9. KAPITEL
Sam ging ins Haus voran und gleich in die Bibliothek. Er bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Auf seinem Schreibtisch klingelte das Telefon, als er die Türen hinter sich zumachte und abschloss.
“Lass es klingeln”, wandte Sam sich an Luke.
Luke lächelte. “War viel los?”
“Du kannst es dir gar nicht vorstellen”, murmelte Sam, aber seine Sorge galt Jade, nicht sich selbst. “Ich glaube, ich habe mir keine Gedanken gemacht, was es bedeuten wird, wenn Jade auftaucht. Ich war so besorgt, wie wir unser Wiedersehen gestalten würden, dass es mir gar nicht eingefallen ist, dass auch der Rest der Welt unsere Geschichte interessant finden wird.”
Dann bemerkte Sam, dass Jade sich ungläubig im Raum umsah. Sein Vater hatte dieses Haus in den Zwanzigerjahren erbaut. Hier hatte er sein ganzes Leben lang gewohnt, war hierher mit Margaret nach ihren Flitterwochen zurückgekehrt. Dann, ein paar Jahre später, hatte er sich mit ihr und dem Baby hier eingerichtet. Das Haus war für ihn wie eine zweite Haut, sodass er die Eleganz der Räume gar nicht mehr wahrnahm. Aber der Schock, den er im Gesicht seiner Tochter zu sehen glaubte, erinnerte ihn daran, dass er privilegiert lebte. Sam unterdrückte seine Wut. Wenn Margaret nicht gewesen wäre, hätte Jade diesen Lebensstil von klein auf kennengelernt und wäre jetzt nicht eine Fremde in ihrem eigenen Haus.
Luke konnte sehen, dass Sam sich Sorgen machte, aber er wusste nicht, wie er ihm helfen konnte. Er hatte Sams Tochter aufgespürt. Den Rest mussten sie unter sich ausmachen.
“Ich habe noch Jades Bilder und ihre Malsachen im Auto. Ich geh sie holen und bringe das Gepäck mit. Dann verschwinde ich. Ihr beiden müsst ja erst mal erzählen.”
Jade hörte, was Luke gesagt hatte, und drehte sich abrupt um. Sie dachte darüber nach, ob sie überhaupt wollte, dass er fortging. Sie sagte sich, dass es sicherlich nicht daran lag, dass sie ihm gegenüber Vertrauen geschöpft hatte. Es war einfach so, dass sie ihn immer noch besser kannte als Sam Cochrane.
Sie sah Sam nervös an, dann schaute sie kurz zu Raphael herüber, der sich auf einen großen Lehnstuhl unter jenem Bild gesetzt hatte, das ihre ganze Welt verändert hatte.
Sam betrachtete ihr Gesicht auf der Suche nach einem Hinweis darauf, was sie dachte. Als sie das Porträt von Ivy ansah, zog sie die Stirn in Falten. Sam beschloss, den ersten Schritt zu wagen.
“Danke dafür.”
Jade sah ihn an. Sie war sich unsicher, wovon er sprach.
“Danke für was?”
“Dafür, dass du mir ein Stückchen von ihr zurückgegeben hast.”
Jade seufzte. Also hatte Sam Ivy wirklich geliebt. Sie begann zu verstehen, was der Verlust für ihn bedeutet hatte.
“Du hast sie wirklich geliebt, nicht?”
Sam seufzte. “Mehr als mein Leben.”
“Warum hat sie dich dann verlassen?”
Er lächelte sie traurig an, als sich ihre Blicke trafen. “Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht etwas darüber sagen könntest.”
Jade kniff die Augen zusammen. “Ich kann mich kaum an sie erinnern. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass sie starb und mich allein in dieser Hölle zurückließ.”
Sam war erstaunt, wie wütend Jade auf einmal war, aber er zeigte es nicht.
“Es tut mir leid, dass ich dich nicht finden konnte”, sagte er leise. “Gott allein weiß, wo ich euch überall gesucht habe. Ich habe so intensiv und so lange gesucht, aber ich habe keinen einzigen Hinweis darauf gefunden, wo deine Mutter und du steckt.”
