15. KAPITEL
Tucker wachte über Nevada, als müsse er Dämonen abwehren.
„Mir geht es wirklich gut“, sagte sie zum vierten oder fünften Mal.
Er ignorierte sie weiter.
Genauso verstörend wie die Erkenntnis, dass sie von der Explosion oder dem nachfolgenden Erdrutsch hätte getötet werden können, war die Tatsache, dass Cat sich an sie herangemacht hatte. Tucker hatte normalerweise keine Mühe, eine Frau zu halten. Zu wissen, dass seine Konkurrenz für das andere Team spielte, bereitete ihm allerdings Unbehagen.
Er war sich bewusst, dass er sich zurückhalten sollte, was Nevada anging. Sie waren bereits zu sehr miteinander verbandelt. Aber im Moment war ihm das egal. Er wollte neben ihr stehen und sich auf die Brust trommeln, um sein Territorium zu verteidigen, auch wenn er nicht wusste, wozu das gut sein sollte.
Eine der Feuerwehrfrauen kam angelaufen, eine Sanitäterin dicht auf den Fersen.
„Sind Sie verletzt?“, wollte die Feuerwehrfrau wissen, während sie sich neben Nevada auf die Knie fallen ließ und ihr mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtete.
„Mir geht es gut, Charlie“, sagte Nevada und machte Anstalten, sich hinzustellen.
„Denk nicht mal daran“, tadelten Charlie und Tucker sie gleichzeitig, sodass Nevada sich wieder auf den Boden sinken ließ.
„Mir geht es auch gut“, schaltete Cat sich ein. „Will sich denn niemand um mich kümmern?“
„Doch, ich.“ Eine Sanitäterin kniete sich neben sie und griff nach Cats Handgelenk. „Wie geht es Ihnen, Ma‘am? Ist Ihnen schwindelig? Tut Ihr Kopf weh?“
„Haben Sie gerade Ma‘am gesagt?“ Cat schloss die Augen. „Jetzt ist mir schwindelig.“
Nevada kicherte.
Tucker schaute sie böse an. „Nicht lachen“, befahl er. „Du bist vielleicht verletzt.“
Eine zweite Sanitäterin gesellte sich zu Charlie und untersuchte Nevada unter Tuckers prüfenden Blicken. Er war sich bewusst, dass eine Gruppe Männer über den Geröllhaufen geklettert war und etwas rief, das er nicht verstand, doch mit dem Aufruhr würde er sich später beschäftigen müssen. Im Moment galt seine Hauptsorge Nevada.
Ungefähr zwei Minuten später löste die Sanitäterin die Blutdruckmanschette. „Bei Ihnen ist alles in Ordnung.“
Tucker war nicht recht überzeugt. „Was, wenn sie sich den Kopf angeschlagen hat?“
„Habe ich nicht“, beteuerte Nevada.
„Du kannst dich vielleicht nur nicht daran erinnern.“
Sie verdrehte die Augen. „Mein Kopf tut nicht weh, ich habe kein Dröhnen in den Ohren. Mir geht es gut.“
Cat wurde auch für gesund erklärt, aber sie schien nicht sonderlich erpicht darauf, aufzustehen. Nevada rappelte sich auf, breitete die Arme aus und drehte sich langsam im Kreis.
„Siehst du, alles heil.“
Cats Sanitäterin half ihr aufzustehen. Cat streckte die Hände aus und hielt sich an Nevada fest.
„Ich kann nicht fassen, was wir beide heute durchgemacht haben“, murmelte sie. „Wir hätten tot sein können.“ Sie schaute Nevada an. „Wir sollten in mein Hotel zurückkehren und uns ein wenig ausruhen.“
Nevada löste sich vorsichtig aus der Umklammerung. „Ich glaube nicht. Tucker, hast du jemanden, der Cat ins Hotel bringen kann?“
„Klar.“
Er winkte Jerry herüber und bat ihn, Cat nach Hause zu fahren. Cat protestierte, ließ sich dann schließlich aber doch widerstandslos zum Auto führen. Die Sanitäterinnen kehrten zu ihrer Ambulanz zurück.
Charlie kam auf Tucker zu und schaute ihn böse an. „Du hättest es besser wissen müssen. Sie stand viel zu nah dran.“
Nevada schüttelte den Kopf. „Schrei ihn nicht an. Es war mein Fehler. Ich habe mich ablenken lassen.“
„Ach, so nennst du das?“, murmelte er.
