13. KAPITEL
Als Jade mit dem Frühstück fertig war, fiel ihr ein, dass sie noch etwas vorhatte.
“Das Shopping-Center liegt doch auf dem Weg zum Krankenhaus, oder?”
Luke nickte, als er den letzten Rest Kaffee trank.
“Könnten wir auf unserem Weg dort anhalten? Ich würde Raphael gern ein Paar warme Socken kaufen, denn er hat immer so kalte Füße.”
“Sicher, das machen wir”, erwiderte Luke.
Dann kam Sam zurück. “Shelly Hudson hat angerufen. Sie hat mir aufgetragen, dir auszurichten, dass sie immer noch an dich denkt, und wenn du etwas brauchst, sollst du sie einfach anrufen.”
“Sie ist eine sehr nette Dame”, stellte Jade fest.
“Ja, das stimmt. Sie hat früher manchmal für Margaret und mich das Babysitten übernommen.”
“Sie hat auf mich aufgepasst?”
Sam nickte. “Seit du auf der Welt warst, bis ihr verschwunden seid.”
Jade sah ihn irritiert an. “Um Himmels willen … sie hat mich gewickelt.”
Beide Männer brachen in Lachen aus, und Jade wurde rot.
“Ja, lacht ihr nur”, gab sie zurück “das ist ein bisschen komisch.”
Dann erinnerte sich Sam an etwas und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Jade.
“Warte, fahrt noch nicht los. Ich habe noch etwas für dich.” Er drehte sich auf dem Absatz um und ging in den Flur. Einen Augenblick später kam er mit einer Kreditkarte und einigen Schecks zurück. “Hier, Süße. Das wollte ich dir schon die ganze Zeit über geben, aber ich habe es immer wieder vergessen.”
“Was ist das?”, fragte Jade.
Sam setzte sich auf den Stuhl neben sie und legte seinen Arm um ihre Schulter.
“Das sind vorläufige Schecks für das Girokonto, das ich für dich eröffnet habe. Und das ist die Bankkarte für mein Girokonto. Die kannst du benutzen, bis deine eigene mit der Post gekommen ist. Ich überweise dir jeden Monat fünftausend Dollar, also mach dir keine Sorgen darum, ob du noch etwas auf dem Konto hast.”
Jades Kinnlade fiel nach unten. Fünftausend Dollar? Jeden Monat? So viel Geld hatte sie nicht einmal innerhalb eines Jahres zur Verfügung gehabt, seitdem sie denken konnte.
Sie sah auf das Scheckbuch hinunter, dann schaute sie Sam in die Augen. Schließlich schüttelte sie ungläubig den Kopf.
“Sam … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe doch noch ein bisschen Geld von der letzten Ausstellung. Weißt du, das habe ich wirklich nicht erwartet.”
Sam schüttelte den Kopf und lächelte. “Ja, ich weiß, Süße. Ich weiß, dass ich dir kein Geld geben muss, aber ich möchte es, verstehst du?”
Sie schaute kurz hinüber zu Luke. Er aß die letzten Bissen der Waffel, die noch auf ihrem Teller lagen.
“Na, du bist mir auch keine große Hilfe”, wandte sie sich an ihn.
Er sah auf und grinste sie an. “Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Solange mich Onkel Sam nicht adoptiert, habe ich wohl kein Mitspracherecht, fürchte ich.”
An seiner Unterlippe befand sich ein kleiner Tropfen Erdbeersaft. Jade starrte ihn an, bis ihr heiß wurde und sie es bemerkte.
Da Luke anscheinend nur Scherze über diese Situation machen konnte, musste sie nun allein damit zurechtkommen.
“Ich habe noch nie in meinem Leben Almosen von jemandem angenommen.”
Sam runzelte die Stirn. “Es sind keine Almosen, mein Schatz. Du bist meine Tochter. Das Geld gehört dir rechtmäßig genauso wie mir.”
Jade befühlte das Scheckbuch, dann klappte sie es auf.
“Ich habe noch nie zuvor einen Scheck ausgeschrieben.” Sie seufzte. “In Wahrheit hatte ich auch noch nie in meinem Leben genügend Geld, um ein Girokonto zu eröffnen. Wir sind so häufig umgezogen, dass es keinen Sinn ergab.”
Sam hoffte, dass sie ihm seine Gefühle nicht ansah.
“Das tut mir leid. Offensichtlich hatte ich nicht nachgedacht, sonst hätte ich mir darüber klar sein müssen. Ich nehme an, dass du weder einen Führerschein mit einem Foto von dir oder einen alten Schülerausweis oder so etwas hast?”
