14. KAPITEL
Luke und Jade waren nur wenige Minuten vom Krankenhaus entfernt, als sie an eine stark befahrene Kreuzung kamen. Luke trat auf die Bremse, fühlte aber keinen Widerstand. Er trat noch einmal kräftiger zu, dieses Mal mit kleinen Bewegungen, aber das Pedal ließ sich widerstandslos bis auf den Boden durchdrücken.
“Scheiße.”
“Was ist los?”, fragte Jade.
“Die Bremsen”, antwortete er, “halt dich fest.”
Jade hatte keine Zeit, Angst zu bekommen, aber an Lukes Gesichtsausdruck erkannte sie deutlich, dass er sehr erschrocken war. Sie kreuzte die Arme über dem Kopf und stützte sie auf dem Armaturenbrett ab. Dann schloss sie die Augen.
Luke wich einem Wagen aus, der schon an einer roten Ampel gehalten hatte. Er steuerte das Auto zwischen den sich noch bewegenden anderen Fahrzeugen hindurch auf den Seitenstreifen. Luke zog die Handbremse und legte den Rückwärtsgang ein, als gerade der vierte Gang leerlief. Der Moment, nachdem das Geräusch von Metall auf Metall und Gummi verhallt war, war unwirklich. Die Ruhe danach war so beruhigend, wie das schrille Quietschen zuvor schrecklich gewesen war. Noch eine Sekunde vorher hatte Luke Zweifel daran gehabt, ob er jemals wieder Luft holen würde, und nun saßen sie unverletzt im Wagen, lauschten ihrem Herzschlag und sahen mit an, wie heißer Wasserdampf mit einem zischenden Geräusch aus der Motorhaube strömte.
Plötzlich standen überall Menschen vor den Fenstern, klopften an die Windschutzscheibe und riefen: “Sind Sie okay? Geht es Ihnen gut?”
Luke drehte sich zu Jade um und schüttelte ihren Arm.
“Jade … Süße … bist du okay? Bist du irgendwo verletzt?”
Jade lehnte sich im Sitz zurück. Dann holte sie tief Luft. Nichts schmerzte, nirgendwo war Blut zu sehen.
“Nein … mir geht es gut. Glaube ich. Was ist passiert?”
“Ich weiß es nicht, aber ich wette, ich finde es heraus. Beweg dich nicht. Ich helfe dir auszusteigen.”
Schnell verließ er das Auto und ging um den Wagen herum. Es strömten so viel Dampf und Rauch aus dem Motorraum, dass er fürchtete, etwas sei Leck geschlagen und könne eine Explosion hervorrufen.
“Ich habe den Rettungsdienst und die Feuerwehr gerufen”, sagte ein Mann zu ihm.
Luke nickte, anstatt sich zu bedanken, und fasste nach dem Griff auf der Beifahrerseite und riss die Tür auf. Sekunden später zog er Jade aus dem Sitz und nahm sie in die Arme. Er trug sie weit genug vom Unfallort weg, sodass sie in Sicherheit waren.
“Ich kann laufen”, sagte sie.
“Versuche nicht, Witze zu machen. Du bewegst dich kein Stück, bevor nicht ein Sanitäter dich durchgecheckt hat, okay?”
Sie berührte seinen Arm, denn sie spürte, dass er immer noch geschockt war.
“Luke, hör mir zu. Mir geht es gut.”
Luke hielt inne, dann sah er sie zum ersten Mal wirklich an. Als sie ihn anlächelte, atmete er langsam aus.
“Guck mal”, sagte sie, “ich kann alle meine Finger und meine Zehen bewegen.”
Er schüttelte den Kopf, dann lehnte er sich zu ihr vor und küsste sie unbeholfen auf den Mund. Bevor sie reagieren konnte, klingelte sein Mobiltelefon.
Jade war von dem erschüttert, was er soeben getan hatte, aber sie konnte den Grund dafür verstehen. Er war einfach erleichtert, dass es ihnen gut ging, und das zeigte er ihr mit einem Kuss. Das war alles, es hatte nichts mit ihr direkt zu tun. Es war einfach eine Geste der Erleichterung. Dennoch führte sie ihre Fingerspitzen an ihre Lippen, während er den Anruf annahm, um zu sehen, ob sie sich irgendwie anders anfühlten.
Ihre Lippen fühlten sich an wie immer, nur sie war anders. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie für einen Mann etwas, dass nichts mit Misstrauen und Angst zu tun hatte. Und da sie niemals verliebt oder in jemanden verknallt gewesen war, wusste sie nicht, wie ihr geschah. Sie konnte nicht benennen, was sie gerade durchmachte.
Sie fuhr sich mit einer zittrigen Hand durchs Haar und lehnte sich an den Baumstamm zurück, an dem sie saß, um wieder einigermaßen Haltung zu gewinnen.
Als sie gerade anfing, sich zu entspannen, wurde sie von jemandem erkannt. Die Leute fingen an, auf sie zu deuten und miteinander zu flüstern. Das Flüstern schwoll zu einem Raunen an, das sich durch die Menge der Schaulustigen zog. Dann kamen alle ein Stück näher. Sie konnte Luke plötzlich nicht mehr sehen, begann panisch zu werden und hektisch nach ihm zu rufen: “Luke! Luke!”
Jade versuchte, auf die Beine zu kommen, als Luke aus der Menschenmenge auftauchte und Männer und Frauen zur Seite schob, um zu ihr zu gelangen.
“Gehen Sie zurück!”, rief er zu den Menschen, während er Jade auf die Füße zog und sie in die Arme nahm. “Was ist los mit Ihnen? Gehen Sie weg zum Teufel!”
Innerhalb der nächsten Sekunden kamen Polizeiwagen und ein Krankenwagen. Einer der Beamten erkannte Luke und fing sofort an, die Menge zu zerstreuen.
“Hey, Kelly, ist das Ihr Wagen?”
“Ja, und ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Schleppen Sie ihn zur Hauptwache und sorgen Sie dafür, dass er im Labor untersucht wird. Vielleicht hat sich jemand daran vergriffen.”
Der Beamte runzelte die Stirn. “Sind Sie sicher?”
“So sicher wie nur irgendwas”, entgegnete Luke. “Ich rufe Sie später an.”
Es war das Wort “Anruf”, das Jade daran erinnerte, dass er einen Anruf erhalten hatte. Sie machte sich immer noch Sorgen um Raphael und wollte sichergehen, dass es nicht um ihn ging.
“Luke?”