Nevada bedachte ihn mit einem wütenden Blick. „Fang bloß nicht damit an.“
„Du hast sie geküsst.“
Das hatte er gar nicht sagen wollen, aber die Worte waren raus, bevor er sie aufhalten konnte.
Charlie blinzelte sie beide an. „Wie bitte?“
Nevada seufzte. „Das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe Zeit.“ Interessiert schaute sie von Nevada zu ihm und wieder zurück. „Aber ich dachte …“
„Ich auch“, stieß Tucker zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das alles gefiel ihm ganz und gar nicht. In der Theorie waren zwei Mädchen zusammen ja ganz spannend, aber nicht, wenn eine davon sein Mädchen war.
„Ach wirklich?“ Charlie grinste. „Wie war es?“
„Anders.“
„Anders gut oder anders schlecht?“
„Fragst du aus eigenem Interesse?“ Nevada hob die Augenbrauen. „Cat befindet sich gerade in ihrer femininen Phase.“
„Sie ist nicht mein Typ, und ich bin nicht interessiert, sondern lediglich neugierig.“
Will kam auf sie zugerannt. „Boss, das musst du sehen. Die Sprengung hat eine ganze Reihe von Höhlen freigelegt. In denen befinden sich Gold und Statuen und Kunstgegenstände. Sie sehen sehr alt aus. Vielleicht sind sie sogar indianischen Ursprungs.“
„Maya“, riefen Nevada und Charlie gleichzeitig.
„Der Máa-zib-Stamm“, sagte Tucker. Er fragte sich, was sie da entdeckt hatten und wie sehr das die Bauarbeiten verzögern würde. Überraschungen wie diese waren für den Bauunternehmer selten gute Neuigkeiten.
„Kannst du Nevada ins Büro bringen?“, fragte er Charlie.
„Hey, auf keinen Fall. Ich will den Schatz auch sehen“, widersprach Charlie.
„Mir geht es gut“, betonte Nevada und ging in Richtung der wartenden Männer. „Inwiefern kann diese Entdeckung unsere Pläne zunichtemachen?“
„Das finden wir hoffentlich gleich heraus. Es hängt davon ab, wo sich die Höhlen befinden und was mit ihnen geschehen soll.“ Er ließ seinen Blick über die Sprengstätte schweifen und über die Menschen, die sich an der Bergflanke verteilt hatten. Wenn noch mehr Erde nachgab, würden sie alle in die Tiefe stürzen.
„Wir müssen die Stelle absperren“, sagt er zu Will. „Und wir brauchen Sicherheitsleute.“ Wenn sich in den Höhlen wirklich Gold befand … Er fluchte. Das würde nicht einfach werden.
„Sie liegen am anderen Ende des Gebiets, das wir für den Parkplatz vorgesehen haben“, sagte Nevada. „Das ist gut. Vielleicht befinden sich die Höhlen schon außerhalb der Grundstücksgrenze. Dann wären sie nicht unser Problem.“
„Ich fürchte, so viel Glück haben wir nicht.“
Fürsorglich legte er ihr einen Arm um die Schultern. „Geht es dir immer noch gut? Keine Kopfschmerzen oder Prellungen?“
„Ich habe mir beim Aufschlagen auf den Boden ein paar blaue Flecke geholt, aber ansonsten geht es mir gut“, erwiderte sie.
Sie erreichten den Fuß des Hügels. Bevor sie hinaufklettern konnten, kam ein Auto auf sie zu. Tucker erkannte es sofort – genau wie die ältere Frau, die jetzt ausstieg.
„Ich habe einen Anruf erhalten“, sagte Bürgermeisterin Marsha im Näherkommen. „Wir haben hier ein Vorkommnis?“ Sie schaute zu der Menge auf dem Erdhügel. „Die können da nicht bleiben. Der Untergrund ist vermutlich nicht sicher.“
„Ich habe meine Männer bereits losgeschickt.“
„Gut. Und ich habe schon mit Chief Barns telefoniert. Sie wird ihre Leute hier aufstellen, bis wir herausgefunden haben, was los ist.“ Sie atmete tief ein. „Liegt da wirklich Gold?“
„So erzählt man sich.“
„Weil eine gigantische Vagina ja nicht gereicht hat“, überlegte die Bürgermeisterin laut.
„Wenigstens ist das Gold eine gute Ablenkung von dem Thema“, erwiderte Tucker.
