7
Craig stand, wie Lester vorausgesagt hatte, auf den Stufen vor dem Standesamt und umklammerte nervös die Heiratslizenz. Jo sah belustigt, wie sein Kiefer herunterklappte, als er sah, wer am Steuer des Wagens saß. Doch dann sagte er einigermaßen gefaßt: »Nett, daß du gekommen bist, Lester«, nahm Beths zitternden Arm und führte sie fürsorglich die Treppe hinauf, als wäre sie eine gebrechliche alte Dame und keine junge Braut auf dem Weg zum Standesbeamten.
Jo begrüßte ihn hastig und fragte: »Hat man dich nicht gefragt, warum eure Eltern nicht hier sind?«
»Nein, der Beamte ist neu hier, und er kennt uns nicht, dem Himmel sei Dank. Ich bin so froh, daß Lester da ist.«
»Du warst ziemlich erstaunt, als du ihn gesehen hast. Ich dachte, du kennst ihn so gut, also dürfte es dich doch gar nicht so überraschen, daß er euer Trauzeuge sein will.«
»Natürlich kenne ich ihn gut, aber ich hätte nicht gedacht, daß er so aktiv in Erscheinung treten würde.«
Lester hatte zugehört und bemerkte trocken: »Ich mußte mich doch vergewissern, daß sie den Richtigen heiratet — und nun sehe ich, daß sie genau das tut.«
Inzwischen hatten sie die kleine Amtsstube betreten. Lester kannte den Standesbeamten, und das vereinfachte die Sache, denn der Mann fragte nicht, warum die Hochzeit so heimlich, still und leise über die Bühne ging. Beth hatte zu zittern aufgehört, weil Craigs starker Arm sie stützte, aber als die bedeutsamen Worte gesprochen wurden, stiegen ihr Tränen in die Augen. Jo gab ihr einen aufmunternden Rippenstoß und flüsterte: »Reiß dich zusammen! Jetzt hast du’s ja bald hinter dir.«
Dann schüttelten sie dem Beamten die Hände, nahmen seine Glückwünsche entgegen und fuhren zu dem Hotel, wo eine bescheidene Feier stattfinden sollte.
Seit sie in der Stadt angekommen waren, beobachtete Jo immer wieder erstaunt, wie herzlich Lester von allen Seiten begrüßt wurde. Und als sie in das Hotel gingen, blieb er mehrmals stehen, um Bekannte nach ihren Farmen oder preisgekrönten Hunden zu fragen. Er war offenbar sehr beliebt in Avesville, und später erfuhr sie, daß er sowohl im Kricket- als auch im Fußballteam mitspielte, seit sich Eldado keine eigenen Mannschaften mehr leisten konnte, und die ganze Stadt hatte ihn ins Herz geschlossen.
Jo ärgerte sich ein wenig, weil er ihr sozusagen die Schau stahl. Diese Hochzeit war ihr Werk gewesen. Sie hatte alles geplant, alle Vorbereitungen getroffen, die Braut immer wieder ermutigt, und nun stand Lester im Mittelpunkt des Interesses.
Aber auch in diesem Punkt unterschätzte sie ihn, denn als sie an dem Tisch saßen, den Craig hatte reservieren lassen, hielt Lester eine kurze Rede, in der er auch Jos Verdienste würdigte. Es war eine fröhliche kleine Party, trotz Beths gelegentlichen Klagen, wie schlimm es doch sei, daß sie ihre Eltern hintergangen hatte. Das erstemal sagte Jo: »Sei kein Idiot, Beth!« Das zweitemal bat Craig: »Denk nicht mehr daran, Liebling.« Und das drittemal meinte Lester: »Mrs. Trent, du hast einen wundervollen Ehemann, also vergiß deine Eltern, wenigstens bis nach den Flitterwochen.« Wenn Beth danach noch Anwandlungen von schlechtem Gewissen hatte, so wagte sie es zumindest nicht mehr, davon zu sprechen.