Auch in dem Lärm, den der Abschleppwagen verursachte, der den Unfallwagen aufbockte, zwischen den Polizeisirenen und den Leuten, die redeten, hörte er, dass sie seinen Namen rief. Sie war nicht dumm. Sie konnte spüren, dass ihn noch etwas anderes als der Unfall beschäftigte.
“Was, Süße?”
“Was ist los?”
“Ganz kurz”, sagte er, als er einen herannahenden Streifenwagen zu sich winkte. Dann stieß er sie hinein und setzte sich neben sie. Aber als der Wagen umdrehte und in die Richtung fuhr, aus der er gekommen war, ergriff sie seinen Arm.
“Luke! Wir müssen ins Krankenhaus fahren. Er fährt in die falsche Richtung!”
Luke spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er wusste zwar nicht, was zur Hölle hier los war, aber er wusste, dass sich Jade in großer Gefahr befand.
“Nein, Süße, wir können jetzt nicht ins Krankenhaus gehen.”
Verwirrung verwandelte sich in Jades Kopf in Panik. “Doch! Wir können sehr wohl ins Krankenhaus fahren! Wir müssen es tun! Ich muss Raphael sehen. Ich muss ihm doch seine Socken geben!” Dann erinnerte sie sich daran, dass die Strümpfe noch in Lukes Wagen lagen. “Ich habe die Socken vergessen. Wir müssen umkehren und sie holen! Ich habe dir doch gesagt, dass Raphael immer kalte Füße hat.”
“Es ist etwas geschehen”, sagte Luke. “Wir müssen sofort zu Sam fahren.”
Jade fing an zu zittern. “Du lügst. Du hast mir versprochen, dass du mich nie anlügen wirst.”
Luke legte einen Arm um ihre Schultern und verfluchte die Dinge aus ihrer Vergangenheit, die sie immer noch zu verfolgen schienen.
“Ich lüge dich nicht an. Ich sagte, dass wir nicht ins Krankenhaus fahren, weil wir das nicht können.”
Jade war ganz an die Tür herangerutscht. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und in ihren Augen standen die Tränen.
“Dann erklär mir, warum”, sagte sie. “Verdammt, Luke Kelly, dann sag mir, warum wir das nicht können.”
Luke erschauderte. Er hörte noch Sams Stimme und konnte doch nicht glauben, was er gehört hatte.
“Du hast gehört, dass das Telefon geklingelt hat?”
Sie nickte.
“Nun, es war Sam.”
Jade zitterte jetzt so stark, dass sie kaum atmen konnte. Aber sie wollte es dennoch hören.
Luke war speiübel. Indem er die Worte aussprechen würde, würde er sie auch Realität werden lassen. Er würde sie nie wieder zurücknehmen können.
“Sam rief an und sagte, das Krankenhaus hätte sich bei ihm gemeldet.”
Jade erschauderte. Ihrem Gesicht war nichts anzusehen. Dann fing sie an, im Sitz vor- und zurückzuwippen. Luke hatte das ja schon einmal gesehen, als sie ihm von ihrer Kindheit erzählte. Er wünschte sich, dass Michael Tessler hier wäre, denn er war sich nicht sicher, was auf ihn zukommen würde, wenn er Jade alles erzählt hatte.
“Er ist gestorben, nicht wahr? Er ist alleine gestorben … ich war nicht bei ihm.”
Luke seufzte. “Ja, Jade, er ist tot.”
Einen Augenblick lang saß sie einfach still da und zitterte. Die Schwierigkeit war, dass sie noch nicht alles wusste und dass Luke ihre Welt gänzlich zerstören würde.
“Aber das ist noch nicht alles”, fing er an. “Ich muss dir noch etwas sagen”, setzte er leise hinzu.
Jade erschauderte noch einmal. Ihr gelang es, sich auf Lukes Gesicht zu konzentrieren.
“Wieso ist das noch nicht alles? Tot ist tot.”
“Er ist nicht auf natürlichem Wege gestorben. Er ist umgebracht worden.”
Jade zuckte zusammen, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen.
“Das kann nicht sein. Es war nicht Raphael. Sie haben sich geirrt. Wir müssen ins Krankenhaus fahren und selbst nachschauen.”
“Nein, wir müssen nichts nachschauen”, sagte Luke. “Und es ist kein Irrtum. Jemand ist in sein Zimmer eingedrungen, hat seine Krankenschwester umgebracht und dann ihn getötet. Es gab einen Kampf. Sie wissen noch keine Einzelheiten, aber die Polizei sichtet gerade die Videoaufzeichnungen von den Sicherheitskameras im Krankenhaus.”
Sie legte die Hände schützend über ihre Ohren und schüttelte den Kopf.
“Ich kann dich nicht hören”, sagte sie leise und legte die Stirn auf ihre Knie. “Ich werde dich nicht hören.”
“Es tut mir leid, Jade. Es tut mir so leid.”
Dann begann sie wie ein kleines Kind zu weinen. Der hohe feine Ton drang in Lukes Gehör und in seine Seele hinein.
Er streckte seine Arme nach ihr aus und zog sie an sich heran. Sie wehrte sich, sie wollte weder den Ton seiner Stimme noch seine Berührung annehmen, aber er ließ nicht locker, bis sie schließlich schlaff in seinen Armen lag. Als ihre Stirn gegen seine Schulter stieß, dachte er für einen Moment, sie sei ohnmächtig geworden, aber dann sagte sie etwas.
“Diese ganzen Zeitungen … all die Bilder … die ganzen Jahre sind wir vor ihnen davongelaufen und haben uns versteckt. Und nun, als wir damit aufgehört haben …”
Luke runzelte die Stirn. “Willst du damit sagen, dass der Typ, den du unter dem Namen Solomon kennst, das getan hat?”
“Ich weiß es nicht … vielleicht … aber ich hätte dort sein sollen. Wenn ich dort gewesen wäre, wäre es nicht passiert.”
“Nein, Jade, das stimmt nicht. Du hättest es ebenso wenig verhindern können wie die Krankenschwester. Sie hat es versucht, und es ist ihr nicht gelungen. Sie ist gestorben. Er hätte auch dich umgebracht. Außerdem glaube ich, dass er es bereits versucht hat. Heute Morgen war mit meinen Bremsen noch alles in Ordnung. Ich hatte noch nie Probleme damit, bis heute. Nachdem was mit Raphael geschehen ist, glaube ich nicht, dass es ein Unfall war.”
