„Sie hat eine kleine Platzwunde am Kopf, die noch sehr frisch ist, deshalb nehme ich an, innerhalb der letzten drei Stunden.”
Bei dem Gedanken, wie wütend er offensichtlich zu Unrecht auf sie gewesen war, wich Clay alle Farbe aus dem Gesicht.
„Wird sie wieder gesund werden?” fragte er mit bebender Stimme.
Dr. Willis ließ sich Zeit mit einer Antwort.
Clay verspürte ein flaues Gefühl im Magen. „Was ist?”
Willis seufzte. „Falls es keine unvorhergesehenen Komplikationen gibt, rechne ich damit, dass es ihr körperlich bald wieder gut gehen wird.”
Clays Magen verkrampfte sich noch ein bisschen mehr. „Nur körperlich?”
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagten Sie, dass sie Ihnen verwirrt erschien.”
„Nun ja … sie wirkte schon sehr durcheinander”, murmelte Clay.
Willis nickte. „Wir müssen jetzt einfach abwarten. Es kann durchaus sein, dass sie sich momentan tatsächlich an nichts erinnert. Sie hat eine Gehirnerschütterung. Wenn dann noch Stress und ein seelisches Trauma hinzukommen, ist eine parzielle Amnesie keine Ausnahme.”
Clay schaute wieder auf Frankie. „Wird sie es zurückbekommen? Ihr Erinnerungsvermögen, meine ich.”
„Wir hoffen es, Mr. LeGrand, aber eine Garantie gibt es nicht.”
„Sie meinen, es kann sein, dass ich nie erfahre, was mit ihr passiert ist?”
„Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass sie wieder vollständig gesund wird.” Dr. Willis versuchte, ermutigend zu klingen. „Aber bis dahin werden Sie Geduld haben müssen.”
Clay seufzte. Er hätte gern etwas anderes gehört.
„Oh, jetzt hätte ich es fast vergessen”, sagte der Arzt. „Da draußen warten zwei Detectives auf Sie.”
Nachdem er noch einen Blick auf Frankie geworfen hatte, ging Clay zur Tür.
Als er auf den Flur trat, stand Avery Dawson auf. Sein Partner Ramsey bog soeben mit zwei Bechern Kaffee in der Hand um die Ecke.
„Dr. Willis sagte, Sie möchten mich sprechen?” erkundigte sich Clay.
Dawson nahm den Becher entgegen, den Ramsey ihm hinhielt, und forderte Clay auf, ihm zu einem ruhigeren Platz zu folgen. „Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, dass es heute Mittag um zwei in der Innenstadt einen schweren Auffahrunfall gab. Ein Greyhound stieß mit einem Sattelschlepper zusammen und mehrere andere Autos konnten nicht mehr rechtzeitig bremsen, darunter ein gelbes Taxi.”
Clay presste die Kiefer zusammen. Mein Gott, war es das, wovon Frankie also gesprochen hatte?
Dawson überlegte sich seine Worte sorgfältig, bevor er fortfuhr: „Wir wissen nicht genau, ob es sich um Ihre Frau handelt, aber der Taxifahrer hat berichtet, dass ihm in dem ganzen Durcheinander sein weiblicher Fahrgast abhanden kam. Er beschrieb die Frau als jung und hübsch, mit schulterlangen dunklen Haaren.”
Clay riss die Augen auf. „Sie vermuten, es könnte Francesca gewesen sein?”
Dawson zuckte die Schultern. „Möglich. Aber wenn es tatsächlich Ihre Frau war, hat sie verdammtes Glück gehabt. Alle anderen am Unfall Beteiligten kamen entweder schwer verletzt ins Krankenhaus oder direkt in die Leichenhalle.”
„Mein Gott”, murmelte Clay. Er ließ sich auf den erstbesten Stuhl sinken und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Eine Sekunde später zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihm so nahe liegend erschien, dass er sich fragte, ob die Detectives der Spur womöglich bereits nachgegangen waren.
„Weiß man, wo die Frau eingestiegen ist?”
Ramsey nickte. „Am Busbahnhof. Der Taxifahrer sagt, sie wäre ihm fast ins Auto gelaufen, als sie aus dem Terminal gerannt kam. Und als sie einstieg, hat sie stark gezittert, aber er hat es auf den Regen geschoben. Außerdem ist ihm aufgefallen, dass sie sich ständig umdrehte, fast so, als ob sie Angst gehabt hätte, verfolgt zu werden.”
„Was machen wir jetzt?” fragte Clay, während er sich wieder erhob.
Dawson zuckte die Schultern. „Was sollen wir machen? Sie war vermisst, und jetzt ist sie zurück. Da gibt es nichts zu machen. Obwohl ich Sie bitten möchte, uns zu informieren, sobald sie sich erinnert und Ihnen irgendwelche Informationen gibt. Wir könnten vielleicht gewisse Dinge für Sie herausfinden.”
Clay starrte ihn an. „Ist das alles?”
„Hören Sie, Mr. LeGrand, wir können sonst nichts für Sie tun. Es ist kein Verbrechen, von zu Hause wegzugehen …”
„Das haben Sie vor zwei Jahren aber ganz anders gesehen”, sagte Clay aufgebracht, drehte sich um und ließ die beiden einfach stehen.
Zu wütend, um einen klaren Gedanken fassen zu können, kehrte er in das Krankenzimmer zurück.
Der Arzt war inzwischen gegangen. Bis auf das gelegentliche Piepsen der Überwachungsgeräte war es still im Zimmer. Clays Blick fiel auf Francescas Gesicht. Ihre Züge hatten sich nicht verändert, seit er weggegangen war. Was, wenn sie nie mehr aufwachte?
Er setzte sich an ihr Bett und nahm behutsam ihre Hand. Ihre Finger zuckten, und er wusste nicht, ob sie sich gegen die Berührung wehrte oder ob sie sie begrüßte. Widerwillig aufseufzend ließ er sie los. Sobald sie wieder ganz still dalag, stand er auf und trat ans Fenster.
„Clay?”
Er fuhr herum. Seine Mutter stand an der Türschwelle.
„Mom, du hättest nicht noch einmal kommen müssen.”
Betty LeGrand zuckte die Schultern und hielt eine kleine Reisetasche hoch. „Ich dachte mir, du könntest das hier vielleicht brauchen.”
Clay lächelte ihr zu und machte eine einladende Handbewegung.
„Wie geht es ihr?” erkundigte sich Betty.
„Unverändert.”
„War das ihr Arzt, der mir gerade auf dem Flur begegnet ist?”
Clay nickte.
Betty stellte die Tasche ab und zog ihren Mantel aus, den sie im Vorübergehen über einen Sessel warf, bevor sie sich zu Clay ans Fenster gesellte.
„Und … hast du vor, mir freiwillig zu erzählen, was er gesagt hat, oder muss ich energischer nachbohren?”
Clay seufzte. „Sie vermuten, dass sie wahrscheinlich bei einem Autounfall eine partielle Amnesie davongetragen hat. Jetzt kann man nur hoffen, dass ihr Erinnerungsvermögen irgendwann wieder zurückkehrt. Dass sie Drogen genommen hat, schließen die Ärzte eher aus. Alles, was sie nachweisen konnten, waren leichte Spuren irgendeines Schlaf- oder Beruhigungsmittels.”
Betty spitzte nachdenklich die Lippen; dann drehte sie sich zum Bett um und sagte: „Alles andere hätte mich auch gewundert.”
Verbittert sah Clay sie an. „So? Hätte es? Dann sag mir bitte, warum ich nicht genauso viel Vertrauen in sie gesetzt habe wie du, Mom. Ich bin immerhin ihr Mann.”
Betty schaute liebevoll zu ihrem Sohn. Sie fühlte mit ihm, aber das Mitgefühl für Frankie war nicht kleiner.
„Weißt du, meine Mutter hat immer gesagt, je größer die Liebe, desto größer der Schmerz, wenn irgendetwas schief geht. Du bist durch die Hölle gegangen, Clay. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwer ist, unter diesen Umständen objektiv zu bleiben.”
Er trat wieder an Francescas Bett. „Aber weißt du, was noch viel schlimmer ist?”
