Aber Clay ließ nicht locker. „Wer, Frankie? Wer war angeblich tot?”
Dunkle Augen - blendend weiße Zähne - und dieses Lächeln - immer dieses Lächeln.
Gleich darauf löste sich das Bild auf, zu schnell, um das ganze Gesicht erkennen zu können.
„Ich weiß es nicht”, stöhnte sie.
Er wandte sich fluchend ab.
Plötzlich konnte Frankie nicht mehr. Sie warf sich auf die Knie und rief verzweifelt: „Um Himmels Willen, Clay, so gib mir doch wenigstens eine Chance, ich flehe dich an!”
Clay drehte sich um. Als er sie auf dem Boden sah, verspürte er brennende Scham. „Oh, mein Gott, Francesca, tu das nicht.”
Er hob sie hoch und trug sie über den Flur ins Schlafzimmer. Ihr leises Schluchzen ging ihm zu Herzen. Nachdem er sie aufs Bett gelegt hatte, drehte sie ihm den Rücken zu und rollte sich wie ein Baby zusammen.
„Frankie, ich …”
Als er sah, dass sie sich die Ohren zuhielt, unterbrach er sich und richtete sich wieder auf. Ihm war hundeelend zumute. Er deckte sie mit einer Decke zu und ging zur Tür.
Doch bevor er das Zimmer verlassen konnte, drehte sie sich auf den Rücken und schaute ihn aus verweinten Augen angstvoll an. „Nicht die Tür zumachen!”
Er zögerte einen Moment. „In Ordnung”, sagte er schließlich.
„Ich hasse es, eingesperrt zu werden”, murmelte sie und achtete darauf, dass er die Tür auch wirklich offen ließ.
Clays Herz hämmerte, als er wieder in die Küche zurückging und die Geldscheine vom Fußboden aufhob. Er dachte an die Angst, die in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte.
Ich dachte, er sei tot.
Er schaute auf das Geld in seiner Hand und erschauerte.
„Guter Gott”, murmelte er und schob die Scheine in den Umschlag zurück, den er in die nächstbeste Schublade stopfte. Später würde immer noch genug Zeit sein zu überlegen, was er damit tun sollte. Im Moment wollte er den Umschlag einfach nur nicht mehr sehen.
Am anderen Ende des Flurs lag Frankie auf dem Bett und schluckte ihre letzten Tränen hinunter, während sie über die entsetzliche Leere nachdachte, in die sie zurückgekehrt war. Das war alles so falsch - so grauenhaft falsch -, und sie wusste nicht, wie sie es richtig machen sollte. Clay glaubte ihr nicht, und obwohl er es behauptet hatte, war sie absolut nicht überzeugt davon, dass er sie immer noch liebte. Zumindest nicht so wie früher. Sie fühlte sich ausgelaugt. Erschöpft zog sie sich die Decke bis zum Kinn hoch und schloss die Augen.
Clay war in der Küche. Das gedämpfte Klappern der Töpfe, das zu ihr herüberdrang, hatte etwas Tröstliches. Früher hätte sie darüber gelächelt, wenn Clay versucht hätte zu kochen. Sie holte tief und zitternd Atem. Aber das machte er ja jetzt schließlich schon seit zwei Jahren, oder etwa nicht? Genau genommen hatte er sich wahrscheinlich für einen Witwer gehalten.
Unter ihrem Augenlid quoll eine letzte wütende Träne hervor, rollte über ihre Wange und versickerte im Kissen. Aber sie war nicht tot. Sie lebte, und sie war wieder da, und er würde sich mit ihren Erinnerungslücken abfinden müssen, bis sie einen Weg gefunden hatte, sie zu füllen.
Las Vegas, Nevada
Das schlanke Privatflugzeug kam ein paar Meter vor der langen weißen Limousine zum Stehen, die am Ende des Rollfelds wartete. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Duke Needham erschien oben an der Treppe, winkte dem Fahrer der wartenden Limousine zu und verschwand wieder im Innern des Flugzeugs. Es dauerte nicht lange, bis der Fahrer mit einem zusammenklappbaren Rollstuhl die Gangway hinaufstieg.
