„Ihr habt die Leiche gefunden?”

Wieder ein Nicken.

„Habt ihr jemanden gesehen … außer dem Opfer, meine ich?”

„Nein, Sir”, antwortete einer der beiden. „Als wir reinkamen, war der Raum leer.” Der Junge zögerte. „Bis auf den Toten.”

„Habt ihr irgendetwas angefasst - oder einer von euch?” erkundigte sich Dawson.

„Nein, nein, überhaupt nichts. Wir sind gleich wieder rausgerannt und haben einen Typ gebeten, die Polizei zu alarmieren.”

Dawson überlegte kurz. Es bestand im Moment keine Notwendigkeit, die Jungs noch weiter zu vernehmen. Die beiden waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, das war alles. Es war kaum anzunehmen, dass sie ansonsten noch etwas wussten, was ihnen weiterhelfen würde.

„Lass dir ihre Namen und Adressen geben, Ramsey, und komm dann nach.”

Ramsey nickte und machte sich an die Arbeit, während Dawson wieder in die Herrentoilette zurückging.

Der Leichenbeschauer Fred True hatte seine Untersuchung gerade beendet, als Dawson hereinkam. Beim Blick auf die Leiche vergaß Dawson sämtliche Fragen, die er dem Arzt hatte stellen wollen.

„Heilige Scheiße”, murmelte er.

True schaute auf. „Ein Bekannter von Ihnen?”

„Wir waren ihm auf den Fersen.”

„Und jemand anders offensichtlich auch”, gab True trocken zurück, während er seine Gummihandschuhe abstreifte und in eine Tüte warf.

„Wie lange brauchen Sie hier noch?” erkundigte sich Dawson.

 „Ich bin fertig”, erwiderte True und drehte sich zu seinem Assistenten um. „Pack ihn in einen Sack und mach einen Zettel dran, Sonny. Dawson hier erleichtert uns unseren Job ein bisschen. Er weiß den Namen.”

Dawson schaute ein letztes Mal auf die Leiche. „Law. Sein Name war Simon Law.”

Genau in diesem Moment kam Ramsey herein. „Du willst mich wohl veräppeln”, brummte er, während er über Dawsons Schulter auf den Toten am Boden schaute.

Dawson drehte sich um. „Nein. Unser verschwundener Mieter Schrägstrich Dieb scheint sich unbeliebt gemacht zu haben.” Er klopfte Ramsey auf die Schulter. „Los, gehen wir. Ich bin neugierig, was wir über ihn in Erfahrung bringen.”

Eine Weile später saßen sie wieder an ihren Schreibtischen.

„Wissen wir schon irgendwas?”

Dawson wühlte immer noch in den Papieren herum.

„Eventuell… warte! Hier ist es.”

Er legte seinen Mantel ab und ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, während Ramsey wieder aufstand.

„Holst du Kaffee?” fragte Dawson.

Ramsey nickte.

Dawson hielt ihm den Becher hin, der auf seinem Schreibtisch stand. „Bring mir eine Tasse mit, okay?”

„Darf’s vielleicht auch noch ein bisschen Kaffeegebäck sein?” fragte Ramsey bissig.

Dawson machte sich nicht die Mühe aufzusehen. „Halt die Klappe und tu, was ich dir sage”, brummte er.

Ramsey trollte sich grinsend. Er hatte den Raum schon fast durchquert, als er Dawson fluchen hörte.

„Was ist?”

Dawson hielt ein Blatt Papier hoch.

 „Law. Das letzte Mal stand er in L.A. vor Gericht.”

„Wie lange hat er gesessen?” fragte Rarmsey, während er den Kaffee auf Dawsons Schreibtisch abstellte.

„Gar nicht”, gab Dawson zurück.

Ramsey runzelte die Stirn. „Warum nicht?”

„Weil Frederick Mancusco sein Anwalt war, darum.”

Ramsey zuckte die Schultern. „Ist zu hoch für mich.”

„Mancusco ist ein Bandenanwalt. Allejandros Anwalt, um genau zu sein. Pharaoh Carn arbeitet für Allejandro, und Simon Law hatte gerade auf der anderen Straßenseite vom Haus der LeGrands vorübergehend Stellung bezogen. Und nach Francescas Angaben ist Pharaoh Carn der Mann, der sie entführt und …”

„Okay, okay, die Botschaft ist angekommen”, sagte Ramsey. „Aber was sollen wir mit dieser Information jetzt anfangen?”

Bevor Dawson antworten konnte, klingelte sein Telefon. Er nahm ab, in Gedanken immer noch bei dem Bericht. „Hier Dawson.”

„Detective, ich bin’s, Clay. Ich habe da was für Sie.”

Dawson ließ den Bericht fallen, schrieb Clays Namen auf einen Notizzettel und schob ihn Ramsey zu.

Ramsey nickte und schnappte sich den Bericht, in dem Dawson gerade gelesen hatte.

„Was gibt’s?” erkundigte sich Dawson.

„Wir haben gerade einen Anruf von Addie Bell bekommen. Das ist die Leiterin des Waisenhauses, in dem Frankie aufgewachsen ist, erinnern Sie sich?”

„Ja, sympathische Person”, sagte Dawson. „Scheint aufrichtig entsetzt zu sein über das, was Ihrer Frau passiert ist.”

„Richtig. Sie hat vorhin angerufen, um uns etwas mitzuteilen, was vor allem für Sie von Bedeutung sein könnte.”