Betty folgte ihm und strich ihm mit der Hand tröstend über den Rücken. „Was denn?”
Clay schluckte mehrmals, bevor er mühsam herausbrachte: „Dass ich nicht weiß, was ich jetzt für sie empfinde.”
Betty schloss kurz die Augen und suchte nach den richtigen Worten.
„Das ist verständlich”, sagte sie schließlich. „Aber stell dir vor, wie Frankie sich fühlt, wenn die Ärzte Recht haben und sie wirklich an einer Amnesie leidet. Offenbar sind die letzten zwei Jahre aus ihrer Erinnerung einfach gelöscht, das heißt, sie macht da weiter, wo euer gemeinsames Leben aufgehört hat. Und das bedeutet wiederum, dass ihr Herz immer noch dir gehört, egal ob du sie willst oder nicht.”
Clay schüttelte den Kopf. „Ich wollte damit nicht sagen, dass ich sie nicht mehr liebe”, verwahrte er sich. „Ich weiß nur einfach nicht, ob ich ihr je wieder vertrauen kann.”
Betty zuckte die Schultern. „Das wirst du erst wissen, wenn du es versucht hast.”
Nachdenklich starrte Clay ins Leere. „Ja, Mom, da hast du wohl Recht”, sagte er nach kurzem Schweigen.
Betty tat ihr Sohn entsetzlich Leid. Die ganze Situation war schon schrecklich genug, aber sie musste es ihm sagen, auch wenn es seine Verwirrung noch vergrößern würde. Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ich war vorhin noch kurz bei dir”, begann sie.
Clay dachte an den kleinen Koffer, den sie mitgebracht hatte.
„Und?”
„Ich dachte mir, Frankie könnte ein paar Dinge brauchen. Dabei hatte ich ganz vergessen, dass du ihre Sachen weggeräumt hast. Es dauerte eine Weile, bis ich sie schließlich fand.”
„Ja, danke”, sagte Clay.
„Nichts zu danken. Aber ich wollte dir etwas anderes erzählen.”
Clay erkannte den beunruhigenden Unterton in der Stimme seiner Mutter und drehte sich zu ihr um.
„Was denn?”
Betty schob wortlos ihre Hand in ihre Hosentasche und zog ein Bündel Geldscheine hervor.
„Das war zusammen mit einer Hose und einer Bluse im Wäschetrockner. Ich fürchte, die Kleider sind ruiniert - man hätte sie nur reinigen lassen dürfen. Aber die Scheine hier haben es bis auf die Tatsache, dass sie ein bisschen zerknittert sind, offenbar gut überstanden.”
Clay war sprachlos vor Überraschung, und als ihm seine Mutter das Bündel Geldscheine hinhielt, wurde ihm fast schlecht.
„Großer Gott”, murmelte er und nahm die Hundertdollarnoten mit spitzen Fingern entgegen, als haftete ihnen Unheil an. „Wie viel ist es?”
„Eintausendfünfhundertfünfzig Dollar.”
„Im Wäschetrockner?”
Betty nickte. „Zwei Scheine waren noch in Frankies Hosentasche. Die anderen sind wahrscheinlich beim Trocknen herausgefallen.”
Er sank in einen Sessel, wobei er immer noch auf das Geld starrte, und sagte sarkastisch: „So, so. Dann war also einer meiner schlimmsten Albträume von ihr definitiv falsch.”
„Welchen meinst du?”
„Der, in dem ich geträumt habe, dass man sie bestialisch quälte und beinahe verhungern ließ.”
„Tut mir Leid, Clay. Ich weiß, dass dieser Fund noch mehr Fragen aufwirft, aber wir sollten dennoch keine übereilten Schlussfolgerungen ziehen. Das Beste ist wahrscheinlich abzuwarten, was Frankie sagt, wenn sie aufwacht.”
Clay schaute auf. „Es geht nicht darum, was sie sagt. Entscheidend ist, ob ich beschließe, ihr zu glauben.“
Südkalifornien
Auch Tage nach dem Erdbeben wurde die Erde immer noch von leichten Nachbeben erschüttert, die die Bergungsarbeiten behinderten und die fortdauernde Suche nach Überlebenden erschwerte. Der süßliche Verwesungsgeruch machte es ohnehin leichter, die Toten zu finden als die, die in den Ruinen noch auf Rettung hofften.
Die luxuriöseren Häuser lagen zudem oft entlegener, und obwohl die Rettungsmannschaften auch von diesen Unglücksorten wussten, hatte ihr erstes Augenmerk den verheerenden Verwüstungen in den stärker besiedelten Gegenden gegolten, die von den über dem Katastrophengebiet kreisenden Polizeihubschrauber gemeldet worden waren. Doch als ein Hubschrauberpilot ein halb in sich zusammengestürztes Haus in einem der Canyons entdeckte, hatte er über Funk sofortige Hilfe angeordnet.
Pete Daley gehörte schon seit über zehn Jahren zum Katastrophenschutzteam von San Francisco. Er war ein alter Hase, der glaubte, bereits alles gesehen zu haben, aber als der Fahrer ihres Rettungswagens plötzlich in eine dicht bewaldete Gegend einbog, runzelte er die Stirn.
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig ist?” fragte er.
Sein Partner Charlie Swan zuckte die Schultern. „Nein, aber eine andere Straße steht nicht auf der Karte.”
Pete sah genervt zu ihm rüber. „Und warum sind wir dann …”
Charlie unterbrach ihn und deutete auf den in einiger Entfernung am Himmel kreisenden Hubschrauber.
„Er hinterlässt zwar keine Spur aus Brotkrumen, aber er dreht da jetzt schon seit fünf Minuten seine Runden. Ich nehme an, dass es dort ist.”
Pete nickte, und ein paar Minuten später erreichten sie die traurigen Überreste einer großen Villa. Um zu verhindern, dass das Auto unter nachrutschendem Schutt begraben wurde, stellten sie es in einiger Entfernung ab. Dann schnappten sie sich ihre Sachen, während die Leute vom Suchtrupp die Hunde von der Leine ließen. Kurze Zeit später betrat ein Teil der Bergungsmannschaft das Haupthaus, während ein anderer zu einem Seitenflügel hinüberging, der ebenfalls eingestürzt war.
Fast umgehend begann ein Hund zu winseln und schoss auf einen Schutthaufen am Fuß der Treppe zu.
„Da ist irgendetwas!” rief der Halter.
Helfer begannen, das Geröll zur Seite zu räumen, und Sekunden später entdeckten sie einen Fuß.
„Verdammt”, brummte Pete, während er sich in der Erwartung, kalte leblose Haut zu berühren, hinkniete. Doch als er das männliche Gelenk berührte, spürte er trotz der Gummihandschuhe, die er trug, warmes Fleisch.
„Wir haben hier einen Überlebenden!” schrie er. „Holt ihn so schnell wie möglich da raus!”
In mühsamer Kleinarbeit wurde der Schutt Stück um Stück abgetragen, wobei die Angehörigen der Bergungsmannschaft zu verhindern suchten, dass Trümmer herabstürzten und so die gesamte Bergungsaktion gefährdeten.
„Schau dir das an”, bemerkte Charlie, während er auf die heruntergestürzten Balken und ein Stück Mauerwerk deutete, das über dem Verletzten eine Art Schutzdach bildete. „Ohne das hätte er nicht überlebt.”
Pete begann, die Reflexe zu überprüfen, während Charlie dem Mann eine Halsmanschette anlegte und ihn auf eventuelle Knochenbrüche abtastete. Die Lebenszeichen des Opfers waren ebenso schwach wie das ununterbrochene Flüstern, das über seine blutverkrusteten Lippen kam.
„Sieh mal nach, ob dieser Hubschrauber vom Fernsehen immer noch da ist. Der Mann schwebt in Lebensgefahr und kann nicht auf einen Rettungshubschrauber warten.”
Innerhalb von Minuten hatten sie den Mann stabilisiert und auf einer Trage festgeschnallt. Zwei Männer trugen ihn zu dem wartenden Hubschrauber.