“Führerschein? Sam, ich war nie in der Fahrschule. Und welches Auto hätte ich fahren sollen? Und was den Schülerausweis angeht, muss ich gestehen, dass ich nie zur Schule gegangen bin … jedenfalls nie in eine normale Schule wie andere Kinder.”
Luke sah auf. “Nie? Du warst nie in einer Schule … aber wie hast du denn zählen gelernt, oder lesen oder …”
“Bei den People of Joy gab es eine Frau, die zuvor als Lehrerin gearbeitet hatte. Solomon sorgte dafür, dass sie den Kindern, die dort lebten, Unterricht gab. Die Stunden fanden nur unregelmäßig statt, denn manchmal war sie zu bedröhnt, um zu unterrichten, aber das, was ich kann, habe ich dort gelernt. Den Rest habe ich mir angeeignet, als wir fortgelaufen waren. Raphael ist klug … er ist wirklich sehr intelligent. Er hat mir viel beigebracht – über die verschiedensten Dinge. Er kann alles … ich meine, er hätte alles gekonnt.”
Ihr war schlecht, denn sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie Raphael für einen Moment vergessen hatte.
Luke spürte eine Mischung aus Wut und Bedauern. Er dachte wieder darüber nach, was er diesem Solomon gern antun würde, als Sam versuchte, die Wogen zu glätten.
“Sei nicht traurig. Darum kümmern wir uns ein anderes Mal. Also jetzt mach dir erst einmal keine Sorgen darum, wie man Schecks ausschreibt. Benutz’ einfach die Kreditkarte. Das ist wie Bargeld. Luke zeigt dir, wie man’s macht. Das lernst du ganz schnell. Und, ach ja … du brauchst eine PIN-Nummer, um Geld aus dem Automaten zu ziehen. Sie lautet 7373. Luke, hast du vielleicht Zeit, mit Jade zum Automaten zu gehen, und ihr zu zeigen, wie das geht?”
“Kein Problem”, sagte Luke.
Es drehte sich in Jades Kopf, als sie versuchte, sich die PIN-Nummer zu merken. Geld zu haben war komplizierter, als sie gedacht hatte. “7373.” Sie runzelte die Stirn. “Und was ist, wenn ich die Nummer vergesse?”
Sam lächelte. “Du wirst sie nicht vergessen. Es ist dein Geburtsdatum.”
“Ich habe im Juli Geburtstag?”
Luke platzte der Kragen.
“Dieser gemeine Bastard”, murmelte er, stand auf und verließ den Raum.
Sam war geschockt. “Du wusstest dein eigenes Geburtsdatum nicht?”
“Vielleicht wusste ich, wann ich Geburtstag habe, bevor Mutter starb, aber dann habe ich es wahrscheinlich vergessen.”
“Wir haben die schönsten Feste gehabt”, erinnerte sich Sam. “Und außerdem: Das holen wir nach!” Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. “Nun mach, dass du loskommst! Luke wartet wahrscheinlich schon im Wagen auf dich.”
Jade verstaute die Kreditkarte und die Schecks in ihrer Handtasche und stand auf. Sam brachte sie zur Tür. Als sie im Flur standen, drehte sie sich um und umarmte ihn. Dann, bevor er etwas erwidern konnte, was sie noch mehr verwirrt hätte, rannte sie aus dem Haus.
Luke saß auf den Treppenstufen vor dem Eingang. Er stand auf, als Jade kam und bot ihr seine Hand an. Zu seiner Überraschung nahm sie sie und erlaubte ihm, sie die Treppen hinunterzuführen.
“Schnall dich an”, sagte Luke, nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte und er um den Wagen herum gegangen war, um sich hinter das Steuer zu setzen. Auch nachdem er sich angeschnallt hatte und alles bereit war, um loszufahren, saß er regungslos auf seinem Sitz und starrte geradeaus.
“Luke?”
Er zuckte zusammen, als sei er aus einer Trance aufgewacht, drehte den Zündschlüssel im Schloss, aber bewegte den Wagen nicht von der Stelle.
“Jade, manchmal brichst du mir einfach das Herz. Ich hoffe, dass Gott ein Einsehen hat und dass du eines Tages jemanden findest, der dich so liebt, wie du es verdient hast.”
Jade sah ihn nicht an, denn sie fürchtete, er könnte in ihrem Blick erkennen, wie sehnlich sie sich das wünschte. Aber sie musste ihm sagen, was ihr durch den Kopf ging.
“Aber was ist, wenn ich diese Liebe nicht erwidern kann?”
Dann sah er sie an. Als er ihr antwortete, war seine Stimme belegt. “Du kannst es, Süße. Du musst nur Vertrauen haben, dann geht es von allein.”