»Schade, daß wir kein Konfetti haben«, sagte Jo, als sie neben dem Wagen des jungen Paares standen. »Aber ich dachte, das würde zuviel Aufmerksamkeit erregen. Außerdem kriegt man das Zeug so schwer wieder aus den Haaren raus. Vergiß nicht, Kosmetika zu kaufen, Beth! Meine Farben stehen dir nicht.«
Lester sah sie an, ein bißchen erstaunt über diesen nüchternen Abschied. Hatte sie denn überhaupt keine Gefühle? Beth schwankte zwischen Tränen und Lächeln, aber bei Jo könnte man glauben, sie verabschiedete sich von einer Freundin, die nur einen Wochenendurlaub am Meer machte. Lester beugte sich zu Beth hinab und küßte sie liebevoll, Jo winkte ihr nur lässig zu. Aber als sie Craigs Hand schüttelte, hörte Lester sie sagen: »Sei gut zu ihr! Sie ist so verletzlich, und sie hatte bisher nicht viel Freude am Leben.« Vielleicht hatte dieses kühle, selbstbewußte Mädchen doch irgendwo ein Herz.
Als das Auto hinter der nächsten Kurve verschwunden war, sahen sie einander an, und Jo lachte ein bißchen gezwungen. »Fahren wir nach Hause!« Sie stieg hastig in seinen Wagen, aber nicht, bevor er die Tränen in ihren großen braunen Augen gesehen hatte.
»Na, na!« sagte er, als er neben ihr saß. »Kommt die Reaktion jetzt doch noch?«
Sie schneuzte sich lautstark. »Was für häßliche Geräusche wir doch machen, wenn wir gerührt sind! Ich gebe zu, ich hatte während der ganzen Zeremonie einen Klumpen im Hals, und bei Ihrer Rede auch. Und als sie davonfuhr in ihr neues Leben, wie mein Vater es ausdrücken würde, wäre ich beinahe übergelaufen. Sie ist so jung — und sie hätte sich eine schönere Hochzeit verdient.«
»Ich dachte, Sie hätten das Fest in vollen Zügen genossen.«
»Das habe ich auch — in gewisser Weise. Es war lustig, all diese dummen Snobs auszutricksen, und eine heimliche Hochzeit macht ja auch wirklich Spaß, vorausgesetzt, die Braut bekommt nicht schon am nächsten Tag Zwillinge. Aber es ist schlimm, daß Beth ihre Familie so hintergehen mußte, ausgerechnet an dem Tag, der der glücklichste in ihrem Leben sein sollte. Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. So war wenigstens einer ihrer Verwandten dabei.«
»Ich billige dieses Täuschungsmanöver nach wie vor nicht. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich mich auch daran beteilige.«
»Ich hoffe, Sie werden nicht versuchen, mich zu beschützen. Ich bin den Leuten von Rangimarie durchaus gewachsen.«
»Daran zweifle ich nicht, aber gehen Sie nicht zu hart mit meiner Verwandtschaft um.«
Sie lachten beide, und eine Freundschaft nahm ihren Anfang. Als sie in »Gipfelkreuz« ankamen, fragte Christine nach einer beiläufigen Begrüßung, ob Jo vielleicht daran gedacht habe, daß ihnen die Zwiebeln ausgegangen waren. Aber als sie dann mit Adrian allem war, sagte sie: »Das ist endlich mal ein junger Mann, der es mit unserer Jo aufnehmen kann.«
Adrian meinte, seine Frau habe sich in dieser Hinsicht schon so oft falsche Hoffnungen gemacht, daß er es erst glauben werde, wenn er es sehe. Und ob sie wisse, was sie heute morgen mit Beth angestellt hätten? Christine antwortete lächelnd: »Ich habe da so eine Ahnung, aber ich weiß nichts Bestimmtes. Doch sobald ich klarsehe, werde ich dich sofort informieren.«
Jo sagte noch immer nichts. Sie hatte auch keine Gelegenheit dazu, denn Sheikh, traurig, weil sie ihn am Vormittag nicht mitgenommen hatte, warf sie fast um bei der stürmischen Begrüßung. Im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. »Chris, geh bitte ran! Ich kann nicht den Hörer halten und gleichzeitig dieses Monstrum abwimmeln!«
»Was ist denn los?« Adrian kam aus seinem Arbeitszimmer und hob die Brauen. »Ah, da bist du ja, und das schlechte Gewissen steht dir ins Gesicht geschrieben. Was hast du denn angestellt?«
»Ich habe dem armen Sheikh nicht erlaubt, an einer Hochzeitsfeier teilzunehmen«, antwortete sie, und Adrian fragte, ob denn nun die ganze Welt und Jo im besonderen verrückt geworden sei.