„Wenn Sie Ihren Job machen und den Aufbau der Vagina verhindern, brauchen wir keine Ablenkung.“
„Oh, stimmt. Guter Punkt.“
Nevada machte früher Feierabend. Auf der Baustelle herrschte das reinste Chaos; es wimmelte nur so vor Presse, Polizei und Schaulustigen aus der Stadt. Sie würde sich am folgenden Morgen um ihre anliegenden Aufgaben kümmern. Bis dahin freute sie sich auf ein heißes Bad und etwas Ruhe, um ihr neues, kompliziertes Leben zu analysieren.
Während das Wasser einlief, blitzten immer wieder Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, als sie das letzte Mal gebadet hatte. Das war an ihrem gemeinsamen Abend mit Tucker gewesen. Dem Abend, der ihr immer noch eine Gänsehaut verursachte. Der Mann weiß einfach, was er tut, dachte sie und stieg in die Wanne. Wenn der Sex zehn Jahre zuvor nur halb so gut gewesen wäre, hätte sie sich mit Cat im Armdrücken gemessen. Wobei ein Sieg von ihr auch keinen Unterschied gemacht hätte, so besessen, wie er damals von der schönen Künstlerin gewesen war.
Aber die Zeit macht einen Unterschied, dachte sie und ließ sich lächelnd in den Schaum sinken. Tucker hatte Cats Kuss nicht sonderlich gut aufgenommen. Er regte sich darüber mehr auf als sie. Eine interessante Wendung, wenn man bedachte, dass das ihr erster Kuss von einer Frau gewesen war. Aber nun war Cat ein Problem, von dem sie, Nevada, nicht wusste, wie sie es lösen sollte.
Es verstand sich von selbst, dass sie sie abweisen würde. Aber wie? Sosehr diese Frau sie auch in Rage bringen konnte, Nevada mochte Cat und wollte mit ihr befreundet bleiben. Morgen … dachte sie und streckte sich im Wasser aus, damit die Hitze ihr die verspannten Muskeln lösen würde.
Als das Wasser abkühlte, trocknete sie sich ab und zog sich an. Sie hatte Hunger, aber keine Lust zu kochen. Doch bevor sie sich entscheiden konnte, welchen Lieferservice sie anrufen sollte, klopfte es an ihrer Tür.
Nevada erstarrte; beinahe fürchtete sie sich, zu öffnen. Sie war noch nicht so weit, sich Cat zu stellen. Ihre Unterhaltung würde ein gewisses Maß an Feingefühl erfordern.
Es klopfte erneut.
Langsam und vorsichtig durchquerte sie das Wohnzimmer und schaute durch den Spion.
„Göttin sei dank“, sagte sie und öffnete die Tür.
Tucker lehnte im Türrahmen und sah sehr attraktiv aus. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Hast du jemand anders erwartet?“
„Zugegeben, der Gedanke ging mir kurz durch den Kopf.“
„Mir auch. Ich bin gekommen, um Anspruch auf meine Frau zu erheben.“
Sie lebten im einundzwanzigsten Jahrhundert, und vermutlich sollte sie dieser Aussage vehement widersprechen. In Wahrheit jedoch sorgten die Worte dafür, dass ihr innerlich ganz warm wurde.
„Was soll das heißen?“, fragte sie.
„Ich nehme dich mit. Pack eine Tasche. Ich habe in einer halben Stunde einen Tisch für uns reserviert. Den Wein habe ich schon ausgewählt.“
Wein klang nett. Genau wie die Vorstellung, die Nacht mit ihm zu verbringen.
„Gib mir fünf Minuten.“
Tuckers Suite im Hotel verfügte über ein Wohnzimmer mit einem Sofa und zwei Sesseln sowie ein angrenzendes großes Schlafzimmer. Nevada ließ ihre Tasche auf das Bett fallen und drehte sich zu Tucker um.
„Fütter mich.“
Er lachte leise. „Du warst nie eine, die Spielchen gespielt hat.“
„Nein, nicht mein Stil.“
Er nahm ihre Hand, und gemeinsam gingen sie nach unten. Im Restaurant wurden sie zu einem Ecktisch geleitet. Der Wein war bereits geöffnet und eingeschenkt worden, auf ihren Plätzen lagen die Speisekarten bereit.
„Sehr gute Vorbereitung“, bemerkte Nevada und setzte sich.