“Aber was ist, wenn das nie passiert?”
“Es wird passieren – wenn du dafür bereit bist”, sagte Luke, legte den Gang ein und fuhr los.
Johnny Newton hatte sich angezogen und saß in seinem Auto. Von dort, wo er den Wagen geparkt hatte, konnte er sehen, wer aus dem Haus von Sam Cochrane kam und wer hineinging, ohne selbst gesehen zu werden. Er beobachtete, wie ein jüngerer Mann zusammen mit Jade Cochrane hinausging. Dann setzten sie sich in einen roten Sportwagen und unterhielten sich. Er nahm ein Fernglas vom Beifahrersitz und fokussierte ihre Gesichter. Jede Gefühlsregung der beiden konnte er dadurch verfolgen.
“Ich glaube, er will dich bumsen, Baby”, sagte Johnny und nahm sich vor zu lernen, wie man Worte von Lippen ablesen kann. Dann richtete er das Fernglas auf Jades Gesicht, stellte scharf und pfiff leise durch die Zähne. “Süß … und sie hat es fast verdient, dass sich jemand die Zeit nimmt, es ihr richtig zu besorgen.”
Sobald sich der Wagen in Bewegung setzte, legte Johnny das Fernglas wieder auf den Beifahrersitz und legte den Gang ein. Er zählte bis drei und verließ die Auffahrt rechtzeitig, sodass er auf der Straße noch sehen konnte, wie der rote Sportwagen um die Ecke bog. Er achtete darauf, dass die beiden ihn nicht bemerkten und folgte ihnen. Johnny hatte nicht vor, Jade heute umzulegen, aber er hatte herausgefunden, wie er Raphael beseitigen könnte. Das Problem bestand darin, dass immer jemand bei dem armen Verlierer war. Es gab immer jemanden, der mit dem Kranken auf seinem Einzelzimmer war, und Johnny schätzte ein wenig Privatsphäre, wenn er arbeitete. Aber ihm wurde mittlerweile auch langweilig, und er dachte, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, würde er sie ergreifen. Es könnte interessant werden zu sehen, wie nahe er Jade Cochrane kommen konnte, ohne sie zu beunruhigen. Schließlich war sie ja das zweite Opfer. Je länger er darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde er. Und weil er darüber nachdachte, wie sanft ihr weiches Fleisch einer Pistolenkugel nachgeben würde, wurde er unvorsichtig. Hätte Johnny Newton gewusst, dass der Mann neben Jade ein Ex-Polizist war, der seine eigene Detektei und Sicherheitsfirma betrieb, hätte er vielleicht zweimal darüber nachgedacht, was er tat. Aber weil er es liebte, mit dem Risiko zu spielen, war er selbst dran.
Luke hatte die Reflexion eines Sonnenstrahls in seinem Rückspiegel wahrgenommen und entdeckte als Nächstes die Windschutzscheibe des Autos hinter ihnen. Gewohnheitsmäßig nahm er dessen Farbe wahr: Es war ein grauer Viertürer aktuellen Baujahrs. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Fahren. Jade zählte immer wieder die Zwanzig-Dollar-Scheine, die sie gerade aus dem Automaten geholt hatten.
Luke hatte sich in dem Moment gewünscht, eine Kamera dabei zu haben, um erst ihren Schock, dann die Freude auf ihrem Gesicht festzuhalten, als sie dreihundert Dollar reicher vom Automaten kam. Natürlich kannte sie die Automaten, aber sie hatte nie zuvor Gelegenheit gehabt zu lernen, wie sie funktionierten. Offensichtlich war Jade von ihrer Funktionsweise fasziniert.
“Gleich sind wir im Einkaufszentrum”, sagte Luke.
“Oh! Okay.” Schnell tat Jade das Geld in ihr Portemonnaie.
Als Luke von der kleinen Straße auf den Parkplatz einbog, bemerkte er, dass ihnen die graue Limousine immer noch folgte. Andererseits fuhren die anderen zwei Dutzend Autos hinter ihnen auch ins Einkaufszentrum, also dachte er nicht weiter darüber nach.
“Wir brauchen Strümpfe, nicht wahr?”
Sie nickte. Sie dachte über die große Summe Geld in ihrer Tasche nach und hielt sie mit beiden Händen fest.
Luke fuhr zweimal um den gesamten Parkplatz, bis er einen Platz in der Nähe des großen Kaufhauses JCPenney gefunden hatte. Um Herrensocken zu kaufen, war das so gut wie jeder andere Laden.