Jade zuckte mit den Schultern und drehte sich zu dem Mann um, der sich ihr Vater nannte. Aber damit das stimmte, musste er sie so akzeptieren, wie sie jetzt war, nicht wie sie früher gewesen war.
“Du konntest dein kleines Mädchen nicht finden, weil sie auch gestorben ist.”
Sam spürte, wie der Boden unter seinen Füßen schwankte. “Was willst du damit sagen? Du bist gar nicht Jade?”
“Doch schon. Ich bin Ivys Kind. An soviel kann ich mich noch erinnern. Aber das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen bin, das gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht willst du gar nicht die Person kennenlernen, die ich jetzt bin … das, was von dem kleinen Mädchen noch übrig geblieben ist.”
Sam zuckte, dann streckte er die Schultern nach hinten und starrte Jade ins Gesicht.
“Vielleicht müssen wir eines zunächst klären: Es ist mir vollkommen gleichgültig, was du in deiner Vergangenheit gemacht hast. Was auch immer du getan hast, du hast es getan, um zu überleben, und dafür werde ich dir immer dankbar sein. Ob es dir lieb ist oder nicht … ob du es dir eingestehen willst oder nicht … du bist genauso ein Teil von mir, wie du ein Teil von Margaret bist. Und ich will noch das kleinste Stückchen, das von dir übrig geblieben ist, Mädchen. Hast du mich verstanden?”
Jade erschauderte. “Ich habe es gehört.”
“Gut”, murmelte Sam. “Da wir nun die Vergangenheit soweit geklärt hätten, ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, dich in den Arm nehmen zu dürfen? Damit du mich recht verstehst, nur für einen kurzen Augenblick. Nur, damit ich mir selbst beweisen kann, dass ich nicht träume?”
Luke kehrte in die Bibliothek zurück, als Sam diese Bitte aussprach. Er blieb augenblicklich stehen und hielt den Atem an, um zu sehen, wie Jade auf Sam reagieren würde. Er beobachtete, wie sie Raphael ansah und sich dann wieder Sam zuwandte, ohne ein Wort zu sagen. Langsam drückte sie die Schultern nach hinten, genauso wie es Sam einige Minuten zuvor getan hatte.
“Ich glaube nicht, dass das zu viel verlangt ist”, antwortete sie. Dann, kurz bevor sie Sam in den Arm nehmen wollte, fügte sie mit einer ruhigen Stimme hinzu: “Aber drück’ mich nicht zu fest, ich mag es nicht, wenn man mich anfasst.”
Sam wollte nicht darüber nachdenken, warum das so war. In diesem Moment zählte nur, dass sie ihm ein wenig Nähe gestattete.
“Sicher”, sagte er und unterdrückte den Wunsch zu weinen. Dann schlang er die Arme um sein einziges Kind, während er seine Innbrunst unterdrückte. Als sei dieser Augenblick nicht schon ein Wunder an sich, spürte er auch noch ihr Herz schlagen, als er sie an sich drückte. Nach alldem schien es doch, einen Gott zu geben.
Luke atmete langsam aus. Was er gerade gesehen hatte, schien darauf hinzudeuten, dass es den beiden gelingen würde, sich einander anzunähern. Dann sah er zu Raphael hinüber, der mit einem eingefrorenen Lächeln in seinem Lehnstuhl saß. Luke verstand seine Reaktion. Alles schien für Jade in gerade Bahnen gelenkt, aber für Raphael war die Situation schwierig. Und sie würde es bleiben. Luke nahm an, dass Raphael auf der einen Seite erleichtert war. Wenigstens musste ihr Freund jetzt nicht mehr um Jades Sicherheit und ihr Wohlbefinden fürchten. Auf der anderen Seite war es pure Ironie, dass er diesen Zustand vielleicht nicht mehr miterleben würde.
