15. KAPITEL

Nachdem Jade die schlimmen Dinge aus ihrer Vergangenheit erzählt hatte, schien es ihr, als sei ihr eine große Last von den Schultern genommen. Sie wusste, dass die Medien jetzt alles Mögliche über sie verbreiten und Vermutungen anstellen würden, aber es war ihr nicht länger wichtig. Sam hatte sie nicht angewidert aus dem Haus geworfen, wie sie befürchtet hatte. Luke wusste es bereits und hatte sich nicht von ihr abgewandt. Das reichte, um sie nichts in der Zukunft mehr fürchten zu lassen.

Und noch etwas war passiert, als sie sich mit Earl Walters unterhalten hatte. In dem Moment als er ihr die Zeichnungen aus der Hand genommen hatte, war ihr, als wären auch die Schuldgefühle, die sie hatte, mit ihnen verschwunden. Sie brauchte nicht mehr die Vergewaltigungen in ihrem Gedächtnis lebendig zu halten. Der Polizeichef würde auf die ein oder andere Weise dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfahren würde. Alles, was Jade jetzt noch interessierte, war, Raphael die letzte Ruhe zu geben.

Antonia DiMatto spürte, dass sie in Sams Haus jetzt nicht mehr gebraucht wurde, jedenfalls zurzeit nicht. Sie begann, ihre Sachen einzupacken. Sie wollte gern noch weiter mit Jade sprechen, aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wenn alles vorüber war, würde sie die Muße haben, die Hölle ihrer Kindheit aufzuarbeiten.

“Sie gehen?”, fragte Sam.

Antonia sah kurz zu Jade hinüber, dann nickte sie. “Ja, aber ich komme wieder … sobald Ihre Tochter dazu bereit ist. Oder, Jade?”

Jade seufzte. Es war offensichtlich, dass die Frau nicht lockerlassen würde. Außerdem hatte sie recht. Sie musste sich mit den schlimmen Erinnerungen auseinandersetzen … irgendwann.

Aber im Moment musste sie darüber nachdenken, dass Raphael wirklich von ihr gegangen war.

“Ich sage Ihnen Bescheid”, sagte Jade.

Antonia lächelte. “Sehen Sie? Sie ist genau wie Sie, Sam. Alles zu seiner Zeit.”

Sam sah zu Jade hinüber, dann nahm er Antonia am Ellenbogen.

“Ich bringe Sie zur Tür.”

“Und ich warte auf Ihren Anruf”, wandte sich Antonia an Jade, dann winkte sie ihr zum Abschied.

Sobald sie aus der Tür waren, drehte sich Jade zu Luke um.

“Fährst du mich ins Krankenhaus, damit ich Raphael noch einmal sehen kann?”

Luke hatte das kommen sehen, und ehrlich gesagt, hätte er lieber selbst Prügel bezogen, als ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Aber er konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen.

“Ich muss erst mit der Polizei sprechen, ob …”

“Ich muss ihn noch einmal sehen.”

In ihren Augen standen die Tränen und ihre Unterlippe bebte, aber die Entschiedenheit in ihrer Stimme konnte Luke nicht übergehen. Jedes Mal, wenn er glaubte, er könne mit dieser Frau umgehen, bewies sie ihm das Gegenteil nur mit einem Blick oder einer Bitte.

“Ich rufe erst mal dort an.”

“Danke”, sagte sie.

Sie setzte sich wieder auf das Bett und hob die Hände vor das Gesicht, um es zu betasten, so wie ein blinder Mensch es täte.

“Was ist los?”, fragte Luke.

“Ich fühle mich so … verloren. Als hätte ich kein Gewicht. Raphael war mein Fels in der Brandung … mein Anker. Ich habe das Gefühl, ich möchte weinen, aber ich kann es nicht. Ich bin leer. Das scheint alles nicht wirklich zu sein. Letzte Woche war alles noch in Ordnung. Zumindest dachte ich, dass alles in Ordnung mit uns sei, aber schließlich denke ich, dass ich ihn nach all den Jahren gar nicht richtig kannte. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er so lange Zeit krank gewesen ist und mir nichts davon gesagt hat.”