Tucker nahm ihr gegenüber Platz. „Ich kann, wenn ich will.“
„Schön, auch mal einen Beweis dafür zu sehen.“
Er beugte sich vor. „Wie geht es dir?“
„Gut. Keine Kopfschmerzen. Mein Rücken und Po tun von dem Aufprall allerdings noch ein wenig weh.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass ich so dumm war, nicht darauf zu achten, wo wir standen. Kriege ich dafür eine Verwarnung?“
„Dieses Mal nicht, aber wenn das noch mal passiert, handelst du dir ernsthafte Schwierigkeiten ein.“
„Kommt nicht mehr vor, versprochen.“ Es waren ja auch vorerst keine weiteren Sprengungen geplant.
„Deine Bürgermeisterin jagt mir eine Heidenangst ein“, gestand er.
„Mach dir nichts draus. Damit bist du in guter Gesellschaft. Bürgermeisterin Marsha hat so ihre Methoden, genau das zu kriegen, was sie will.“
„Und so schnell sie will. Das betroffene Gebiet ist bereits vollständig abgesperrt, und Dutzende Polizisten stehen Wache. Es sind weitere Sicherheitsleute angefordert worden, die werden wohl morgen früh da sein. Außerdem hat sie Kontakt zu einem berühmten Archäologenteam aufgenommen, das sich um den Fund kümmern soll. Das kommt ebenfalls morgen.“
Sie nippte an ihrem Wein. Der Mann weiß, wie man einen Wein aussucht, dachte sie. Was sie an die ganzen anderen Talente denken ließ, die Tucker besaß.
„Was bedeutet das für den Bau?“, hakte sie nach.
„Die Bürgermeisterin schwört, dass wir innerhalb von zwei Wochen die Arbeit vollständig wieder aufnehmen können. Selbst wenn es doppelt so lange braucht, ein Monat ist nicht so schlimm. Wir können den Bau des Parkplatzes verschieben und uns auf den Rest konzentrieren. Das ist einer der Vorteile, wenn man ein so riesiges Gelände bebaut. Die große Frage ist nur, wem gehört das Gold?“
„Hast du es gesehen?“
„Ein paar Stücke. Schnitzereien und Statuen, ein wenig Schmuck. Es ist ein ziemlich großer Fund. Ich kenne mich mit Archäologie zwar nicht aus, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Jungs in den Kakihosen sehr glücklich sein werden.“
„Der Fund ist auch gut für die Stadt“, sagte sie. „Er bringt mehr Touristen. Und die lieben wir – genau wie ihre Dollars.“
„Tz, tz, und ich habe gedacht, das Leben in einer Kleinstadt wäre langweilig.“
„Niemals.“
Er musterte sie.
Sie seufzte. „Mir geht es gut. Hör auf, dir Sorgen zu machen.“
„Ich kann nicht anders. Ich fühle mich nun mal verantwortlich für dich.“ Er hob sein Glas. „Wie geht es Cat?“
„Ich habe nicht wieder mit ihr gesprochen.“
„Würdest du das denn gern?“
Fragend schaute sie ihn an. „Eifersüchtig?“
„Nicht direkt. Nur … Ich versuche, damit umzugehen. Das war der erste Kuss von zwei Frauen, den ich live und in Farbe gesehen habe.“
„Meiner auch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich werde mit ihr reden müssen. Ich glaube nicht, dass sie wirklich an mir interessiert ist. Es geht eher um ihre Kunst. Aber ich will trotzdem nicht ihre Gefühle verletzen.“ Sie nahm das Weinglas in die Hand, stellte es aber gleich wieder ab, ohne zu trinken.
„Oh Gott“, murmelte sie und fügte in Gedanken die Puzzleteile zusammen. „Wir haben uns alle geküsst. Das ist quasi ein Dreier.“
Tucker lehnte sich zurück und lachte so herzhaft, dass sie lächeln musste. Wenn ich in seiner Nähe bin, geht es mir immer gut, dachte sie. Heute fand sie das Gefühl, sicher und beschützt zu sein, ganz sexy, aber es war noch mehr als das. Sie mochte es, dass er sie als gleichberechtigte Partnerin behandelte und sie als Teil seines Teams akzeptierte.
Sie reichte ihm eine Speisekarte. „Wappne dich. Ich bin in der Stimmung für ein Steak.“
„Dann bestell dir eins. Du hast es dir verdient.“
Eine Minute später kam der Kellner und nahm ihre Bestellung auf. Als sie wieder allein waren, schenkte Tucker ihr Wein nach.