In Lukes Augen war die ganze Situation ein einziges großes tragisches Karussell. Sam hatte seine Tochter wieder, aber die einzige Erinnerung, die sie an ihre Kindheit hatte, ließ sie nachts Albträume haben und aufschreien. Jade hatte Raphael, aber er würde bald sterben. So gesehen war Raphael der Einzige, der nahe dran war, sein Ziel zu erreichen. Er hatte immer darum gerungen, ein anderes Leben zu führen – sicherer, geordneter – und einen guten Ort für Jade zu finden. Jetzt hatte er beides, aber wie hoch war der Preis? Plötzlich bemerkte Luke, dass Jade ihn über Sams Schulter hinweg anstarrte.
Als er ihren Blick erwiderte, löste sich Jade sofort aus der Umarmung von Sam und sah weg, aber es war schon zu spät. Sie war ertappt worden. Was sie am meisten nervte, war nicht, dass Luke sie dabei erwischt hatte, dass sie ihn ansah, sondern dass sie es überhaupt getan hatte. Er gehörte nicht zu ihrer Welt, und sie war sich nicht so sicher, ob es überhaupt einen Weg gab, dass sie zu seiner Welt gehörte. Dann sah sie zu Raphael herüber und wusste, dass das, was sie sich wünschte und dachte, nicht zählte. Ihm ging es nicht gut. Sie spürte das.
Sie sah zurück zu Sam.
“Uh … Sam …”
“Was ist?”
“Also, Sam … ich muss dich um einen Gefallen bitten.”
Sam lächelte. “Natürlich!”
“Raphael geht es schon eine längere Zeit nicht gut. Ich glaube, er müsste mal zum Arzt.”
Raphael war nicht darauf vorbereitet, dass Jade dermaßen mit ihrem Anliegen mit der Tür ins Haus fallen würde.
Schnell stand er auf. Er fürchtete, dass ihr Vater es ihr übel nehmen würde, nicht nur einen Gast mitgebracht zu haben, sondern gleich etwas zu erbitten, das vermutlich einige Kosten verursachen würde. Das durfte er nicht zulassen.
“Nein, wirklich nicht nötig …”, sagte er schnell. “Mir geht’s …”
“Ich glaube, das ist eine gute Idee”, warf Luke ruhig ein.
Jade drehte sich zu ihm um und kniff die Augen zusammen, als sie von Luke zu Raphael und wieder zu Luke sah. Plötzlich nahm sie auf Raphaels Gesicht einen Ausdruck wahr, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte Geheimnisse vor ihr, und was es auch immer sein mochte, Luke wusste davon.
Sie drehte sich wieder zu Raphael um.
“Raphael?”
Er nahm sie in den Arm. “Es ist okay, Süße. Ist schon gut.”
Sam wurde klar, dass hier etwas nicht stimmte, aber darüber machte er sich weniger Sorgen, als darum, Jade ihre Bitte zu erfüllen.
“Natürlich bekommen Sie medizinische Hilfe. Es tut mir leid, dass es mir vorher gar nicht aufgefallen ist, dass Sie sich nicht wohlfühlen”, sagte Sam. “Ich zeige euch eure Zimmer, dann rufe ich sofort meinen Hausarzt an. Unter diesen Umständen kann ich mir vorstellen, dass er gern vorbeikommt.”
Raphael seufzte. Es gab keinen anderen Weg, als die Wahrheit zu sagen. Und das war nun der Zeitpunkt. Seine Magenschmerzen wurden stärker und die Übelkeit stieg in ihm hoch. In den letzten zwei Monaten wollte er nichts anderes tun, als schlafen. Jetzt, da Jade in Sicherheit war, kam es ihm so vor, als sei alle Energie aus ihm gewichen. Er musste sich nicht mehr ihretwegen zusammenreißen. Es würde nicht leicht sein, aber das Einzige, was er noch für Jade tun konnte, war ihr beizubringen, wie sie ihn gehen lassen konnte.
“Danke, Mr. Cochrane. Ich weiß es sehr zu schätzen.”
“Bitte, nennen Sie mich Sam. Jetzt kommt mit, ich zeig euch eure Zimmer.”