Dawson lehnte sich vor. Clay LeGrands aufgeregter Tonfall

verfehlte nicht die Wirkung auf ihn. „Ich höre”, sagte er gespannt.

„Addie Bell berichtete, dass sich Pharaoh Carn zu der Zeit, in der er noch im Waisenhaus lebte, eine Tätowierung machen ließ.”

Dawsons Pulsschlag beschleunigte sich. Noch ehe Clay fertig gesprochen hatte, hatte er seine Frage in Gedanken bereits formuliert.

„Ich nehme nicht an, dass sie sich erinnert, wie diese Tätowierung aussah?” fragte Dawson.

„Doch, das tut sie. Es handelt sich um ein Kreuz mit Schlaufe, also ein Henkelkreuz. Und sie sagte auch, es sei farbig gewesen. Vielleicht gelb.”

Dawson verzog das Gesicht zu einem langsamen Grinsen. „Also das genaue Gegenstück zur Tätowierung Ihrer Frau.”

„Haben Sie jetzt genug gegen Pharaoh Carn in der Hand, um die Fahndung nach ihm einzuleiten?”

Dawsons Grinsen wurde noch breiter. „O ja. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Tätowierung sein Untergang ist, falls er sie immer noch hat.”

Clay seufzte. „Gott sei Dank. Dann haben wir das alles ja vielleicht bald hinter uns.”

Dawsons Grinsen erstarb.Freuen Sie sich nicht zu früh. Wir müssen ihn erst mal kriegen. Pharaoh Carn hat viel Macht und Einfluss.”

„Mir ist egal, was er hat”, brummte Clay. „Hauptsache nicht meine Frau.”

Es dauerte noch zwei weitere Tage, bis die Mühlen der Gerechtigkeit zu mahlen begannen, doch als es schließlich soweit war, ging alles sehr schnell.

Duke Needham platzte in Pharaohs Büro.

 „Boss, ich habe eben einen Anruf von einem Kumpel aus L.A. bekommen. Er behauptet, die Bullen hätten einen Fahndungsbefehl nach Ihnen rausgegeben; sie stellen die ganze Stadt auf den Kopf.”

Pharaoh rutschte der Stift aus der Hand; er sprang auf. Francesca! Er hatte zu lange gewartet.

„Verdammte Dreckskerle.”

„Was soll ich denn jetzt machen?”

Pharaoh kam hinter seinem Schreibtisch hervor und trat ans Fenster, von dem aus er den vorderen Teil des Anwesens übersehen konnte. Der Tag war klar, aber kalt. Er konnte unten im Tal die Autoschlange sehen, die sich wie üblich über den Strip wälzte, und die ewig blinkenden Lichter der Kasinos. Alles wirkte normal, obwohl gerade er nur allzu gut wusste, dass der Anschein trügen konnte. Mit der Hand in der Hosentasche dachte er fieberhaft nach und rieb mit der anderen die Hasenpfote zwischen Daumen und Zeigefinger. Kurz darauf wirbelte er herum.

„Sag einem der Mädchen, dass sie mir eine Tasche packen soll. Nur ein paar Hemden zum Wechseln, mehr nicht, und alles leichte Sachen für die Tropen. Wenn wir dort sind, kann ich mir immer noch mehr kaufen, wenn ich etwas brauche.”

„Wohin fahren wir?” erkundigte sich Duke.

In Pharaohs Kiefer zuckte ein Muskel. „Allejandro versucht schon seit Monaten, mir einen Job in Südamerika schmackhaft zu machen. Ich habe soeben entschieden, ihn anzunehmen.”

„Okay, Boss”, sagte Duke. „Ich werde sofort den Hubschrauber ordern.”

„Sag dem Piloten, dass wir in Denver Zwischenstation machen.”

Duke schluckte. Die Obsession seines Chefs würde sie noch den Kopf kosten.

„Glauben Sie, dass das sicher ist, nach allem, was wir gerade erfahren haben?” fragte er.

Pharaoh atmete tief durch und erwiderte mit warnend gesenkter Stimme: „Untersteh dich, meine Entscheidungen in Frage zu stellen. Untersteh dich, meine Autorität in Frage zu stellen. Geh mir aus den Augen und tu, was ich dir sage.”

Duke sah einen Moment lang wieder vor sich, wie Stykowskis Blut über sein Gesicht und sein Jackett spritzte, dann ging er zur Tür.

Sobald er weg war, streckte Pharaoh die Hand nach dem Telefonhörer aus. Er war dabei, den Weg in ein neues Leben zu beschreiten, aber vorher musste er erst noch eine Tür zuschlagen. Die Tür zu Francescas Vergangenheit. Er wählte eine Nummer, dann setzte er sich auf die Kante seines Schreibtischs und wartete, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete. Wenig später vibrierte Pepe Allejandros geschmeidiger Bariton in seinem Ohr. Pharaoh atmete tief durch, ehe er sich meldete.

„Patron! Hier ist Pharaoh.”

„Pharaoh, mein Freund. Ich habe mit deinem Anruf gerechnet. Mir scheint, du hast ernsthafte Probleme.”

Pharaoh zuckte zusammen. Allejandros Tonfall ließ nichts Gutes vermuten.

„Nein, Pepe, ich habe die Situation voll unter Kontrolle.”

„Was willst du unternehmen?” fragte Allejandro.