„Ich fliege mit und komme so schnell wie möglich zurück”, sagte Pete. „Du gehst inzwischen mit den Hunden rein. Vielleicht gibt es ja noch mehr Überlebende.”
Charlie nickte und sprintete zur Villa zurück.
Geblendet von der Sonne, kniff Pete die Augen zusammen, während er schnellen Schrittes neben der Trage herging. Da begann der Mann zu stöhnen.
„Alles wird wieder gut”, versuchte Pete ihn zu beruhigen. „Wir tun für Sie, was wir können.”
„Frau … suchen Sie meine Frau.”
Pete verstand genau und zögerte keine Sekunde. Er griff nach seinem Funkgerät.
„Daley hier”, sagte er, als die Verbindung stand. „Das Opfer redet von einer Frau. Seht zu, ob ihr sie findet. Sie muss in der Nähe gewesen sein.”
„Roger”, sagte der Mann am anderen Ende knapp.
Die Lider des Verletzten flatterten, bevor er kurz aufseufzte und erneut das Bewusstsein verlor.
Bald machte das ohrenbetäubende Knattern der Hubschrauberrotoren jede Unterhaltung unmöglich, und dennoch konnte Pete nicht anders, als beruhigend auf den bewusstlosen Mann einzureden - vielleicht brauchte er diesen Trost auch selbst.
„Halten Sie durch, Kumpel”, sagte Pete, während sie den Verletzten in das Innere hievten. „Nicht mehr lange, und Sie sind im Krankenhaus.”
Dann kletterte er selbst in den Hubschrauber, um sich schließlich neben die festgezurrte Bahre auf den Boden zu setzen.
„Geht das nicht etwas behutsamer?” schrie Pete dem Piloten zu und hielt sich an einem Sitz fest, da der Hubschrauber stark ruckte.
„Tut mir Leid!” brüllte der Pilot. „Wir haben Seitenwind.”
Pete verzog genervt das Gesicht, konnte aber beruhigt aufatmen, als sie wenige Minuten später doch stabil in der Luft lagen. Pete konnte für den Verletzten wenig mehr tun, als sich davon zu überzeugen, dass mit dem Tropf alles in Ordnung war und ihn aufmerksam zu beobachten.
Der Mann sah aus wie ein Ausländer, aber das war in L.A. normal. Unter schwarzen gewölbten Augenbrauen lagen die Augen tief in ihren Höhlen. Die Form der Nase und die starke Ausprägung der Wangenknochen legten nahe, dass er eventuell aus dem mittleren Osten stammte. Er hatte von Natur aus einen
dunklen Teint, wie man immer noch sah, obwohl seine Haut jetzt aschfahl und staubbedeckt war. Als Pete sich noch einmal nach der Villa umdrehte und überrascht das gewaltige Ausmaß der Zerstörung registrierte, schüttelte er ungläubig den Kopf. Es war wirklich ein Wunder, dass der Mann neben ihm noch am Leben war.
„Ich wette, Sie sind ein verdammt zäher Kunde, was, Kumpel?” Aber der Mann antwortete nicht.
Ein paar Minuten später machten sie sich bereits zur Landung bereit. Als sie auf der Landefläche des Krankenhausdachs aufsetzten, überprüfte Pete ein letztes Mal die Reflexe des Mannes, um den Ärzten sofort alle wichtigen Informationen geben zu können. Wenig später kam ihnen vom Eingang der Notaufnahme das Einsatzteam entgegen. Pete sprang aus dem Hubschrauber und half dem Pflegepersonal, die Trage auf einer fahrbaren Bahre zu befestigen.
Auch auf dem Weg in die Ambulanz ließ Pete den Mann keine Sekunde aus den Augen und gab dabei die wenigen wichtigen Informationen, die er hatte, an die Schwestern weiter. Als er einen Schritt beiseite trat, warf eine von ihnen einen Blick in das Gesicht des Verletzten.
„Großer Gott! Das ist ja Pharaoh Carn!”
Für einen Moment sahen alle schweigend und schockiert zu dem Patienten, bis die Pfleger erneut in hektische Betriebsamkeit ausbrachen. Das Leben des Verletzten zu retten hatte oberste Priorität. Dafür war es unerheblich, dass in L.A. jeder wusste, wer Pharaoh Carn war: der Kopf eines gefürchteten Drogenringes nämlich.
Als sich die automatischen Türen hinter den Bahre und dem Notfallteam schlossen, machte Pete Halt und lief zu dem wartenden Hubschrauber zurück. Den ganzen Weg zu seinem Einsatzort dachte er über die Frau nach, die Pharaoh Carn erwähnt hatte. Sie musste ihm sehr wichtig sein. Sie war das Einzige gewesen, nach dem er sich erkundigt hatte. Er hatte wissen wollen, ob man sie gefunden hatte. Pete fragte sich, ob sie noch lebte.
4. KAPITEL
Während der vergangenen anderthalb Tage war Clay nur nach Hause gefahren, um zu duschen und seine Kleider zu wechseln. Seine Eltern hatten sich zwar angeboten, ihn am Krankenbett abzulösen, damit er schlafen konnte, aber er hatte abgelehnt. Er hatte Angst. Er hatte Angst, Frankie wieder zu verlieren, wenn er sie allein ließ, selbst wenn es nur für eine Minute war. Ab und zu übermannte ihn dennoch der Schlaf, und er döste auf dem Stuhl neben ihrem Bett ein, während der Zeit aber, die er im Wachzustand verbrachte, schaffte er es nicht, seinen Blick von ihrem Gesicht loszureißen.
Sie sah genauso aus wie früher - und doch gab es da kleinere Veränderungen, die ihm keine Ruhe ließen. Sie trug ihr Haar jetzt etwas kürzer. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie ohne ihn gelebt haben mochte. Wie sie sich Kleider und Lebensmittel gekauft hatte. Wie sie zum Frisör oder ins Kino gegangen war, wie sie sich Filme angesehen hatte, die sie zum Weinen brachten. Der Gedanke, dass sie mit all diesen alltäglichen Dingen beschäftigt war, während er innerlich starb, mutete ihm irgendwie obszön an.
Aber außer den offensichtlichen stellte er auch noch andere Unterschiede zu früher fest. Ihr Gesicht war schmaler geworden, der Teint blasser. Er nahm einen Zug um ihren Mund wahr, der früher nicht da gewesen war, und zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine haarfeine Falte gebildet. Ihr Gesichtsausdruck war der einer Frau, die viel gelitten hat.
Und abgesehen von dem mysteriösen Geld war da auch noch eine Tätowierung, die ihm Rätsel aufgab.
Die hatten sie erst gestern Morgen entdeckt, als die Krankenschwestern Frankies Bett frisch bezogen hatten. Als man sie auf die Seite gerollt hatte, um das Laken zu wechseln, war ihr Haar
nach vorn gefallen und hatte in ihrem Nacken dicht unterhalb des Ansatzes eine kleine goldene Tätowierung freigelegt.
Eine der Krankenschwestern hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Für Clay war der Anblick des Tattoos ein weiterer Stich ins Herz gewesen. Er hatte den Umriss mit einem Finger nachgezeichnet und sich vorzustellen versucht, in was für einer Stimmung sie gewesen sein mochte, als sie sich für die Tätowierung entschied, aber es gelang ihm nicht.
„Es ist so eine Art heiliges Kreuz”, sagte die Krankenschwester. „Ich habe so etwas früher schon gesehen, aber ich habe vergessen, wie man es nennt.”
„Es ist ein Henkelkreuz”, murmelte Clay. „Ein ägyptisches Symbol des ewigen Lebens, glaube ich.”
Die Krankenschwester warf ihm einen neugierigen Blick zu, sagte jedoch nichts weiter. Die ganze Station wusste Bescheid. Immerhin war das Gesicht dieses Mannes fast ebenso oft im Lokalfernsehen zu sehen gewesen wie das des Quarterbacks der heiß umjubelten Denver Broncos.
Sie lächelte Clay an, dann zupfte sie noch ein letztes Mal an Frankies Laken. „So, fertig. Jetzt hat sie es wieder sauber und frisch. Ich komme später noch einmal, um den Tropf nachzufüllen.”