“Er hatte um dich Angst, Jade. Und ich glaube, dass er auch um sich selbst Angst hatte. Wenn er jemals offen zugegeben hätte, wie krank er wirklich war, dann hätte er vielleicht nicht mit deinem Mitleid oder deiner Sorge umgehen können. Oder mit seiner eigenen Angst vor dem Tod. Dass du es nicht gewusst hast, hat ihn am Leben gehalten. Ein wenig zumindest.”

Einen Augenblick lang war Jade still, dann nickte sie schließlich.

“Es ist seltsam, aber ich glaube, das ergibt Sinn.”

“Ich gehe jetzt, um im Krankenhaus anzurufen”, sagte Luke.

“Luke? Warte!”

“Ja?”

“Wie gefährlich ist es für mich?”

“Ich weiß es nicht. Ich glaube, ziemlich.”

“Vielleicht sollte ich weggehen, um dich und Sam nicht auch zu gefährden.”

Erschüttert ergriff er ihre Oberarme und schüttelte sie. “Um Himmels willen, nein! Versprich mir, dass du so etwas nicht tun wirst.”

“Versprechen sind nichts als Worte. Taten sind die einzigen Versprechen, an die ich glaube”, antwortete sie und entzog sich seinem Griff.

Luke versuchte, sie wieder zu berühren. Er musste sichergehen, dass sie verstanden hatte, wie ernst es ihm war.

“Sieh mich an! Wer auch immer Raphael getötet haben mag, er hat seine Aufgabe noch nicht erledigt. Willst du diesem Typen ganz allein gegenübertreten?”

“Nein. Aber wenn ich das so sage, dann fühle ich mich wie ein Angsthase. Früher habe ich es zugelassen, dass Raphael zwischen mir und der Welt stand, denn ich wollte nicht wahrhaben, was mit mir passiert war. Ich redete mir die ganze Zeit ein, dass es vergangen war und dass ich darüber hinweg war. Leider stimmte es nicht, ich war nicht darüber hinweg.

Diese Gesichter … sie tauchen immer noch in meinen Albträumen auf. Ich habe zugelassen, dass die Erinnerung an meine Vergangenheit mich daran gehindert hat, mein Leben voll und ganz zu leben. Jedes Mal wenn ich ein komisches Gefühl hatte, haben wir die Stadt verlassen. Raphael versuchte mir die ganze Zeit über einzureden, dass es einen besseren Weg gäbe, aber ich wollte ihm nicht glauben. Du verstehst das nicht. Ich habe das Gefühl, ich hätte ihn getötet, und falls dir oder Sam etwas geschieht, dann … Ich würde es nicht ertragen, wenn ich noch einen weiteren Mann auf dem Gewissen hätte.”

“Dass er gestorben ist, das ist nicht deine Schuld. Und wenn ihr in einer Stadt geblieben wärt, dann hätte das an Raphaels Schicksal nichts geändert. Er fing an dem Tag zu sterben an, als ein infizierter Päderast Sex mit ihm hatte. Und auch wenn du es dir bisher noch nicht überlegt hast, es ist ein Wunder, dass dich niemand angesteckt hat.”

“Woher soll ich das wissen? Ich habe nie einen Test gemacht?”

“Dann machst du eben heute einen, einverstanden?”

Jade ließ den Kopf sinken und starrte auf den Boden. Schließlich sah sie Luke an.

“Verstehst du jetzt, was ich meine? Wie eklig das ist?”

“Was ist eklig?”

“Dass ich mich auf Krankheiten testen lassen muss, bevor …” Plötzlich hielt sie inne, aber Luke wusste, was sie sagen wollte. Sie hatte Schuldgefühle, dass sie sich testen lassen musste, bevor sie etwas tat, das in ihr Angst auslöste … wie sich zu verlieben.

“Kein Mann wird mich je haben wollen.”