“Ha! Da ist einer”, rief Luke leise, als er in eine Parklücke fuhr, aus der gerade eine Frau mit einem PT Cruiser gekommen war.
Jade lächelte ansatzweise. “Es braucht nicht viel, um dich glücklich zu machen, oder?”
Luke zog eine Augenbraue in die Höhe und gab vor, beleidigt zu sein. “Das war verletzend, Verehrteste. Wollen Sie andeuten, ich sei oberflächlich?”
Sie lachte laut auf.
Luke erschauderte und sah dann schnell aus dem Seitenfenster. Als sie lachte, fühlte er sich nackt – als habe das Geräusch ihn bis auf den letzten Faden ausgezogen.
“Okay”, sagte er kurz angebunden, “dann lass uns jetzt Strümpfe kaufen.”
Jade klammerte sich noch fester an ihre Handtasche und stieg aus dem Wagen.
Johnny Newton sah zu, wie sie einparkten und stieg selbst aus. Er beobachtete, wie sie über den Parkplatz gingen und dann im Gebäude verschwanden. Ihm fiel plötzlich ein, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, als sie die Runden auf dem Parkplatz gefahren waren. Johnny wusste, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus waren, und deswegen musste er dafür sorgen, dass sie aufgehalten wurden, damit er in Ruhe zu Raphael kommen konnte.
Er fuhr in die erste Parklücke, die er fand, und sobald die beiden außer Sichtweite waren, fing er an zu laufen. Eine Minute später stand er neben dem roten Sportwagen. Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass ihn niemand sah, dann nahm er ein Messer aus der Hosentasche, ließ es auf den Beton fallen, bückte sich, ließ sich auf den Rücken nieder und kroch unter den Motor, soweit es ging.
Der Beton fühlte sich heiß durch die Kleidung an. Der beißende Geruch von verbranntem Öl und heißem Gummi drang ihm in die Nase, während er nach der Bremsleitung griff. Er hörte Stimmen und jemand lachte, als er das Messer an der Leitung ansetzte und zustach. Als er es wieder hinauszog, war die Klinge mit ein wenig Flüssigkeit verschmiert. Mit so wenig Aufwand wie möglich klappte er das Messer zusammen und kroch unter dem Wagen hervor. Als er wieder auf die Füße sprang, erschrak er zwei Teenager, die auf dem Weg zu ihrem Wagen waren.
Sie hielten beide gleichzeitig den Atem an und sahen ihn nervös an, während sie ihre Handtaschen umklammerten und schnellen Schrittes weitergingen.
“Buh!”, machte Johnny und winkte mit erhobenen Händen, als wolle er sie verhexen.
Sie fingen an zu schreien und liefen los.
Johnny lachte laut auf und ging dann quer über den Parkplatz zu seinem Auto. Bevor die beiden Mädchen an ihrem Wagen angelangt waren, war er schon wieder auf der Straße, die in die Stadt führte. Sein Plan basierte darauf, dass er so schnell wie möglich in Raphaels Krankenzimmer hinein- und auch wieder hinauskam, ohne vielen Menschen zu begegnen, und jetzt hatte er sich die dafür nötige Zeit verschafft.
Jade suchte immer wieder nach einer Uhr. Je länger sie Raphael in seinem Krankenzimmer allein ließ, desto nervöser wurde sie.
“Wie spät ist es?”, fragte sie, während sie mit den Einkäufen durch das Einkaufszentrum eilte.
Luke sah auf seine Armbanduhr. “Fast zehn.”
“Oh Gott … schon so spät? Ich war seit drei, fast vier Stunden weg. Was wenn …”
“Raphael geht es gut”, beruhigte Luke sie.
“Woher willst du das wissen?”, fuhr sie ihn an.
“Denn falls es ihm nicht gut ginge, hätten die Leute aus dem Krankenhaus Sam angerufen. Und Sam weiß, dass wir zusammen sind, das heißt, er hätte mich auf meinem Mobiltelefon angerufen. Da Sam uns also nicht angerufen hat, können wir davon ausgehen, dass es Raphael gut geht. Daher weiß ich das.”
“Oh.”
Das ergab Sinn. Außerdem hatte Jade jetzt das Gefühl, sich ein wenig entspannen zu können.
“Entschuldigung”, sagte sie. “Aber jede Minute, die ich nicht mit Raphael zusammen bin, kann ich nie wieder zurückbekommen.”
Ihre Stimme kippte und sie schaute weg. Sie sah ein kleines Mädchen vor einem Laden stehen. Es stand mit dem Rücken zum Schaufenster, und Jade sah an seinem Gesicht, dass es Angst hatte.