Die Luft war von einem schwachen Kerosingeruch erfüllt, während ein kalter Wind dunkle Wolkenfetzen über einen grauen Himmel trieb. Minuten verstrichen, dann traten Duke und der Fahrer aus dem Innern des Flugzeugs. Zwischen ihnen im Rollstuhl saß Pharaoh Carn, gut eingepackt gegen die Kälte. Sie hoben ihn mitsamt dem Gefährt hoch, trugen ihn die Gangway hinunter und setzten ihn unten am Boden fast lautlos ab.
Pharaoh, der die Absicht hatte, sich in seiner Villa in Las Vegas zu erholen, hatte dafür gesorgt, dass seine Ankunft unbemerkt blieb. Er trug einen Hut und hatte sich die Decken bis zum Kinn hochgezogen; außerdem verdeckte eine riesige Sonnenbrille einen Großteil seines Gesichts. Dass er noch längst nicht gesund war, erkannte man an seiner ungewohnten Blässe.
Seine Autorität aber hatte trotz seiner Schwäche keinen Schaden genommen. Er brauchte nur den Kopf zu neigen, eine Handbewegung zu machen oder ganz leicht die Stimme zu erheben, und schon waren ihm die beiden Männer zu Diensten.
Minuten später war die Limousine verschwunden, und außer einem weißen Blatt Papier, das ein Windstoß aus dem Flugzeug getragen hatte, verriet nichts, dass eben noch jemand hier gewesen war.
Auf den vom Regen reingewaschenen Treppenstufen von Pharaohs Villa in Las Vegas spiegelte sich das Mondlicht, während Pharaoh im Haus schlief. Aber seine Ruhe wurde ständig von seltsamen Träumen gestört. Zweimal schrak er aus dem Schlaf hoch,
weil er sich einbildete, der Boden würde wieder beben. Immer wenn er die Augen schloss, spürte er Francescas Hände auf seiner Brust, die ihn wegstießen. Und er spürte, wie er kopfüber die Treppe hinunterstürzte. Er stöhnte. Das, was am meisten schmerzte, war der Verrat.
„Mr. Carn, haben Sie Schmerzen?”
Er schrak zusammen. Diese verdammte Krankenschwester. Immerhin war er so weit genesen, dass man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte, dann konnte er wohl auch allein schlafen. Nie in seinem Leben hatte er mit einer Frau ein Zimmer geteilt, nicht einmal mit Francesca, und er hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, ausgerechnet jetzt damit anzufangen.
„Natürlich habe ich Schmerzen.”
„Einen Augenblick, Sir. Ich hole Ihnen Ihre Medizin.”
„Ich will keine Medizin. Ich will nur ein bisschen Ruhe und Frieden, sonst nichts. Verschwinden Sie. Wenn ich irgendwelche Pillen brauche, kann ich sie mir selbst holen.”
„Aber, Sir, Mr. Needham sagte …”
Pharaoh drehte sich auf den Bauch, und selbst in dieser Position hatte er noch immer etwas Gebieterisches.
„Das war ein Befehl”, sagte er sanft. „Verlassen Sie umgehend mein Zimmer.”
Die Krankenschwester huschte eilig davon.
Sobald er hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloss, begann er sich zu entspannen. Die Luft im Zimmer war plötzlich nicht mehr so dick, die Wände wirkten weniger erdrückend. Vorsichtig legte er sich auf die Seite und zuckte leicht zusammen, als er sich versehentlich eine geprellte Rippe stieß.
„Oh, verdammt”, stöhnte er, als sich ein Muskel verkrampfte. Aber die Krankenschwester war weg, und jetzt war niemand mehr da, um ihn zu massieren. Er biss die Zähne zusammen und
zwang seinen verletzten Körper, sich zu entspannen, bis der Schmerz langsam nachließ. Schließlich atmete er tief ein und wieder aus. Das Schlimmste war vorüber.
