnell gelaufen? Hat dir jemand Angst eingejagt?“

Seine Unterlippe zitterte vor Empörung. „Ja.“

„Wer war es?“, fragte sie. Unbändige Wut auf den Unbekannten stieg in ihr auf.

„Charlie. Sie hat mir Angst gemacht.“ Er steckte sich den Lutscher wieder in den Mund.

„Bist du sicher?“ Judith konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der so herzlich und sanft war wie Charlie, dem Jungen gegenüber unfreundlich gewesen sein sollte.

Er nickte eifrig. „Ja, Tante Judy. Ich bin sicher.“

„Was hat sie denn gemacht?“

Davie wich ihrem Blick aus und beschäftigte sich eingehend mit seinem Lolli.

„Davie?“

Er seufzte. Wenn Tante Judy diesen Ton anschlug, wusste er, dass er auf der Hut sein musste.

„Was hat Charlie getan? Womit hat sie dir Angst gemacht?“

Trotzig reckte er das Kinn vor. „Hat versucht, mir meine Uhr wegzunehmen.“

„Welche Uhr?“

„Na, meine Uhr.“ Er wies auf den Blutfleck an seinem Ellenbogen. „Es blutet immer noch“, sagte er ablenkend, „siehst du?“

Judith packte ihn sanft am Arm. „Ich möchte deine Uhr sehen.“

Er seufzte, rutschte vom Hocker und humpelte ungeschickt zu seinem Wagen, wühlte darin herum und brachte schließlich die Uhr zum Vorschein.

Judith nahm die Uhr, starrte sie ungläubig an, drehte sie um und wurde blass. „Wo hast du sie her?“, zischte sie und packte Davie erregt.

„Ich hab sie gefunden, Tante Judy. Ich hab sie gefunden.“

„Wo?“

„Weiß nicht mehr.“

„Du musst sie zurückgeben“, erklärte sie. „Sie gehört dir nicht.“

„Doch! Ich hab sie gefunden. Sie gehört mir!“

„Der Name darauf ist nicht dein Name, Davie. Daher wissen wir, dass sie nicht dir gehört. Wir werden zu Wade gehen und ihn bitten, sie zurückzugeben.“

Jetzt weinte Davie, nicht, weil ihm sein Knie wehtat, sondern weil er die schöne Uhr verlieren sollte.

„Aber Tante Judy, du hast doch gesagt, dass er …“

Judith Dandridge unterbrach ihn schroff. „Du weißt, dass man Leuten ihre Sachen nicht wegnehmen darf, und du musst sie zurückgeben.“

„Aber du …“

„Es reicht jetzt“, sagte sie streng. „Ich will nichts mehr davon hören. Etwas, was nicht dir gehört, kannst du auch nicht behalten.“

Charlie lief durch die Straßen auf der Suche nach Jack, weil sie eine Ahnung hatte, wo Davie sein könnte. Wade war per Funk benachrichtigt worden, und Rachel war in Marthas Obhut.

Und da entdeckte sie Jack. Er kam gerade aus dem Friseurladen und blickte suchend um sich.

„Jack!“, brüllte sie und winkte wild, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er sah sie, winkte zurück und wartete, bis sie ihn erreicht hatte.

„Was ist denn?“

„Hast du Davie schon gefunden?“

„Nein.“

Sie rang nach Luft. „Ich bin einfach nicht mehr in Form.“

„Ach, ich weiß nicht. Mir scheint, dass deine Form einfach großartig ist.“

Charlie sah ihn verwirrt an. Wie waren sie bei der Unterhaltung über Davie nur auf ein so persönliches Thema gekommen?

„Ich glaube, ich weiß, wo Davie ist.“

„Wo?“

„Im Drugstore bei seiner Tante.“

„Genau! Judith Dandrigde ist ja seine Tante, nicht?“

„Mehr oder weniger“, stimmte Charlie zu. „Komm mit, wir sehen mal nach.“

Just in dem Augenblick traten Judith und Davie aus dem Drugstore, der nur sechs Häuser entfernt lag.

„Charlie“, grüßte Judith, als sie Jack und Charlie erreicht hatten, „wie schön, dass ich dich treffe. Wir müssen etwas erklären. Davie weiß, dass du ihm die Uhr nicht wegnehmen wolltest. Nicht wahr, Davie?“

Davie ließ traurig den Kopf hängen und nickte dann.

Jack sah den Schmerz, der kurz in Judiths Augen aufleuchtete, als sie auf den jungen Mann schaute.

„Wir wollen zur Polizei. Davie hat etwas gefunden, was ihm nicht gehört, und das möchte er jetzt zurückgeben, nicht wahr?“

Wieder nickte Davie, doch Jack merkte, dass er sich nur widerstrebend fügte. Der Junge tat ihm leid. Wie schwer musste es für ihn sein, im Körper eines Erwachsenen zu stecken und dennoch nicht in der Lage zu sein, die Regeln und Vorschriften des Erwachsenenlebens zu begreifen.

„Das finde ich großartig“, meinte Jack leise und klopfte Davie anerkennend auf die Schulter. „Kann ich mit dir mitkommen?“

Davie sah Jack nervös an, aber der lächelte freundlich und Davie war im Nu wieder fröhlich.