„Was weißt du über die Geschichte der Máa-zib?“, fragte er. „Cat hat zwar erzählt, dass sie viel mit Gold gearbeitet haben sollen, aber sonst habe ich noch nie davon gehört.“
„Ich auch nicht. Die meisten Geschichten drehen sich darum, dass es sich um eine matriarchalische Gemeinschaft mit wenig Interesse an Männern gehandelt hat.“ Sie lächelte. „Außer wenn es darum ging, schwanger zu werden.“
„Was für ein romantischer Haufen.“ Er trank von seinem Wein. „Meine Mutter war diejenige mit dem meisten Máa-zib-Blut. Falls sie je etwas erzählt hat, hat Dad es vergessen, und seine Familie hat ihm niemals irgendwelche Geschichten erzählt. Ich habe ihn vor ein paar Jahren mal gefragt, und er konnte sich nicht erinnern, dass Mom je etwas gesagt hätte.“
„Du warst noch sehr jung, als sie starb.“
„Ich kann mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern“, gab er zu. „Es gibt ein paar blasse Bilder, aber ich nehme an, die rühren von den Geschichten, die mein Vater mir von ihr erzählt hat, und nicht unbedingt aus meinen eigenen Erinnerungen.“
„Das muss schwierig sein.“
„Ich kenne es nicht anders. Und was man nie hatte, kann man nicht vermissen.“
Damit hast du vermutlich recht, dachte sie ein wenig traurig. „Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte sie dann dich und deinen Dad auf seinen Reisen begleitet?“
„Ich weiß nicht. Darüber habe ich nie nachgedacht.“ Er streckte den Arm über den Tisch aus und berührte ihre Hand. „Ich hätte auch an einem Ort wie Fool‘s Gold aufwachsen können.“
„Es gibt schlimmere Schicksale.“
„Mir gefällt es hier. Mehr als ich erwartet hätte. Hier herrscht ein tolles Gemeinschaftsgefühl, auch wenn Bürgermeisterin Marsha ein wenig herrisch wirken kann.“
Nevada grinste. „Sie beschützt ihre Lieben.“
„Ich bin nur froh, dass sie keine Waffe trägt.“
Das Gefühl seiner Finger, die ihre sanft streichelten, erweckte alle Nervenenden in ihrem Körper zum Leben. Später, dachte sie. Obwohl sie sich sicher war, dass Tucker sofort zustimmen würde, wenn sie vorschlüge, die Party nach oben zu verlegen, wollte sie doch noch warten. Nicht nur, um die Vorfreude länger auszukosten, sondern weil es nett war, auf diese Weise Zeit mit Tucker zu verbringen – wie ein ganz normales Pärchen.
Sobald dieser Gedanke in ihrem Kopf Gestalt angenommen hatte, ermahnte sie sich, sich zusammenzureißen. Immerhin arbeiteten sie zusammen, was zu ganz eigenen Komplikationen führen konnte. Aber was noch schlimmer war: Tucker glaubte nicht an die Liebe. Was nicht heißen sollte, dass sie ihn liebte – oder irgendetwas Ähnliches.
Trotzdem war es ein guter Zeitpunkt, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass es dumm wäre, sich auf ihn einzulassen.
Jo lag auf der Seite, eine wohlige Schwere im Körper, und dachte ausnahmsweise einmal an nichts. Will hatte sich neben ihr ausgestreckt und eine Hand auf ihre Hüfte gelegt. Eindringlich schaute er sie an.
„Ich könnte von dir abhängig werden“, murmelte sie.
„Gut.“
Nein, nicht gut, dachte sie. Weit davon entfernt. Sie kannte die Gefahren, die es barg, sich in einen Mann zu verlieben. Trotzdem, jetzt, da sie nachgegeben hatte, konnte sie sich nicht davon überzeugen, sich wieder zurückzuziehen. Mit ihm zusammen zu sein fühlte sich so leicht an. So richtig. Was ihr auf gewisse Art eine Heidenangst einjagte.
Jake, ihr Kater, sprang aufs Bett. Wie es sich für einen wahren Vertreter der Katzenfamilie gehörte, ignorierte er sie und ging zu Will, um sich von ihm streicheln zu lassen.
„Verdammter Kater“, murmelte Will und kraulte ihn hinter den Ohren.
„Das sagst du immer, aber du bist trotzdem sehr lieb zu ihm.“
„Für eine Katze ist er ganz in Ordnung.“
Sie lächelte. „Du bist ein Softie. Außen harter Kerl, aber innen drin butterweich.“
Seine Antwort bestand daraus, sie zu küssen.