In diesem Augenblick kam Christine zurück und warf ihrer Tochter einen ernsten Blick zu. »Das war Caroline Trent. Sie hat Craigs Brief gefunden. Ich hatte mir schon gedacht, daß ihr so was Ähnliches vorhattet. Nun, wenigstens ist Beth glücklich, und das ist immerhin etwas. Aber du hast dich sehr unbeliebt gemacht, was dich allerdings nicht stören dürfte.«
Jo lachte. »Weil du eine perfekte Mutter bist, werde ich dir alles erzählen.« Das tat sie auch und schloß mit den Worten: »Wir wollten euch nicht hineinziehen, und Craig hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil er seine Familie hinterging. Aber die Trents werden es sicher besser aufnehmen als die Holdens.«
»Caroline ist schon jetzt nicht mehr böse. Aber was für eine Rolle hat Lester Severne bei dieser Verschwörung gespielt?«
»Beth konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihm alles zu erzählen, obwohl ich ihr das verboten hatte. Aber sie liebt ihn wie einen Bruder, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu beschwindeln.«
»Und er war mit allem einverstanden? Erstaunlich!«
»Er tat sein Bestes, um unseren Plan zu vereiteln, aber das konnte er nicht, und so gab er sich geschlagen. Das war gut so, denn er hat gewissermaßen als Vertretung der Familie an der Zeremonie teilgenommen, und das war eine große Beruhigung für Beth.«
»Ein netter Junge. Ich habe ihn schon immer gemocht«, sagte Adrian. »Und Caroline war wirklich nicht wütend?«
»Sie war sehr vernünftig«, berichtete Christine. »Die Trents sehen ein, daß das die einzige Möglichkeit für die jungen Leute war, und sie sind auch nicht gekränkt. Ein modernes Elternpaar, an dem du deine helle Freude haben kannst, Jo.« Sie räusperte sich und fügte dann trocken hinzu: »Caroline hat sich nur eine einzige sentimentale Bemerkung gestattet. >Natürlich wären wir gern dabei gewesen, wenn unser einziges Kind heiratete.<
»Seid ihr gekränkt, weil wir euch nichts gesagt haben?«
»Kein bißchen. Auf diese Weise trifft uns wenigstens keine Schuld.«
»Wir wollten mit Kusine Jane nach Avesville fahren, dann wäre nicht einmal euer Auto an dem Täuschungsmanöver beteiligt gewesen. Nobel von uns, nicht wahr?«
Am nächsten Morgen kam Lester vorbei. Er sagte, er sei auf dem Weg nach Avesville, um sich ein paar Lämmer anzusehen, und wolle nur kurz hereinschauen. Er gab sich heiter und gelassen, eine Haltung, die Jo trotz intensiver Bemühung nicht gelang. »Nun, wie war’s?« stieß sie hervor.
»Wie Sie sehen, lebe ich noch. Man stellte mir die ganz natürliche angstvolle Frage: >Wo ist unsere Tochter?<«
»Und? So lassen Sie sich doch nicht jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen!«
»Hetzen Sie mich nicht! Sie waren natürlich nicht begeistert, als ich ihnen erzählte, daß Beth mit Craig Trent verheiratet und auf Hochzeitsreise sei. Als die Aufregung abebbte und ich wieder zu Wort kam, sagte ich: »Leider erfuhr ich es erst heute morgen. Ich versuchte es ihr auszureden, aber das schaffte ich nicht, und so begleitete ich sie aufs Standesamt. Einer von der Familie mußte ja dabeisein. Jo Medway und ich waren die Trauzeugen, und danach gab’s eine kleine Feier im Hotel, und danach fuhr das junge Paar in die Flitterwochen.«
»Waren sie da schon bewußtlos oder nur wütend?«
»Tante Cynthia zeigte gewisse Anzeichen von Schwäche, aber meine Großmutter erklärte ihr mit unnachgiebiger Strenge, dies sei nicht der richtige Zeitpunkt, um hysterisch zu werden oder in Ohnmacht zu fallen. Sie wollte Einzelheiten hören, und die erzählte ich ihr, auch jenes schreckliche Detail, daß das junge Paar im Arbeiterquartier wohnen wolle, bis das Haus fertig sei. Das war der härteste Schlag.«
»Haben Sie auch erzählt, daß wir diesen Plan schon geschmiedet haben, als Beths Vater drohte, er würde sie zu Tante Jessica schicken? Daß ich in meinem Zimmer die Kleider versteckte, die Beth für Christchurch bekommen hatte, damit sie sie auf der Hochzeitsreise tragen kann?«