„Kann er, Tante Judy? Kann er mit uns mitkommen?“

Judith zuckte die Achseln. „Wenn er will.“

Davie freute sich, und als Charlie ihm den Arm streichelte, war seine Welt wieder in Ordnung.

„Davie tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Das wollte ich nicht.“

„Macht nichts, Charlie.“

Charlies Augen wurden feucht. „Danke, Davie. Ich bin froh, dass du mein Freund bist.“

Glücklich schlang der Junge die Arme um Charlie. „Charlie ist meine Freundin.“

Jack sah fast liebevoll zu. „Das ist schön, Davie. Freunde wie sie sollte man sich warmhalten.“

Charlie fühlte sich von Jacks tiefer weicher Stimme umfangen und sie sehnte sich nach etwas, was sie noch gar nicht benennen konnte.

Einige Minuten später standen sie alle vor Wade in seinem Büro. „Ich hole nur mal eben Rachel“, erklärte Charlie und verschwand.

Judith ergriff die Initiative. „Wade, Davie hat etwas, was er Ihnen geben möchte.“

„Hallo, Davie. Dann wollen wir mal sehen, was du gefunden hast“, meinte Wade gutmütig.

Judith holte die Uhr aus ihrer Hosentasche und gab sie Davie, der sie dann leicht widerstrebend Wade aushändigte.

„Na, das ist ja toll“, meinte Wade überrascht und erfreut, als er die Gravur gelesen hatte. „Das hast du gut gemacht, Junge. Ganz prima.“

Davie war hoch erfreut und strahlte. Vor wenigen Minuten noch hatte er in Schwierigkeiten gesteckt und jetzt lobte man ihn. Das gefiel ihm sehr.

„Wo hast du sie denn gefunden?“, wollte Wade wissen.

Jetzt wurde Davie wieder nervös. Er warf seiner Tante einen Blick zu und sie sah sehr streng und verschlossen aus. Und das bedeutete, dass er wieder etwas Unrechtes getan hatte. Er wusste nur nicht, was.

„Weiß nicht mehr“, nuschelte er beunruhigt.

Wade seufzte und schluckte seinen Frust runter. Er versuchte es anders. „Kannst du uns zeigen, wo du sie gefunden hast?“

Davie wusste nicht, was er tun sollte.

„Er hat doch gerade gesagt, dass er sich nicht erinnert“, mischte sich Judith barsch ein. „Wie soll er es Ihnen dann zeigen können?“

Wade wünschte, Judith würde einfach verschwinden. Er merkte sehr wohl, dass sie den Jungen nervös machte.

„Trug Shuler eine Uhr, als er entführt wurde?“, fragte Jack.

„Ich hab ihn noch nie ohne gesehen“, meinte Wade. „Aber das lässt sich leicht überprüfen. Ich rufe ihn kurz an.“ Er verschwand in seinem Büro.

Davie sah seine Tante verängstigt an. „Tante Judy, stecke ich wieder in Schwierigkeiten?“

„Nein“, tat sie ihn kurz ab. „Und ich verstehe überhaupt nicht, was all die Aufregung soll. Er hat etwas gefunden und er hat es abgegeben.“

„Es geht hier um die Aufklärung eines Verbrechens“, erklärte Jack.

„Welches Verbrechen? Soweit ich informiert bin, gab es keine Lösegeldforderung und Shuler wurde wieder freigelassen.“

Jack sah sie ernst an. „Ich würde Verschleppung und Brandmarkung nicht als harmlos abtun.“

„Da mögen Sie recht haben. Aber er ist ja nicht wirklich entstellt worden. Das Brandmal ist auf seiner Hüfte, und wenn er es schafft, seine Hose anzubehalten, wird auch keiner es je sehen.“ Sie wandte sich ab, als wäre damit das Thema für sie erledigt.

Jack starrte nachdenklich auf den Rücken der Frau. Hinter dem soeben Gesagten schien sehr viel mehr zu stecken, als man im ersten Moment vermutete. Hatte Shuler doch Frauengeschichten? Gab es etwas, wovon Betty Shuler keine Ahnung hatte? Jack nahm sich vor, das Privatleben der Shulers ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht steckte ja doch ein gehörnter Ehemann hinter der Entführung?

Wade kam aus seinem Büro zurück. „Shuler trug die Uhr, als er entführt wurde. Er kommt gleich, um sie zu identifizieren.“

„Wir werden hier ja wohl nicht mehr gebraucht.“ Judith nahm Davie bei der Hand.

„Moment“, sagte Wade schnell, „bitte.“

Judith wollte widersprechen, aber Rachel kam in diesem Augenblick herbeigelaufen, ihr auf den Fersen Charlie. Davie war so glücklich, die Kleine zu sehen, dass er all seine Angst verlor.

„Rachel! Sieh doch, Tante Judy, Rachel ist da!“ Er ließ sich auf die Knie fallen und umarmte die Kleine zärtlich. Rachel hatte Buntstifte in der einen und ein Malbuch in der anderen Hand. „Malen?“, forderte sie Davie auf.

Und schon lagen beide bäuchlings auf dem Boden, das Malbuch zwischen sich und malten voller Begeisterung.

Judith betrachtete die beiden auf dem Boden und Jack konnte sehen, welch tiefe Liebe sie für Davie hegte.