hatte, ließ Betty Frankie allein. Kraftlos setzte sie sich noch einmal aufs Bett. Das Karrussell der Zukunft hatte sich angefangen zu drehen. Jetzt konnte sie sich nur noch festhalten.
„He, Dawson, du hast eine Nachricht auf deinem Schreibtisch”, begrüßte Ramsey seinen Kollegen.
Avery Dawson winkte ihm dankend zu und ging froh, im warmen Büro angekommen zu sein, eilig zu seinem Schreibtisch, schnappte sich das Fax und ließ sich in seinen Schreibtischstuhl plumpsen. Doch sobald er angefangen hatte zu lesen, wurde sein Gesicht immer länger.
„Na, besonders glücklich siehst du aber nicht aus”, stellte Ramsey fest, während Dawson seinen Mantel am Garderobenständer aufhängte.
„Der Van vor Mrs. Raffertys Haus ist auf eine Carla Brewer zugelassen, wohnhaft in Escondido, Kalifornien. Sie hat den Wagen vor einer Woche als gestohlen gemeldet.”
„Verdammt”, brummte Ramsey. „Was bedeutet das?”
Dawson schaute auf. „Es bedeutet, dass der Mann, der gegenüber den LeGrands eingezogen ist, offenbar ein Autodieb ist, aber deshalb muss er noch lange nichts mit Francesca LeGrands Verschwinden zu tun haben.”
„Gibt es im Zusammenhang mit dem Namen, den Mrs. Rafferty uns genannt hat, irgendwas Neues?”
Dawson schaute wieder auf das Fax, dann schnippte er es über den Schreibtisch zu Ramsey.
„Nein. Männer, die Peter Ross heißen, gibt es Hunderte. Und in Anbetracht der Tatsache, dass er ein gestohlenes Fahrzeug fuhr, möchte ich stark bezweifeln, dass das sein richtiger Name ist,”
„Was hältst du davon, wenn wir Mrs. Rafferty bitten, sich mal
ein paar Fotos aus der Verbrecherkartei anzusehen?” fragte Ramsey.
Dawson zuckte die Schultern. „Warum nicht? So umfangreich ist sie ja leider nicht.” Ramsey drehte sich bereits zu seinem Schreibtisch um, als Dawson noch ergänzte: „Wir sollten die Polizei in Escondido informieren, dass wir den gestohlenen Van gefunden haben. Ich werde mit dem Captain reden.”
Frankie wanderte nervös zwischen Fenster und Couch hin und her, während sie auf Winstons Rückkehr wartete.
„Setz dich hin, Liebes”, sagte Betty. „Entspann dich. Vielleicht ist die ganze Aufregung ja umsonst. Es gibt nämlich auch heute noch so altmodische Krankheiten wie zum Beispiel eine ganz normale Grippe, weißt du.”
„Wie eine Grippe fühlt es sich aber nicht an”, brummte Frankie.
Betty seufzte und konzentrierte sich wieder auf ihre Handarbeit. Schon als Achtjährige hatte sie das Spitzenklöppeln von ihrer Großmutter erlernt, etwas, das sie im Lauf der Jahre immer wieder einmal und gerne praktiziert hatte. Sie hielt das Stück Spitze, an dem sie gerade arbeitete, hoch und überlegte, dass es sich perfekt für die Einfassung eines Taufkleides eignen würde.
„Da ist wieder ein Streifenwagen”, berichtete Frankie vom Fenster aus.
„Sie fahren ständig vorbei, seit die Detectives weg sind.”
Ohne wirklich etwas wahrzunehmen, starrte Frankie auf die friedliche kleine Straße hinaus, auf die mit Weihnachtsgirlanden geschmückten Veranden und Bäume, die spielenden Kinder. Früher war ihr das alles so perfekt vorgekommen, sie hatte sich so sicher gefühlt, so geborgen. Jetzt erschien ihr alles bedrohlich und
hässlich - und daran war sie selbst schuld. Plötzlich wütend wandte’ sie sich vom Fenster ab.