Clay hasste das Mitgefühl, das man ihm plötzlich entgegenbrachte, fast ebenso sehr wie die haltlosen Verdächtigungen, denen er früher ausgesetzt war. So war er auch froh, wieder allein zu sein, als die Krankenschwestern fort waren. Er brauchte die Einsamkeit für seine Grübeleien, selbst wenn sie ihm keine Antwort auf die Frage lieferte, wo Frankie die ganze Zeit über gewesen war. Er konnte jetzt nur warten, bis sie aufwachte. Alles andere würde sich später finden. So hoffte Clay wenigstens.
Nachdem es dreiunddreißig Stunden ununterbrochen geschüttet
hatte, klarte der Himmel über Denver endlich auf. Die Straßen glänzten wie frisch gewienert, während die letzten Rinnsale in den Gullys versickerten. Die nach Herbst riechende Morgenluft war kalt und klar. Die Blätter hatten sich schon vor Wochen verfärbt, und die schneebedeckten Spitzen der Rocky Mountains waren eine ständige Erinnerung an den bevorstehenden Winter.
Als Frankie erwachte, fand sie Clay in einem Sessel schlafend neben ihrem Bett. Sie zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, während sie versuchte, sich an einen Traum zu erinnern, in dem Palmen vorgekommen waren. Gleich darauf zuckte sie zusammen, geblendet von den Strahlen der frühen Morgensonne.
„Au”, stöhnte sie.
Zusammen mit ihrem nächsten Atemzug schrak Clay aus dem Schlaf hoch.
„Francesca?”
Sie schluckte. Ihre Zunge fühlte sich schwer an. „Was ist passiert? Wo bin ich?” fragte sie benommen.
„Du bist im Krankenhaus”, sagte er. „Lieg still. Ich hole eine Schwester.”
„Nein, warte.”
Aber er war bereits weg. Sie schaute sich mit einem Aufseufzen in dem Raum um und versuchte, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zusammenzusetzen. Es hatte geregnet, und sie hatte zu Hause auf Clay gewartet. Irgendwann war sie eingeschlafen und dann …
An diesem Punkt hörte alles auf. Sie versuchte es noch einmal, ein Stück weiter vorn beginnend.
Sie war draußen im Regen gewesen. Aber wo und warum? Sie schloss die Augen und verdrängte die fruchtlosen Gedanken. Plötzlich aber sah sie sich aus einem Gebäude herauslaufen. Sie konnte sich erinnern, wie ihr das Regenwasser hinten an den Beinen hochgespritzt und in die Schuhe gesickert war. Und sie erinnerte sich auch, dass sie einem Taxi gewunken und ein Gefühl von unendlicher Erleichterung verspürt hatte, nachdem sie dem Fahrer ihre Adresse genannt hatte. Danach aber konnte sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie wusste zwar, wie sie sich durch den Verkehr geschlängelt haben, aber das war in einer Stadt wie Denver kein besonders konkreter Hinweis.
Und dann? Sie runzelte die Stirn. Ein Bus? Sie zuckte zusammen, als sie wieder vor sich sah, wie er um die Ecke bog. Hatte sie einen Unfall gehabt? War sie deshalb hier? Sie erinnerte sich daran, dass sie Schmerzen gehabt hatte und gleich darauf erneut nass geworden war. Danach an den Wunsch, nach Hause zu Clay zu kommen, ein Wunsch, der so stark gewesen war, dass er offenbar alles, was sonst noch gewesen war, aus ihrem Gedächtnis löschte.
Ein Lautsprecherausruf riss sie für einen Moment aus ihren Gedanken. Dann aber sah. sie den Topf mit den verdorrten Geranien auf der Veranda vor sich, aus dem sie den Ersatzschlüssel geholt hatte und ins Haus gegangen war.
Sie atmete wieder tief durch, während sie versuchte, sich alles, was sie im Haus gemacht hatte, zu vergegenwärtigen. Was hatte sie getan, nachdem sie es betreten hatte? Ach, ja, die Wäschekammer. Ihre Kleider waren nass gewesen, deshalb war sie in die Wäschekammer gegangen und hatte sie in den Trockner geworfen. Auf dem Weg durch die Küche hatte sie eine Tablette gegen ihre rasenden Kopfschmerzen genommen, dann hatte sie sich eins von Clays Hemden angezogen und war ins Bett gekrochen.
Sie umklammerte unbewusst ihre Zudecke, während sie versuchte, sich einen Weg durch den Dschungel kurz aufblitzender Erinnerungsfetzen zu bahnen.
Plötzlich hörte sie vom Flur lautes Rumoren. Bevor sie die
Geräusche zuordnen konnte, wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. Sie rang nach Luft. Im Gegenlicht zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab. Sie keuchte. Obwohl ihr Herz ihr sagte, dass der Mann Clay war, sagte ihr Verstand etwas anderes. Der Drang zu fliehen, war so stark, dass sie ihre Decke zurückwarf und anfing, sich die Schläuche und Kabel abzureißen, die sie mit den Apparaten verbanden.
Clay rannte zu ihr und bekam sie noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie aus dem Bett springen konnte.
„Nicht, Frankie!”
„Lass mich los!” schrie sie und begann zu weinen. „Bitte lass mich los. Ich will nicht sterben.”
Er erschauerte. Die wilde Verzweiflung, die sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, war erschreckend und schockierte Clay mehr als die Einstichstellen in ihren Armbeugen. Diese Frau war eine Fremde. Als sie ausholte und ihm mit voller Kraft ins Gesicht schlug, starrte er sie fassungslos an. Blut lief ihr den Arm hinab, das aus den Wunden tropfte, in denen eben noch die Kanülen steckten. Erst der Anblick der roten Flecken auf dem ansonsten blütenweißen Laken riss ihn aus seiner Erstarrung.
Er hielt sie an den Armen fest und rief laut nach einer Krankenschwester.
Ihre Gesichtszüge waren gelähmt vor Angst, als sie versuchte, sich von ihm loszureißen und die Decke abzustrampeln, in der sie sich verheddert hatte. Gleich darauf stürmten zwei Krankenpfleger in das Zimmer und Clay wurde auf den Flur gezerrt.
Er sank auf einen Stuhl, beugte sich vornüber und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln auf. Seine Hände zitterten. Sein Hemd war mit ihrem Blut bespritzt. Durch die geschlossene Tür hörte er sie immer noch weinen. Angespannt biss er die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskeln zuckten. Clay zwang sich,
einmal tief durchzuatmen. Wenn er sich nicht zusammenriss, würde auch er gleich in Tränen ausbrechen. Schon zum zweiten Mal war sein Leben die Hölle.
Wenig später betrat der Arzt das Krankenzimmer. Als er wieder herauskam, stand Clay auf.
„Geht es ihr besser?”
Der Arzt nickte.
„Was hatte sie denn?” erkundigte sich Clay.
„Ich bin mir nicht sicher; ins Unreine gesprochen würde ich sagen, sie leidet an einer Art traumatischem Flashback. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Wenn sie sich körperlich ein bisschen erholt hat, sollten Sie vielleicht eine Therapie ins Auge fassen.”
Ein Psychiater? Himmel, was denn noch alles? Clay atmete langsam aus und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
„Hatte sie einen Nervenzusammenbruch?”
Der Arzt lächelte. „Nein, Mr. LeGrand, nichts dergleichen. Sobald sie sich ein bisschen erholt hat, werden wir sehen, woran sie sich erinnert und dort anknüpfen.”
Clay akzeptierte die Erklärung, aber da war etwas in seinem Hinterkopf, das ihm keine Ruhe ließ. Sie war zwei Jahre lang weg gewesen. Ihre Rückkehr war so plötzlich und unerklärlich erfolgt wie ihr Verschwinden. Er hasste es zu fragen, weil es ihm wie ein Verrat an Frankie erschien. Aber er musste es einfach wissen.
„Sagen Sie, Doktor…”
„Ja?”
„Könnte sie diese Erinnerungslücken einfach nur vortäuschen?”