„Ich liebe dich.“
Seinen Worten folgte Schweigen. Sie waren unerwartet und unwillkommen.
Nicht Liebe, dachte sie panisch und setzte sich auf, wobei sie die Decke enger um sich zog. Niemals Liebe. So sehr sollten sie sich nun auch nicht aufeinander einlassen.
Er verzog den Mund. „Wenn ich die Panik in deinem Blick richtig deute“, sagte er grimmig, „sind das für dich keine guten Neuigkeiten.“
Sie rollte sich vom Bett und hob ihren Slip auf. Nachdem sie ihn angezogen hatte, schlüpfte sie in ein T-Shirt und drehte sich zu Will um.
„Nein, sind es nicht.“
„Wenigstens bist du ehrlich.“ Er setzte sich jetzt ebenfalls auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes. Schmerz verdunkelte seinen Blick. „Verrätst du mir, warum?“
Jake war enttäuscht, dass er nicht mehr gekrault wurde, und begab sich zum Fußende des Bettes, um sich zu putzen.
Will ist ein guter Mann, dachte Jo. Das hatte sie immer gewusst. Er war freundlich und normal und würde es vermutlich nicht verstehen. Ihm die Wahrheit zu sagen bedeutete, ihn zu verlieren. Sie ihm nicht zu sagen bedeutete vermutlich dasselbe. Sie hatte seine Gefühle verletzt – das Einzige, was sie sich geschworen hatte, nie zu tun.
„Willst du dich für den Rest deines Lebens verstecken?“, fragte er. „Was ist passiert? Hat dich jemand verletzt?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Das funktioniert nicht. Wenn ich es dir sage, wird das alles verändern.“
„Nein, wird es nicht. So bin ich nicht.“
Das hatte er schon einmal behauptet. Aber er irrte sich. Jeder ist so, dachte sie.
„Erzähl es mir einfach“, beharrte er. „Ich kann es nicht ändern, wenn ich nicht weiß, was es ist.“
„Da gibt es nichts zu ändern. Es ist meine Vergangenheit, und die kann nicht rückgängig gemacht werden. So einfach ist das.“
Er schaute sie an. „Nichts, was du sagen könntest, würde mich dazu bringen, mich von dir abzuwenden. Ich liebe dich. Das wird sich nicht ändern.“
Er meinte, was er sagte. Das konnte sie sehen. Und beinahe glaubte sie ihm. Aber das wäre zu leicht, dachte sie traurig. So viel Glück habe ich nicht.
Lange Zeit stand sie da, bevor sie akzeptierte, dass sie nicht viele Möglichkeiten hatte. Wenn sie es ihm jetzt nicht erzählen würde, würde er das Thema später wieder zur Sprache bringen. Entweder gab sie nach, oder zwischen ihnen war es aus. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nicht schwach war, nur weil sie ihn nicht verlieren wollte. Doch sie wusste, dass sie sich damit nur selbst belog. Irgendwann, als sie mal nicht aufgepasst hatte, war ihr dieser Mann wichtig geworden.
Ein Stuhl mit gerader Rückenlehne stand in der Ecke des kleinen Schlafzimmers. Sie zog ihn näher ans Bett heran und setzte sich. Die Vergangenheit, die sie so sehr hinter sich zu lassen versucht hatte, war auf einmal wieder sehr präsent und hüllte sie ein.
„Meine Eltern starben, als ich noch sehr jung war“, fing sie an und betrachtete ihre kurzen Fingernägel, anstatt Will anzuschauen. „Ich war ein paar Jahre in verschiedenen Pflegeheimen und bei Pflegefamilien untergebracht. Es war nicht toll, aber auch nicht wirklich schlimm. Ich wurde nicht missbraucht oder so. Aber ich habe nie dazugehört, falls das Sinn ergibt.“
Sie hob den Kopf und sah, dass er sie aufmerksam anschaute. Ein beklommenes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Das wird kein gutes Ende nehmen, dachte sie. Aber jetzt war es zu spät, sich eine Lüge auszudenken.
„Als ich ungefähr fünfzehn war, wurde ich zu einer Frau geschickt, die als Pflegemutter noch ganz neu war. Sie war älter – damals kam sie mir uralt vor, heute würde ich sie als mittelalt bezeichnen.“ Sie brachte ein gequältes Lächeln zustande. „Ich denke, sie war so Ende fünfzig. Sandy. Sie war sehr nett. Wirklich nett. Süß. Ihr lag wirklich etwas an mir – ein Gefühl, das ich sehr lange nicht gehabt hatte. Dann habe ich Ronnie kennengelernt. Er war ein Jahr älter als ich und der schlimmste Junge an der Schule. Unglaublich sexy, mit Tattoos und einem Motorrad. Ich konnte ihm nicht widerstehen. An dem Tag, als er mich das erste Mal geküsst hat, habe ich gewusst, dass ich sofort glücklich sterben könnte.“
Sie schaute auf die Decke, zum Boden. Überallhin, wo es sicher war.