Bevor sie etwas sagen konnte, hatte Luke das Mädchen auch schon entdeckt.
“Jade, sieh mal, ich glaube die Kleine hat ihre Eltern verloren. Kannst du irgendwelche Erwachsenen sehen, zu denen sie gehören könnte?”
Jade sah sich um, fand aber niemanden, zu dem das Kind gehören könnte.
“Nein, ich sehe niemanden, du?”, fragte sie.
“Nein”, sagte er, und ohne zu zögern ging er zu dem Mädchen hin. Sobald er vor ihr stand, ging er in die Hocke, damit er auf derselben Höhe wie sie war. “Süße … geht es dir gut?”
Das Kind konnte nicht älter als vier Jahre alt sein. Als sie Luke ansah, verbarg sie das Gesicht in ihren kleinen Händen.
“Ich heiße Luke”, sagte er und bedeutete Jade, sie solle herkommen. “Das ist meine Freundin Jade. Hast du dich verlaufen?”
Im nächsten Moment herrschte Stille bis auf die gedämpften Schluchzer, die durch ihre Hände drangen. Dann nahm sie langsam die Hände vom Gesicht und betrachtete Lukes Gesicht. Irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck brachte sie dazu zu antworten.
“Nein, meine Mami hat sich verlaufen”, sagte sie.
“Ach so … wie heißt du denn?”
“Melissa Joan Carter, aber mein Daddy nennt mich kleine Prinzessin.”
Luke nahm ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und wischte ihr vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht.
“So, Melissa Joan Carter, was hältst du davon, wenn wir einen netten Polizisten suchen, damit er uns hilft, deine Mommy wiederzufinden?”
“Ja, bitte”, sagte sie und zog die Nase hoch.
Zusammen gingen sie zu einer Bank in der Nähe und setzten sich hin. “Weißt du, wie deine Mutter heißt?”, fragte Jade.
“Mommy.”
Jade zog die Stirn in Falten und überlegte sich, wie sie die Frage noch anders stellen könnte. “Was sagt dein Vater zu deiner Mutter?”
“Sugar … aber Oma Grammy nennt sie Faith.”
“Gut gemacht”, lobte Luke Jade, dann sah er das kleine Mädchen an. “Wir finden deine Mommy, okay? Aber erst einmal müssen wir einem Polizisten sagen, dass du sie verloren hast.”
“Okay.” Und bevor sich Luke versah, war das Mädchen auf seinen Schoß gekrabbelt.
Ohne nachzudenken, wischte er ihr noch eine Träne weg und küsste sie auf die Wange.
“Hör auf zu weinen, Kleine. Es wird schon alles gut werden.”
Dann wandte Luke sich an Jade. “Süße, gehst du in den Laden und bittest den Verkäufer, einen Sicherheitsbeamten zu rufen, ja? Ich warte hier mit Melissa, nur für den Fall, dass ihre Mutter wieder auftaucht.”
Luke sah ihr nach, als sie in das Geschäft ging und mit einem Verkäufer sprach. Als sie sich zu ihm umdrehten, winkte er. Der Verkäufer winkte zurück und griff sofort nach dem Telefonhörer.
Jade beeilte sich, wieder zu Luke und dem Mädchen zurückzukommen.
“Er sagt, wir sollten hier warten.”
“Das machen wir doch schon, oder Melissa?”
Das kleine Mädchen nickte.
“Willst du, dass ich dich auf den Arm nehme?”, fragte Jade, weil sie sich dachte, dass die Kleine vielleicht vor Luke Angst hatte und lieber auf dem Schoß von einer Frau sitzen wollte.
“Nein”, gab die Kleine zur Antwort. “Ich mag ihn.”
Jade war etwas verdutzt, dann lächelte sie.
“Ja, du magst ihn wohl, nicht wahr?”
“Ja.”
“Warum?”, fragte Jade.
“Weil er größer ist als du und weil er riecht wie … wie mein Daddy.”
“Aha.”
Luke zwinkerte Jade zu und lächelte.
“Und wie du siehst, bin ich auch viel größer als du.”
“Und du riechst”, gab Jade zurück.
Zuerst war Luke etwas irritiert, aber dann merkte er, dass sie einen Spaß machte. Dann wurde ihm klar, dass sie zum ersten Mal einen Scherz gemacht hatte.
“Das hat sie so nicht gesagt”, murmelte Luke.
“Entschuldigung”, entgegnete Jade. “Ich glaube, ich habe sie nicht recht verstanden.”
“Da, schaut mal!”, rief Luke und deutete auf den Platz inmitten des Einkaufszentrums. “Da kommt schon ein Polizist. Ich wette, er kann uns helfen, deine Mommy zu finden.”