“Ich bring die Taschen hoch”, fügte Luke hinzu.
Jade vermied es, ihn anzusehen. Sie wollte in seinem Gesicht das Mitleid nicht sehen, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte.
Luke ging hinter ihnen die Treppe hinauf. Er bemerkte, wie es Jade schwerfiel, die Augen von den teuren Gemälden und eleganten Teppichen abzuwenden. Wahrscheinlich war es ihr bisher nicht in den Sinn gekommen, dass sie eines Tages dieses Haus, das mehrere Millionen Dollar wert war, erben würde. Wenn es allein Geld war, das sie brauchte, dann wäre sie auf der sicheren Seite.
Als sie den Flur bis zur Hälfte hinuntergegangen waren, hielt Sam an. “Da wären wir.” Er öffnete eine Tür und trat ein. “Es ist ziemlich geräumig. Du hast dein eigenes Badezimmer. Ich glaube, es ist alles da, was du brauchst. Falls nicht, das weiße Telefon auf dem Beistelltisch ist eine Art Gegensprechanlage. Am anderen Ende antwortet dir Velma. Du brauchst nur abzuheben und die Null zu wählen. Sie kann dir auch alle anderen Fragen beantworten.”
“Wer ist Velma?”, fragte Jade.
Sam lächelte. “Sie sagt von sich, sie sei meine Haushälterin, aber sie ist eher der Kapitän des Schiffes. Wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre ich schon vor Jahren untergegangen.”
Dann öffnete Sam eine weitere Tür und deutete in den Raum dahinter. Das ist die Verbindungstür zwischen den Schlafzimmern. Ich war mir nicht sicher, ob ihr euch ein Bett teilen wollt. So habt ihr zwei Zimmer, wenn ihr wollt.”
Jades Augen wurden groß, als sie in das Nachbarzimmer sah und dort ein riesiges leeres Bett ausmachte.
“Wir nehmen das Zimmer”, sagte sie schnell.
“Fein”, antwortete Sam und drehte sich zu Luke um. “Würdest du die Taschen einfach dort abstellen?”
“Klar”, gab Luke zurück. “Und ich kann ja mal Michael Tessler anrufen, während du den beiden noch hilfst, sich einzurichten.”
“Wer ist das?”, fragte Jade.
“Das ist der Arzt von deinem Vater”, gab Luke zurück und ging wieder hinaus in den Flur.
Zu seiner Überraschung folgte ihm Jade.
“Hey!”
Luke wollte einfach weitergehen, aber er schaffte es nicht, sie zu ignorieren. Er setzte ein Lächeln auf und drehte sich zu Jade um.
“Ja?”
“Was ist hier los?”
“Was soll hier los sein? Tut mir leid, ich weiß nicht, was du meinst.”
Jade trat nahe an ihn heran. Sie ballte die Hände zu Fäusten und sah ihn wütend an.
“Du lügst.” Dann holte sie tief Luft. “Du bist auch nicht besser als all die anderen.”
“Die anderen wer?”, fragte Luke.
“Männer”, gab sie zurück, indem sie das Wort ausspuckte, als sei es ein Fluch. “Sie lügen alle. Und du bist auch nicht anders.”
Luke wurde plötzlich mulmig im Magen, wobei er die Gründe dafür im Moment nicht näher untersuchen wollte. Aber er würde es nicht zulassen, dass sie das letzte Wort behielt. Jedenfalls nicht zu diesem Thema.
“Ich werde dir nie wehtun”, sagte er leise zu ihr. “Und das meine ich ernst.”
Dann drehte er sich um und stieg die Treppe hinab, während Jade weiter im Flur stand.
Jade war irritiert. Sie ging zurück in das Schlafzimmer. Wenn sie die Antworten auf ihre Fragen nicht von Luke Kelly bekam, dann wusste sie, wen sie fragen musste. Allerdings lag Raphael schon ausgestreckt auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Sie wusste, dass er nicht schlief, aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn zur Rede zu stellen. Nicht jetzt.