„Mit Ronnie zusammen zu sein war aufregend. Gefährlich“, fuhr sie fort. „Einmal haben wir ein paar Flaschen aus einem Spirituosenladen geklaut. Das war viel zu leicht. Wir haben uns betrunken. Sandy hat davon nichts gewusst, nichts geahnt. Ronnie war ihr gegenüber immer so höflich. Sie betete ihn an und freute sich für mich. Ich fühlte mich schlecht, weil ich sie hinterging, aber das hielt mich trotzdem nicht auf.“
„Ich kenne diese Art Typen“, sagte Will.
„Dann wirst du nicht überrascht sein zu hören, dass die Sache eskalierte. Wir überfielen einen Eckladen in einer Nachbarstadt. Dann raubten wir eine Reinigung aus. Niemand hat großen Widerstand geleistet, und die Polizei hatte keine Ahnung, wer wir waren. So böse zu sein war aufregend und lustig und etwas, das wir gemeinsam taten. Am Tag gaben wir die braven Schüler, und abends waren wir Bonnie und Clyde.“
Schulterzuckend schaute sie ihn an. „Ich habe die Geschichte von Bonnie und Clyde nur in Teilen gehört und wusste nicht, wie sie endet.“
Sie atmete tief ein. „Wir beschlossen, als gemeinsames Geschenk zu unserem Schulabschluss eine Bank zu überfallen. Sandy ließ mich Collegebewerbungen ausfüllen und sagte, sie habe ein wenig Geld zur Seite gelegt, um mich bei der Zahlung der Studiengebühren zu unterstützen. Ich konnte es nicht glauben. Ich hätte besser zuhören und das Geschenk annehmen sollen. Aber ich wollte lieber mit Ronnie zusammen sein.“
„Ihr habt eine Bank überfallen?“ Will klang geschockt.
„Zumindest haben wir es versucht. Wir haben einen Plan gemacht und wären damit auch durchgekommen, wenn der Bankmanager nicht beschlossen hätte, uns aufzuhalten. Ronnie hatte eine Waffe und …“
Jetzt kommt der schwere Teil, dachte sie. Der Teil, der sie bis zum heutigen Tag verfolgte. Noch immer konnte sie sich an das Entsetzen in den Augen des Bankmanagers erinnern. An die Art, wie sein Blick immer wieder zu den gerahmten Fotos auf seinem Tisch geglitten war. Er hatte eine Frau und drei Kinder gehabt.
„Wir waren so jung und dumm“, fuhr sie leise fort. „Ronnie brüllte ihn an, er solle das Geld rübergeben, und ich …“ Sie hatte einen Kloß in der Kehle. „Ich machte mit, sagte, dass Ronnie ihn erschießen werde, wenn er nicht tue, was wir verlangten. Ich hatte solche Angst, war aber auch fest entschlossen, das durchzuziehen.“
Sie atmete stockend ein. „Die Polizei stürmte das Gebäude, und ein Kunde rief, dass Ronnie schießen würde, und dann fiel wirklich ein Schuss, und auf einmal feuerten alle ihre Pistolen ab.“
Sie hatte nicht gewusst, dass ein Schuss so laut war. Der Klang hatte die kleine Schalterhalle erfüllt und war von den Wänden widergehallt, bis sie glaubte, ihr würde das Trommelfell platzen. Die nachfolgenden Schüsse schienen gar kein Ende zu nehmen.
Sie hatte einfach nur dagestanden und darauf gewartet, getötet zu werden – war so ignorant gewesen, zu glauben, bei diesem Bankraub zu sterben wäre romantisch.
Sie senkte den Blick und schaute wieder auf ihre Hände. „Da war so viel Blut“, flüsterte sie. „Ich wusste nicht, dass es so viel Blut geben könnte.“ Sie musste nicht die Augen schließen, um Ronnie auf dem Fußboden der Bank liegen zu sehen. Schmerzhaft erinnerte sie sich daran, dass jemand schrie und das Geräusch ihr in den Ohren schmerzte. Sie hatte lange gebraucht, um zu erkennen, dass sie selbst diese Person war.