Jade presste ihre Hand gegen ihre Lippen, um nicht schreien zu müssen, während Luke weitersprach.
“Ich habe einige Freunde auf der Polizeihauptwache, die sich den Wagen ansehen werden. Wenn meine Vermutung richtig ist, dann hat jemand die Bremsen bearbeitet, um einen Unfall zu verursachen.”
Sie brach erneut in seinen Armen zusammen, als der Polizeiwagen Sam Cochranes Haus erreichte. Sam stand in der Tür, als Luke sie ins Haus trug.
“Ruf Tessler an”, bat Luke, als er Jade die Treppe hinauftrug, um sie in ihr Zimmer zu bringen.
Sam folgte ihm in den ersten Stock und zog die Decke zurück, damit Luke sie auf ihr Bett legen konnte. Sie war immer noch bewusstlos.
“Ich kann Tessler nicht anrufen”, sagte Sam, “denn er ist im Krankenhaus, um der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen. Ich habe stattdessen Antonia DiMatto gerufen.”
Luke hielt inne, bevor er Jade die Schuhe auszog.
“Wer ist das?”
“Sie ist Psychiaterin, und ich kenne sie gut.”
Luke strich Jade eine Strähne aus dem Gesicht, dann zog er ihr die Decke über die Beine. Immer noch hörte er Jade sagen, dass sie nicht hätten davonlaufen sollen. Ihm war übel. Vielleicht hatte sie ja recht? Er setzte sich auf die Bettkante und sah auf.
“Um Himmels willen Sam, was haben wir getan?”
“Wovon redest du?”, wollte Sam wissen.
“Als Jade von Raphael hörte, ist sie zusammengebrochen. Sie glaubt, dass derjenige, der Raphael getötet hat, jemand ist, den sie von früher kennen.”
“Das ist nur eine Annahme”, stellte Sam fest.
Luke schüttelte den Kopf. “Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht, aber denk mal darüber nach: Sie haben die Hölle erlebt. Sie haben Dinge durchgemacht, die kein Erwachsener durchmachen sollte, geschweige denn ein Kind.”
“Was redest du da?”, fragte Sam.
Jade hatte Luke gefragt, ob er Sam erzählen würde, was sie ihm über ihre Vergangenheit anvertraut hatte. Damals war er sich unsicher. Aber nun hatte er einen Entschluss gefasst: Wenn sie dafür sorgen wollten, dass Jade am Leben blieb, musste Sam die ganze Wahrheit wissen, zumindest das, was Luke wusste.
“Komm, wir gehen ‘raus”, sagte Luke. “Ich muss dir etwas erzählen.”
Sam ging mit ihm auf den Flur.
Luke begann, die Geschichte zu erzählen. Als er fertig war, war Sam bleich und zitterte. Er stand für einen Moment da, als wolle er seine Gedanken sammeln, aber dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter.
“Sam? Sam? Was hast du jetzt vor?”
Er bekam keine Antwort.
Luke zögerte, weil er nicht wusste, ob er nun Sam folgen oder lieber bei Jade bleiben sollte. Er warf einen Blick in ihr Zimmer. Sie lag regungslos auf ihrem Bett. Weil er sich nicht sicher war, was Sam als Nächstes tun würde, lief er ihm die Treppe hinunter nach, indem er zwei Stufen auf einmal nahm.
Er fand Sam schließlich in der Bibliothek, wo er gerade das Bild von Ivy von der Wand nahm.
“Was machst du da?”, fragte Luke.
“Sie hat es nicht verdient, dass man sich an sie erinnert”, stellte Sam fest. “Ich will nicht länger ihr Gesicht ansehen und dabei wissen, dass es ihre Entscheidung war, unsere Tochter diesen schrecklichen Dingen auszusetzen. Wenn es ihr so verdammt schwergefallen ist, in diesem Haus zu leben … wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben dadurch bereichert würde, mit einem Haufen Narren zusammenzuleben, die mit jeder nur möglichen Droge experimentierten, die sie bekommen konnten, dann gut. Aber sie hätte Frau genug … nein, sie hätte – bei Gott! – Mutter genug sein sollen, ihr Kind nicht dieser Situation auszusetzen.”
Seine Stimme kippte. Er senkte den Kopf. Seine Schultern fingen an zu zittern.
“Oh Gott, Luke, oh Gott. Wenn ich sie finden könnte, würde ich jeden einzelnen Mann, der sie angerührt hat, mit meinen eigenen Händen umbringen.”
“Ich weiß Sam, mir geht es genauso. Aber wir können beide ihre Vergangenheit nicht ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können nur dafür sorgen, dass sie eine Zukunft hat.”
Sam wischte sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte, sich zusammenzureißen.
“Ja, natürlich, du hast ja recht. Mir ist nur völlig schlecht. Sie war doch kaum älter als ein Baby. Wie kann ein erwachsener Mann so etwas tun?”
“Ich weiß es auch nicht”, pflichtete Luke ihm bei. “Aber Gott möge den Schuldigen beistehen, denn ich werde es nicht tun. Sollte ich jemals einem dieser Männer, die Hand an sie angelegt haben, von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dann werde ich dafür sorgen, dass es ihm leidtut, dass er jemals geboren wurde.”
Es klingelte an der Haustür. Luke hoffte, es sei die Psychiaterin, die Sam angerufen hatte. Wenn sie es war, würde ihnen Velma Bescheid geben. Aber Luke würde auf keinen Fall Jade alleine lassen.
“Ich geh schon”, sagte Sam. “Und du gehst hoch zu Jade. Ich möchte nicht, dass sie mich in diesem Zustand sieht. Sie wird denken, dass ich ihr böse bin, und das trifft nun gar nicht zu.”
“Mach ich”, sagte Luke und beeilte sich, wieder in den ersten Stock zu kommen.
Die Wunden auf Johnny Newtons Handrücken hatten endlich aufgehört zu bluten, aber sie taten immer noch weh. Wenn er zurück in Mabels Haus wäre, würde er sich die Hände verbinden. Mabel hatte wie eine Frau gewirkt, die wahrscheinlich eine wohlsortierte Hausapotheke hatte.
Johnny fuhr durch die Straßen von St. Louis. Er ließ das Geschehene Revue passieren. Es war nicht so gut gelaufen, wie er erwartet hatte, allerdings war die Krankenschwester ein Bonus, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er hatte nicht gewusst, dass sie dort sein würde, und die Befriedigung, die er spürte, wenn er jemandem das Leben nahm, war besser als gut. Er hätte Ähnliches erwartet, als er Raphael tötete, aber es war nicht eingetreten. Wer hätte gedacht, dass jemand, der so krank war, noch so störrisch sein konnte? Nicht nur hatte der Typ sich gewehrt, er hatte auch noch diese Riesensauerei veranstaltet.