Der Arzt ließ sich Zeit mit seiner Antwort und gab schließlich mit einem Schulterzucken zurück: „Sie könnte es, aber ich bezweifle, dass sie es tut.”
Clay nickte. Es war zwar nicht unbedingt genau das, was er zu hören gehofft hatte, aber es half immerhin, einige seiner Zweifel auszuräumen.
„Mr. LeGrand, ich weiß, es ist frustrierend, aber versuchen Sie es auch mal vom Standpunkt Ihrer Frau zu sehen. Wenn es da an ihrem Verschwinden vor zwei Jahren wirklich etwas Unheilvolles gab, ist ja wohl sie diejenige, die am meisten zu verlieren hat, nicht wahr?”
Nach diesen Worten drückte der Arzt kurz tröstlich Clays Arm und wandte sich dann ab.
Clay sank wieder auf den Stuhl und schaute zu Boden. Er hatte das Gefühl, jeden Moment die Nerven zu verlieren. Er wusste nicht mehr, wem er trauen oder glauben konnte. Er wünschte sich verzweifelt Antworten auf seine Fragen, aber die würde er erst bekommen, wenn es Frankie besser ging.
„Mr. LeGrand.”
Clay schaute auf. Eine der Krankenschwestern hatte leise das Zimmer betreten.
Ja?”
„Ihre Frau möchte Sie sehen”, sagte sie.
Clay stand auf, aber sein Zögern blieb nicht unbemerkt.
„Nur Mut. Das wird schon”, versuchte die Schwester ihn zu trösten. „Sie war vorhin noch nicht ganz bei sich. Das sollten Sie nicht persönlich nehmen. Komischerweise erwähnte sie eben ein Erdbeben.”
Ein Erdbeben? Er erinnerte sich vage, in den Nachrichten irgendetwas von einem Erdbeben gehört zu haben.
„Sie hat Beruhigungsmittel bekommen, deshalb ist sie wahrscheinlich durcheinander”, setzte die Krankenschwester hinzu. „Läuten Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen. Dann kommt sofort jemand.”
Zusammen gingen sie aus dem Zimmer, und vor Frankies Tür blieb Clay stehen.
Ein Erdbeben. Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Das war die dritte Spur, die zu des Rätsels Lösung führen könnte. Zuerst das Geld, dann die Tätowierung und nun dies. Er klopfte an und betrat den Raum, ohne auf ihr Herein zu warten. Ihr blutiges Nachthemd und die Bettwäsche waren gegen frische Sachen ausgetauscht worden. Die Kanüle steckte wieder in ihrem Handrücken. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht fast so weiß wie das Laken, das sie sich bis unter das Kinn gezogen hatte. Aus Angst, eine weitere Panikattacke auszulösen, stand Clay zunächst abwartend da.
Frankie, die seine Anwesenheit zu spüren schien, öffnete die Augen.
„Clay?”
Er atmete tief durch, ging auf das Bett zu und blieb am Fußende stehen. „Ja, ich bin’s.”
Ihr schossen Tränen in die Augen. „Es tut mir so Leid. Ich weiß nicht, was eben in mich gefahren ist. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ein Erdbeben mitzuerleben.” Sie wandte den Kopf ab. „Und ich glaube, ich habe dich mit jemand anderem verwechselt.”
Sein Herz machte einen Satz. „Mit wem, Frankie? Für wen hast du mich denn gehalten?”
Sie überlegte lange. Schließlich schüttelte sie den Kopf und seufzte. „Ich kann mich nicht mehr erinnern.”
Clay lief es kalt über den Rücken. Konnte er ihr glauben? Er atmete leise aus. Was zum Teufel sollte er tun? Seinen Groll begraben? Aber konnte er das?
„Es ist okay”, sagte er.
Frankie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, es ist überhaupt
nicht okay. Nichts ist okay.” Sie streckte ihre Hand aus. „Komm, setz dich zu mir. Ich muss dir etwas erklären.”
Er zog sich einen Stuhl neben ihr Bett. „Ich glaube, du solltest besser nicht so viel sprechen”, murmelte er.
„Setz dich zu mir … bitte”, sagte sie.
Er stand von seinem Stuhl auf und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
Frankie kämpfte gegen ihre Tränen an und biss sich fest auf die Unterlippe. Seine Reserviertheit war nicht zu übersehen, aber daraus konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. Wie sollte denn er sie verstehen, wenn sie selbst nicht einmal wusste, was geschehen war? Wie sollte sie erklären, wie sie sich gefühlt hatte, als sie erfuhr, dass sie die letzten zwei Jahre gar nicht an der Seite ihres Mannes verbracht hatte?
„Clay?”
„Was ist?”
„War ich wirklich die ganze Zeit über weg?”
Er musterte sie aus argwöhnisch zusammengekniffenen Augen. „Ja.”
Wieder biss sie sich auf die Unterlippe, um sich vom Weinen abzuhalten. Sie hatte Angst. So schreckliche Angst. Und Clay wirkte so weit weg - und wütend. Zwei Jahre. Mein Gott, wo bin ich gewesen? Und warum kann ich mich nicht erinnern?
Sie holte tief und zitternd Atem. „Du hasst mich, nicht wahr?”
Clays Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Nein, Francesca, ich hasse dich nicht.”
Sie schaute ihm forschend in das ihr so vertraute Gesicht. Obwohl er dicht neben ihr saß, war die Distanz deutlich zu spüren. Mit beiden Händen umklammerte sie das Laken, mit dem sie zugedeckt war, und schaute ihm in die Augen, bis er ihrem Blick
auswich. Das war der Moment, in dem sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte.
Lieber Gott. Bitte nimm ihn mir nicht weg.
Obwohl sie fast nicht zu fragen wagte, war da immer noch etwas, das sie wissen musste. Sie räusperte sich und versuchte, das Durcheinander ihrer Gefühle zu kontrollieren.
„Clay?”
Er schaute sie erneut an. „Was ist?”
„Liebst du mich noch?”
Er erschauerte sichtlich und sprang unvermittelt auf. „Ich liebe dich seit dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe.”
Sie umklammerte das Laken noch ein bisschen fester. „Und warum höre ich da ein ‘Aber’ mitschwingen?”
Er zögerte kurz, doch als er antwortete, schaute er ihr fest in die Augen.
„Es gibt einen Unterschied zwischen Liebe und Vertrauen, Francesca. Ich liebe dich, aber ich weiß nicht, ob ich dir noch vertraue.”
Sie atmete tief aus und schloss die Augen. Was für ein Albtraum!
„Es tut mir so Leid”, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Das ist das Einzige, was ich dir sagen kann.”
„Schön wäre, du könntest mir zudem verraten, wo du gewesen bist, … was du gemacht hast.”
Sie erschauderte. Seine Stimme war so schroff, so verletzend. Aber bei sich selbst verspürte sie ebenfalls einen wachsenden Groll. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich im Stich gelassen. Es war nicht fair, wie er sie behandelte. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie Clay niemals freiwillig verlassen hätte. Und falls sie entführt worden war, hatte sie es zwar geschafft zurückzukommen, aber es war nicht auszuschließen, dass es noch einmal passierte.
„Sobald ich es weiß, werde ich es dir erzählen”, gab sie ebenso schroff zurück, bevor sie sich zur Wand drehte.
Ihre Reaktion überraschte ihn, und er spürte, dass erstes zartes Vertrauen in ihm aufkeimte. Vielleicht sagte sie ja doch die Wahrheit? Er musste dringend noch einmal mit den Detectives reden. Sie durften die Meldung von Frankies Rückkehr keinesfalls an die Medien weitergeben.
Tag vier nach dem Erdbeben
Selbst schwer verletzt und ans Bett gefesselt machte Pharaoh Carn noch Schlagzeilen. Aus den Trümmern seiner Villa hatte man allein ihn lebend geborgen. Für die anderen sieben Menschen, die sich im Haus aufgehalten hatten, kam jede Hilfe zu spät.
Duke Needham, Pharaohs persönlicher Assistent, hatte sich zum Zeitpunkt des Erdbebens im Ausland aufgehalten. Er hatte einen ganzen zermürbenden Tag nur auf Flughäfen verbracht, um nach L.A. zurückzukommen. Und dann sah er sich mit der ungeahnten Katastrophe konfrontiert und musste den Suchtrupps noch dabei zuschauen, wie sie die Toten unter dem Schutt hervorzogen.