Nein, das Schlimmste war noch längst nicht vorüber, korrigierte er sich in Gedanken. Es fing erst an. Er konnte sich erst erholen, wenn er wusste, wo Francesca war. Dass er in dieser Hinsicht so im Dunkeln tappte, machte ihn verrückt. Es war einfach nicht fair. Sie gehörte zu ihm. Das hatte er fast vom ersten Moment, in dem er sie gesehen hatte, gewusst.
Er wälzte sich unruhig herum und versuchte, die bequemste Lage zu finden.
Die Augen fielen ihm zu und schließlich träumte er … von dem Tag, an dem Francesca Romano in sein Leben getreten war.
Schon im zarten Alter von dreizehn Jahren hatte sich Pharaoh Carn damit abgefunden, dass man ihn nicht mochte. Genauer gesagt hatte er irgendwann angefangen, sich diese Tatsache zunutze zu machen, indem er die anderen Kinder von Kitteridge House terrorisierte. Auf diese Weise war er zum unangefochtenen Meinungsführer aufgestiegen. Allerdings war es weniger sein Aussehen gewesen, das ihn zum Außenseiter gemacht hatte. In Neumexiko, wo viele amerikanische Ureinwohner lebten, war er mit seinem dunklen Teint und dem blauschwarzen Haar kaum aufgefallen. Das, was ihn von anderen unterschieden hatte, war sein Hass gewesen. Diesen Hass zu spüren, war wie ein Rausch gewesen. Und dieser Rausch seine Macht. Er war bösartig und grausam und stolz darauf gewesen, dass alle - einschließlich der Lehrer - Angst vor ihm hatten. Zumindest bis sie in sein Leben trat.
Er hatte gerade im Zimmer der Schulleiterin wieder einmal nachsitzen müssen, als eine Sozialarbeiterin mit einem kleinen
Mädchen auf dem Arm hereinkam. Das Erste, was ihm an der Kleinen auffiel, war ihr Haar gewesen. Es war fast so schwarz gewesen wie sein eigenes. Und das zweite die Tränen, die in ihren großen braunen, vor Angst geweiteten Augen gestanden hatten. Sie hatte mit der einen Hand einen Teddy und mit der anderen eine alte Decke umklammert. Ihre Schuhe waren ungeputzt, und die Schleife, die ihr irgendjemand ins Haar gebunden hatte, war aufgegangen und hing schlapp nach unten.
Sie warf ihm einen forschenden Blick zu und schob sich einen Daumen in den Mund.
Er starrte sie finster an.
Nur prallte dieses finstere Starren gänzlich wirkungslos an ihr ab. Er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht, während sie ihn mit unverhohlener Neugier musterte.
Er starrte sie noch durchdringender an. Blödes kleines Ding. Er war in seinem Leben oft genug angeglotzt worden. Und er war nicht bereit, sich das bieten zu lassen, auch wenn sie noch so klein war.
Aber sein wütender Gesichtsausdruck schien sie nicht im mindesten zu beeindrucken. Genauer gesagt nahm die Kleine, nachdem die Sozialarbeiterin sie abgesetzt hatte, den Daumen aus dem Mund, und ging, die alte Decke hinter sich herzerrend, auf ihn zu. Zu seinem größten Unbehagen trottete sie durch das ganze Zimmer, bis sie dicht vor dem kleinen Tisch stehen blieb, an dem er saß. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn aus diesen großen Augen anschaute, und zum ersten Mal seit langer Zeit wusste Pharaoh Carn nicht genau, wie er reagieren sollte.
„Zieh Leine”, zischte er so leise, dass es die Erwachsenen nicht hörten.
Sie zuckte nicht mit der Wimper.
Er konnte nicht wissen, dass das Haar ihres Vaters ebenso
blauschwarz gewesen war wie sein eigenes und die Haut ihrer Mutter so glatt und braun wie seine. Er sah hur, dass ihn das kleine Mädchen, das eigentlich Angst vor ihm haben sollte, furchtlos anschaute.
„Francesca, stör den Jungen nicht. Bitte komm her”, forderte sie die Sozialarbeiterin auf, aber die Kleine rührte sich nicht von der Stelle.