Die Kleine nickte begeistert, als seien Lukes Worte das einzig Wahre. Von ihrer Unschuld wurde es Jade direkt übel. Sie wusste, wie naiv Kinder in dem Alter waren. Es hätten auch genauso gut Menschen die Kleine auffinden können, die weniger vertrauenswürdig als sie und Luke waren.
Der Polizist kam auf sie zu, und sie stellten sich ein weiteres Mal vor.
Der Beamte sah Luke aufmerksam an. “Ich bin Officer Reyes. Und wen haben wir hier?” Er sah auf das Mädchen, das Luke auf dem Arm trug.
Luke zog unverzüglich seinen Ausweis hervor. “Ich bin Luke Kelly vom Kelly Security Service, hier in St. Louis.”
“Oh! Mein Schwager, Mel Holmes, arbeitet bei Ihnen!”
Luke nickte. “Ja, das stimmt. Er macht bei mir die Buchhaltung”, fügte er hinzu. Dann wandte er sich zu dem kleinen Mädchen. “Sag dem Officer deinen Namen, meine Süße. Dann kann er schneller deine Mommy finden.”
Plötzlich schien sie von dem dritten Fremden eingeschüchtert zu sein und senkte den Kopf und lehnte ihn an Lukes Hals.
Luke sah den Beamten an und zuckte mit den Schultern. “Vor einer Minute sprach sie noch mit uns. Sie sagte, sie hieße Melissa Joan Carter, aber ihr Vater nenne sie Prinzessin.”
Der Beamte lächelte. “So, Prinzessin. Sollen wir mal schauen, ob wir deine Mutti finden? Willst du mit mir kommen?”
Sie schlang die Arme um Lukes Hals und schüttelte ihren Kopf.
Jade legte die Hand auf den kleinen Rücken. Sie konnte spüren, dass sie zitterte. Sofort schloss sie das Mädchen ins Herz. Sie konnte sich noch so gut daran erinnern, wie es war, die Mutter zu verlieren. Das Drama war allerdings, dass ihre eigene niemals wieder zurückkommen würde. Sie wandte sich an den Sicherheitsbeamten.
“Vielleicht wäre es gut, wenn wir mitkämen? Ihre Mutter ist sicherlich schon in Panik ausgebrochen.”
“Ja, … und übrigens heißt ihre Mutter Faith, glaube ich”, fügte Luke hinzu. “Wir nehmen an, dass sie wahrscheinlich auch Carter heißt, obwohl man heutzutage da ja nie sicher sein kann.”
“Ja sicher, kommen Sie ruhig mit. Warum nicht?” Er ging durch das Einkaufszentrum hindurch zur Wache.
Auf dem Weg dorthin fing das Funksprechgerät des Beamten an zu quietschen. Er nahm es aus der Gürtelhalterung und sprach hinein. “Hier ist Dwight.”
“Ja, Dwight. Wir haben hier eine Frau, die ihr Kind vermisst. Ich dachte, ich kontrolliere mal, ob du das Kind dort hast.”
“Wie heißt sie?”, fragte der Beamte.
“Faith Carter.”
Der Beamte grinste Luke zu und streckte ihm den nach oben ausgestreckten Daumen entgegen.
“Ja, sag ihr, wir haben das Mädchen, wir sind unterwegs.”
Erleichtert seufzte Luke und zwinkerte Jade zu.
“Siehst du, es geschehen noch Wunder.”
Jade nickte. Auf dem ganzen Weg zu der Polizeiwache fragte Jade sich, was passiert wäre, wenn Sam sie so einfach gefunden hätte, als sie verloren gegangen war.
Als sie auf der Wache ankamen, waren Luke und das kleine Mädchen schon beste Freunde geworden. Sie griff mit ihrer kleinen Hand nach seinem Hemdkragen und erzählte ihm, dass ihr Goldfisch Harry hieße.
Plötzlich lief eine Frau aus einem der Büroräume und nahm ihm das Kind aus dem Arm.
“Missy … Missy … du hast Mommy zu Tode erschreckt.” Dann sah sie Luke und Jade an und begann zu weinen. “Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie sie gefunden haben. Erst war sie noch neben mir, und dann ist sie plötzlich verschwunden.” Die Mutter schloss die Augen und presste ihr Gesicht gegen die seidigen Haare ihrer Tochter. “Oh Gott, oh Gott. Was hätte ich nur tun sollen? Ich habe eine solche Angst gehabt. Ich dachte … ich fürchtete, dass … ich wusste ja nicht, ob nicht …”
Jade berührte die Frau am Arm. “Dieses Mal habe Sie Glück gehabt. Ein sehr netter Mann hat Ihre Tochter gefunden, aber das ist nicht immer der Fall. Glauben Sie mir, ich kenne es auch anders.”