„Warum hasst ihr mich nicht?”
Betty war so überrascht von der Frage, dass sie eine Masche fallen ließ. „Warum um alles in der Welt sollten wir dich denn hassen?”
„Überleg doch nur, wie viel Kummer ich eurem Sohn gemacht habe - und sogar dir und Winston. Ich fühle mich schmutzig und verängstigt, wie ein Kind, das ahnt, dass man ihm irgendetwas Schlimmes angetan hat, aber nicht weiß was und warum.”
„Das ist absurd”, sagte Betty und forderte Frankie mit einer Handbewegung auf, sich neben sie auf die Couch zu setzen.
Frankie schüttelte den Kopf. „Ich kann jetzt nicht sitzen.” Sie drehte sich wieder zum Fenster um und schaute auf die Einfahrt. Ein paar Sekunden später schrak sie zusammen und flüsterte. „Oh, mein Gott. Clay kommt.”
Betty legte ihre Handarbeit weg und stand auf, aber sie war nicht schnell genug, um Frankie davon abzuhalten, fluchtartig das Zimmer zu verlassen. Bedrückt schaute sie ihrer Schwiegertochter nach, bevor sie zur Tür ging, um ihren Sohn ins Haus zu lassen.
„He, Mom, wo ist dein Auto?” fragte Clay, als er das Haus betrat.
„Ich habe deinen Dad zum Einkaufen geschickt. Er müsste eigentlich jeden Moment zurück sein.”
Clay nickte und hängte seinen Mantel auf, dann gab er seiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.
„Wie geht’s Frankie?” fragte er.
Betty biss sich auf die Unterlippe, schaffte es dann jedoch, sich ein Lächeln abzuringen. „Warum fragst du sie nicht selbst?”
Clay horchte auf. Da schwang ein Unterton in ihrer Stimme mit, der ihm nicht gefiel. „Was ist los?”
Betty zuckte die Schultern. „Meiner Meinung nach absolut nichts. Jetzt geh schon und rede mit ihr. Ich habe mein Möglichstes getan.”
Clay ging eilig den Flur hinunter, wobei er fieberhaft überlegte, was passiert sein konnte. Sekunden später betrat er das Schlafzimmer, wo Frankie mit dem Rücken zur Tür am Fenster stand. Obwohl sie ihn gehört haben musste, rührte sie sich nicht von der Stelle und drehte sich auch nicht zu ihm um. Sein Herz begann schneller zu klopfen.
„Frankie?”
Sie wandte sich um, und als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, bekam er noch mehr Herzklopfen.
„Baby, was ist los? Fühlst du dich schlecht? Willst du, dass ich einen Arzt hole?”
Mit zitterndem Kinn machte sie einen Schritt auf ihn zu. „Oh, Clay, ich…”
Clay ging auf sie zu und nahm sie bei der Hand.
„Komm her.” Er führte sie zum Bett. „Ich möchte dich spüren, wenn wir reden.”
Ihr Gesicht verzerrte sich. „Ich muss dich etwas fragen.”
Er wollte sie in den Arm nehmen und alle schlimmen Dinge in ihrem Leben wegküssen, aber er spürte, dass sie Abstand brauchte. Deshalb beschloss er, nur ihre Hand zu halten.
„Du weißt, dass du mich jederzeit alles fragen kannst”, sagte er.
Ihr Mund war trocken, ihre Handflächen schweißnass. Und ihr Magen fühlte sich an wie früher im Waisenhaus, wenn der Besuchstag nahte und sie wusste, dass auch diesmal niemand zu ihr käme.
„Es könnte ein ungeahntes Problem geben”, begann sie zögernd.
„Dann werden wir es gemeinsam lösen”, gab er zurück und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie versuchte zu lächeln, aber alles, was sie zu Stande brachte, war eine klägliche Grimasse. „Deine Mutter hat heute Morgen etwas gesagt, das mich sehr beunruhigt.”
Clay versteifte sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter je etwas Verletzendes zu Frankie sagen könnte, aber wenn sie es getan hatte, würde er sie zur Rede stellen.