“Nun, das ist einfach nicht wahr”, murmelte Luke, dann wechselte er das Thema, bevor er sich eingestehen musste, dass er über sich selbst sprach.

“Schau mal, Liebes. Was Raphael geschehen ist, ist schrecklich, und er hat dafür mit seinem Leben bezahlt. Ich weiß nicht, wie es Raphael ging, aber wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, dann wäre ich lieber im Kampf gestorben, als solange im Krankenbett zu liegen und darauf zu warten, dass ich endlich meinen letzten Atemzug tue.”

Jade wurde ruhiger, als sie darüber nachdachte, was Luke gerade gesagt hatte. Sie wusste, wie recht er hatte. Es war einfach so erschütternd, dass jemand, der sie von früher kannte, ihren Tod wollte. Sie hörte, wie in einem anderen Teil des Hauses das Telefon klingelte, und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis dieses Geräusch für sie nicht mehr gleichbedeutend mit einer Katastrophe war.

“Ich habe Angst”, sagte sie.

“Ich weiß”, antwortete Luke. Er wollte sie in den Arm nehmen.

“Nein … es ist nicht das, was du meinst”, sagte Jade. Dann sah sie weg, als sei es ihr peinlich zuzugeben, woran sie dachte.

“Was dann?”, fragte Luke.

“Ich habe Angst davor, mir vom Leben zu nehmen, was ich möchte.”

Luke runzelte die Stirn. “Wieso? Was ist es, das du haben möchtest, und von dem du denkst, du könntest es nicht bekommen?”

“Ich möchte, dass jemand mich liebt.” Dann kippte ihre Stimme und sie verstummte. “Ich möchte einen Mann, der eine Frau liebt, mit der er den Rest seines Lebens verbringen möchte. Ich will glücklich sein und keine Angst mehr haben. Ich bin es so leid, immer Angst haben zu müssen. Ich will Kinder, obwohl ich nicht weiß, ob ich eine gute Mutter wäre. Ich weiß ja noch nicht mal, was eine gute Mutter ausmacht.”

“Ach Quatsch”, sagte Luke. “Du wärst die beste Mutter, und weißt du auch auch, warum? Weil du die schlimmsten Dinge durchgemacht hast, deshalb weißt du auch, was man nicht machen darf.”

Luke saß da mit klopfendem Herzen. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass es schon jemanden gab, der sie liebte, aber diese Erkenntnis war selbst für ihn so neu, und er fürchtete sich davor, abgelehnt zu werden, sodass er es nicht aussprach. Noch nicht. Jade war noch nicht bereit, dies von ihm zu hören. Vielleicht würde es aber auch niemals dazu kommen.

“Hast du mit Raphael jemals darüber gesprochen, ob ihr heiraten und Kinder haben wollt?”

Sie runzelte die Stirn. “Du meinst wir beide zusammen?”

Er nickte.

“Nein … niemals. Er war wie mein Bruder … er war mein bester Freund. Aber wir hätten nie ein Liebespaar sein können. Wir haben zu viele Schmerzen des jeweils anderen mitbekommen.” Sie holte tief Luft.

“Und jetzt muss ich ihn sehen, und sei es nur, damit ich mich davon überzeugen kann, dass seine Qualen vorüber sind. Kannst du das verstehen?”

Er nickte.

“Wirst du mir helfen?”

“Ja.”

“Ich ziehe mich um. Sobald du deine Telefonate geführt hast, fahren wir los, um ihn zu sehen, ja?”

Luke war sich nicht sicher, wie er es schaffen würde, dass Jade Raphael noch einmal anschauen könnte, aber er war fest dazu entschlossen, dass es ging.

“Ich bin gleich zurück.”

“Dann bin ich fertig.”