Johnny hatte nun wahrlich nichts gegen Blutvergießen, allerdings nicht sein eigenes. Nun ja, es war vorbei und zumindest hatte er die Gewissheit, dass sein Opfer wusste, was mit ihm geschah. Nichtsdestotrotz war er noch irritiert darüber, dass Raphael die ganze Zeit über gelächelt hatte, selbst während er alles mit Blut besudelte. So wie Johnny die Sache sah, hatte er ihm wahrscheinlich noch einen Gefallen getan. Immerhin hatte er ihn gleichsam davor bewahrt, elend an dem Krebs und den Schmerzen einzugehen.
Wenige Minuten später bog er in die Auffahrt von Mabel Tylers Haus ein und stellte das Auto in der Garage ab, wie er es schon so häufig zuvor getan hatte. Er eilte zur rückwärtigen Tür, als hätte er hier schon sein ganzes Leben verbracht. Gerade als er ins Haus ging, hörte er jemanden hinter sich rufen.
“Hey, Mister!”
Johnny hielt inne.
“Mister! Hey, Mister!”
Langsam drehte er sich um, eine Hand auf der Pistole unter seinem Jackett. Als er einen jungen Teenager mit barem Oberkörper neben einem Rasenmäher stehen sah, wurde ihm bewusst, dass er schon zuvor frisch gemähtes Gras gerochen hatte. Er entspannte sich.
“Entschuldigung? Redest du mit mir?”, fragte Johnny.
Der Junge nickte. “Ich bin Kevin. Ich bin gerade fertig mit dem Rasenmähen, aber Mrs. Tyler geht nicht an die Tür. Sie gibt mir das Geld immer, wenn ich fertig bin.”
Johnny bemühte sich, nicht zu ärgerlich zu wirken. “Ja, natürlich. Wenn du einen Moment wartest, schaue ich mal, wo Tante Mabel ist. Sie ist neuerdings so schwerhörig geworden, dass sie wahrscheinlich die Klingel nicht gehört hat.”
“Klar, kein Problem”, sagte der Junge und trollte sich zu einem Baum, um in dessen Schatten zu warten.
Dann fiel Johnny ein, dass Mabel ihm nicht mehr sagen konnte, wie viel sie dem Jungen schuldete.
“Sag mal”, rief Johnny, “wie viel Geld bekommst du von ihr?”
“Vierzig Eier.”
Johnny suchte in seinen Taschen nach seinem Portemonnaie. “Wie wäre es, wenn ich dir einfach gleich das Geld gebe, dann muss ich Tante Mabel nicht wecken, falls sie ein Nickerchen macht?”
“Ja, klar”, sagte Kevin. “Wow, was ist denn mit Ihnen passiert?”, fragte er, als er das Geld entgegennahm.
“Was meinst du?”, fragte Johnny.
Kevin deutete auf sein Hemd und seine Ärmel.
“Da ist ja überall Blut.”
“Oh, das. Ich hatte Nasenbluten”, sagte Johnny. “Das passiert mir häufiger. Wegen der schlechten Angewohnheit von früher.”
“Wie bitte?”
“Früher war ich ein großer Freund des weißen Zeugs.”
Kevin nickte und gab vor zu verstehen, worüber Johnny sprach, obgleich man ihm ansah, dass er geschockt war.
“Weißt du, Süßigkeiten für die Nase”, fügte Johnny hinzu. “Lass dir das gesagt sein: Fang gar nicht erst damit an. Es versaut dir mehr als nur deine Nase.”
“Ja, genau”, gab Kevin zurück, als er das Geld einsteckte, dann joggte er wieder zurück zu seinem Rasenmäher.
Johnny wartete, bis der Junge mit seinem Mäher außer Sichtweite war, dann beeilte er sich, ins Haus zu kommen. Normalerweise entgingen ihm Details nicht, aber er hätte sich denken müssen, dass eine ältere Frau wie Mabel Tyler natürlich nicht ihren Rasen selbst mähte. Er dachte darüber nach, dass es vielleicht noch weitere Dinge gab, an die er nicht gedacht hatte. Dieser Gedanke machte ihn nervös. Vielleicht hatte er doch nicht mehr so viel Zeit, Jade Cochrane umzulegen, wie er dachte.
Als ihm klar wurde, dass er seinen Besuch bei Mabel schneller als gedacht beenden musste, zog er seine Sachen aus und ging den Flur entlang, um zu duschen und das Blut abzuwaschen.
Später, als er unter dem warmen Wasserstrahl stand, brannte die Seife in den Wunden an seinen Händen und erinnerte ihn daran, dass er heute noch etwas anderes erledigen musste. Mit einem bösen Fluch duschte er die Seife ab, trocknete sich ab und zog sich schnell wieder an. Nachdem er die Treppe hinabgelaufen war, hielt er an, um in der Küche nach einer Kleinigkeit zu essen zu suchen. Dann griff er sich sein Fernglas und stellte sich vor das große Wohnzimmerfenster, um nachzusehen, was auf der Straße los war.
Er stellte seinen Teller mit dem kalten Aufschnitt und den Crackern auf den Beistelltisch neben seinem Stuhl, öffnete eine Dose Limonade, die er im Kühlschrank gefunden hatte, und nahm einen großen Schluck.
“Aaaah”, machte er und rülpste laut, als die Kohlensäure der Limonade in seiner Kehle aufstieg.
Er hielt das Fernglas vor die Augen und stellte die Gläser scharf, dann fokussierte er auf Sam Cochranes Haus gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass auf der Auffahrt zwei Streifenwagen hielten. Er zog eine Augenbraue in die Höhe, dann tastete er nach den belegten Broten auf dem Teller, ohne das Fernglas von Sams Haus abzuwenden.
Er kaute leise und mit geschlossenem Mund, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte. Als ein weiterer Wagen hinter den Polizeiautos hielt, fokussierte er das Fernglas auf das Nummernschild.
PSYCHODR
Es dauerte einige Sekunden, bis er es verstanden hatte. Dann begriff er, dass der Wagen einem Psychologen gehörte. Er grinste, legte das Fernglas auf seinen Schoß und nahm den Teller vom Tisch. Dann aß er die restlichen Brote und Cracker.