„Was denn?” fragte er.
Sein schroffer Ton signalisierte Frankie, dass er in eine falsche Richtung dachte.
„Keine Angst, Clay, es war nichts Schlimmes. Genau gesagt hat sie mich bemitleidet, weil mir so schlecht war. Sie sagte, sie könnte es gut nachempfinden, wie ich mich fühle, weil es ihr wochenlang genauso ging, als sie mit dir schwanger war.”
„Und?” drängte er.
Sie holte tief Luft und schaute ihm offen in die Augen.
„Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine letzte Periode hatte.”
Auf Clays Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. Frankie stöhnte innerlich. Sie musste ihm sofort alles gestehen, sonst würde er im nächsten Moment schon den Sekt kalt stellen.
„Aber ich erinnere mich daran, Pharaoh Carns Gesicht über mir gesehen zu haben, und ich vermute, dass ich vergewaltigt wurde.”
Er ächzte, als ob ihm jemand mit der Faust in den Magen geschlagen hätte. Einen Herzschlag lang sah er tiefe Verunsicherung in ihren Augen, die Angst, dass sie - wieder einmal - in Ungnade fallen könnte. Er beugte sich seufzend vor, bis sich ihre Lippen kurz berührten. Sie bewegte sich nicht.
„Francesca.”
„Was ist?”
„Sieh mich an. Erinnerst du dich an unsere Abmachung?”
Sie blinzelte. Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte. „Was denn für eine Abmachung?” murmelte sie.
„Dass ich für unser erstes Kind den Namen aussuche.”
Sie holte tief und zitternd Luft und versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme versagte.
Unser. Er hatte unser gesagt.
„Erinnerst du dich noch daran?” fragte er.
Ihr schossen die Tränen in die Augen. „Ja.”
„Deshalb sollte ich - vorausgesetzt du bist wirklich schwanger - besser gleich mit einer Liste anfangen, weil unser Kind einen ganz besonders schönen Namen brauchen wird.”
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und begann zu weinen.
„Ich habe so schreckliche Angst. Seit dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal sah, habe ich mir ausgemalt, von dir Kinder zu bekommen, aber jetzt… o Gott, o Gott, Clay, was ist, wenn es nicht dein…”
Noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, küsste er sie hart und schnell, wobei er das Entsetzen hinunterschluckte, das ihre Worte in ihm ausgelöst hatten. Er atmete kurz und flach in dem Bemühen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er wollte lachen, dabei hatte er - du lieber Gott! - das Gefühl, gleich loszuheulen zu müssen. Aber er tat weder das eine noch das andere, sondern versprach ihr stattdessen etwas, von dem er wusste, dass er es auch halten würde.
„Ich schwöre dir und bei Gott, dass ich das Baby ebenso lieben werde, wie ich dich liebe.”
Noch ehe Frankie dazu kam, erneut ihre Ängste zum Ausdruck zu bringen, hörte sie ein Auto die Einfahrt heraufkommen. Sie stand auf und rannte zum Fenster.
„Es ist Winston. Er ist zurück.”
Ehe er es sich versah, hatte sie schon das Zimmer verlassen und lief eilig den Flur hinunter. Clay folgte, neugierig darauf, was sein Dad so Wichtiges mitbringen könnte.
„Hast du ihn?” bestürmte Frankie Winston gleich an der Tür.
Er verdrehte die Augen und gab ihr eine Tüte.
„Himmel, ja”, brummte er. „Diese kesse Kleine an der Kasse hat einen Blick auf die Packung geworfen, einen zweiten auf meine grauen Haare und die Falten, und schließlich hat sie gegrinst. Und als ob das nicht alles schon schlimm genug wäre, hat sie mir am Ende auch noch zugezwinkert.”
Betty bekam einen Lachkrampf, was der angespannten Atmosphäre gut tat, andererseits aber bei Clay, der sich dazu gesellt hatte, noch mehr Verwirrung stiftete.
„Was ist denn so lustig?” erkundigte er sich.
