14. KAPITEL

Tucker ging quer über das gerodete Land zu der Stelle, die an die Berge grenzte. Die Sprengung würde gute zehn Meter wegreißen, was nicht nach viel klang. Doch er hatte so etwas schon öfter gemacht und wusste, wie viel lose Steine und Erde dabei freigesetzt würden. Sobald die weggeräumt wären, würde die Bergflanke stabilisiert und die Bauarbeiten könnten fortgesetzt werden.

Die Grabungen für die Wasser- und Abwasserkanäle hatten bereits begonnen. In wenigen Wochen würden massive Rohre geliefert und entsprechend verlegt werden. Der bestehende Anschluss an das öffentliche Wassernetz würde die Arbeit zwar ungemein erleichtern, bedeutete im Gegenzug aber auch mehr Anträge und Genehmigungen.

In der Ferne sah er Nevada, die mit den Männern ihres Teams sprach. Die Jungs nickten aufmerksam, und einer machte sich sogar Notizen. Das musste Tucker ihr lassen, sie wusste, wie man sich in diesem Beruf durchsetzte.

„Hey, Boss.“

Tucker nickte, als Jerry näher kam. Der fünfzigjährige Oberaufseher arbeitete seit beinahe dreißig Jahren für die Firma, davon die letzten zehn für Tucker.

„Der Sprengtrupp ist auf dem Weg und wird morgen hier sein. Sie schauen sich alles an, richten sich ein und wollen Freitag zur Sprengung bereit sein. Das sollte eine gute Show werden.“

„Das glaube ich auch.“

Das Lachen einer Frau drang zu ihnen herüber. Tucker schaute zu Nevada und den Männern.

„Sie macht sich gut“, stellte Jerry fest. „Ein paar der Jungs waren nicht sicher, wie es ist, sich einer Frau unterzuordnen, noch dazu einer Einheimischen. Aber sie weiß, was sie tut. Sie ist fair, und es ist angenehm, mit ihr zusammenzuarbeiten. Außerdem ist sie hübsch, aber da ihr zwei ja was miteinander habt, lassen die Männer sie in Ruhe.“

Mürrisch sah Tucker Jerry an. „Wir haben nichts miteinander.“

Jerry grinste. „Klar. Rede dir das nur weiter ein, Boss. Vielleicht glaubst du es dann irgendwann. Ich mache dir keinen Vorwurf. Wie gesagt, wenn du nicht zuerst da gewesen wärst, hätten viele der Männer es bei ihr probiert.“ Das Grinsen wurde breiter. „Ihre Schwestern werden Ende des Jahres heiraten. Du könntest eine Drillingshochzeit daraus machen.“

Jerry lachte laut über seinen eigenen Witz und klopfte Tucker auf den Rücken. „Soll ich schon mal anfangen zu sammeln? Du könntest viel Geld verdienen, wenn du mit den Jungs wettest.“

„Nein, danke.“ Tucker bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu knirschen.

Das Vortäuschen ihrer Beziehung hatte offenbar zu gut funktioniert. In Wahrheit gingen sie gar nicht miteinander, aber das schien niemanden zu interessieren. Sie sahen sich kaum. Ja, sicher, sie hatten miteinander geschlafen, aber das war mehr ein Unfall als alles andere gewesen. Es hatte aber trotzdem Spaß gemacht. Sie war toll. Er verbrachte gern Zeit mit ihr. Nicht nur wegen dem Sex, obwohl der wirklich sensationell war, sondern weil er sich gut mit ihr unterhalten konnte. Sie verstanden einander. Außerdem war Nevada lustig und klug. Er würde sie gern öfter sehen, aber sie gingen nicht miteinander aus und waren auch sonst nicht verbandelt.

Jerry winkte und gesellte sich zu der Gruppe um Nevada. Tucker schaute ihm hinterher, nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Er hatte klargestellt, dass er keine Beziehung wollte, weil er glaubte, Liebe mache dumm. Nevada verstand das. Was das anging, waren sie völlig einer Meinung.