„Ich habe beschlossen, diesen Job in Kolumbien anzunehmen, aber vorher möchte ich dich noch um einen Gefallen bitten.”

„Ich höre”, sagte Allejandro.

„Ich muss noch etwas erledigen. Ich will…”

„Ich weiß, was du willst”, unterbrach ihn Allejandro. „Es geht wieder um diese Frau. Sie ist der Grund dafür, dass du in

diesen Schwierigkeiten steckst. Wirklich, Pharaoh, ich schätze es gar nicht, wenn meine Männer Berufs- und Privatleben miteinander verquicken, also hör mir gut zu! Du verlässt noch heute Nevada und fährst auf kürzestem Weg zur Grenze. Miguel wird dich in Tijuana mit dem Flugzeug abholen und dich nach Südamerika bringen. Wir sprechen uns erst wieder, wenn du auf dem Anwesen bist.”

„Aber, Pepe, du verstehst mich nicht. Diese Frau ist mein Glück. Ohne sie …”

„Nein, Pharaoh”, donnerte Pepe Allejandro. „Du bist es, der nicht versteht. Das ist ein Befehl.” Es folgte eine kurze Pause, bevor Allejandro fortfuhr: „Hast du mich verstanden?”

Pharaoh spannte sich an. Er wusste nur allzu gut, was für Konsequenzen es nach sich zog, wenn man Allejandros Befehle nicht befolgte, aber er hielt seine Antwort absichtlich vage.

„Ich werde Miguel sofort anrufen, wenn ich in Tijuana bin.”

„Das wollte ich hören”, sagte Allejandro und legte abrupt auf, was Pharaoh nicht im Zweifel darüber ließ, wie ungehalten er war.

Wenn Pharaoh an sein Vorhaben dachte, begann sein Magen zu rebellieren. Trotzdem war er entschlossen, das Land nicht ohne Francesca zu verlassen. Wenn er sie erst wiederhatte, würde er schon einen Weg finden, sie auf seine Seite zu ziehen. Er würde es nicht länger hinnehmen, dass sie ihn hasste, so wie sie es im Lauf der letzten beiden Jahre oft behauptet hatte.

Als sie noch ein Kind war, war er ihr bester Freund gewesen - er hatte ihr die verlorene Familie ersetzt. Jetzt musste er bloß noch ihren Mann loswerden, dann würde alles wieder so werden wie früher.

Als er in sein Zimmer eilte, um das Mädchen beim Packen seiner Sachen zu beaufsichtigen, ignorierte er geflissentlich das mulmige Gefühl, das ihn beschlichen hatte. Allejandro wäre mit seinem Vorhaben ganz gewiss nicht einverstanden, aber wenn er es ohne Pannen durchzog, würde es okay sein. Pharaoh redete sich ein, dass Francesca ganz bestimmt nicht mit seiner Rückkehr rechnete. Er würde die Überraschung auf seiner Seite haben.

Auf dem Herd blubberte der Eintopf friedlich vor sich hin. In der Luft hing der angenehme Duft frisch gebackenen Brotes, als Frankie mit einem Arm voll Schmutzwäsche in die Wäschekammer ging. Sie blieb am Fenster stehen, um einen Blick nach draußen zu werfen, wo Clay auf dem Weg hinter dem Haus bei den Mülltonnen immer noch Schnee schaufelte. Im Hintergrund lief ihre Lieblings-CD. Frankie summte vor sich hin und sang ab und zu den Refrain laut mit. In dem Moment, in dem sie Waschmittel in die Maschine tat, klingelte das Telefon. Sie schloss die Lade, stellte die Maschine an und registrierte unbewusst, wie das Wasser einströmte, bevor sie zum Telefon rannte.

„Hallo?”

Stille.

„Hallo?”

Plötzlich drang das Freizeichen an ihr Ohr.

Sie legte schulterzuckend auf. Manche Leute hatten wirklich keine Manieren. Man konnte sich doch wenigstens entschuldigen, wenn man sich verwählt hatte.

Sie ging zum Herd, rührte die Suppe um, wobei sie aufpasste, dass am Boden des Topfes nichts anhaftete, dann schaute sie nach dem Brot im Backofen. In ein paar Minuten würde es fertig sein.

Als sie wieder einen Blick aus dem Fenster warf, war Clay nirgends in Sicht. Sie zuckte die Schultern. Wahrscheinlich war er wieder nach vorn gegangen. Teils aus Neugier, teils aus dem echten Bedürfnis heraus, wissen zu wollen, wo er steckte, ging sie

zum Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Und da war er, an der Ecke des Hauses und klopfte Eiszapfen vom Dach. Als er auf sie aufmerksam wurde, lächelte sie und hob die Hand, um zu winken. Genau in diesem Moment flackerte das Licht plötzlich und ging aus.

In der Hoffnung, dass es gleich wieder angehen würde, wartete sie einen Moment, doch als sie hörte, dass auch die Waschmaschine stehen blieb, stöhnte sie ungehalten auf. Das Essen würde auch so fertig werden, weil sie einen Gasherd hatten, aber die Waschmaschine brauchte Strom. Gerade als draußen auf der Straße eine graue Limousine um die Ecke bog, ging sie in die Küche und öffnete den Sicherungskasten. Deshalb sah sie nicht, wie das Auto seine Fahrt verlangsamte und schließlich anhielt.