“Ich glaube, da hat es jemand sehr schwer genommen, dass der Freund von uns gegangen ist. Das ist ja furchtbar.”
Er schüttete den Rest der Limonade hinunter und zerdrückte die leere Dose in seinen Händen, bevor er sie in einen reich verzierten Papierkorb in der Ecke des Zimmers warf.
“Zwei Punkte!”, rief er, als die Dose im Papierkorb versank. Dann legte er das Fernglas auf den Fußboden und trug seinen schmutzigen Teller in die Küche.
Als er mit dem Abwasch fertig war, forschte er in allen Schränken in den Badezimmern nach Verbandszeug. Er fand antiseptische Salbe und eine kleine Rolle Mullbinde. Sobald er die tiefen Kratzer in seinen Händen versorgt hatte, war er besserer Laune. Sein Bauch war voll, die Wunden schmerzten nicht mehr so sehr, und er hatte die Hälfte seines Auftrages erledigt.
Heute Nacht würde er herausfinden, wie er in das Haus von Sam Cochrane gelangen konnte. Er bekam einen Steifen, wenn er nur daran dachte, wie er sich in das Lager des Feindes hineinschleichen und die Frau umbringen würde, ohne dass es jemand bemerkte. Das war es, was er die letzten Jahre so vermisst hatte: das Risiko. Er war so gut in dem geworden, was er machte, dass er überhaupt keinen Spaß mehr am Töten empfand. Jade Cochrane aus dem Hinterhalt mit einem Gewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer zu töten, wäre so langweilig wie Weißbrot. Aber in ihr Haus einzubrechen und die Wege zu gehen, die sie sonst ging, dieselbe Luft zu atmen, dieselben Dinge zu berühren und sie dann zu erschießen, während ihre Familie im Zimmer nebenan schlief, das war ein Höhepunkt, wie er ihn sich nur in seinen Träumen vorstellen konnte. Für Johnny war genau das der Unterschied zwischen einem Profi und einem Amateur.
Er konnte es kaum erwarten.
Earl Walters war in jenem Jahr, als Jade Cochrane verschwand, Streifenpolizist. Jetzt, in seinem fast dreißigste Dienstjahr, war er der Polizeichef von St. Louis und ein guter Freund von Sam Cochrane. Wie alle, die sich daran erinnern konnten, wie verzweifelt der junge Vater über das Verschwinden seiner Familie gewesen war, freute sich Earl Walters darüber, dass Jade wieder nach Hause zurückgekehrt war. Er wusste nichts Genaues über den jungen Mann, den sie mitgebracht hatte, aber das war gleichgültig. Das kleine Mädchen, das verschwunden war, war jetzt ja wieder daheim.
Aber heute war er fassungslos über die Morde, die im Krankenhaus geschehen waren. Diesem Hund war es einfach gelungen, in eine Intensivstation zu laufen, die sonst allen anderen Menschen verschlossen war, dann konnte er diese schlimmen Verbrechen verüben, ohne dass ihn jemand sah … das konnte er nicht dulden. Der Bürgermeister war hinter ihm her, und die Telefone auf seinem Schreibtisch hörten nicht auf zu klingeln, seitdem die beiden Leichen entdeckt worden waren. Und als wäre das nicht schon genug, waren die Medien natürlich hinter dem Fall her. Alle spekulierten darüber, wie es möglich war, dass die männliche Begleitung der verloren geglaubten Tochter aus gutem Hause Opfer eines Mordes werden sollte. Die Gerüchte beschäftigten sich damit, was die beiden in ihrer Vergangenheit angestellt haben mussten, dass es jetzt mit Mord gesühnt wurde.
Da Walters Sam Cochrane persönlich kannte, wusste er, dass es ein heikles Thema war. Deshalb war er von seinem Schreibtischstuhl aufgestanden und war zu Sam gefahren, um ihm die Fragen von Angesicht zu Angesicht zu stellen.
Velma wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als einfach nicht mehr an die Haustür zu gehen, damit sie endlich ihre Aufgaben in der Küche erledigen konnte. Luke hatte in seinem Büro angerufen und Unterstützung angefordert. Dreißig Minuten später standen zwei sehr breite und sehr entschlossen aussehende Männer vor beiden Eingängen zu Sams Haus. Außerdem waren Wachen auf der Auffahrt und am hinteren Gartentor postiert. Da sie jetzt sicher waren, dass niemand ins Haus eindringen konnte, ignorierten sie auch all die Anrufer, die sich telefonisch meldeten. Allerdings erreichten sie somit auch die Telefonate der Polizei nicht, was nach sich zog, dass nun zwei Streifenwagen vor Sams Grundstück hielten und Earl Walters an der Haustür klingelte.
Earl stieg die Treppen zum Haus hoch und klingelte. Ein sehr großer Mann mit einem riesigen Schädel, aber ohne Hals, öffnete und steckte den Kopf aus der Tür, um Earl Walters mitzuteilen, er solle verschwinden. Dann zog Earl seine Polizeimarke und forderte den Mann auf, Sam zu holen.
Earl wartete in der Eingangshalle. Es dauerte nicht lange, bis Sam die Treppe hinuntereilte.
“Earl! Ich hatte mir schon gedacht, dass die Polizei kommen würde, aber mit dir habe ich nicht gerechnet. Du hast so lange am Schreibtisch gesessen, dass ich schon dachte, du würdest da nie wieder fortkommen! – Was macht das Reiten?”
Earl grinste. Es war ein alter Witz zwischen den Männern, dass er sich eigentlich als Cowboy fühlte, nicht als Polizist. “Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich dich einmal besuchen wollte, aber du weißt ja, weshalb ich hier bin. Wir müssen reden.”
“Natürlich”, stimmte ihm Sam zu, “ist die Bibliothek recht?”
“Kann deine Tochter dabei sein?”
Sam bekam einen betrübten Gesichtsausdruck. “Im Moment hadert meine Tochter mit sich selbst darüber, warum sie noch am Leben bleiben sollte.”
“Verdammt. Das tut mir leid”, sagte Earl. “Aber es ist wichtig. Erlaubst du mir, dass ich versuche, mit ihr zu reden?”
Sam zuckte mit den Schultern. “Es ist gerade noch eine Ärztin bei ihr. Wenn sie dir die Erlaubnis gibt, dann kannst du es versuchen.”
“Danke”, sagte Earl. “Geh mal vor.”