Betty, die sich immer noch vor Lachen ausschüttete, konnte nur auf ihren Mann deuten, während ihr die Tränen über die Wangen kullerten.
Und selbst” Frankie musste all ihren schrecklichen Befürchtungen zum Trotz lächeln. Sie gab Winston einen Kuss auf die Wange und sagte weich: „Vielen Dank.”
„He, Leute, ich will auch lachen”, beschwerte sich Clay.
Frankie hielt die Tüte hoch. „Deine Mom hat Winston losgeschickt, einen Schwangerschaftstest zu kaufen.”
Der Anblick der kleinen braunen Tüte war für Clay wie ein Fausthieb in den Magen. Diese Tüte enthielt die Antwort auf eine unheilvolle Frage.
Er verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Also, Dad, ich finde, wenn du ihn schon gekauft hast, solltest du auch damit angeben.”
Winston warf seinem Sohn einen Scher-dich-zum-Teufel-Blick zu, während seine Frau wieder Tränen lachte. Er schaute erst auf Betty, dann auf seinen Sohn und gab schließlich Frankie einen schnellen Kuss.
„So, Leute, ich bringe jetzt dieses gackernde alte Huhn nach Hause und vermutlich bleibe ich dann auch gleich dort”, sagte er. Und grinste. „Einfach weil es verdammt kalt draußen ist und ich zu alt bin, um mich nach einem anderen Schlafplatz umzusehen.”
„Danke”, sagte Frankie noch einmal.
Winston drückte ihren Arm. „Ruf später kurz mal an - egal, was dabei herausgekommen ist.”
Frankie nickte.
Wenig später waren sie allein. Die Tüte fest an die Brust gepresst, drehte sie sich zu Clay um. „Wenn du möchtest, kannst du mitkommen.”
Am anderen Ende der Stadt gab es ebenfalls Fragen, die einer Antwort harrten. Avery Dawson breitete die nächste Verbrecherkartei vor Anna Rafferty aus und ließ sie sie studieren.
„Mrs. Rafferty, wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie sich freundlicherweise bereit erklärt haben, uns zu helfen.”
Die alte Dame seufzte. „Wie viele Gesetzesbrecher es doch gibt.” Sie schlug das Register auf und begann, es langsam durchzublättern. Plötzlich deutete sie auf ein Foto. „Oh, sehen Sie nur!”
Dawson sprang wie elektrisiert auf. „Ist er das? Ist das der Mann, der Ihre Wohnung gemietet hat?”
„Oh, nein”, gab sie zurück. „Aber er sieht aus wie mein Vater in jungen Jahren. Ist das nicht erstaunlich? Ich habe gehört, dass jeder Mensch irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat. Mein Gott, Pa würde der Schlag treffen, wenn er wüsste, dass er eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Ganoven hat.”
Dawson lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schluckte einen Fluch hinunter.
„Ja, Ma’am, ganz bestimmt. Aber jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie noch ein bisschen weiterschauen Würden. Es ist wirklich sehr wichtig, dass wir mit Ihrem Mieter sprechen.”
Sie nickte und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe, während Ramsey grinste und Dawson die Augen verdrehte.
Wenig später hatte sie diese Kartei ebenfalls durchgesehen und schlug die nächste auf. Es dauerte nicht lange, bis sie aufgeregt auf ein Foto deutete.
„Da!” rief sie aus.
„Was ist da?” fragte Dawson vorsichtig geworden, wobei er schon fast zu hören erwartete, dass der Mann aussähe wie ihr über alles geliebter verschiedener Ehemann Edward, von dem heute bereits mehrfach die Rede gewesen war.
„Das ist der Mann! Das ist der Mann, der die Wohnung gemietet hat!”
Dawson sprang auf und schaute ihr über die Schulter. „Sind Sie sicher?” fragte er.
„Oh, ja”, sagte sie. „Ich vergesse nie ein Gesicht. Aber davon abgesehen, schauen Sie mal da, seine Augenbrauen! Sehen Sie, dass eine höher ist als die andere? Natürlich habe ich nie etwas zu ihm gesagt, aber er wirkte auf mich dadurch ein bisschen verwirrt.”