Pharaoh sah die Frau aufstehen, und er konnte ihr ansehen, dass sie vorhatte, das Mädchen auszuschimpfen, weil sie sich weigerte zu gehorchen. In diesem Moment brach sich ein bislang unbekannter Beschützerinstinkt in ihm Bahn.
„Macht nichts”, brummte er. „Sie stört mich nicht.”
Die Frau runzelte die Stirn, zuckte die Schultern und wandte sich wieder der Rektorin zu.
„Wie alt bist du denn, Kleine?”
Das Mädchen hielt vier Finger hoch.
Pharaoh nickte, während er bei sich dachte, dass sie für ein Kind eigentlich ganz süß war. Und dieser Blick - er traf ihn trotz des Panzers, den er um sich herum errichtet hatte, mitten in sein Jungenherz.
Sie schauten sich an, während Pharaoh nach einer weiteren Frage suchte.
„Und du heißt Francesca, stimmt’s?”
Sie umklammerte ihren Teddy ein bisschen fester und nickte.
„Mein Daddy sagt immer Frankie zu mir”, verkündete sie schließlich. Und dann zitterten ihre Lippen, und die Tränen, die sich bereits angekündigt hatten, begannen zu fließen. „Meine Mommy und mein Daddy haben mich allein gelassen. Sie sind ohne mich in den Himmel gefahren.”
Pharaoh spürte, dass er einen roten Kopf bekam. Oh, verdammt noch mal. Was sollte er jetzt bloß machen? Er schaute auf,
überzeugt davon, dass man ihm die Schuld an ihren Tränen geben würde, aber die Erwachsenen waren in ihre Unterhaltung vertieft und beachteten sie nicht. Zu seiner Bestürzung schwoll der Tränenstrom noch weiter an. Pharaoh beugte sich, die Ellbogen auf die Oberschenkel aufgestützt, vor.
„He, Kleine, jetzt wein doch nicht. Ich hab auch keinen Daddy und keine Mommy mehr, deshalb bin ich hier. Deshalb sind wir alle hier.”
Sie dachte lange über seine Worte nach. „Und bist du auch traurig?” fragte sie schließlich.
Pharaoh richtete sich abrupt auf. „Nein”, brummte er unwirsch und wurde wieder rot, weil ihm bewusst wurde, dass es nicht richtig ist, der Kleinen so brüsk zu begegnen.
In der Befürchtung, man könnte ihm Vorwürfe machen, schnappte er sich einen Zipfel ihrer Decke und begann, ihr damit die Tränen abzuwischen.
„Na komm”, sagte er und hielt ihr das Stück Decke vors Gesicht, „schnaub dir die Nase.”
Pharaoh schrak aus dem Schlaf hoch und schaute auf die Uhr. Kurz nach vier Uhr morgens. Er musste dringend einmal raus. Er erwog, nach der Krankenschwester zu läuten, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Er war hier schließlich zu Hause. Bestimmt schaffte er es auch allein.
Er setzte sich stöhnend auf. Ihm tat alles weh, am meisten aber schmerzte sein Herz. In ihm war eine Leere, die auch im Lauf der Zeit nicht verschwinden würde, außer …
Francesca wurde vermisst. Aber er weigerte sich, den Gedanken, dass sie tot sein könnte, zuzulassen. Immerhin hatte man ihre Leiche unter dem Schutt seines Hauses nicht gefunden, und die Krankenhäuser waren überfüllt mit Verletzten, von denen ein
Teil immer noch nicht identifiziert war. Es gab also durchaus noch Hoffnung.
Er biss die Zähne zusammen, während er sich mühsam hochhievte und langsam und vorsichtig ins Bad tappte. Kurz darauf kam er wieder raus, warf einen Blick auf das zerwühlte Bett und trat ans Fenster.
Das Flutlicht leuchtete hell in der Dunkelheit. Im seinem Lichtkegel sah er zwischen den Büschen eine Bewegung. Vielleicht wieder ein Maulwurf. Er nahm sich vor, morgen dem Gärtner Bescheid zu sagen.
Er presste die Handflächen gegen die kalte Fensterscheibe.
„Sei am Leben, Francesca … und mach dich bereit. Ich komme bald, um dich zu holen.”