»Die schäbigen Einzelheiten habe ich ihnen erspart. Sie werden mit der Zeit schon herausfinden, was alles verschwunden ist.«
»Man braucht sie ja wohl nicht darauf hinzuweisen, wer an allem schuld ist.«
»Das werden sie nie einsehen.«
»Sie geben also mir und Beth die Schuld? Was haben sie denn über mich gesagt?«
Er lachte. »Das überlasse ich Ihrer Phantasie. Und was mich betrifft, so will ich Onkel James zitieren. >Du hättest wie ein Mann zu mir kommen und mir alles sagen müssen.««
»Dann wären Sie ja ein Verräter gewesen. Hat der Mann überhaupt kein Ehrgefühl?«
»Doch, aber keinen Sinn für Humor. Sie werden eine Weile schmollen, aber spätestens in einem Jahr haben sie den ganzen Ärger vergessen und werden stolz auf Craigs Tüchtigkeit sein. Lassen Sie ihnen nur ein bißchen Zeit.«
»Ich hasse diese Einstellung. Sie ist engstirnig und selbstsüchtig.«
»Vielleicht, aber sie sind eben nicht an Rebellion gewöhnt. Wir anderen haben es auf die stille Art gemacht, sind weggegangen, ohne Aufsehen zu erregen. Mit Ihrer Mithilfe hat Beth eine spektakulärere Methode angewandt.«
»Natürlich bin ich jetzt der Sündenbock.«
»Klar. Es wäre weniger aufregend verlaufen, wenn Beth einfach darauf bestanden hätte, ihre Verlobung bekanntzugeben und nicht zu ihrer Tante zu fahren. Irgendwann hätten sie eingewilligt, und es wäre nicht zum Bruch gekommen. Aber es ist Ihnen gelungen, die Dinge zu komplizieren.«
»So ist es recht! Schlagen Sie sich auf die Seite des Feindes! Und gestern waren Sie so nett.«
»Gestern brauchten Sie Hilfe. Heute brauchen Sie die Wahrheit, und Sie können sie auch vertragen.«
Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Augen blitzten wütend. Doch dann lächelte sie plötzlich. »Ach, Unsinn... Sie haben das Donnerwetter über sich ergehen lassen und einen Großteil der Schuld auf sich genommen, und jetzt mache ich Ihnen auch noch Vorwürfe. Ich werde zu ihnen gehen und sagen, daß alles mein Werk war.«
Wenn sie erwartet hatte, daß er ihr Beifall spenden würde, so sah sie sich getäuscht. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Wenn Sie sich unbedingt die Finger verbrennen wollen, tun Sie’s. Aber warten Sie ein oder zwei Tage, bis sie sich halbwegs beruhigt haben. Ich werde ihnen sagen, sie sollen die Folterwerkzeuge bereithalten, das wird die Prozedur verkürzen.«
»Wie hat es Ihre Großmutter aufgenommen? Übrigens, sie ist ja gar nicht wirklich Ihre Großmutter, sondern die Mutter Ihres Onkels. Aber es ist wohl einfacher, sie Großmutter zu nennen.«
»Wir könnten natürlich Ihrem Beispiel folgen und sie beim Vornamen anreden. Sie heißt übrigens Victoria. Aber da wir schon davon sprechen — sind Sie es nicht langsam leid, einen ständig daran zu erinnern, daß Sie Ihre Eltern mit den Vornamen anreden? Und wäre es manchmal nicht einfacher, Mutter und Vater zu sagen?«
»Welch sanfte Ironie! Ich habe sie immer Adrian und Christine genannt, und meinem Vater gefällt das. Mutter läßt es schweigend über sich ergehen, wie so vieles andere. Aber um auf das Thema zurückzukommen, was hat Ihre Großmutter, die gar nicht Ihre Großmutter ist, gesagt?«
»Was haben Sie denn erwartet? Sie gab ein paar ätzende Bemerkungen über die junge Generation von sich und machte mir Vorwürfe, weil ich ihnen nicht die Chance gegeben hätte, eine Einladung zur Hochzeit abzulehnen. Dann lachte sie boshaft und sagte: >Alles deine Schuld, James. Du konntest oder wolltest die Tatsache nicht akzeptieren, daß deine Tochter in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gehört und sich weigert, gesellschaftliche Unterschiede zu akzeptieren, die für uns selbstverständlich sind. Du hättest das Unvermeidliche mit Anstand hinnehmen müssen. Ich werde das jedenfalls tun und dem Mädchen als Hochzeitsgeschenk einen Scheck schicken. Ihr Widerstandsgeist gefällt mir, aber den hat sie wohl nur dieser frechen Josephine Medway zu verdanken.<«