Schneeschippen gehörte nicht unbedingt zu Clays Lieblingsbeschäftigungen, doch da er in Denver geboren und aufgewachsen war, war es etwas, das ihn schon sein ganzes Leben lang begleitete. Als er hinter dem Haus fertig war und nach vorn ging, war ihm von der Bewegung richtig warm geworden. Bei jedem Ausatmen entschwebte seinem Mund eine kleine weiße Wolke.

Der Weg vor dem Haus wirkte noch verschneiter als der hintere Teil. Im Vorübergehen schlug er mit dem Stiel der Schneeschaufel ein paar Eiszapfen ab, die an den Dachvorsprüngen des Hauses hingen. Er schaute zu, wie sie zersplitterten und geräuschlos im Schnee versanken.

Er ging einen Schritt nach rechts, holte wieder aus und schlug eine ganze Kolonie von Eiszapfen ab. Als sie mit dem Schaufelstiel in Berührung kamen, klirrten sie wie Glas. Sie flogen durch die Luft und verschwanden gleich darauf ebenfalls im tiefen Schnee. Er musste immer wieder daran denken, dass nächstes Jahr um diese Zeit ein Baby im Haus sein würde. Großer Gott.

Ein Baby. Würde es ein Mädchen oder ein Junge werden? Aber war das wichtig? Wohl kaum. Schon gar nicht, solange nicht einmal der Name des Vaters feststand.

Er schob den Gedanken weg. Er hatte es ehrlich gemeint, als er Frankie gesagt hatte, das es unwichtig war. Er hatte zwei Jahre lang gebetet, dass ein Wunder geschehen und sie zurückkommen möge. Und dann war dieses Wunder tatsächlich geschehen. Er hatte sie wieder in seinem Leben, und diese Tatsache blieb bestehen, egal ob sie das Baby mitgebracht hatte oder ob es von ihm war.

Sein Blick glitt von den Eiszapfen an den Dachvorsprüngen zu seinem Spiegelbild in dem Fenster vor ihm. Das war der Moment, in dem er sah, dass hinter ihm auf der Straße ein Auto anhielt.

Als zwei Männer ausstiegen, drehte er sich um. Einer war groß und breitschultrig, mit einem ergrauenden Pferdeschwanz, der ihm hinten über den Mantelkragen fiel. Diesen Mann hatte Clay noch nie vorher gesehen, aber der andere kam ihm irgendwie bekannt vor. Clay runzelte nachdenklich die Stirn. Oh, großer Gott.

Er ächzte, als ob ihm jemand einen harten Fußtritt in die Magengegend verpasst hätte, ließ die Schneeschaufel fallen und rannte, laut Frankies Namen schreiend, zum Haus. Vom Schuss, der ihn ins Schulterblatt traf, hörte man kaum mehr als ein fast geräuschloses Plopp. Clay blieb abrupt stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse, bevor er zusammenbrach und im tiefen Schnee versank wie die Eiszapfen, die er vom Dach geklopft hatte.

Duke blieb vor Clays schlaffem Körper stehen. „Soll ich ihn weg…”

„Lass ihn liegen”, befahl Pharaoh unwirsch, während sie den

verschneiten Weg hinaufgingen. „Wir werden uns hier nicht so lange aufhalten, dass er uns stören könnte.”

Duke warf einen nervösen Blick über die Schulter. Die Straße lag verlassen da, aber in einer so gutbürgerlichen Gegend wusste man nie genau, wer da hinter den Gardinen hervorlugte. Im Stillen, verfluchte er Pharaoh dafür, dass er dieses Ding am helllichten Tag durchzog, aber er runzelte nur ungehalten die Stirn und verkroch sich tiefer in seinen Mantel, während er zur Vordertür ging. Er wollte gerade klopfen, als Pharaoh seine Hand packte.

„Nicht.”

„Aber sie haben eine Alarmanlage, Boss”, gab Duke zu bedenken, wobei er auf den Aufkleber an einer Fensterscheibe deutete.

„Sie wird nicht eingeschaltet sein, und die Tür ist bestimmt nicht abgeschlossen. Nicht wenn der Göttergatte draußen Schnee schaufelt.”

Duke warf einen Blick auf den Mann, den Pharaoh soeben niedergeschossen hatte, und streckte dann die Hand nach dem Türknopf aus. Wie prophezeit ließ sich der Knauf tatsächlich problemlos drehen.

Beim Eintreten stieg Pharaoh der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase. Er holte tief Atem. Gleich darauf brach sich die Realität Bahn, während sein Herz einen erwartungsvollen Satz machte. In wenigen Sekunden würden sie wieder vereint sein. Und diesmal für immer.

„Hast du das Zeug?” fragte er.

Duke schob die Hand in seine Tasche und tastete nach der gefüllten Spritze.

„Ja, Sir.”

„Schön, dann bringen wir es hinter uns”, brummte Pharaoh.

„Ich habe eine Verabredung mit einem Hubschrauber in Tijuana, und ich lasse meine Partner nicht gern warten.”

Frankie war auf dem Weg in die Küche, als sie hörte, wie Clay ihren Namen rief. Sie blieb stehen und drehte sich um. In diesem Moment zog wie ein vorbeihuschender Geist ein dunkler Schatten durch ihren Kopf. Als sie stehen blieb, erinnerte sie sich daran, genau hier an dieser Stelle gestanden und das Geräusch der sich öffnenden Haustür und gleich darauf Schritte im Wohnzimmer gehört zu haben, in der fälschlichen Annahme, dass Clay zurückgekommen wäre.