Einen weiteren Tag brauchte er, um herauszufinden, in welches Krankenhaus man Pharaoh eingeliefert hatte. Nachdem er dort erfahren hatte, dass sein Boss immer noch bewusstlos war, hatte er sich auf die Suche nach Pharaohs Frau gemacht. Bis auf Pharaohs engste Vertraute wusste niemand von ihr, und nur diese wenigen Eingeweihten hatten Kenntnis davon, dass Pharaoh den größten Teil der letzten zwei Jahre versucht hatte, ihr Herz zu erobern, doch bis jetzt erfolglos, wie es schien.
Nach mehrtägiger gewissenhafter Suche wusste Duke nur, dass Pharaohs Frau nicht als tot gemeldet war. Ob sie tatsächlich ebenfalls überlebt hatte und nur in ein anderes Krankenhaus gebracht worden war, musste sich erst noch herausstellen. Es wäre einfacher gewesen, wenn er eine Vermisstenmeldung hätte aufgeben können, aber das wäre ungefähr so, wie wenn man einem Dieb eine Belohnung dafür anbot, gestohlenes Eigentum zurückzugeben. Dass die Frau unverletzt entkommen sein könnte, zog er nicht einmal in Erwägung. Nicht, nachdem er die Villa gesehen hatte.
Mehr aber konnte Duke nun auch nicht tun, denn der nächste Schritt musste von Pharaoh kommen; der jedoch war noch viel zu schwach, um etwaige Befehle geben zu können. Aber was verloren war, konnte er sich später immer noch zurückholen.
Ein paar Stunden nach dem Aufwachen ging es Frankie schon erheblich besser. Ihre gesundheitlichen Fortschritte waren erstaunlich. Am nächsten Morgen durfte sie sich bereits aufsetzen, und am Nachmittag konnte sie an Clays Arm langsam auf dem Flur auf und ab spazieren. Das trotzig nach vorn gereckte Kinn passte gut zu ihrer wilden Mähne. Sie wirkte wie ein rebellisches Kind, das sich über eine ungerechte Strafe empört.
„Ich will hier raus”, brummte sie. „Ich will mich nicht so hilflos fühlen.”
Clay seufzte. Das sagte sie nicht zum ersten Mal und es würde bestimmt auch nicht das letzte Mal sein. Ob er dasselbe wollte, wusste er allerdings nicht. Hier hatte der Arzt ebenso ein Auge auf sie wie die Krankenschwestern und er selbst. Zuhause würde er mit ihr allein sein. Und davor hatte er Angst. Wie sollte er in einen unbeschwerten Alltag zurückfinden, wenn er sich jeden
Morgen beim Weggehen fragen musste, ob sie bei seiner Rückkehr wohl noch da sein würde?
„Der Arzt will dich noch für eine Nacht hier behalten. Du musst ein bisschen Geduld haben, Frankie. Aber bald bist, du wieder zu Hause.”
Sie steuerte einen von zwei Stühlen vor einem Fenster an, von dem aus man auf die Stadt hinaus schauen konnte, und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Sie wusste nicht, wie sie das Gefühl von Dringlichkeit erklären sollte, das sie verspürte.
Sofort nach ihrem Aufwachen im Krankenhaus hatte sie den überwältigenden Drang verspürt wegzulaufen. Aber warum? Und wohin? Clay war das Wichtigste in ihrem Leben. Und das war, seit sie ihn kannte, nie anders gewesen. Das kleine, von seinen Eltern gemietete Haus war das erste richtige Zuhause, an das sie sich erinnern konnte. Sie liebte dieses Haus. Und sie liebte Clay. Warum also diese Panik?
„Ich weiß, aber…”
Sie seufzte, ließ ihren Satz unbeendet und schaute mit nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen auf ihre befremdlich dunkelrot lackierten Fingernägel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich diese Farbe selbst ausgesucht hatte. Welche Veränderungen mochte es wohl sonst noch an ihr geben?
„Clay?”
„Was ist?”
„Sehe ich anders aus?”
„Was meinst du mit anders?” ‘
Sie runzelte die Stirn und blinzelte wütend ihre Tränen weg. Sie hasste es, sich so entwurzelt zu fühlen.
„Ich meine körperlich. Bin ich dicker oder dünner? Und ist das meine echte Haarfarbe? Habe ich Narben, die ich früher nicht hatte?”
Clay setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Sie wirkte so aufrichtig. Wenn er ihr doch bloß glauben könnte.
„Du bist dünner, doch nur ein bisschen. Deine Haare sind kürzer, aber die Farbe ist dieselbe wie früher.”
Sie beobachtete, wie sich beim Sprechen seine Lippen bewegten, und obwohl sie die Worte hörte, dachte, sie nur daran, wie sich sein Mund auf ihrem Körper angefühlt hatte. Als er seine Finger mit ihren verschränkte, schaute sie darauf und erschauerte. Seine Hände. Sie hatte seine Hände immer geliebt. Sie waren kräftig und braungebrannt und schwielig von der Arbeit, und wenn er es darauf anlegte, waren sie so geschickt, dass sich ihr Körper in Sekundenschnelle in Gelee verwandelte.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Clay seinen Satz schon vor einer ganzen Weile beendet hatte. Sie errötete und schaute auf. In seinen dunklen Augen spiegelte sich Schmerz. Schmerz, dessen Ursache sie war. Und Wut. Sie erschrak und sah zur Seite.
Clay kannte seine Frau zu gut, um ihr Gefühlsregungen nicht zu erkennen, und er konnte auch den genauen Moment bestimmen, in dem sie daran gedacht hatte, mit ihm zu schlafen. Er hatte diesen Ausdruck zu oft auf ihrem Gesicht gesehen, als dass er ihm hätte entgehen können. Aber es schockierte ihn zu merken, in welch unterschiedlichen Welten sie doch lebten. Sie malte sich aus, mit ihm zu schlafen, während er zwischen Angst und Misstrauen hin und her gerissen war. Als Frankie sich abwandte, fiel sein Blick wieder auf die Tätowierung unter ihrem Haaransatz.
„Dieses Tattoo … was hat es eigentlich zu bedeuten?” brach es aus ihm heraus.
Frankie schaute Clay verständnislos an. „Was denn für ein Tattoo?”
Er zeichnete den Umriss mit dem Finger nach. „Na hier, hinter deinem Ohr.”
Mit aufflackernder Panik stieß sie seine Hand weg, um mit zitternden Fingern die von ihm bezeichnete Stelle zu betasten. Es war, als ob er sie auf eine Zecke aufmerksam gemacht hätte, die sich in ihr Fleisch gebohrt hatte.
„Ich fühle nichts”, murmelte sie und hätte am liebsten geweint.
Er nahm ihren Finger und legte ihn auf das goldene Henkelkreuz.
„Da.”
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn entsetzt an. „Was ist das, ein Henkelkreuz? Wie sieht es aus?”
Clay überraschte die Panik, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Damit hatte er nicht gerechnet. Allerdings hätte er auch nicht sagen können, womit genau er gerechnet hatte.
„Wie ein Kreuz, nur mit einer Art Schlaufe oben. Ich glaube, es ist ein ägyptisches Symbol.”
Jetzt trägst du mein Zeichen. Damit wirst du in den Augen der Welt immer mir gehören.” Worte, die in ihrem Kopf nachhallten.
Frankie schloss die Augen. „Fass mich nicht an”, flüsterte sie. „Ich werde dir nie gehören.”
Nach diesen Worten wurde sie ohnmächtig und fiel vornüber direkt in Clays Arme.
5. KAPITEL
Die Sonne schien kraftlos, aber hell, als die Schwester Frankie im Rollstuhl aus dem Krankenhaus schob. Als die kühle Luft durch ihren dünnen Pullover drang, erschauerte Frankie vor Kälte. Was Clay wohl mit ihren Kleidern gemacht haben mochte? Hatte er sie in dem Glauben, dass sie tot sei, weggegeben? Ihre Unterlippe zitterte, aber sie schaffte es, nicht zu weinen. Ihre vertraute Welt gab es nicht mehr, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, sie verlassen zu haben. Du lieber Gott, wie hatte das bloß alles passieren können?