Sie lachten beide, und dann sagte Jo: »Mit Geld können sie Beth nicht zurückkaufen. Mrs. Holden hätte ihr schon vor einem Monat Geld geben und sagen sollen: >Da hast du, und jetzt lauf um dein Leben und heirate deinen jungen Mann!<«
»Seien Sie fair! Großmutter hält immer treu zu ihrer Familie, auch wenn sie glaubt, daß letztere im Unrecht ist. Aber wenn etwas nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, dann ist sie bereit, es zu akzeptieren.«
»Aber sie müssen es doch alle akzeptieren, wenn sie halbwegs vernünftig sind.«
Er seufzte. »Muß ich Sie eigentlich andauernd daran erinnern, daß Sie von meiner Familie sprechen? Das ist keine Frage des Verstandes, sondern gewisser Emotionen und alter Vorurteile.«
»Danke für die Belehrung. Ich hoffe, ich trage meine Emotionen nicht auch so auf dem Präsentierteller vor mir her.«
»Nein, dazu sind Sie viel zu modern, in Gefühls- wie auch in anderen Dingen.«
»Damit meinen Sie zweifellos Manieren und Moralbegriffe, und das zwingt mich zu den kühnen Worten: >Kümmern Sie sich um Ihre eigenen verdammten Angelegenheiten!<«
»Gestern waren Sie froh, daß ich das nicht getan habe.« Doch dann lächelte er begütigend. »Heute leiden Sie wohl noch ein bißchen an den Nachwehen und sind wütend auf die ganze Welt. Wollen Sie nicht an was anderes denken? Kommen Sie doch mit mir! Ich muß nach Avesville fahren, und Sie könnten mir helfen, die Wagenketten abzumachen — so wie gestern. Los, holen Sie Ihren Mantel, und kommen Sie mit hinaus in die frische Winterluft. Die wird Sie schon von Ihrer schlechten Laune kurieren. Informieren Sie Ihre Familie, wenn Sie ausgehen, oder ist das hoffnungslos altmodisch?«
Sie mußte lachen, lief ins Haus und rief: »Chris, Lester Severne ist da! Er hat mir von der Schlacht gestern abend erzählt, und jetzt will er es dir auch erzählen!« Als er ihr folgte, fügte sie hinzu: »Nun reicht er mir den Ölzweig zum Zeichen des Friedens. Er will mich nach Avesville mitnehmen und mir ein paar Lämmer zeigen, von denen ich ohnehin nichts verstehe. Aber seine Absichten sind jedenfalls höchst ehrenwert.«
Christine lächelte nachsichtig. »Wie diese jungen Dinger heutzutage reden! Und nun erzählen Sie mir, wie die Familie die stille Hochzeit verkraftet hat.«
Als Lester seinen Bericht beendet hatte, dachte sie: Dieser junge Mann hat was — nicht nur Charme, sondern auch Charakter. Genau die Sorte von Problem, mit dem sich Jo gern herumschlägt... O Gott, ich wünsche ihr so sehr, daß sie ein solches Problem endlich einmal zu ihrer vollen Zufriedenheit löst...
Und dann wandte sie sich lächelnd an Lester und sagte: »Es war sicher ein harter Schlag für die Holdens. Natürlich, sie haben Fehler gemacht und viel aufs Spiel gesetzt. Aber vielleicht sind sie sogar froh, daß die Sache so ausgegangen ist. Es ist nur traurig, daß Beths Eltern nicht dabei waren, als ihre einzige Tochter geheiratet hat. Sie tun mir sehr leid.«
»Das ist ein Standpunkt, den Ihre Tochter sicher nicht akzeptiert.«
»Natürlich nicht. Sie ist jederzeit bereit, ihre Eltern zu kritisieren.«
»Ich weiß. Übrigens bin ich Ihrer Meinung, wenn Sie sagen, daß die Familie Fehler gemacht hat, aber es war trotzdem sehr hart für sie. Zur Zeit bin ich nicht sehr beliebt im Hause Holden, aber was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Sie haben genau das Richtige getan. Zwei Mädchen allein in Kusine Jane — das hätte sicher Ärger gegeben.«
»Wie wahr! Übrigens habe ich Ihrer Tochter davon abgeraten, Beths Eltern schon heute zu besuchen...«
In diesem Augenblick kam Jo herein. Sie hatte die letzten Worte gehört. »Irgendwann gehe ich auf jeden Fall hin. Wir müssen uns ja mal aussprechen, und außerdem muß ich Beths Sachen holen, damit ich die Hütte einigermaßen gemütlich herrichten kann. Ich weiß, Craig leidet sehr darunter, daß Beth die erste Zeit in einem so bescheidenen Rahmen leben muß.«