“Hast du Hunger, meine Liebe?”, fragte Sam.
Sie sah Raphael an und seufzte. “Ein wenig. Rafie … magst du eine Kleinigkeit essen?”
“Nein danke, aber iss gern ohne mich”, antwortete Raphael. “Ich glaube, ich mache ein Nickerchen, bis der Arzt da ist.”
Sam berührte Jade an der Schulter, zog seine Hand aber sofort zurück, als er spürte, dass sie zusammenzuckte.
“Ich lass dich in Ruhe, damit du dich frisch machen kannst. Wenn du so weit bist, komm herunter und dann links. Am Ende des Flures geht es nach rechts. Da siehst du schon das Esszimmer.”
“Ja, danke”, entgegnete Jade. Sie wünschte, er würde endlich den Raum verlassen, sodass sie mit Raphael reden konnte.
Sam wandte sich zum Gehen, hielt jedoch noch einmal inne und drehte sich zu ihr um.
“Jade?”
“Ja?”
“Ich freue mich so sehr, dass du wieder daheim bist.”
Sie seufzte. Und zum ersten Mal, seitdem sie dieses Haus betreten hatte, musste sie sich eingestehen, dass sie auch froh war.
“Ja, Sam … ich freue mich auch.”
Sam winkte ihr zu, bevor er die Tür schloss. Sobald er draußen im Flur war, setzte sich Jade auf die Bettkante zu Raphael. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Haut war kalt – fast klamm. In seiner Schläfe sah sie einen Muskel zucken, als kämpfe er gegen einen Schmerz an.
“Rafie?”
Er unterdrückte ein Seufzen. “Ja?”
“Du bist krank, oder?”
Er bemerkte die Furcht in ihrer Stimme, sie klang wie bei einem kleinen Kind. Aber er wollte, dass sie stark war.
“Ja, Baby. Ich bin krank.”
Sie legte sich hinter ihn, kuschelte sich gegen seinen Rücken und legte ihren Arm um seine Taille.
“Warum hast du mir das nicht gesagt?”
Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine linke Brust. Er wünschte, sie könnte seine Liebe spüren, denn er war nicht in der Lage, ihr zu zeigen, was er wirklich fühlte.
“Es gab keinen Grund.”
Sie war einen Augenblick lang still, dann atmete sie tief und zitternd ein. Sie wollte nicht daran denken, woran er erkrankt war. Weder sie noch Raphael hatten jemals Drogen genommen, aber es war unmöglich zu vergessen, was Solomon ihnen angetan hatte. Und es gelang ihr nicht, die Tatsache zu verleugnen, dass einige sexuell übertragbare Krankheiten nicht nur unheilbar, sondern auch tödlich waren.
Sie schob ihre Hand unter sein Hemd und spürte die Rippenbögen. Die Knochen stachen erschütternd unter der Haut hervor, wo sich früher noch festes Gewebe befunden hatte. Jade unterdrückte den Wunsch zu schreien.
Nicht Raphael! Bitte, nicht mein Raphael.
Dann versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Nach all den Jahren, in denen er sich um sie gekümmert hatte, war es das Mindeste, was sie für ihn tun konnte. Sie strich ihm mit der Hand vorsichtig über den Rücken.
“Es ist in Ordnung, Rafie. Der Doktor kommt nachher, und dann macht er dich wieder gesund.”
Sie wollte, dass Raphael ihr zustimmte. Sie wartete auf eine Antwort. Sie wartete immer noch, dann fing sie zu weinen an.
Raphael spürte, wie ihr Körper zuckte. Er selbst rang mit den Tränen. In diesem Moment hätte er gern Gott verflucht, ihm dieses Schicksal aufzubürden, aber ihm fehlte die Kraft dazu. Es hätte sowieso nichts geändert. Sein Schicksal war besiegelt von dem Tag an, als er die Welt erblickte.
“Dir wird nichts geschehen”, sagte er leise.
“Ich mache mir keine Sorgen um mich. Ich sorge mich um dich.”