Plötzlich rang die Frau nach Luft. Sie sah Jade an, als kenne sie sie.
“Sie sind das, nicht wahr? Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Sie waren das kleine Mädchen, das die ganze Zeit verschollen war, nicht wahr?” Dann begann die Frau wieder zu weinen. “Ach weh, Sie Ärmste! Was … haben Sie alles … durchmachen müssen!” Auf dem einen Arm hielt sie Missy, den anderen schlang sie um Jade und drückte sie ebenfalls an sich. “Herzlich willkommen zu Hause, meine Liebe. Herzlich willkommen.” Dann ließ sie Jade los und umarmte auch Luke.
Jade war sprachlos, als sie wieder losgingen. Es dauerte einige Minuten, bis sie bemerkte, dass Luke ihre Hand hielt. Als sie dessen gewahr wurde, kümmerte es sie nicht. Sie ließ es geschehen, anstatt ihre Hand aus seiner zu lösen. Stattdessen hielt sie seine fester.
Luke hatte sie während dieser ganzen Geschehnisse heimlich beobachtet, denn er fürchtete, dass die Situation bei ihr schlimme Erinnerungen wachrufen würde. Er hatte ihre Hand genommen, obwohl er sie eigentlich in die Arme schließen wollte, aber das war fraglos nicht möglich. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich wieder freimachen würde, aber stattdessen verstärkte sie ihren Griff um seine Finger. Als dies geschah, fragte er sich, was in ihrem Kopf vorging.
“Halt dich gut an mir fest, Honey”, sagte er leise. “Ich sorge dafür, dass du nie wieder verloren gehst.”
Jade holte tief Luft. Sie zitterte ein wenig, hielt die Tüte mit den Socken für Raphael fester und ging einen Schritt schneller. Er hatte recht. Es gab nichts, vor dem sie sich fürchten musste. Es gab nichts, was ihr noch wehtun könnte, außer Raphael zu verlieren. Aber daran wollte sie jetzt noch nicht denken.
Johnny liebte diesen Aspekt seines Berufes. Er fragte sich, ob er in einem anderen Leben Schauspieler geworden wäre. Er liebte die Kostüme und die Verkleidungen, die er verwandte, um seinen Auftrag zu erledigen. Dieses Mal hatte er einen Kittel gestohlen, einen Mundschutz und OP-Handschuhe. Er lief durch die Gänge des Krankenhauses und fiel unter den Dutzenden von Pflegern und Ärzten nicht im Geringsten auf. Da er wusste, dass er auf eine Station musste, die unter Quarantäne stand, hatte er sich sogar Plastiküberzieher für die Schuhe besorgt.
Johnny fragte sich, weshalb Raphael auf der Isolierstation lag, denn er wusste, dass er an Leberkrebs erkrankt war. Dann entschied er, dass die Quarantäne wohl eher die Patienten schützen sollte als alle anderen. Wenn es ihm sehr schlecht ginge, würde schon ein Niesen von einem Fremden reichen, um eine Lungenentzündung zu bekommen, und dann wäre alles vorüber. Daher betrat er die Station ohne zu zögern und war zuversichtlich, dass in einigen Minuten sein Auftrag erledigt sein würde. Er dachte daran, wie er Frank Lawson sagen würde, dass er seinen Job gemacht habe. Vielleicht würde er auch noch ein oder zwei Tage damit warten, um für Frank die Spannung zu erhöhen.
Als er bei dem betreffenden Zimmer ankam, zog er den Mundschutz über das Gesicht, streckte die Schultern nach hinten durch und betrat den Raum, so wie es jeder andere Arzt getan hätte. Er war ein wenig erschrocken, als er die private Krankenschwester sah, aber dann war ihm ihre Anwesenheit sogar sehr recht.
Sie sah auf, und als sie sah, dass sich hinter der Maske nicht Michael Tessler verbarg, zog sie die Stirn in Falten.
“Entschuldigen Sie”, sagte sie, “kann ich Ihnen irgendwie helfen?”
Johnny deutete auf den Infusionsständer, zog dann eine leere sterile Spritze aus seiner Kitteltasche und hielt sie ihr hin.
“Sie können ihm das in den Arm jagen, oder Sie gehen aus dem Weg, damit ich das machen kann”, raunzte er.