Dawson betrachtete das Foto und las den darunter stehenden Namen: „Simon Law.” Er schaute zu. Ramsey. „Jag den Namen mal durch den Computer. Mal sehen, was der ausspuckt.” Dann wandte er sich wieder Mrs. Rafferty zu. „Ma’am, Sie waren uns wirklich eine große Hilfe. Unser Detective Adler hier wird Sie nach unten bringen.”
„Könnte mir vielleicht jemand ein Taxi rufen?” fragte sie.
„Das ist nicht nötig. Einer unserer Beamten wird Sie nach Hause fahren.”
„Ach du meine Güte!” rief sie aufgeregt aus. „Ein echtes Polizeiauto! Ich wünschte, das hätte mein Edward noch miterlebt.” Gleich darauf kicherte sie. „Mein Dad sagte damals schon, ich würde eines Tages noch in den Armen des Gesetzes landen.”
Dawson warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Nach dem hinter ihnen liegenden harten Tag war die alte Dame doch eine nette Aufmunterung. Er half ihr beim Aufstehen und schüttelte ihr die Hand.
„Machen Sie unseren Jungs keine schönen Augen, Anna Rafferty, andernfalls könnte ich mich nämlich gezwungen sehen, Sie festzunehmen. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen Ross. Ich lasse Ihr Haus überwachen. Sobald er nach Hause kommt, werden wir ihn festnehmen.”
Als die alte Dame den Raum verließ, lächelte sie immer noch.
Dawson streckte die Hand nach seinem Kaffeebecher aus. Sein Magen knurrte. Aber er würde sich vorerst wohl oder übel mit einer weiteren Ladung Koffein begnügen müssen.
Clay saß, angelehnt an die Kopfstütze im Bett, mit Frankie vor sich zwischen seinen Beinen, die sich an seiner Brust anlehnte. Er hatte seine Arme um sie gelegt, während seine langsamen und gleichmäßigen Atemzüge warm ihren Nacken streiften. In ihrem Rücken konnte sie deutlich das Klopfen seines Herzens spüren, und das einzige Geräusch im Zimmer war das Ticken der Uhr an der gegenüberliegenden Wand.
Sie hielt das Teststäbchen wie eine Zeitbombe, die gleich explodieren konnte, verkehrt herum in der Hand.
„Ist es schon soweit?” fragte sie.
„Nein, es dauert noch eine Minute.”
Sie seufzte.
„Nicht seufzen, Frankie. Egal was dabei rauskommt, es ist okay.”
„Ich weiß”, sagte sie leise.
Dann warteten sie weiter.
Obwohl sie gebannt auf das Teststäbchen in ihrer Hand starrte, schrak sie zusammen, als plötzlich Clays Stimme an ihr Ohr drang.
„Jetzt”, sagte er.
In plötzlicher Angst hinzusehen, umklammerte sie den Test. Nachdem sie es umgedreht hatte, konnte sie durch den Tränenschleier vor ihren Augen nichts erkennen. Und als sie hörte, wie Clay leise ausatmete, wusste sie aus irgendeinem Grund, dass der Test positiv war. Es war der wundervollste und gleichzeitig der erschreckendste Moment ihres Lebens. Sie würde ein Baby bekommen. Aber wer war der Vater?
Es war wieder Clay, der den Anfang machte und sagte: „Lass uns Mom und Dad anrufen. Sie warten seit Jahren darauf, dass sie endlich Großeltern werden. Bestimmt sind sie ganz aus dem Häuschen vor Freude.”
Frankie löste sich aus Clays Armen und drehte sich zu ihm um.
„Und was ist mit dir, Clay? Was fühlst du dabei?” fragte sie.
Er lächelte und schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben, dass sie fragte. „Ich fühle mich dir so nah, dass du dich noch wundern wirst, wo zum Teufel dein persönlicher Freiraum geblieben ist”, brummte er. Gleich darauf grinste er. „He, ich werde Vater! Das müssen wir feiern, nachdem wir Mom und Dad angerufen haben.”