Aber es war nicht Clay gewesen.

Ihr Herz begann zu hämmern, ihre Handflächen wurden schweißnass.

„Clay?”

Keine Antwort.

„Clay?”

Nichts, nur tödliche Stille.

Von Panik übermannt stürzte sie aus der Küche auf den Flur und ins Schlafzimmer. Sekunden später riss sie die Nachttischschublade auf und zog ihre Pistole heraus. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass die Waffe geladen war. Sie ging zum Fenster, von dem aus sie draußen auf der Straße die Kühlerhaube einer grauen Limousine sehen konnte. Gleich darauf entdeckte sie etwas Dunkles im Schnee. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte zwischen den Eisblumen an der Scheibe hindurchzuspähen. Ihrer Brust entrang sich ein leises Stöhnen, als sie begriff, dass sie auf einen Zipfel von Clays dunkelblauem Mantel schaute. Und dann entdecke sie seine Hand - im Schnee.

Mit einem unterdrückten Aufschluchzen rannte sie zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern die 911. In dem Moment,

in dem sich die Zentrale meldete, hörte sie, wie die Haustür geöffnet wurde.

„Hilfe, ich brauche Hilfe”, flüsterte sie. „Hier ist Francesca LeGrand. Sagen Sie Detective Dawson, dass ich glaube, sie sind zurückgekommen, um mich zu holen.”

„Ma’am. Ma’am. Um was für einen Notfall handelt es sich?” fragte der Dispatcher.

Frankie unterdrückte ein Aufstöhnen. „Ich glaube, mein Mann ist erschossen worden, und die Leute, die es getan haben, sind gerade in mein Haus eingedrungen. Ich muss mich jetzt sofort verstecken”, flüsterte Frankie und wollte schon auflegen.

„Ma’am, legen Sie nicht auf”, bat der Dispatcher. „Hilfe ist schon unterwegs.”

„Sie verstehen nicht”, sagte Frankie. „Ich kann es nicht zulassen, dass sie mich wieder finden. Sagen Sie Detective Avery Dawson Bescheid. Er weiß, worum es geht.”

Sie legte das Telefon hin und schlich zur Tür, wo sie mit angehaltenem Atem den Schritten lauschte, die sich durchs Haus bewegten. Im selben Moment kam der Strom wieder und das Licht ging flackernd an. Das plötzliche Einströmen des Wassers in die Waschmaschine klang laut in der Stille. Frankie hörte, wie etwas mit einem Krachen zu Boden fiel, gefolgt von einem gedämpften Fluch.

Sie spähte erst kurz auf den Flur und schlüpfte dann aus dem Schlafzimmer. Sie durfte keinesfalls im Haus bleiben, hier saß sie in der Falle. Sie umklammerte die Pistole mit beiden Händen und lief los.

 

17. KAPITEL

Als Clay die Augen aufschlug, schaute er direkt in den Himmel., In seinem Rücken brannte ein Feuer, das nicht einmal der Schnee löschen konnte, und er versuchte sich verzweifelt zu erinnern, was mit ihm passiert war.

Eine Sekunde später stürmten die Erinnerungen auf ihn ein. Er wusste nicht, wie lange er schon so dalag, aber er erinnerte sich daran, dass er Pharaoh ins Gesicht geschaut und Frankies Namen geschrien hatte. Hatte sie es gehört? Hatte sie es geschafft, zu entkommen? Oder, du lieber Gott, hatte er sie mitgenommen? War sie bereits weg?

Er stöhnte auf, als er sich auf die Seite rollte und sich mühsam auf Ellbogen und Knie stützte. Erst als er an sich hinunterschaute, sah er das viele Blut.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass man auf ihn geschossen hatte. Doch der Gedanke, dass Frankie und ihr Baby einem Mann wie Pharaoh Carn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, reichte aus, um die in ihm aufsteigende Übelkeit zu besiegen.

Lieber Gott … hilf mir. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte er die Hand nach einer in der Nähe stehenden Hecke aus und zog sich daran hoch.

Frankie schlich mit dem Rücken zur Wand den Flur hinunter. Ihre Hände waren ruhig, ihr Blick war klar. Plötzlich waren die vielen Stunden, die sie mit Schießübungen zugebracht hatte, wieder präsent. Einatmen. Ausatmen. Keine Panik. Und nicht am Abzug zerren, sondern ganz langsam durchdrücken.

Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie es vielleicht nicht schaffen könnte abzudrücken. Sie hatte zu oft das Gewicht

der Waffe in ihrer Hand gespürt, um jetzt zu zögern. Schon gar nicht, seit sie wusste, dass Clay nur ein paar Meter jenseits dieser Mauern draußen im Schnee lag.

Die Männerstimmen kamen von irgendwo zu ihrer Linken. Aus der Wäschekammer. Offensichtlich hatten sie sie dort vermutet, nachdem die Waschmaschine wieder angegangen war.

Sie blieb stehen, ihr Herz hämmerte. In ihrem Mund war ein metallischer Geschmack. Der Geschmack der Angst.

Ihre Entschlossenheit wuchs. Sie würde alles tun, um zu verhindern, dass man sie wieder entführte. Der Junge, der einst ihr Freund gewesen war, hatte sich in einen Teufel verwandelt.

Dann hörte sie ein leises Auflachen, bei dem sie von einer Flut von Kindheitserinnerungen überschwemmt wurde, in die sich Erinnerungen an zwei Jahre in der Hölle mischten.