Sam ging vor ihm die Treppe hinauf. Sobald sie im ersten Stock ankamen, hörte Earl jemanden weinen. Er spürte einen Krampf in der Magengrube. Jetzt erinnerte er sich wieder, aus welchem Grund er in den Bürodienst gegangen war und von der Straße weg wollte. Er hasste es, mit den Hinterbliebenen der Opfer zu sprechen.
Indem er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr und sich ein paar Pfefferminz-Pastillen in den Mund schob, versuchte er, seine gelassene Haltung wiederzuerlangen. Das Schluchzen wurde lauter. Er klopfte von außen auf die Tasche seines Jacketts und fluchte in sich hinein, dass er heute Morgen vergessen hatte, sich ein Taschentuch einzustecken. Jetzt schon standen ihm die Schweißperlen auf der Oberlippe, so nervös war er.
“Das hier ist ihr Zimmer”, sagte Sam. “Luke ist bei ihr.”
Earl runzelte die Stirn. “Luke Kelly von Kelly Security Sicherheitsdienst?”
“Genau der.”
“Er ist der Typ, den du angeheuert hast, um sie zu finden, nicht wahr?”
“So ist es”, gab ihm Sam recht.
“Er ist immer noch im Dienst, wie ich sehe. Also, wozu stehen da draußen die Gorillas?”
Sam drehte sich um. Der gutmütige Gesichtsausdruck war verschwunden.
“Diese verdammten Fernsehteams … diese Reporter geben sich nicht mit einem Nein zufrieden. Genau das ist es. Wir können nicht ‘rausgehen, ohne dass irgendwelche Kameras summen.”
Earl lief rot an. Sam war in der Defensive. Damit hätte er rechnen können.
“Entschuldige, aber wir versuchen, den Grund herauszubekommen, warum dieser Mann ermordet worden ist. Sie wird am meisten darüber wissen, das ist logisch.”
“Seid ihr sicher, dass der Mörder wirklich hinter Raphael her war und nicht hinter der Krankenschwester? Vielleicht hatte Raphael nur alles mitangesehen, deswegen musste er sterben. Hast du es mal aus dieser Perspektive betrachtet?”
Earl verzog das Gesicht. “Du weißt, dass wir das schon überlegt haben. Und ich verspreche dir, dass der Mörder es auf den Mann abgesehen hatte.”
“Woher willst du das wissen?”, fragte Sam.
“Weil der Mord an der Krankenschwester schnell, leise und sauber war. Raphael stand unter Beruhigungsmitteln. Er hätte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie tot ist, wenn der Täter danach einfach aus dem Zimmer gegangen wäre. Der Mord an ihm hingegen war brutal. Er hat sich gewehrt. Wir haben Hautspuren unter seinen Fingernägeln gefunden, die wir gerade im Labor auf DNS überprüfen lassen. Er hatte Blutergüsse und seine Augen waren rot angelaufen. Er wurde erwürgt, und das ist keine einfache Methode, jemanden aus der Welt zu schaffen. Er war das Ziel des Mörders.”
“Oh Gott”, flüsterte Sam und legte seine flache Hand an die Tür von Jades Zimmer, als wollte er alles von draußen abhalten. Dann sah er Earl an. “Erzähl ihr keine Details. Sie darf das nicht wissen. Jetzt zumindest nicht. Vielleicht auch nie.”
Earl nickte.
Sam öffnete die Tür.
Earl sah eine schlanke dunkelhaarige Frau eingerollt auf dem Bett liegen. Der Mann am Fenster war nur eine Silhouette gegen das gleißende Sonnenlicht, bis er sich umdrehte. Earl erkannte Luke Kelly.
“Was macht er denn hier?”, fragte Luke.
“Er will mit Jade reden.”
Luke senkte die Stimme. “Bist du verrückt? Sie ist nicht in der Verfassung, mit jemandem zu reden.”
“Sehen Sie, je schneller ich einige Antworten auf meine Fragen bekomme, desto schneller sind wir bei der Lösung des Falles. Das ist für uns alle besser. Im Moment haben wir nichts außer einer vagen Aussage über einen Mann in einem Arztkittel, den niemand zuvor gesehen hat, der einen Flur der Quarantänestation im Krankenhaus entlanggegangen ist.”
Luke schüttelte den Kopf. “Das stimmt nicht. Sie haben Fingerabdrücke. Sie haben meinen Wagen, checken Sie unter dem Motorblock.”
Earl runzelte die Stirn. “Wie meinen Sie das?”
“Sie hatten einen Totalschaden zu derselben Zeit, als die Morde im Krankenhaus geschehen sind”, sprang Sam ein.
“Und, was hat das eine mit dem anderen zu tun?”, fragte Earl.
“Ich bin mir sicher, dass jemand sich an meinen Bremsen zu schaffen gemacht hat. Ob es nur dazu dienen sollte, uns aufzuhalten, oder ob er Jade damit umbringen wollte, das weiß ich natürlich auch nicht.”
Earl griff in seine Tasche und nahm sich noch ein Pfefferminzbonbon. Ihm wäre ein Mittel gegen Sodbrennen lieber gewesen.
“Ich bin mir da nicht sicher”, sagte er. “Ich schaue mir das an. In der Zwischenzeit muss ich wirklich mit ihr reden. Also, wo ist eigentlich die Ärztin?”
Genau in diesem Moment ging die Badezimmertür auf und eine Frau mit einem Handtuch kam herein. Sie war klein und dunkelhäutig, ihre Haare waren kurz geschoren und schwarz. Sie trug einen teuren olivgrünen Hosenanzug und ihr Make-up war makellos. Earl Walters erkannte auch sie und nickte ihr zu.
“Antonia.”
Sie schaute kurz zu Jade herüber, dann runzelte sie die Stirn.
“Das ist kein guter Zeitpunkt”, stellte sie fest.
Seine Meinung über Antonia DiMatto war nicht die beste, seitdem sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass sie der Meinung sei, er solle sich den Schädel untersuchen lassen. Er hatte das persönlich genommen, und seitdem waren sie sich nicht sonderlich sympathisch.
“Das ist bei Mord selten der Fall”, sagte er und sah sie an.
Jade rollte sich auf die Seite und setzte sich auf die Bettkante. Ihre Augen waren angeschwollen und ihre Wangen nass.
Luke setzte sich neben sie, beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte etwas in ihr Ohr, das Earl nicht verstehen konnte. Aber was es auch war, sie hörte aufmerksam zu. Jade betrachtete Earl so aufmerksam, dass er sich wünschte, er hätte die Spezialisten vom Morddezernat geschickt.
“Miss Cochrane, es tut mir leid.”