Frankie wurde es ein bisschen leichter ums Herz, wenn auch nicht viel, aber immerhin wusste sie, dass sie diese Sache zusammen durchstehen würden.
„Ich habe aber keine große Lust, bei diesem Schnee rauszugehen.”
Er grinste. „Dann lassen wir uns eben etwas kommen. Du suchst aus. Ich rufe an.”
Sie überlegte. Der Gedanke an Essen erschien ihr plötzlich die beste Idee des Tages zu sein.
„Ich bin für Chinesisch, oder möchtest du lieber eine Pizza?”
„Ich möchte am liebsten dich”, gab Clay zärtlich zurück, bevor er sie auf den Rücken rollte und seinen Kopf in ihre Halsbeuge legte.
Der Knoten in ihrer Brust’ lockerte sich ein bisschen. Sie umarmte ihn.
„Du hast Glück”, sagte sie weich. „Heute Nacht bin ich die Spezialität des Hauses.”
Clay grinste. „Oh, nein, Francesca. Du bist immer die Spezialität des Hauses, und ich kann nie genug von dir bekommen. Nicht von dir. Niemals.”
Dann wandte er den Blick ab, fuhr ihr mit der Hand über den Bauch, schob den Pullover und die Jogginghose weg, bis seine Handfläche auf ihrer weichen Bauchdecke lag.
„He, du da drin. Sieh zu, dass du groß und stark wirst, kleines Baby. Und wenn du bereit bist, werden wir dich erwarten.”
Als er wieder auf Frankie schaute, sah sie Tränen in seinen Augen. Das gab ihr den Rest.
„Ich liebe dich, Clay LeGrand.”
Er grinste. „Ich weiß.”
Sie gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm. „An dieser Stelle musst du sagen ,Ich liebe dich auch.’”
Sein Grinsen wurde breiter. „Das wäre zu einfach, Sweetheart.”
Sie musste kichern. „Ja, mit den einfachen Dingen geben wir uns nicht ab, was?”
„Mein Dad sagt immer, sobald eine Frau alles über einen Mann weiß, macht sie ihn zur Minna.”
Frankie fuhr ihm grinsend mit dem Finger leicht über die Wange. „Na, dann solltest du dich vorsorglich schon mal darauf einstellen, zur Minna gemacht zu werden, weil du nämlich in den nächsten acht Monaten ständig unter Kontrolle sein wirst.”
Er lachte leise auf und begann, ihr ihren Pullover über den Kopf zu ziehen.
„Was soll das mit den acht Monaten? Sag lieber, für den Rest unseres Lebens”, erwiderte er.
Sie seufzte, als er sie in die Arme nahm. „Für den Rest unseres Lebens? Das wäre schön.”
16. KAPITEL
Grau und kalt zog der Morgen herauf. Der starke Wind hatte in der Nacht den Schnee weggeblasen, und damit war auch der größte Teil der Fußspuren verschwunden. Clay brauchte die Spuren jedoch nicht zu sehen, um zu wissen, dass die Gefahr für Frankie immer noch existierte. Und er spürte ihre Angst mit jedem vergehenden Tag wachsen.
Frankie war wach, aber sie lag noch im Bett und lutschte auf Anraten seiner Mutter vor dem Aufstehen erst noch einen Drops Traubenzucker gegen ihre Morgenübelkeit. Entschlossen, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen, zwang Clay sich zu einem Grinsen ab, als er sich zu ihr umdrehte.
„Das klingt ja fast, als ob wir ein Mäuschen im Schlafzimmer hätten”, stellte er fest.
„Fühlen tue ich mich jedenfalls so”, erklärte sie, während sie einen Krümel wegschnippte.
Clay lachte leise auf. „Möchtest du jetzt vielleicht eine Tasse Tee?”
Sie stellte sich den Tee einen Moment vor, und. als ihr Magen nicht rebellierte, nickte sie. „Könnte klappen.”