An dunkle Augen und ein lächelndes Gesicht.

An sanfte Hände, die ihr Zöpfe flochten.

Hände, die ihr die Schnürsenkel banden und die Schaukel anschubsten, so dass sie hoch in die Luft flog.

An Umarmungen und Spielsachen und Süßigkeiten, die andere Kinder nicht hatten.

An verschlossene Türen und vergitterte Fenster, an verschwenderischen Überfluss und Missachtung.

An die Gewissheit, dass es vor ihm kein Entkommen gab.

Und schließlich daran, ohne einen Blick zurück weggerannt zu sein.

„Francesca … ich weiß, dass du hier irgendwo bist.”

Sie erschauerte, während die Bilder verblassten. Panik stieg in ihr auf. Die Eingangstür war zu weit weg. Jetzt konnte sie nur noch beten, dass die Polizei kam, bevor es zu spät war. Sie raffte all ihren Mut zusammen und zielte mit ihrer Pistole auf den Durchgang zur Küche.

Avery Dawson stand vor einer roten Ampel, als sein Handy klingelte. Nachdem er sich gemeldet hatte, hörte er überrascht die Stimme des Dispatchers aus der Notrufzentrale.

„Detective Dawson, wir haben eine Nachricht für Sie, die wir nicht über Funk durchgeben wollten. Vor ein paar Minuten hat eine Frau namens Francesca LeGrand bei uns angerufen. Sie sagte, ich soll Ihnen ausrichten, dass auf ihren Mann geschossen worden sei und dass die Leute gekommen wären, sie zu holen.”

Oh, verdammt. „Ist schon Hilfe unterwegs?” erkundigte er sich.

„Ja, Sir. Seit ungefähr zwei Minuten.”

„Schicken Sie noch eine Verstärkung”, ordnete er an. „Und sagen Sie Bescheid, dass wir ebenfalls unterwegs sind.”

Er schaltete das Handy aus und warf es neben sich auf den Sitz.

„Francesca LeGrand hat eben die 911 angerufen. Der Dispatcher sagt, dass auf Clay geschossen wurde. Die wollen sie sich wieder holen.”

Ramsey stellte das Blaulicht aufs Dach und schaltete es ein, während Dawson die Sirene aufheulen ließ.

Dawson machte an der Kreuzung kehrt und fuhr denselben Weg, den sie gekommen waren, zurück. Bei der Vorstellung, was sich in dem Haus abgespielt haben mochte, wurde ihm ganz schlecht. Clay LeGrand durfte nicht tot sein, das durfte einfach nicht sein nach all den ungerechtfertigten Anschuldigungen, die man gegen ihn erhoben hatte.

Ramsey überprüfte seinen Revolver und schob ihn wieder in sein Schulterholster, während Dawson rasant um eine Ecke bog.

„He, pass auf”, warnte ihn Ramsey. „Die Straße ist immer noch vereist.”

Aber Dawson fuhr weiter, ohne seine wilde Fahrt zu verlangsamen. Das Eis war ihm egal. Das System hatte dieses Paar schon einmal im Stich gelassen. Er musste verhindern, dass das noch einmal passierte.

Plötzlich erschienen an der Wand im Bogendurchgang zu Frankies Küche zwei schwarze Schatten. Frankie glitt ein paar Schritte nach rechts, stellte sich, den Revolver immer noch mit beiden Händen umklammernd, breitbeinig hin, und zielte auf die Tür. Als die beiden Männer auftauchten, holte sie tief Atem und konzentrierte sich zuerst auf den breitschultrigen Mann mit dem ergrauenden Pferdeschwanz und der Pistole.

Er war ihr bestens vertraut. Duke Needham, Pharaohs rechte Hand.

Als Pharaohs Blick auf sie fiel, begann sein Herz schneller zu schlagen. Wie schön sie war! Doch gleich darauf sah er die Pistole in ihrer Hand. Er runzelte die Stirn. Damit hatte er nicht gerechnet. Als er einen Schritt auf sie zu machte, schwenkte sie die Pistole herum und zielte auf ihn. Er blieb schockiert stehen. Ihr Gesicht wirkte so ..-. tödlich entschlossen.

Er erschauerte. Versuchte zu lächeln.

„Was soll das, Francesca?” fragte er mit sanfter Stimme, wie ein Vater, der seine Tochter tadelt. „Nimm die Pistole runter.”

Sie hielt seinem Blick schweigend stand.

Das hätte er ihr nicht zugetraut. Pharao spürte eine leichte Nervosität in sich aufsteigen.

„Komm schon, Francesca, du kannst mich nicht erschießen. Erinnerst du dich nicht? Ich habe dich getröstet, wenn du geweint hast. Ich habe dir beigebracht, wie man sich die Schuhe bindet. Ich habe dir Zöpfe geflochten und Geschichten vorgelesen. Ich liebe dich, Francesca. Du gehörst zu mir.”

Frankie schossen die Tränen in die Augen. „Ich habe dir vertraut … früher. Aber du, was hast du getan? Du hast mich von meinem Zuhause … von meinem Ehemann weggerissen. Du hast mir zwei Jahre meines Lebens gestohlen. Das ist keine Liebe. Das ist Besessenheit.”

Sie holte zitternd Atem, als Duke plötzlich einen Schritt auf sie zu machte.