Raphael schloss wieder die Augen und kämpfte gegen eine neue aufsteigende Welle von Übelkeit an.
“Schau, wo Velma ist. … iss etwas. Wenn du wiederkommst, kannst du mir vielleicht etwas Kaltes zu trinken mitbringen.”
Der Gedanke, dass sie ihm etwas Gutes tun konnte, ließ Jade aufspringen. “Ich beeile mich”, sagte sie. “Vielleicht gibt es Suppe. Rafie … möchtest du vielleicht ein wenig Suppe?”
“Ja, gern”, antwortete er. “Das wäre prima.”
Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter, dann die Bewegung der Matratze, als er sich drehte. Er hielt den Atem an, bis Jade das Zimmer verlassen hatte. Dann rollte er sich vom Bett und stolperte in das Badezimmer.
Big Frank konnte an nichts anderes denken, als an die Telefonnummer, die sich in seiner Tasche befand. Er hatte das Gefühl, als brenne sie sich durch den Stoff des Sakkos, als er in die Tiefgarage seines Wohnblocks einbog. Er schob seine beachtliche Leibesfülle hinter dem Steuer hervor und bewegte sich dann auf den Aufzug zu. Als er bei der Aufsicht vorbeikam, nickte er ihr zu und winkte. Es schadete nie, einem potenziellen Wähler gegenüber freundlich zu sein.
Als er den Fahrstuhl betrat, stand schon das Pärchen vom Stockwerk über ihm darin. Er sah sich gezwungen, freundlichen Small Talk zu halten, obwohl ihm eher danach war, jemanden zusammenzuschlagen.
Als er in seinem Stockwerk ausstieg, verließ er den Aufzug mit einem entspannten “Ihnen noch einen schönen Abend” und beeilte sich in sein Apartment zu kommen, wo er hinter sich die Tür abschloss. Er warf seine Aktentasche auf einen Stuhl und zog die Telefonnummer aus der Tasche, dann ging er ins Schlafzimmer. Obwohl einige Telefonapparate in der Wohnung verteilt waren, erschien ihm die Privatsphäre des Schlafzimmers angemessen.
Er zog sein Sakko aus und lockerte die Krawatte, dann ließ er sich auf die Bettkante fallen und nahm das Telefon zur Hand. Er sah auf die Uhr. Es war hier in Tennessee sechs Uhr, dann war es jetzt erst vier Uhr nachmittags in Kalifornien. Er holte tief Luft und wählte. Es hatte erst zweimal geklingelt, als eine Frau antwortete.
Sie zwitscherte: “Shooting Star Productions. Wie kann ich Ihnen helfen?”
“Ich versuche einen Mann namens Otis Jacks zu erreichen. Ist er da?”
“Nein, das tut mir leid. Mr. Jacks ist schon gegangen. Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?”
Frank sank zusammen. Wenigstens war der Hurensohn noch in Los Angeles. Wenigstens war das eine gute Nachricht.
“Es ist wichtig, dass ich ihn so schnell wie möglich erreiche. Können Sie mir seine Mobilnummer geben?”
Die Empfangsdame zögerte. Sie war erst seit ein paar Wochen in der Firma und noch nicht vertraut mit Dingen wie der Herausgabe von Mobilnummern. Dann zuckte sie mit den Schultern. Es war ja nicht so, dass sie seine Privatnummer oder Adresse weitergab. Sie nannte Frank die Nummer.
“Danke”, sagte er und legte auf. Dann wählte er unverzüglich die zweite Nummer.
Es klingelte fünfmal, und Frank bereitete sich schon darauf vor, auf einen Anrufbeantworter zu sprechen, als plötzlich jemand dran war.
“Hallo … hier Jacks.”
“Du hast dich früher mal Solomon genannt. Wie hast du davor geheißen, hm, Otis?”
Otis hielt inne. Seines Wissens kannte niemand aus seiner Vergangenheit seinen Werdegang. Offensichtlich hatte er sich geirrt.
“Wer spricht da?”, fragte er.