„Fein! Ich trinke eine Tasse mit.”
Frankie wollte aufstehen, aber Clay hielt sie zurück.
„Ganz langsam. Ich schlage vor, du bleibst noch liegen und erlaubst zur Abwechslung mal mir, dich zu bedienen.”
Sie ließ sich mit einem frustrierten Seufzer in die Kissen zurückfallen. „Ich hoffe bloß, diese lästige Morgenübelkeit ist bald vorbei.”
„Wir lassen uns so schnell wie möglich einen Arzttermin geben. Er hat bestimmt ein paar gute Tipps für dich. Also warte, ich bin in zwei Minuten mit dem Tee da.”
Nachdem er gegangen war, schloss Frankie die Augen und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass sie sich den schmerzlichen Ausdruck auf seinem Gesicht nur eingebildet hatte. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Er hatte geschworen, das Baby zu lieben, egal wer der Vater war. Sie musste ihm glauben, sonst würde sie verrückt werden. Sie drehte sich seufzend auf die Seite und drückte ihr Gesicht ins Kissen.
Die Geräusche, die aus der Küche zu ihr drangen, trösteten sie, während sie kraftlos im Bett lag und immer wieder eindöste. Sie gaben ihr das Gefühl von Sicherheit, die Bestätigung, dass, sie nicht allein war.
Eine kleine Weile später läutete das Telefon. Sie rollte sich herum, aber es hörte auf zu klingeln, bevor sie den Hörer abnehmen konnte. Zwei Minuten später kam Clay mit einem schnurlosen Telefon in der Hand ins Zimmer.
„Frankie, für dich. Es ist Addie Bell von Kitteridge House. Sie will dir etwas erzählen.”
Frankies Herz begann schneller zu klopfen, als sie sich im Bett herumrollte und die Hand nach dem Hörer ausstreckte. „Addie?”
„Hallo, Francesca! Wie ich gehört habe, darf man gratulieren!”
Frankie schaute auf Clay. Er grinste zerknirscht. Sie seufzte. Vielleicht machte sie sich ja umsonst Sorgen. Wenn er schon anfing, die Neuigkeiten ohne Not herumzuerzählen, musste der Rest für ihn auch okay sein.
„Ja, wir waren beide ziemlich überrascht”, gestand Frankie.
„Das kann ich mir vorstellen”, gab Addie zurück. „Also noch mal herzlichen Glückwunsch. Aber jetzt zum eigentlichen Grund meines Anrufs. Auch wenn es vielleicht keine große Hilfe ist, habe ich doch immer wieder versucht, mich an diesen Pharaoh Carn zu erinnern, und gestern Abend beim Fernsehen ist mir plötzlich etwas eingefallen.”
„Was denn?”
„Pharaoh hatte eine Tätowierung. Ich weiß noch genau, dass er sich eines Abends aus dem Haus schlich, um sie sich machen zu lassen. Er muss damals fünfzehn oder sechzehn gewesen sein. Ich war wütend, zum einen, weil er sich unerlaubt entfernt hatte, und zum anderen, weil ich nicht wollte, dass die anderen Jungs auf dumme Gedanken kommen.”
Automatisch legte Frankie ihre Hand in den Nacken und berührte ihre eigene Tätowierung.
„Es war so ein ägyptisch aussehendes Ding. Eine Art Kreuz, aber kein richtiges. Es hatte oben so eine komische Schlaufe. Und es war farbig … gelb, glaube ich.” Sie legte eine Pause ein. „Ich fürchte, es wird dir nicht viel weiterhelfen, aber nach allem was du durchgemacht hast, wollte ich keinesfalls etwas für mich behalten.”
Frankie hatte vor Aufregung Herzklopfen bekommen. „Oh, Addie, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Es ist wirklich schrecklich wichtig für uns. Hören Sie, ich will Sie wirklich nicht drängen, aber wir müssen sofort den Detective anrufen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir ihnen Ihre Nummer geben, nur für den Fall, dass sie noch irgendwelche Fragen haben?”