„Keine Bewegung!” schrie sie und zielte wieder auf Duke Needhams Kopf.

Duke erstarrte. Auf die kurze Entfernung konnte sie ihn kaum verfehlen.

Pharaoh atmete tief durch. Das war komplizierter, als er sich vorgestellt hatte. Er streckte seine Hand aus und trat einen Schritt vor. Die Bewegung veranlasste Frankie, die Waffe wieder auf ihn zu richten. Diese Gelegenheit nutzte Duke aus, um einen langen Satz auf sie zuzumachen.

Frankie sah es und drückte blitzschnell zweimal nacheinander ab. Dukes Beine knickten ein, als die Kugeln vorn in seine Knie einschlugen, seine Kniescheiben zertrümmerten und die Muskeln durchtrennten. Die Pistole rutschte ihm aus der Hand und fiel klappernd zu Boden. Frankie stieß sie mit der Schuhspitze weg, während sie wieder auf Pharaoh zielte.

Duke schrie vor Schmerz so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Pharaoh konnte nur ungläubig von ihm zu Francesca starren, in deren Gesicht sich allein Wut widerspiegelte. Und erst, als er an ihren Ehemann dachte, der da draußen tot im Schnee lag, dämmerte ihm, dass sein eigenes Leben auch auf dem Spiel stehen könnte.

„Tu das nicht, Francesca”, bat er und streckte seine Hände zu beiden Seiten aus, um ihr zu zeigen, dass er unbewaffnet war. „Ich würde dir nie etwas antun.”

Dukes Schreie hatten sich in ein leises Stöhnen verwandelt.

Frankie glaubte, in der Ferne Sirenen zu hören, aber sicher war sie sich nicht.

Das Blut… alles war voller Blut.

Kein Mensch hatte sie vor dem vielen Blut gewarnt, als sie die verdammte Pistole gekauft hatte.

„Francesca … hör mir zu”, sagte Pharaoh, während er einen Schritt auf sie zu machte.

Sie umklammerte die Pistole fester und wich zwei Schritte zurück.

„Du hast mich vergewaltigt, du verdammter Dreckskerl.”

Pharaoh erstarrte, zutiefst schockiert von ihren Worten. „Niemals.”

„Doch, du hast es getan! Du hast es getan! Ich erinnere mich noch genau an das Gewicht deines Körpers, als du mich niedergehalten hast. Ich habe den Ausdruck in deinen Augen gesehen. Ich wusste, was du vorhattest, Pharaoh, ich wusste es ganz genau.”

Pharaoh stöhnte laut auf. „Nein, Francesca, nein. Ich habe dich niemals auf diese Weise berührt. Nur einmal habe ich … haben wir … aber du hast geweint.” Er holte tief und zitternd Atem. „Ich habe sofort aufgehört, als du angefangen hast zu weinen.”

„Ich glaube dir nicht”, sagte sie, aber ihre Sicherheit kam ins Wanken. „Zwei Jahre lang hast du mich in einem Zimmer eingesperrt.”

„Ich habe dir alles gegeben”, protestierte er. „Die schönsten Kleider, das beste Essen, von allem das Beste.”

„Nur meine Freiheit nicht”, sagte Frankie bitter.

Betroffen sah Pharaoh sie an. Er hörte die näher kommenden Sirenen ebenfalls. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, alles richtig zu stellen und dem Bedürfnis zu fliehen, solange er es noch konnte.

Sein Leben rollte wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Als Kind war er immer ein Außenseiter gewesen, hatte nie das Gefühl gehabt, dazu zu gehören und geliebt zu werden, er hatte sich jede Aufmerksamkeit hart erkämpfen müssen.

Und dann war Francesca gekommen.

Er erschauerte und verfluchte die Schwäche, die Liebe manchmal mit sich brachte. Er dachte an Allejandro und an Kolumbien und an den Reichtum und die Macht, die dort auf ihn warteten. Mit einem tiefen Seufzer schob er blitzschnell die Hand in seine Tasche und zog eine Pistole, mit der er auf Francescas Brust zielte.

Frankie keuchte und wich entsetzt einen Schritt zurück. Aber die Mündung des Revolvers folgte ihren Bewegungen.

„Wenn du schießt, schieße ich auch”, sagte sie entschlossen. „Im schlimmsten Fall sterben wir beide. Im besten sind wir beide nur verletzt. Doch wie auch immer, du wirst nicht davonkommen. Du sitzt in der Falle, Pharaoh. Das Spiel ist aus. Lass los. Lass mich los.”

Er schüttelte den Kopf wie ein verletztes Tier, das verzweifelt versucht, sich auf den Beinen zu halten.

„Du verstehst mich nicht. Du bist meine Liebe … und mein Glück. Ohne dich ist für mich sowieso alles vorbei.”

„Dann soll es so sein”, sagte Frankie und zielte.

In diesem Moment flog die Haustür krachend auf. Clays Stimme war schwach und atemlos, als er zwischen Frankie und den Lauf von Pharaohs Pistole taumelte.

„Tun Sie das nicht!” stöhnte Clay. „Um Himmels Willen, erschießen Sie sie nicht. Sie bekommt ein Baby.”

Frankie schrie. Clays Mantel war am Rücken blutgetränkt.

Die Pistole in Pharaohs Hand zitterte ebenso wie seine Stimme. „Ein Baby?”

Clay ging in die Knie, dann auf alle viere. „Bitte”, flehte er. „Tun Sie ihr nichts.”