Die Krankenschwester rang nach Luft, als der maskierte Fremde auf sie zuging. Sie griff zum Telefonhörer, um den Sicherheitsdienst zu alarmieren, aber sie war nicht schnell genug. Johnny drehte ihr lautlos den Hals um, so schnell und so leicht, wie er es mit Mabel Tyler getan hatte. Er ließ ihren leblosen Körper neben das Bett fallen.
“Okay”, sagte er, als er mit der Infusion an Raphaels Arm hantierte. “Ein ordentlicher Schuss Luft in dieses Baby, und Freundchen, dann kannst du dich verabschieden.”
Raphael hatte die Stimme des Fremden gehört und auch wahrgenommen, dass ein drohender Ton in seinen Worten lag. Er versuchte, aus seinem Schlummer aufzuwachen und sich mit Hilfe der Klingel bemerkbar zu machen, die neben dem Bett hing. Aber der Mann stieß seinen Arm zur Seite und begann, die Nadel in den Beutel mit der Infusion zu stechen.
Raphael spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war und verfluchte seine Krankheit sowie die Medikamente, die ihn so geschwächt hatten.
“Wer sind Sie? Was wollen Sie?”
Der Mann lachte, sodass die Härchen auf Raphaels Nacken hochstanden.
“Nehmen Sie das hier nicht persönlich”, sagte der Mann, “es ist nur mein Job.”
Raphael konnte sich schließlich konzentrieren, als der Mann die Nadel in den Beutel einführte. Er bemerkte, dass in der Spritze nichts als Luft war, und ihm wurde klar, dass seine Zeit gekommen war. Jemand versuchte, ihn umzubringen. Aber warum? Sofort dachte er an all die Nachrichten über Jade, die in den Zeitungen und im Fernsehen erschienen waren. Er wusste, dass es also jemand aus ihrer Vergangenheit sein musste. Es war jemand, der verhindern wollte, dass sie etwas ausplauderten. Das aber bedeutete, dass Jade ebenfalls in großer Gefahr war, wenn jemand versuchte, ihn zu töten.
Raphael verzweifelte daran, dass er das Folgende nicht verhindern konnte, aber sein letzter Gedanke war, es dem Killer so schwer wie möglich zu machen.
Bevor Johnny Newton reagieren konnte, hatte Raphael die Infusion aus seinem Arm gerissen, Blut spritzte überall hin: auf das Bett, auf den Boden und auch auf Johnny.
Johnny fluchte. Jetzt war die Luftblase, die er in die Infusion gespritzt hatte so sinnlos wie ein Furz. Wer hätte gedacht, dass dieser kleine Scheißer sich wehren würde?
“Du blödes Arschloch”, grummelte er und riss die Sauerstoffmaske von Raphaels Gesicht und warf sie auf den Boden. Dann schloss er seine Hände um Raphaels Hals und begann zuzudrücken.
Raphael grub seine Fingernägel tief in die Hände des Mannes und zerriss so nicht nur seine Handschuhe, sondern auch die Haut. Das Blut quoll nach wie vor aus der offenen Vene, in der die Infusionsnadel gesteckt hatte, und verteilte sich nun über die beiden Männer.
Johnny versuchte, den Schmerz in seinen Händen zu ignorieren, als er sie fester um Raphaels Hals schloss. Aber anstatt sich zu wehren, hielt der Mann plötzlich inne. Dann, auch als er kaum noch Luft zum Atmen hatte, lächelte er. Darüber erschrak Johnny Newton mehr, als direkt in den Lauf einer Pistole zu schauen, und dennoch drückte er weiter. Er drückte und drückte gegen den Kehlkopf, bis der Mann aufhörte zu lächeln und in seinen Augen nur noch das Weiße zu sehen war.
Es war plötzlich so schnell zu Ende, wie es begonnen hatte.
Johnny ließ Raphaels Hals los und tat einen Schritt zurück, um sich anzugucken, welches Chaos sie angerichtet hatten. Ihm wurde bewusst, wie sehr ihn seine Hände schmerzten, und dass tatsächlich alles voller Blut war.
Er fluchte leise. So hatte er das Ganze nicht geplant. Er konnte die Station so nicht verlassen, ohne bemerkt zu werden – mit dem ganzen Blut auf dem Kittel und den Schuhen. Er musste unbedingt seine besudelte Verkleidung loswerden und auf das Beste hoffen.
Schnell zog er den Kittel aus, die Maske und die Handschuhe. Dann warf er alles in den Container mit der Gesundheitswarnung darauf. Danach sah er sich noch einmal den Mann auf dem Bett an. Er fragte sich, warum er gelächelt hatte? Warum zur Hölle hatte der arme Bursche noch etwas zu lächeln?