„Sie haben mich verhaftet. Mein Anwalt hat versucht, mich dazu zu bringen, zu behaupten, es wäre alles Ronnies Schuld gewesen. Immerhin war er tot und konnte nicht widersprechen. Aber das wollte ich nicht. Ich habe ihnen alles erzählt und dann auf schuldig plädiert. Ich wollte diesen ganzen Menschen vor Gericht nicht noch mal gegenübertreten müssen. Am Ende wurde ich verurteilt, und das war‘s.“
Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Sandy ist mich besuchen gekommen. Sie war am Boden zerstört. Immer wieder beteuerte sie, dass es ihr Fehler gewesen sei, und ich versicherte ihr, dass das nicht stimmte. Ich hatte solche Angst, dass sie mich im Stich lassen würde, doch das tat sie nicht. Nicht einmal, als man mich schließlich ins Gefängnis schickte.“
Jetzt endlich schaute sie ihn an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, genau wie seine Augen. Was vermutlich besser ist, als würde er aufspringen und mich als Mörderin beschimpfen, dachte sie.
„Ich wurde zu zwölf Jahren verurteilt. Davon habe ich neun abgesessen. Als ich rauskam, war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Das war vor beinahe zehn Jahren. Sandy war krank, und ich bin die nächsten Jahre bei ihr geblieben und habe mich bis zu ihrem Tod um sie gekümmert. Sie hat mir alles hinterlassen. Ich habe ihr kleines Haus verkauft, das Geld genommen und bin irgendwie hier in Fool‘s Gold gelandet. Da habe ich dann die Bar gekauft.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es tun. Ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich Ronnie damit wieder lebendig machen könnte. Wir waren Kinder, aber wir hätten es trotzdem besser wissen müssen. Ich weiß, dass ich Glück hatte. Der Bankmanager wurde angeschossen, hat sich aber vollständig davon erholt, und ich hatte Sandy, die nach mir geschaut hat. Sie hat mich nie aufgegeben. Ich weiß nicht, warum. Jeder andere hätte mir wahrscheinlich den Rücken zugekehrt.“
Sie schwieg, hoffte, er würde etwas sagen. Doch das tat er nicht. Sie fühlte sich unbehaglich, deshalb fügte sie hinzu: „Ich habe meine Lektion gelernt. Offensichtlich. Jetzt ist zwar alles anders, aber ich trage die Geschichte immer noch mit mir herum.“
„Das kann ich verstehen.“ Er rollte sich auf der anderen Seite aus dem Bett und fing an, sich anzuziehen.
Sie stand auf, sorgfältig darauf bedacht, den Stuhl zwischen ihnen zu haben. Instinktiv wusste sie, dass sie Schutz brauchen würde.
Er zog die Jeans an und das Sweatshirt über. Schließlich schaute er sie an und fluchte: „Ich dachte, du wärst mit einem Mann zusammen gewesen, der dich geschlagen hat. Ich dachte, du wärst eine Mafiaprinzessin oder so ein Schwachsinn.“
Sie verzog keine Miene. Ließ ihn nicht sehen, wie sehr seine Worte sie trafen.
„Du hast keine tolle Vergangenheit“, stieß er hervor. „Du bist eine Kriminelle. Deinetwegen hätte ein unschuldiger Mann sterben können. Damit möchte ich nichts zu tun haben.“
Er zog sich die Stiefel an, packte seine Jacke und war fort. Sekunden später hörte sie die Haustür schwer ins Schloss fallen und seine Schritte auf der Treppe.
Sie fing an zu zittern. Nicht weil es im Zimmer kalt war. Die Kälte kam von innen. Sie fegte durch sie hindurch, bis Jo so sehr zitterte, dass sie kaum noch stehen konnte.
Sie hatte gewusst, was passieren würde, wenn sie die Wahrheit erzählte. Sie hatte gewusst, wie es enden würde. Warum nur war sie dann so überrascht?
Tränen stiegen ihr in die Augen. Als sie sie fortwischte, fragte sie sich, ob sie ihre Vergangenheit jemals hinter sich lassen könnte. Sie wollte sie nicht vergessen. Für das, was sie getan hatte, würde sie den Rest ihres Lebens bezahlen – und das hatte sie auch verdient. Aber im Laufe der Zeit hatte sie sich verändert, und nun hoffte sie, dass sich auch in der Zukunft etwas für sie ändern würde.