Big Frank war gerade beim Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen, als die Angler-Sendung im Fernsehen von aktuellen Nachrichten unterbrochen wurde. Eine Reporterin stand vor einem Krankenhaus in St. Louis, Missouri, und im Hintergrund standen zahllose Polizeiwagen herum. Dann fiel es ihm endlich ein. St. Louis, Missouri? Das war doch der Ort, an dem Jade Cochrane wieder aufgetaucht war? Plötzlich wurde ihm mulmig. Auf der einen Seite wollte er hören, was es Neues gab, auf der anderen Seite hatte er Angst vor den Nachrichten. Er deutete auf das Fernsehgerät.

“He, Sunny, drehen Sie mal den Ton lauter, ja?”

Der Friseur gehorchte und machte sich dann wieder daran, die fusseligen Haare auf Franks Kopf zu kürzen.

Meine Damen und Herren, es gibt ungewöhnliche Neuigkeiten im Fall von Sam Cochrane und der Rückkehr seiner verlorenen Tochter, Jade Cochrane, hier in St. Louis zu berichten. Vor weniger als einer Stunde wurde hier der Mann, mit dem Jade Cochrane die letzten Jahre zusammenlebte, in seinem Krankenhauszimmer umgebracht, ebenso wie die private Krankenschwester, die die Familie für seine Pflege eingestellt hatte.

Die Behörden suchen noch nach Hinweisen auf den Täter, aber bisher, so wurde uns mitgeteilt, gibt es wenig, was zu dem Mörder führen könnte.

Die Presseabteilung des Krankenhauses lässt nichts verlautbaren über die Krankheit, unter der der Verstorbene gelitten hatte, noch über die Gründe, warum er auf der Isolierstation gelegen hatte. Einer anonymen Quelle zufolge litt das Opfer des Mordes unter Krebs im Endstadium, aber das erklärt nicht, warum es sich unter Quarantäne befand.

Sobald wir neue Informationen haben, halten wir Sie auf dem Laufenden. Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als für die Familien zu beten, die ihre Geliebten verloren haben, und zu hoffen, dass die Polizei den Mörder fasst, bevor noch weitere Menschen zu Schaden kommen.

Ich bin Laura …”

Frank war so euphorisch, dass er den Rest der Nachrichten nicht mehr hörte. Newton hatte es geschafft! Er war eine der Personen losgeworden, die ihn verpfeifen und seine Chancen auf den Posten des Gouverneurs vermasseln konnten. Er lehnte sich im Stuhl zurück, schloss die Augen und hörte dem Geräusch zu, das der Friseur mit der Schere machte. Erst kurz bevor der Haarschnitt fertig war, wurde Frank klar, dass er einen kleinen Fehler in seinem Plan gemacht hatte. Auch wenn dieser Raphael jetzt tot war, außerdem Jade Cochrane, hieß das nicht, dass es nicht auch noch andere Menschen gäbe, die etwas von seiner lästigen kleinen Vorliebe wussten. Solange Otis Jacks noch am Leben war, war Big Frank nicht in Sicherheit.

“Sind Sie bald mal fertig, da?”, fragte er.

Der Friseur gab Franks Haar den letzten Schliff, bürstete die Haarspitzen von dem Umhang, bevor er ihn von Franks Schultern abnahm.

“So, bitte schön, Mr. Lawson. Sie sehen gut aus … sehr gut sogar.”

“Danke, Bob. Nur denken Sie daran, mich im Herbst auch zu wählen.”

Der Friseur grinste und nickte, als Frank zwei Zwanziger auf den Tresen legte und den Salon verließ.

Frank ging über den Parkplatz und vermied auf dem Weg zu seinem Wagen die vorbeifahrenden Fahrzeuge. Er musste Johnny Newton kurz anrufen und hören, was es kosten würde, noch einen zusätzlichen Namen auf die Liste zu setzen.

Zu derselben Zeit als Big Frank von Johnnys Erfolg erfuhr, sah Johnny dieselbe Nachrichtensendung. Er war sogar schon so weit, den Schalldämpfer für seine Pistole bereitzulegen und das Messer, das er benutzt hatte, um die Bremsleitung zu zerstören, an den Gürtel zu schnallen. Er war sich noch nicht sicher, welche Waffe er bei Jade Cochrane benutzen würde. Zum Teufel, vielleicht würde er einfach beide verwenden.