Jade holte langsam Luft und schlug dann die Hände vors Gesicht.
Earls Magen rebellierte. Wenn sie jetzt wieder zu weinen anfing, würde er sich entschuldigen und zusehen, dass er hinauskam. Aber zu seiner Überraschung sammelte sie sich und sah ihn an.
“Danke schön”, antwortete Jade.
Antonia DiMatto setzte sich auf Jades andere Seite und gab ihr das feuchte Tuch, das sie aus dem Badezimmer geholt hatte.
“Hier, meine Liebe. Wischen Sie sich damit das Gesicht ab, dann fühlen Sie sich besser.”
“Nein, das werde ich nicht.”
“Tun Sie es trotzdem”, beharrte Antonia.
Jade wischte sich mit dem Handtuch über ihr heißes und tränenüberströmtes Gesicht, und es fühlte sich tatsächlich gut an.
Earl lehnte sich vor und stützte seine Hände auf den Knien ab. “Ich möchte mit Ihnen über einige Dinge sprechen.”
Jade sah ihn erschrocken an. “Sind Sie vom Fernsehen?”
“Um Himmels willen, nein!”, rief Earl, errötete und hielt inne. “Entschuldigung, das ist mir so herausgerutscht.” Er holte seine Polizeimarke hervor. “Earl Walters, Polizeichef. Ihr Daddy und ich sind alte Freunde.”
Jade sah zu Sam herüber, der zustimmend nickte.
“Ich weiß nicht, wer meinen Rafie umgebracht hat”, sagte sie. Dann konnte man ihre Stimme nicht mehr verstehen.
Earl nahm sich einen Stuhl und setzte sich in ihre Nähe ans Bett. “Gibt es etwas aus der Vergangenheit, dass uns vielleicht weiterhelfen könnte … gibt es etwas, was jemanden wütend machen könnte? Vielleicht jemanden, der entweder Sie oder den jungen Mann tot sehen möchte?”
“Ja.”
Das war die letzte Antwort, die Earl erwartet hätte. Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Tasche.
“Können Sie mir einen Namen nennen?”
Sie saß einen Moment lang still und starrte auf den Teppich. Dann holte sie tief Atem, als habe sie sich gerade zu einer wichtigen Entscheidung durchgerungen, und dann sah sie Luke an.
“In der untersten Schublade in der Kommode liegt ein alter Karton. Würdest du mir den bitte holen?”
“Klar, Süße”, sagte Luke leise und stand auf, um den Karton zu suchen.
In dem Moment, als sie den Karton in den Händen hielt, war ihr, als spürte sie nichts mehr, und als würde ihre Seele nichts mehr erreichen. Wenn sie dieses hier geheim hielte, würde Raphaels Mörder entkommen, aber Sam würde es nicht erfahren. Wenn sie jedoch die ganze Wahrheit sagte, dann würde Sam sie nicht mehr bei sich haben wollen. Sie dachte daran, wie sie damals auf den Straßen überlebt hatte und wie es wäre, das jetzt ohne Raphael durchstehen zu müssen. Dann wurde ihr klar, dass es keinen Unterschied machte. Raphael war gestorben, weil er versucht hatte, sie zu beschützen – dessen war sie sich sicher. Wenn es den Mörder vor Gericht brachte, dann musste sie sich jetzt eben dieser erniedrigenden Situation aussetzen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.
Mit zitternden Händen gab sie Earl den Karton.
Als er ihn öffnete, hatte er alles Mögliche erwartet außer Dutzenden von Zeichnungen. Er blätterte sie durch. Wer auch immer sie gezeichnet hatte, hatte Talent, aber er verstand nicht, was sie ihm damit sagen wollte.
“Die sind hübsch”, sagte er. “Sind Sie die Künstlerin?”
Jade sah ihn an. “Wie bitte?”
“Sind das Ihre Arbeiten? Haben Sie die gemalt?”
Sie schaute kurz zu Sam hoch, dann sah sie weg.
“Ja, aber ich bin auch das Opfer.”
Earl lehnte sich vor. Jetzt ging es voran. “Opfer”, dieses Wort hatte er verstanden.
“Was meinen Sie damit, Miss Cochrane?”
“Diese Gesichter … es sind einige von den … Onkels, … aber nicht alle, verstehen Sie. Das sind nur die Männer, an die ich mich erinnern kann.”
Ihr Finger zitterte, als sie auf den Stapel Blätter deutete, den Earl Walters in den Händen hielt. “Das sind diejenigen, die gelächelt haben. Das waren die, denen es Spaß gemacht hat, mir wehzutun.”
Antonia DiMatto bemühte sich, so gut es ging ihren Schock zu verbergen. Jetzt verstand sie auch, warum Jade so viele Gedächtnislücken hatte und warum sie sich so schwer tat, jemandem zu vertrauen.
Earl starrte die Zeichnungen an, dann sie.
“Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.”
Jade seufzte. “Es tut mir leid. Es ist nicht leicht, darüber zu reden.”
“Erzählen Sie es uns trotzdem”, ermunterte sie Antonia. “Wenn Sie wollen, dass Sie wieder gesund werden, erzählen Sie es uns.”
Sam setzte sich auf das andere Ende des Bettes. Jetzt war Jade von Menschen umgeben. Luke auf der einen Seite, Antonia DiMatto auf der anderen, Sam in ihrem Rücken und Earl Walters vor ihr auf dem Stuhl. Aber anstatt sich unwohl zu fühlen, breitete sich in ihr ein Gefühl der Sicherheit aus. Dann berührte Sam sie an der Schulter.
“Süße, sieh mich an”, sagte er.
“Ich kann nicht”, flüsterte Jade.
“Es ist okay”, erwiderte er. “Ich weiß es.”
Sie holte tief Luft und sah Luke an, als habe er sie hintergangen.
“Ich habe es ihm erst erzählt, als sie Raphael getötet haben”, sagte er. “Er musste es wissen, Süße. Und du warst nicht in der Verfassung, dass ich dich um Erlaubnis bitten konnte.”
Sie drehte sich unsicher zu Sam um.
Er nahm ihre Hände und hob sie zu seinen Lippen.
“Du musst keine Angst haben, du kannst mir alles erzählen. Ich liebe dich. Daran wird sich nie etwas ändern.”
Jade ließ vor Erleichterung die Schultern fallen. “Ich habe versucht wegzukommen”, sagte sie. “Ich habe um mich getreten und gebettelt, sie mögen aufhören. Sie haben es nie getan.”