Manchmal spürte sie, dass etwas an den Rändern ihres Bewusstseins zerrte. Die Gefühle, die sie im Moment durchlitt, erinnerten sie an jene, die sie nach dem Tod ihrer Eltern gequält hatten. Die Eltern und das glückliche Zuhause, eine Geborgenheit, die ihr von einem Moment auf den anderen genommen worden war. Und dann war sie, ehe sie sich versah, in diesem Waisenhaus gelandet, wo sie nachts unter der Bettdecke um ihre Mutter und ihren Vater geweint hatte, die für immer von ihr gegangen waren.
Und jetzt dies.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie vom Regen überrascht wurde und anschließend mit Kopfschmerzen nach Hause kam und ins Bett kroch. Damit begann ein Albtraum, der von Tag zu Tag schlimmer wurde. Die emotionale Distanz zwischen ihr und Clay war so unübersehbar, dass sie fast mit Händen zu greifen war, und das machte ihr schreckliche Angst. Clay war alles, was sie auf dieser Welt hatte. Wenn er sie verließ …
Sie erschauerte. Nicht auszudenken, was das für sie bedeuten würde.
„Ist Ihnen kalt?” fragte die Krankenschwester.
Frankie zuckte unschlüssig die Schultern. Es war einfacher zuzugeben, dass ihr kalt war, als sich selbst ihre Angst einzugestehen.
„Vielleicht ein bisschen.”
Die Krankenschwester schob den Rollstuhl in eine windgeschützte Ecke.
„Da kommt Ihr Mann ja schon”, sagte die Frau, während sie auf einen grauen Sedan deutete.
Frankie erkannte das Auto nicht, aber wie sollte sie auch? Ihre Stimmung verdüsterte sich noch weiter. In zwei Jahren konnte sich viel verändern.
Sie beobachtete, wie sich Clay einen Parkplatz suchte und aus dem Auto stieg. Als er auf sie zukam, schaute sie ihm blinzelnd entgegen. Dabei erinnerte sie sich an die erste Begegnung mit ihm. Sie hatte damals in einem Steakhouse gearbeitet, um sich ihr Studium zu finanzieren. Sie hatte ihn dabei ertappt, wie er sie quer durch den Raum beobachtete. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass sie ein Paar werden würden. Hatte sie ihm das eigentlich jemals erzählt?
Sie hob entschlossen das Kinn. Sie musste sofort aufhören, an die Vergangenheit zu denken, wo sie doch schon mit der Gegenwart nicht zurecht kam.
Sie wartete unbeweglich, während Clay herankam. Er war so betörend männlich. Sie war zwei Jahre nicht bei ihm gewesen, das war eine lange Zeit. Hatte er es irgendwann aufgegeben, auf sie zu warten, und sich eine andere Frau gesucht? Sie stöhnte leise auf. Allein bei der Vorstellung fühlte sie sich hundeelend.
„Mrs. LeGrand, haben Sie Schmerzen?” erkundigte sich die Krankenschwester sofort.
„Nein, es geht mir gut, danke”, murmelte Frankie, ihre Tränen wegblinzelnd. Es musste ihr gut gehen. Sie hatte keine andere Wahl.
Und dann war Clay auch schon bei ihr: Sie suchte seinen Blick, bemühte sich, seine Gedanken zu lesen. Sein Gesichtsausdruck war höflich distanziert. Frankie hätte schreien mögen.
„Ihre Frau friert”, sagte die Krankenschwester über Frankies Kopf hinweg zu Clay.
Clay schaute auf Frankies gekrümmte Schultern.
„Entschuldige, Honey, ich war in Gedanken,” sagte er, während er eilig sein Sakko auszog.
Als Frankie aus dem Rollstuhl aufstand, um zum Auto zu gehen, hielt Clay ihr das Jackett so hin, dass sie in die überlangen Ärmel hineinschlüpfen konnte.
Wieder musste sie sich Mühe geben, nicht zu weinen. Er hatte sie Honey genannt. Bedeutete das, dass er anfing, ihr zu vergeben, oder hatte er es nur aus Gewohnheit gesagt?
„Fahren Sie vorsichtig”, ermahnte ihn die Krankenschwester, während sie Clay half, Frankie auf den Beifahrersitz zu bugsieren.
„Jawohl, Ma’am”, sagte Clay.
Wenig später waren sie auf der Straße. Clay rang sich ein Lächeln ab und legte ihr wortlos kurz die Hand aufs Knie. Frankie versuchte gar nicht erst, sich einzureden, dass zwischen ihnen alles gut wäre. Eigentlich hätte sie bei dem Gedanken, endlich wieder nach Hause zu kommen, von Hochstimmung erfüllt sein müssen, doch sie verspürte nur eine fast überwältigende Panik. Und dennoch gab es da ein Gefühl von absoluter Gewissheit. Auch wenn sie sich nicht an die letzten beiden Jahre erinnern konnte, erinnerte sie sich doch der Liebe zu ihrem Mann. Sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie Clay nicht freiwillig verlassen hatte. Das hätte sie nie und nimmer getan. Unter gar keinen Umständen. Auch wenn Clay das glaubte.
Als Clay bei einer roten Ampel anhielt, wurde Frankie
schlagartig noch eine weitere Tatsache bewusst. Vorausgesetzt, sie war nicht freiwillig weggegangen, was für eine Garantie gab es dann, dass es nicht wieder passierte? Gott, was für ein Chaos.
„Clay?”
Er schaute gedankenverloren auf die rote Ampel, während er darauf wartete, dass sie auf Grün umsprang.
„Hm?”
„Ich habe keinen Job mehr, oder?”
Clay wirkte überrascht. „Aber nein, Honey.” Gleich darauf fügte er fast entschuldigend hinzu: „Zwei Jahre sind auch für den tolerantesten Arbeitgeber zu viel.”
Sie dachte an ihre Stelle in der Bibliothek, dann wandte sie den Blick ab. „Ich habe gern dort gearbeitet.” Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, als die Ampel umschaltete und Clay über die Kreuzung fuhr. „Sobald es mir besser geht, werde ich mich nach einem neuen Job umsehen.”
Er runzelte die Stirn. Wie sollte er sie beschützen, wenn sie jeden Tag zur Arbeit ging? „Das hat keine Eile”, wandte er hastig ein.
„Aber wir werden das Geld brauchen. Immerhin bezahlen wir damit… ich meine, damit haben wir früher sämtliche Nebenkosten bezahlt.”
Um sie nicht zu verletzen, wählte Clay seine Worte sorgfältig. „Jetzt ist alles ein bisschen anders. Wir brauchen das Geld nicht unbedingt, Ich habe vor einer Weile die Firma von Dad übernommen. Sie läuft gut. Mit einer Stelle hat es also keine Eile.”
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann war also in der Zwischenzeit einer ihrer Träume in Erfüllung gegangen, ohne dass sie etwas dazu beigetragen hatte. Sie fühlte Angst in sich aufsteigen. Was hatte sich in ihrer Abwesenheit sonst noch verändert? Bitte, Gott, mach, dass er mich noch liebt.
Ein paar Minuten verstrichen, und das Schweigen wurde immer erdrückender. Einfach nur, um etwas zu sagen, bemerkte Frankie schließlich: „Was hast du eigentlich mit meinen Kleidern gemacht?”
Clay biss die Zähne zusammen. „Die Sachen sind alle im Gästezimmer. Mom hat sie irgendwann aus dem Schlafzimmerschrank ausgeräumt, in die Reinigung gegeben und anschließend weggepackt.”
„Alle?”
Er nickte.
„Das heißt, ich habe nichts mitgenommen?”
Er stutzte, dann schüttelte er den Kopf.
„Und das kam dir gar nicht seltsam vor?” fragte Frankie verwundert.