“Belassen wir es dabei, dass hier einer deiner alten Kunden spricht.”
“Hören Sie zu, Sie Arschloch. Ich habe keine Zeit, mit Ihnen meine Zeit zu verschwenden, sagen Sie endlich, was Sie wollen.”
“Hast du kürzlich mal in die Zeitung gesehen? Kennst du die Nachrichten über das Mädchen … das du einmal Jade genannt hast?”
Otis grunzte. Also war er nicht der Einzige, der über die Nachrichten besorgt war.
“Ja, ich habe davon gehört.”
“Also, was wirst du tun?”, fragte Frank.
“Nichts”, antwortete Otis. “Ich werde nichts tun, und genau das empfehle ich auch Ihnen, wer Sie auch immer sein mögen.”
Big Frank schnaubte durch die Nase. Niemand sprach so mit ihm. Das ließ er nicht zu.
“Nun, vielleicht hast du nicht so viel zu verlieren wie ich.”
“Das ist Ihr Problem, nicht meines”, gab Otis knapp zurück. “Also stecken Sie sich Ihren Schwanz wieder zurück in die Hose, wo er hingehört, und halten Sie den Ball flach. Die Aufregung wird sich schnell genug wieder legen. Oder Sie lassen sich einfach eine Nasenkorrektur machen und gehen auf die Bahamas. Verdammt, machen Sie mich nicht dafür verantwortlich, dass Sie so ein kranker Ficker sind.”
Frank kochte, aber er konnte gegen Otis nicht viel ausrichten, ohne seine eigenen schmutzigen Geheimnisse aufzudecken. Dennoch konnte er nicht widerstehen zu bluffen: “Ich weiß mehr über dich, als du glaubst”, flüsterte Frank. “Du hast Babys geraubt … du hast Kinder an Perverse wie mich verkauft … was heißt das also?”
Frank hängte auf. Er hätte wissen müssen, dass der bedauernswerte Bastard ihm nicht weiterhelfen würde, aber er hatte es einfach versuchen müssen. Und da Otis seine Stimme nicht erkannt hatte, fühlte sich Frank sicher. Nun musste er herausfinden, ob der Mann an Jades Seite Raphael war. Wenn das zuträfe, dann würde Frank dafür sorgen, dass er ihn nicht verriet.
Er sah sich in seinem Schlafzimmer um und betrachtete das Ölgemälde an der Wand. Es war nur ein Druck eines Van Goghs, aber er mochte die Buntheit der Farben und die Paranoia, die er in den Pinselstrichen sah. Dann legte er sich aufs Bett und schloss die Augen. Er verfluchte die Tatsache, dass eine Frau mit runden Formen ihn nicht anmachte, im Gegensatz zu der Flachbrüstigkeit und der Schlankheit kleiner Mädchen.
Er lag dort in der Stille und überlegte sich all die Möglichkeiten und die Komplikationen, die es mit sich brachte, wenn er seiner Neigung nachging und ignorierte, was er gelernt hatte. Schließlich setzte er sich mit einem Seufzer auf. Es blieb dabei, für ihn stand zu viel auf dem Spiel.
Als er dieses Mal den Hörer des Telefons in die Hand nahm, hatte er einen Plan.
Es war acht Uhr morgens, als Otis Jacks in der Praxis seines Arztes ankam. Dieser Mann war eines der größten Talente in Los Angeles, wenn es um Schönheitschirurgie ging. Aber noch wichtiger war es, dass er für die angemessene Summe Geld einen perfekten Gedächtnisverlust für die Namen bestimmter Patienten entwickelte. Es ging tatsächlich das Gerücht herum, dass er schon Leute operiert hatte, ohne überhaupt deren Namen zu kennen. Das war genau das, was Otis brauchte.