“Ich weiß, Darling, ich weiß. Es war nicht deine Schuld. Du konntest nichts dafür.”
Earl räusperte sich. “Hallo, Leute. Ich bin auch noch da, und ich hätte gerne gewusst, worum es hier geht.”
“Sag es ihm, Süße”, sagte Luke. “Je mehr du darüber sprichst, desto leichter wird es dir fallen.”
“Aber dann wissen es alle”, sagte Jade.
“Die anderen interessieren uns nicht”, beharrte Luke. “Die Menschen, die dich kennen … die Menschen, die dich lieben, werden dich nicht weniger mögen oder dich verurteilen. Hast du das verstanden?”
Sie seufzte und nickte. Dann sah sie Earl an und deutete auf die Zeichnungen.
“Ein Mann namens Solomon war der Guru einer Sekte, People of Joy. Ich habe mit ihnen zusammengelebt, seitdem mich meine Mutter fortnahm, bis ich zwölf Jahre alt war. Meine Mutter starb zwei Jahre, nachdem sie mit mir von hier weggelaufen ist. Ich glaube, ich muss so um die sechs Jahre alt gewesen sein, als es passiert ist, aber ich bin mir nicht sicher. Die Jahre sind irgendwie verschwommen.”
Earl nickte, um sie zum Weitererzählen zu ermutigen.
“Ungefähr eine Woche, nachdem meine Mutter gestorben war … das wusste ich viele Jahre lang nicht, bis eine Frau aus der Sekte sich verplappert hatte. Es hieß, sie sei weggelaufen und hätte mich allein gelassen, so, wie sie Sam allein gelassen hatte. Jedenfalls hat mich Solomon eines Abends aus meinem Bett geholt und mich den Flur hinunter in den lilafarbenen Raum getragen. Dann hat er mich auf dieses Bett gelegt. Es war kein Licht an. Nur Kerzen. Ich dachte, dass ich zukünftig in diesem Zimmer schlafen sollte, und sagte ihm, dass ich wieder zurück in mein altes Zimmer wollte, und dass es dort komisch roch.”
Sie sah, wie ein Muskel in Earls Wange zuckte. Mehr war ihm nicht anzumerken. Antonia DiMatto betrachtete Sams Tochter aufmerksam, um die ersten Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs frühzeitig zu entdecken. Aber was sie sah, war eine sehr zerrüttete, aber sehr starke junge Frau, die Schweres durchgestanden hatte.
“Sprechen Sie weiter”, sagte Earl.
Jade nickte.
“Solomon war wütend und sagte mir, da meine Mutter jetzt fort war, müsste ich mir meinen Unterhalt selbst verdienen. Ich sagte ihm, dass wenn ich auf einen Stuhl stieg, könnte ich an das Spülbecken reichen, dann könnte ich abwaschen. Er strich mir über das Gesicht, dann zog er mir mein Nachthemd hoch, schob seine Hand zwischen meine Beine und sagte, das würde nicht ausreichen.
“Himmel”, murmelte Earl.
“Der Mann kam aus einer dunklen Ecke des Zimmers. Ich wusste nicht, dass noch jemand außer uns im Raum gewesen war. Ich schrie, dass ich wieder in mein Zimmer wollte. Solomon schubste mich zurück auf das Bett und ging hinaus. Ich … eh … er …”
Jade fing an zu hyperventilieren, als sie versuchte, Luft zu holen.
Luke nahm ihr Gesicht in seine Hände, bedeckte ihren Mund mit einer Hand.
“Sieh mich an, Süße, sieh mich an.”
Jade konzentrierte sich auf sein Gesicht.
“Jetzt atme ein”, flüsterte er.
Antonia DiMatto rückte jetzt näher an Jade heran. “Jade, das liegt in der Vergangenheit. Sie sind nicht mehr im lilafarbenen Zimmer. Sie sind in Ihrem eigenen Zimmer zusammen mit Ihrem Vater und mit Luke. Tun Sie, was er sagt. Atmen Sie ein und aus.”
Allmählich spürte Jade, wie die Panik verschwand. Sie erzitterte, dann stöhnte sie auf.
“Ich habe zu Gott gebetet, aber er hat mir nicht geantwortet.”
Luke fluchte.
Sam weinte.
Antonia DiMatto wusste zu dem Zeitpunkt, dass Jade noch lange brauchen würde, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Earl Walters starrte auf die Zeichnungen.
“Diese Bilder …”
Jade erschauderte noch einmal. “Die Gesichter. Sie verfolgen mich in meinen Träumen. Aber vielleicht verfolgte ich sie in ihren Träumen ja auch.”
Plötzlich verstand Earl, worum es hier ging.
“Wollen Sie damit sagen, dass der Mörder einer dieser Männer ist?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Es könnte einer von ihnen sein … oder jemand, an den ich mich nicht mehr erinnern kann … oder Solomon.”
“Ist sein Bild darunter?”, fragte Earl.
Jade nickte. “Ja, ich habe ihn häufiger gezeichnet. Er ist der Mann mit dem Spitzbart.”
Earl blätterte durch den Stapel Papiere, bis er die Zeichnung fand. Jade hatte den Teufel gezeichnet, mit dem Gesicht von Solomon.
“Okay”, sagte Earl leise. Dann lehnte er sich vor, um unbeholfen Jades Knie zu tätscheln. “Miss Cochrane … Jade. Es tut mir fürchterlich leid, was Ihnen zugestoßen ist. Aber um den Mörder zu finden, muss ich vielleicht eine Presseinformation herausgeben.”
“Nein”, antwortete Jade, “bitte tun Sie das nicht. Die Leute werden denken, dass ich …”
“Dass du ein Wunder bist”, sagte Luke und zog sie dann dicht an sich. “Denk doch nur daran, wie vielen Kindern du dieses Schicksal ersparen kannst, wenn du der Polizei hilfst. Wenn diese Hunde noch nicht hinter Gittern sind, dann garantiere ich dir, dass sie weiterhin Kinder belästigen.”
Einen Augenblick lang herrschte Stille, als Jade darüber nachdachte, was Luke gerade gesagt hatte. Dann verließ sie ihr Verstand, als sie seinen Arm um ihre Taille spürte und hörte, wie seine Stimme an ihrem Ohr klang.
“Jade, antworte mir, Süße.”
Sie erschauderte, dann sah sie auf. “Tun Sie, was Sie tun müssen.”
Earl Walters nahm die Zeichnungen, stand auf und ging ohne sich umzudrehen hinaus.