Frankie ließ die Pistole sinken und kauerte sich neben Clay auf den Boden. Ihre Hände waren auf seinem Gesicht, auf seinem Rücken und schließlich wieder auf seinem Gesicht, während sie versuchte, die Blutung zu stoppen.

„Stirb nicht, Clay. Um Himmels Willen, bitte, bitte, stirb nicht.”

Clay fiel stöhnend zur Seite. Von seinem Platz aus konnte er das Entsetzen sehen, das sich auf Pharaoh Carns Gesicht spiegelte.

Frankie sprang auf und rannte davon, um irgendetwas zu holen, mit dem sie die Wunde versorgen konnte.

„Stehen bleiben!” schrie Pharaoh und verfolgte instinktiv ihre Bewegungen mit seiner Pistole.

Frankie blieb stehen, auf ihrem Gesicht spiegelte sich Entschlossenheit.

„Erschieß mich oder verschwinde endlich aus meinem Leben!” schrie sie. Dann deutete sie auf den Mann am Boden. „Ich liebe nur ihn. Ich habe die ganzen zwei Jahre über nur an ihn gedacht. Wann begreifst du endlich, dass ich nie einen anderen lieben werde?”

Die Sirenen wurden lauter. Pharaoh wusste, dass es nur noch eine Frage von Minuten war. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Er hatte in seinem Leben alles bekommen, was er sich gewünscht hatte.

Macht.

Geld.

Respekt.

Er seufzte.

Er hatte alles bekommen, nur sie nicht.

Er schaute auf ihren Bauch. In ein paar Monaten würde er dick sein. Weil sie von einem anderen Mann schwanger war. Er versuchte Wut zu spüren. Aber es gelang ihm nicht. Stattdessen lag Enttäuschung in seiner Stimme. „Du schenkst ihm ein Kind.”

In diesem Moment erkannte Frankie, dass Pharaohs Enttäuschung nicht gespielt war. Wenn er sich verraten fühlte - und das tat er ganz offensichtlich -, bedeutete das, dass das Baby tatsächlich nicht von ihm sein konnte. Dann hatte er also die Wahrheit gesagt. Er hatte sie nicht vergewaltigt. Ihr wurde ganz schwindlig vor Erleichterung und Glück.

„Ich wäre immer deine Freundin geblieben”, flüsterte sie. Pharaohs Arm mit der Pistole sank plötzlich kraftlos nach unten. „Du meinst, wenn ich …”

„Erinnerst du dich an den Tag … vor zwei Jahren … als du in mein Haus kamst?”

Pharaoh blinzelte.

„Du hättest einfach nur Hallo sagen müssen.”

Pharaoh stöhnte. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte er den starken Drang zu weinen.

Er erschauerte. „Ich habe dich nicht vergewaltigt.”

In diesem Moment brach Francesca fast das Herz - wegen des Jungen, der er einst gewesen, und wegen des Mannes, zu dem er geworden war, wegen des Freundes, den sie verloren hatte, und wegen des Schreckens, den sie durch ihn erlitten hatte.

Sie schaute auf Clay und dann wieder auf Pharaoh. In ihren Augen standen Tränen, als sie flüsterte: „Bitte … erlaube mir, meinem Mann zu helfen. Ich kann ohne ihn nicht leben.”

Pharaohs Mundwinkeln umspielte ein bitteres Lächeln.

„Ja, ich verstehe, was du meinst”, sagte er leise, dann rannte er zur Tür.

Avery Dawson kannte eine Abkürzung. Als er seinen Wagen vor dem Haus der LeGrands mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte, hatte er einen halben Häuserblock Vorsprung vor dem Krankenwagen. Am Straßenrand parkte immer noch eine dunkelgraue Limousine. Bevor Dawson ausstieg, zog er seinen Revolver.

„Du nimmst die Hintertür”, sagte er zu Ramsey. „Ich gehe vorn rein.”

„Sollten wir nicht besser auf Verstärkung warten?” fragte Ramsey.

„Himmel, nein”, brummte Dawson. „Es könnte jetzt bereits zu spät sein.”

Er lief von der Seite auf das Haus zu, ging erst hinter einem Strauch in Deckung und dann hinter einem Baum, während er sich an die blutbeschmierte Haustür heran pirschte, die einen Spalt offen stand. Sein Herz klopfte bis zum Hals, seine Fantasie trieb wilde blutrünstige Blüten, die sein Verstand nicht akzeptieren wollte. Alles, was er denken konnte, war: Bitte, Gott, lass diese Menschen nicht tot sein.

In dem Moment, in dem ein Mann aus dem Haus gerannt kam, sprang er in geduckter Haltung hinter einem Baum hervor. Er nahm erst das Gesicht des Mannes wahr und dann die Waffe, die er in der Hand hielt. Er zielte auf ihn und brüllte: „Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen. Sie sind umstellt.”

Pharaoh Carn wirbelte herum. Er wusste im selben Moment, in dem er abdrückte, dass es aussichtslos war. Die erste Kugel traf ihn unter dem Schlüsselbein, während sein eigener Schuss danebenging. Er verspürte erst Taubheit, bevor der Schmerz einsetzte. Die Pistole rutschte ihm aus der Hand und fiel in den Schnee. Er schaute ungläubig nach unten. Ohne zu begreifen, was diese Handlung bei seinem Gegenüber an Assoziationen auslöste,