Er holte Luft, verärgert über die Anklage, die in ihrer Frage mitschwang. „Hör auf damit, Francesca. Du weißt nicht, was du redest. Ich kam einen Tag nach meinem ersten Hochzeitstag nach Hause und freute mich darauf, meine Frau zu sehen. Doch alles, was ich vorfand, waren eine zerbrochene Kaffeetasse auf dem Küchenfußboden und Blut im Bad. Eine Stunde später verdächtigte man mich, etwas mit deinem Verschwinden zu tun zu haben, also erzähl mir nichts von ,seltsam’. Das war alles mehr als seltsam.”
Clay hatte noch nicht ausgeredet, da begann Frankie schon zu zittern. Sie konnte immer noch die Stimme hören, aber die Worte konnte sie nicht verstehen. In ihrem Gedächtnis blitzten schlaglichtartig Bilder auf.
Hände auf ihrem Mund.
Ein scharfer Stich in ihren Oberarm.
Irgendwer, der ihren Namen flüsterte.
Sie rang nach Atem und hielt sich den Kopf, fast so, als wollte
sie die Bilder festhalten, aber sie lösten sich ebenso schnell wieder in Nichts auf, wie sie gekommen waren. Sie stöhnte.
„Was ist?” fragte Clay.
„Ich weiß nicht. Irgendetwas ist einfach …” Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt ist es wieder weg. Ich weiß nicht, ob es eine Erinnerung oder meine Fantasie war.”
Clay ging nicht weiter darauf ein, entschlossen, das was sie eben gesagt hatte, zu überhören.
„Wir sind fast zu Hause”, sagte er. „Du solltest dich ein bisschen hinlegen, dann wirst du dich bald besser fühlen.”
Sie zuckte zusammen. Ihr Mann glaubte ihr einfach nicht, dass sie ebenso ratlos war wie er, und das machte Frankie schier wahnsinnig.
„Nein, Clay, das werde ich nicht”, widersprach sie vehement. „Ich weiß ganz genau, dass ich mich erst wieder besser fühle, wenn ich begreife, was hier gespielt wird. Ich habe zwei Jahre meines Lebens verloren, und so wie es sich mir im Moment darstellt, bin ich gerade auch noch dabei, meinen Ehemann zu verlieren. Daran wird ein Mittagsschlaf absolut nichts ändern.”
Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. „Du verlierst mich nicht”, brummte er.
„Mir kommt es aber so vor.”
Sie schaute ihn einen langen Moment an, vielleicht weil sie auf eine tröstlichere Reaktion hoffte, doch die blieb aus. Als er in die Straße einbog, in der sie wohnten, wandte sie den Blick ab.
Die angespannte Atmosphäre verflüchtigte sich auch nicht, als sie vor dem Haus hielten und er Frankie beim Aussteigen half.
Aufgrund des tagelangen Regens roch es drinnen noch immer muffig. Clay ließ Frankie einen Moment los, um die Heizung anzustellen, merkte aber, dass sie noch recht unsicher auf den Beinen stand. Mit einem Satz war er bei ihr, um sie zu stützen, wobei seine Hand ihre Brust streifte und auf ihrer Hüfte liegen blieb.
Sie sah, wie seine Nasenflügel bebten und öffnete leicht den Mund. In einer Mischung aus Liebe und Verzweiflung neigte sie sich ihm entgegen. Doch er reagierte auf diese Geste nicht.
In der verzweifelten Hoffnung, er möge näher kommen, sie in die Arme nehmen und ihr sagen, wie viel sie ihm bedeutete und wie glücklich er sei, sie wiederzuhaben, spannte sie sämtliche Muskeln an.
Aber ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, hob sie trotzig das Kinn und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Weißt du was, Clay? Bisher habe ich dich nie für einen Feigling gehalten.”
Mit diesen Worten nahm sie ihm ihre Tasche aus der Hand und ging allein den Flur hinunter. Es war der längste Flur ihres Lebens.
Clay schaute ihr nach.’ Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen. Aber er konnte die letzten beiden schrecklichen Jahre einfach nicht vergessen, Jahre, in denen er sie für tot gehalten hatte, Jahre, in denen er von der Polizei verdächtigt und von den Medien gehetzt worden war. Ein Teil von ihm wagte es schlicht und ergreifend nicht, den Schutzwall niederzureißen, den er um sein Herz aufgerichtet hatte.
„Feigling”, brummte er in sich hinein und ging in die Küche, um Kaffee zu machen.
Als sein Blick auf den Umschlag und den kleinen Kleiderstapel auf dem Küchentisch fiel, erinnerte er sich daran, dass er vorgehabt hatte, die Sachen wegzuräumen. Er griff nach den Kleidern und befühlte den Stoff. Er war in Sachen Mode kein Experte, aber dass diese Kleider hier nicht von der Stange waren, erkannte er auf den ersten Blick. Er legte sie wieder auf den Tisch
und griff nach dem Umschlag, immer noch fassungslos darüber, dass Frankie so viel Geld mit sich herumgetragen hatte.
Als er sie den Flur hinunterkommen hörte, drehte er sich zur Tür. Plötzlich wollte er ihr Gesicht sehen, wenn er ihr das Geld zeigte. Wenn sie ihm etwas verheimlichte, würden ihre Mimik sie verraten.
Sie kam mit einer leeren Schachtel Tabletten in der Hand in die Küche. Ihr Gesichtsausdruck war verschlossen, ihre Körperhaltung abwehrend.
„Ich habe Kopfschmerzen, und die Aspirin sind alle.”
Er warf den Umschlag auf den Tresen und öffnete einen Hängeschrank über der Spüle.
„Hier”, sagte er und drückte ihr zwei Tabletten in die Hand.
„Danke.”
Bei ihrem Anblick bekam Clay plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie wirkte so verletzlich, so durcheinander.
„Francesca…”
„Was ist?”
„Hör zu, es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe, aber du musst mich auch verstehen …”
„Warum?”
Er zögerte und runzelte fragend die Stirn. „Was warum?”
„Warum sollte ich mich bemühen, dich zu verstehen, während du dir diese Mühe nicht machen willst?”
Er atmete tief durch. Er wollte nicht mit ihr kämpfen, er wollte einfach nur Antworten.
„Wie soll ich denn etwas verstehen, das sich für mich als ein einziges großes Fragezeichen darstellt?”
Ihr schossen sofort wieder die Tränen in die Augen. „Glaub mir, es gibt niemanden, der das mehr bedauert als ich. Aber da ist etwas, woran ich mich noch ganz genau erinnere.”
Er horchte auf. „Und was ist das?”
„Wie sehr ich dich liebe.”
Er spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Der Schmerz, der in ihrer Stimme mitschwang, war kaum auszuhalten. „Ich liebe dich auch”, flüsterte er mit bebender Stimme.
Ihr Kinn zitterte. „Und warum tust du mir das an, Clay? Warum bist du so kalt und abweisend?”
Seine Hände bebten, als er ihr den Umschlag zuwarf. Geldscheine rutschten heraus und flatterten zu Boden.
„Das war in deiner Hosentasche. Wo kommt es her?”
Frankie schaute auf die flatternden Noten, während in ihrer Erinnerung ein weiteres Mal ein Bild aufblitzte.
Sie wälzte den Mann auf den Rücken. Als ihr Blick auf das Blutrinnsal fiel, das aus seinem Mund lief, wurde sie von Entsetzen gepackt. Aber sie biss die Zähne zusammen und schob ihre Rechte in seine Hosentasche. Das Geld würde sie brauchen, um wegzukommen.
„Frankie?”
Sie schaute auf, aber ihre Miene blieb undurchdringlich.
„Ich habe dich etwas gefragt.”
„Entschuldige, ich habe dich nicht verstanden. Was ist?”
„Ich habe dich gefragt, wo das Geld herkommt.”
Die Antwort kam aus dem Nichts und überraschte sie selbst noch mehr als Clay.
„Ich dachte, er sei tot.”
Clay zuckte zusammen, als ob sie ihm eine Ohrfeige versetzt hätte, dann packte er sie am Arm, um sie zu zwingen, ihn anzusehen.
„Was sagst du da?”
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. „Ich habe keine Ahnung”, murmelte sie dumpf.