„Selbstverständlich nicht. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.”
„Gut”, sagte Frankie. „Und noch mal vielen Dank für Ihren Anruf.”
„Wir bleiben in Verbindung”, erklärte Addie. „Ich will wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.”
„Ja, wir melden uns”, versprach Frankie.
Am anderen Ende wurde aufgelegt. Frankie schaute ganz aufgeregt wieder zu Clay.
„Clay … das ist es doch, wovon Detective Dawson gesprochen hat, oder? Könnte das nicht der handfeste Beweis sein, den er braucht?”
Clay zuckte die Schultern. „Gut möglich.” Er machte eine Pause. „Wie fühlst du dich?”
Sie schaute an sich herunter auf die Krümel, die von ihrem Nachthemd auf den Boden gefallen waren.
„Als ob ich im Bett Salzkräcker geknabbert hätte.”
Clay grinste. „Der Tee ist fertig. Ich bringe ihn dir.”
„Nein, wirklich, wenn ich so weitermache, habe ich ihn womöglich auch gleich im Bett. Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn in der Küche trinke.”
Er runzelte die Stirn. „Bist du sicher?”
„Ja. Ich ziehe mir nur rasch etwas über. Du rufst am besten inzwischen schon mal Dawson an. Ich möchte, dass er sich so schnell wie möglich um die Sache kümmert.”
Clay ging in sein Arbeitszimmer, um Avery Dawson anzurufen, während Frankie sich etwas zum Anziehen heraussuchte. Ihr Leben begann sich langsam zu normalisieren, während Pharaoh Carns Leben immer mehr aus den Fugen geriet. Das spürte Clay genau.
Avery Dawson steuerte den Wagen geschickt durch den dichten Stadtverkehr, während Ramsey neben ihm versuchte zu essen.
„Verdammt, Avery, fahr langsamer”, beschwerte sich Ramsey, der in der einen Hand einen Kaffeebecher und in der anderen ein Sandwich balancierte.
Dawson warf seinem Partner einen finsteren Blick zu.
„Wahrscheinlich wirst du dir noch wünschen, dir dein Essen
für später aufgehoben zu haben”, brummte er. „Du kennst doch deinen schwachen Magen, und der Captain hat uns vorgewarnt, dass man unserem unbekannten Toten die Kehle aufgeschlitzt hat.”
Ramsey zuckte die Schultern. „Ich bin Schlimmeres gewöhnt”, konterte er, während er sich den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund stopfte.
„Aber wirf mir ja nicht vor, ich hätte dich nicht gewarnt”, murmelte Dawson düster.
„Betrachte mich als gewarnt”, gab Ramsey zurück, bevor er den Bissen mit dem letzten Rest seines Kaffees hinunterspülte.
Ein paar Minuten später suchte sich Dawson bei der Busstation einen Parkplatz. Beim Aussteigen schlug ihnen ein kalter Wind entgegen und krallte sich in ihre langen Mäntel. Sie gingen mit schnellen Schritten zu dem Gebäude, vor dem sich eine stetig wachsende Menschenmenge angesammelt hatte.
„Polizei. Bitte machen Sie Platz”, verlangte Ramsey. Die Menschen traten zur Seite, und die beiden Beamten schoben sich durch die entstandene Gasse.
Wenig später standen sie in der Herrentoilette.
„Wer hat den Toten gefunden?” erkundigte sich Dawson, als sich ein uniformierter Streifenpolizist zu ihnen gesellte.
Der Polizist deutete auf zwei Jugendliche, die draußen auf dem Gang in der Nähe der Tür saßen. Ihre Aufmüpfigkeit, die sie veranlasst hatte, sich die Haare grell lila zu färben und ihre Nasen mit einer ganzen Anzahl silberner Ringe zu schmücken, war ihnen offensichtlich abhanden gekommen. Sie waren kreidebleich, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
„Jungs, ich bin Detective Dawson und das ist mein Partner, Detective Ramsey. Wir möchten euch ein paar Fragen stellen.”
Die Jungen nickten.