Während er darüber nachdachte, wie er seinen Auftrag zu Ende bringen würde, stiegen Luke und Jade in Sams Wagen. Alles, was Johnny aus dem Fenster sehen konnte, war ein riesiger schwarzer Lexus mit zwei Fahrgästen, der von der Auffahrt fuhr. Er erkannte die Frau auf dem Beifahrersitz und beeilte sich, zu seinem eigenen Auto zu kommen, als ihm einfiel, dass es nicht klug war, ihnen ein zweites Mal an einem Tag zu folgen. Er musste davon ausgehen, dass wer auch immer mit ihr im Auto saß, sie auch wieder zurückbringen würde.

Lukes Mobiltelefon klingelte, als er einparkte.

Jade war sehr nervös. Sie hatte Angst davor, in die Leichenhalle gehen zu müssen, daher zuckte sie zusammen, als sie den Ton hörte.

“Schon gut”, beruhigte sie Luke.

Jade nickte, obwohl es nicht so einfach war, wie es sich Luke vorstellte. Es gab nichts, was in diesem ganzen Albtraum einfach oder gut war, was ihr bevorstand schon gar nicht. Dann konzentrierte sie sich darauf, was Luke am Telefon sagte.

“Sind Sie sicher? Eine Übereinstimmung in neun Punkten bei den Abdrücken? Ja, ich weiß, dass das ziemlich gut ist. Er war schon dreimal drin? Haben wir seine DNS gespeichert? Gut. Also wenn sie mit der übereinstimmt, die Sie unter Raphaels Fingernägeln gefunden haben, dann haben wir unseren Täter. Ja … danke.”

Er legte auf. Offensichtlich hatte Jade ihm zugehört, er schuldete es ihr, den Rest zu erzählen, den sie noch nicht wusste.

“An den Bremsen an meinem Auto ist herumgefuhrwerkt worden. Sie haben einige gute Fingerabdrücke auf dem Motorboden gefunden und eine Übereinstimmung in neun Punkten bei einem von ihnen.”

“Was bedeutet das, eine Übereinstimmung in neun Punkten?”

“Das bedeutet, dass wir wissen, wer an meinem Auto herumgeschraubt hat. Er war dreimal drin, das heißt, dass er dreimal überführt und verurteilt worden ist und zwar wegen Körperverletzung und Totschlag im Gefängnis gesessen hat.”

“Und dann ist er nicht mehr im Gefängnis?”

Luke grinste. “Er ist seit 1994 draußen, dank unseres blöden Justizsystems. Earl hat mir außerdem gerade gesagt, dass die Bundespolizei davon ausgeht, dass er seit einigen Jahren als freiberuflicher Auftragskiller arbeitet, aber sie hat nicht genügend Beweise, um ihn festzunehmen.”

“Und nun?”, fragte sie.

“Wir können ihm noch nicht nachweisen, dass er am Tatort war, jedenfalls noch nicht, … wohl aber, dass er sich an meinem Wagen zu schaffen gemacht hat.”

“Was heißt das konkret?”

“Es gab Gesetzesänderungen. Als er im Gefängnis war, hat man ihm eine DNS-Probe abgenommen und gespeichert. Wenn sie mit der DNS von den Gewebeproben unter Raphaels Fingernägeln übereinstimmt, dann haben wir den Mörder.”

“Wie lange wird das dauern?”

Luke zuckte mit den Schultern. “Manchmal dauert das Monate. Die Labore sind unglaublich überarbeitet. Aber so wie ich Sam kenne, und falls die Beamten ihm das erlauben, wird er die Tests selbst bezahlen, dann geht es schneller. Wenn das also der Fall sein sollte, dann haben wir schnell genug Sicherheit, um ihn entweder als Täter auszuschließen oder wir haben genügend Beweise, um ihn festnehmen zu lassen.”

“Sein Name … wie heißt er?”, fragte Jade.