»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte Lester. »Mr. Trent hat die Hütte immer in Ordnung gehalten, aber wenn es trotzdem viel zu tun gibt, würde ich Ihnen gern helfen. Falls ich nicht im Weg bin...«
»Das sind Sie bestimmt nicht, ich steige nämlich nur höchst ungern auf Leitern. Sie können alles übernehmen, was außerhalb meiner Reichweite liegt. Ich rufe Sie an, wenn es losgeht.«
»Einverstanden. So, und jetzt fahren wir zu den Lämmern. Es wird Ihrer Seele guttun, den gestrigen Tag für eine Weile zu vergessen.«
Jo trug einen Pelzmantel und sah sehr hübsch aus. Christine kannte das Strahlen in den braunen Augen ihrer Tochter. Sie hatte es schon ein paarmal gesehen, wenn Jo einen jungen Mann kennengelernt hatte, und sie seufzte tief auf. Adrian kam in die Küche und fragte: »Was hat das Mädchen denn jetzt wieder vor?«
»Sie fahren nach Avesville, und ich hoffe, daß Jo diesmal an die Zwiebeln denkt.«
Im Auto begannen sie wieder zu streiten, denn Lester war entschlossen, diesem Mädchen zu zeigen, daß er auf der Seite seiner Familie stand, was immer diese auch falsch gemacht hatte. Schließlich beklagte sich Jo, daß er ständig auf ihr herumhacke, und er sagte: »Sie haben recht. Wir wollen Frieden schließen. Denken Sie von meinen Leuten, was Sie wollen, sagen Sie es in Eldado und bei Ihnen daheim, aber verschonen Sie bitte mich mit Ihrer Meinung.«
Jo seufzte. »Schon gut, ich werde mich in Zukunft zusammenreißen.«
»So anstrengend wird es schon nicht sein. Sie brauchen nur die einfachsten Regeln der Höflichkeit zu beachten, wenn es um meine Eltern oder die Holdens geht. Sonst können Sie sagen, was Sie wollen.«
Sie versank daraufhin in Schweigen, aber es schien ihn nicht zu stören; er redete von Beth und Craig, von landwirtschaftlichen Problemen, besonders von den Schwierigkeiten auf seiner Farm. Bald hatte Jo vergessen, daß sie eigentlich beleidigt sein wollte. Sie interessierte sehr, was er von seiner Farm zu erzählen hatte, denn sie dachte dabei an ihren Bruder und die viele Arbeit, die noch vor ihm lag.
Plötzlich fragte sie: »Macht es Ihnen eigentlich sehr viel aus, daß Sie jetzt hier festsitzen?«
»Ich werde nicht für immer in Rangimarie bleiben. Wenn die Farm wieder in Ordnung ist und gute Erträge bringt, wollen meine Eltern sie verkaufen und von ihrem Vermögen leben.«
»Und was werden Sie dann tun?«
»Ich kaufe mir eine eigene Farm. Als ich fünfundzwanzig war, habe ich eine Erbschaft gemacht, und deshalb kann ich mir das leisten... Hier ist die Farm, wo wir uns die Lämmer ansehen werden. Wir fahren direkt in den Hof.«
»Ich verstehe überhaupt nichts von Lämmern.«
»Dann wird es Zeit, daß Sie’s lernen. Sie würden Robert oder vielleicht sogar dem Burschen, den Sie mal heiraten, eine große Hilfe sein.«
Als sie nach Hause fuhren, war das Eis zwischen ihnen endgültig gebrochen, und Jo sagte beim Abschied: »Danke, daß Sie mich mitgenommen und auf andere Gedanken gebracht haben. Danke für alles...« Dann wandte sie sich abrupt ab und lief ins Haus.
»Jetzt siehst du wieder wie du selbst aus«, meinte ihr Vater und fragte dann indiskreterweise: »Warum hast du den jungen Severne denn nicht zu einem Drink eingeladen?«
»Wahrscheinlich hätte er ohnehin keine Zeit gehabt«, sagte sie betont gleichmütig.
»Ein netter Junge. Der netteste in dieser Gegend, abgesehen von Craig. Ganz anders als seine Familie und...« In diesem Moment begegnete er dem Blick seiner Frau und brach ab. Bald darauf kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und flüsterte mürrisch vor sich hin: »Was habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt? Ich habe doch nur gemeint, daß mir der Junge gefällt...«