Heute war es so weit: Er würde die ersten Schritte unternehmen, ein neues Aussehen zu bekommen. Dazu gehörten eine Nasenkorrektur, Wangenimplantate und vielleicht auch ein wenig Wegschneiden an den Augen und unter seinem Kinn, um die Zeichen seines exzessiven Lebensstils zu beseitigen. Er kannte jemanden, der ihm die Produktionsfirma abkaufen würde. Auch wenn er dieses Unternehmen ohne Reue abstoßen würde, wäre er immerhin ein sehr reicher Mann. Zur Hölle mit den Leuten, die nicht vergessen oder verzeihen konnten und mit dem nervigen Typen, der ihn angerufen hatte. Sobald der Arzt ihm erlaubte, wieder zu reisen, wäre er schon unterwegs. Unterwegs und weg.
Michael Tessler war schon seit Jahren Sam Cochranes Hausarzt, aber noch nie war er um einen Hausbesuch gebeten worden. Dass er einfach nur neugierig war, war noch geschmeichelt. Als er den Anruf von Luke Kelly bekam, hatte er sich sofort einverstanden erklärt. Wie alle anderen Bürger von St. Louis hatte er davon gehört, dass Sams Tochter wieder aufgetaucht war und dass sie zu Sams Freude nach Hause zurückgekehrt sein sollte.
Aber jetzt, als er durch das Spalier der Funkwagen und Reporter, die am Straßenrand parkten, fuhr, verstand er, warum ein Hausbesuch nötig war. Wenn jemand das Haus verlassen hätte, wäre das nicht ohne einen Aufstand der Medienleute geschehen. Als die Nachrichtenteams sahen, dass er auf die Auffahrt von Sam Cochrane fuhr, gingen die Scheinwerfer und die Kameras an. Er versuchte, sein Gesicht zu verbergen und eilte den Weg zur Tür hinauf. Velma öffnete ihm, bevor er klingeln konnte.
“Kommen Sie herein, Dr. Tessler. Ich gehe mit Ihnen nach oben.”
Tessler stand schon auf der Treppe, als Sam plötzlich am oberen Absatz auftauchte.
“Michael … ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dir für mich die Zeit nimmst.”
“Ist mir ein Vergnügen”, gab Tessler zurück. “Und herzlichen Glückwunsch, dass man deine Tochter gefunden hat. Geht es ihr nicht gut?”
“Ja, es ist wirklich ein Wunder, dass sie wieder da ist”, sagte Sam. “Aber es geht nicht um sie. Komm mit.”
Sam öffnete die Tür. Jade saß in einem Stuhl an Raphaels Bett. Als er ihren gequälten Gesichtsausdruck sah, tat es ihm im Herzen leid, aber er wusste, dass er eine Fremde nicht trösten konnte, die ihn nicht an sich heranließ.
“Jade, das ist Dr. Tessler. Er ist ein hervorragender Arzt und ein alter Freund von mir. Er wird sich um Raphael kümmern.”
Jade stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
“Er schläft”, sagte sie.
“Jetzt nicht mehr”, sagte Raphael, rollte sich auf die Seite und stand auf. “Dr. Tessler, ich bin Raphael. Danke, dass Sie gekommen sind.”
Michael Tessler hatte viele Patienten in seiner Amtszeit gesehen, und auf den ersten Blick ging es diesem Patienten tatsächlich nicht sehr gut.
“Ich helfe gern”, sagte er und stellte dann seinen Arztkoffer ab, bevor er seinen leichten Mantel auszog. Dann lächelte er Sam und Jade an.
“Wenn Sie beide uns jetzt entschuldigen wollen … ich möchte den Patienten untersuchen.”
Jade runzelte die Stirn. “Oh nein, ich glaube …”
“Nein, Jade, geh’ mit Sam hinaus. Wir reden später, okay?”
“Ich will aber nicht.”
“Ich weiß, aber ich bitte dich trotzdem darum.”
Jade unterdrückte die Tränen und ging mit eingezogenem Kopf aus dem Raum, während sie Sams ausgestreckte Hand nicht sehen wollte.
Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war, wandte sich Michael Tessler an Raphael.
“Also, junger Mann, was ist mit Ihnen, können Sie mir das sagen?”
“Ich habe Aids. Außerdem habe ich Leberkrebs, und ich sterbe.”