Luke sah sie aufmerksam an, um jegliches Zeichen, dass sie den Namen kennen könnte, wahrzunehmen.

“Johnny Newton”, sagte Luke.

“Den Namen habe ich noch nie gehört. Aber ich habe die Namen sowieso nie gekannt. Vielleicht wenn ich sein Gesicht sehe …?”

“Sobald wir hier fertig sind, sorge ich dafür, dass du ein Phantombild bekommst.”

“Okay.”

“Okay”, stimmte er ihr zu, dann stieg er aus dem Wagen und eilte zur Beifahrerseite herum. Er öffnete ihr die Tür und hielt ihr die Hand hin. “Komm, Süße, es ist an der Zeit, sich von Raphael zu verabschieden.”

Jade ergriff seine Hand, als sie ausstieg, und ließ sie nicht los. Sie hatten ihr nichts Besonderes über die Wunden erzählt, die Raphael erlitten hatte, nur dass er erwürgt worden war. Also befürchtete sie das Schlimmste. In einer perfekten Welt würde so etwas nicht geschehen, aber das einzig Perfekte, was sie kannte, war sein Gesicht. Falls der Mörder auch das noch zerstört hatte … sie glaubte nicht, das ertragen zu können.

Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, beugte sich Luke zu ihr herab und flüsterte in ihr Ohr: “Hast du Angst?”

Sie nickte.

“Du brauchst keine Angst zu haben, Liebling. Raphael ist tot. Was von ihm übrig ist, ist nur die Hülle eines Mannes, den du gekannt hast. Ich weiß nicht, ob du an ein Leben nach dem Tod glaubst, aber ich glaube daran, dass dort, wo Raphael jetzt ist, sein Körper perfekt ist. Ihm geht es gut, und er ist mit unser aller Vater zusammen.”

Jade hatte schon immer erklärt, sie glaube nicht an einen Gott. Jetzt verlangte Luke nicht nur von ihr, an Gott zu glauben, sondern auch noch daran, dass das Beste von Raphael an einem Ort weiter existierte, den sie nicht sehen konnte.

Sie wollte nicht mit ihm darüber streiten, aber auf diese Art und Weise an Raphael zu denken, tröstete sie ein wenig.

“Er hatte nie einen Vater.”

“Na, jetzt hat er einen, Süße. Vielleicht ist es für dich ein wenig leichter, so an ihn zu denken, nicht wahr?”

Sie zog ihre Hand aus seiner.

“Hier ist nichts leicht.”

Luke seufzte. Es war sinnlos, noch etwas zu sagen. Jade baute zwischen ihnen eine Mauer auf, um den Schmerz abzumildern, dem sie sich aber stellen musste. Er konnte es ihr nicht verdenken. An ihrer Stelle hätte er vielleicht genau dasselbe getan.

“Hier entlang”, sagte er und führte sie in das Gebäude.

Einige Minuten später trafen sie die Chefpathologin, die sie noch weiter ins Innere der Klinik mit ihren verwinkelten Fluren führte.

“Wir haben hier ein Fenster, durch das Sie schauen können. Wenn Sie einen Moment warten, dann sage ich …”

“Bitte … so nicht”, sagte Jade und presste ihre Finger gegen die Lippen, um nicht schreien zu müssen. “Ich muss mit ihm reden … ich muss wissen, dass es ihm gut geht.”

Die Pathologin runzelte die Stirn, dann sah sie Luke an.

“Wir dürfen nicht …”

Die Aussage “dürfen nicht” machte Jade wütend.

“Sie dürfen nicht? Ich darf ihn nicht sehen, bloß weil Sie diese blöden Maßgaben haben? Nein! Sie sind diejenigen, die ihn noch nicht einmal berühren dürfen sollten! Ich habe mit ihm zusammengelebt. Ich habe mit ihm zusammen geschlafen. Ich habe mit ihm gelacht.” Danach kippte ihre Stimme. “Ich habe mit ihm geweint. Wenn ich seinen Körper berühre, wird das nicht Ihre verdammte Untersuchung behindern.”

“Lassen Sie sie zu ihm”, sagte Luke. “Was soll schon passieren?”

Die Pathologin zuckte mit den Schultern, dann öffnete sie die Tür und tat einen Schritt zur Seite. “Nach Ihnen.”

Luke trat in den Raum, aber Jade bremste ihn mit einem Blick.

“Warte draußen.”

“Bist du sicher?”

“Nein, aber ich muss mit ihm allein sein.”

Er nickte, dann steckte er die Hände in seine Taschen und sah sie durch den Raum in einen weiteren Raum verschwinden.

Einige Sekunden später kam die Pathologin zurück und sah Luke fragend an.

“Sie bat mich auch hinauszugehen.”

“Das ist sehr schwer für sie”, sagte Luke.

“Früher oder später sind wir nun einmal alle mit dem Tod konfrontiert.”

“Ja, aber normalerweise haben wir Familie, die uns auffangen kann. Der Mann, der dort auf dem Untersuchungstisch liegt, ist der einzige Verwandte, den Miss Cochrane hat. Im Prinzip ist sein Tod das Ende von allem, was sie ihr Leben lang gekannt hat.”

Die Medizinerin pfiff leise. “Das ist schlimm.”

“Schlimm ist gar kein Ausdruck dafür”, sagte Luke und wünschte sich, sie hätte ihn nicht außen vor gelassen.

Jade stand neben der Bahre und versuchte, nicht an den Körper zu denken, der unter dem Laken lag. Schließlich legte sie ihre Hand auf seinen Kopf.

“Oh, Rafie … warum musste es so weit kommen?”

Er antwortete nicht. In diesem Moment akzeptierte sie, dass sie nie wieder seine Stimme hören würde. Aber auch wenn er nicht antwortete, gab es Dinge, die sie ihm noch zu sagen hatte. Sie zupfte eine kleine Falte in dem Laken zurecht, dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter.

“Ich wollte dir nur sagen, dass du recht gehabt hast. Ich werde eine Therapie machen. Die Psychiaterin heißt Antonia DiMatto, du würdest sie mögen.” Jade unterdrückte ein Schluchzen, dann streichelte sie seinen Arm. “Oh, Rafie, ich habe dir nie gesagt, wie viel du mir bedeutest. Ich habe nie die Worte geäußert, die ich in meinem Herzen gespürt habe, aber ich sage sie jetzt. Ich hoffe nur, dass du mich hören kannst. Du hast mir das Leben gerettet, immer wieder, ohne jemals etwas von mir dafür zu verlangen. Bevor ich anfing zu malen … bevor ich überhaupt wusste, dass ich zeichnen konnte … habe ich dich nie gefragt, woher das Geld kam, von dem wir Essen und ein Dach über dem Kopf im Winter bezahlt haben. Ich habe es nicht gefragt, denn ich wollte es nicht wissen. Ich habe mir eingeredet, dass du nicht … aber du hast es getan, nicht wahr? Du hast es getan, und das hat dich getötet.”

Jade senkte den Kopf. “Du bist immer so stark gewesen … du warst immer derjenige, der einen klaren Kopf behalten hat. Ich habe keine Ahnung, wie ich ohne dich leben soll, aber ich werde es versuchen.”

Dann nahm sie den Zipfel des Lakens über seinem Kopf und begann, es herunterzuziehen. Zentimeter für Zentimeter zog sie das Tuch zurück, bis sein Gesicht frei dalag. Als sie ihn sah, knickten ihr vor Erleichterung die Knie ein.

Sogar in seinem Tod war sein Gesicht das perfekt ziselierte Gesicht, nach dem sich Frauen immer umgedreht hatten – genauso, wie es zu seinen Lebzeiten gewesen war. Unberührt.

Sie küsste ihn – ein letzter bittersüßer Abschiedskuss. Ihre Lippen berührten die kalte bleiche Haut seiner Schläfe kaum, dann zog sie das Laken wieder hoch und ging fort.