Das hoffte er zumindest. Wo er jetzt so darüber nachdachte, war er sich nicht sicher, dass sie die Regeln kannte. Was, wenn sie mehr von ihm erwartete?

Er hatte sich die Frage noch nicht ganz zu Ende gestellt, da brach ihm schon der kalte Schweiß aus. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass die Leute hier dächten, er hätte Nevada etwas vorgespielt. Ihr Team würde sich gegen ihn stellen, und wer weiß, vielleicht sogar die ganze Stadt. Also mussten sie dringend darüber reden – zwei Worte, die in jedem Mann den Fluchtinstinkt weckten.

Aber er musste einiges klarstellen. Es würde keine Dreifachhochzeit geben. Spätestens in einem Jahr würde er zum nächsten Projekt weiterziehen. Ja, Nevada würde ihm fehlen, aber das bedeutete nicht, dass er sie heiraten wollte. Oder sonst jemanden.

Sich irgendwo niederzulassen war ein Gedanke, den er sich nie erlaubt hatte. Er nahm an, dass er eines Tages in Erwägung ziehen würde, eine Familie zu gründen. Traditionellerweise würde man dafür erst einmal heiraten. Aber als er jetzt kurz darüber nachdachte, erinnerte er sich sofort wieder daran, wie es mit Cat gewesen war. Er hatte nicht mehr klar denken und keine eigenen Entscheidungen treffen können. Sie hatte jeden Aspekt seines Lebens kontrolliert und ihn gedemütigt, und das würde er auf keinen Fall noch einmal zulassen.

Entschlossen, die Sache gleich hier und jetzt mit Nevada zu klären, machte er sich auf den Weg zu ihr. Bevor er jedoch mehr als zwei Schritte gehen konnte, kam ein Polizeiwagen auf ihn zu. Auf den Türen stand Fool‘s Gold Police Department.

Er wartete, bis die Polizistin am Steuer geparkt hatte und ausgestiegen war.

„Tucker Janack?“, fragte sie.

Er nickte.

Sie kam zu ihm. „Ich bin Alice Barns, Polizeichefin in Fool‘s Gold. Nett, Sie kennenzulernen.“

„Warum glaube ich Ihnen das nicht?“, fragte Tucker und beäugte sie misstrauisch.

Sie war von mittlerer Größe, vermutlich etwas über vierzig und trug eine dunkle Uniform.

„Ich lerne gerne neue Leute kennen“, erwiderte sie. „Ich bin eine Menschenfreundin.“ Sie reichte ihm einen DIN-A4-Umschlag. „Der ist für Sie.“

„Was ist das?“

„Eine Vorladung. Sie sollen vor dem Stadtrat von Fool‘s Gold erscheinen. Nevada erhält auch eine, nur damit Sie es wissen.“

„Eine offizielle Vorladung? Können die das machen?“ Er hätte nicht gedacht, dass ein Stadtrat so viel Macht besaß.

Sie lächelte. „Meine Anwesenheit hier sagt, dass sie es können.“

„Guter Einwand.“

Nevada war in der Schule nie zum Rektor gerufen worden, aber sie schätzte, sie hätte sich dann genauso gefühlt wie in diesem Moment. Sie hatte noch nie an einer Stadtratssitzung teilgenommen, also wusste sie nicht, wie die normalerweise abliefen, aber sie nahm an, dass es üblicherweise mehr als nur einen Tagesordnungspunkt gab.

Sie und Tucker hatten auf der einen Seite an dem langen Konferenztisch Platz genommen. Ihnen gegenüber saßen sieben Frauen. Bürgermeisterin Marsha saß in der Mitte, flankiert von ihren Stadträten. Keine von ihnen sah glücklich aus.

Nevada schaute auf das Blatt Papier, das vor ihr lag. Darauf standen das Datum, der Sitzungsbeginn, das Wort „Agenda“, gefolgt von einem Bulletpoint und dem Satz „Vagina-Angelegenheit.“

Nachdem die Sitzung eröffnet worden war, atmete die Bürgermeisterin tief ein.

„Ich bin die am längsten amtierende Bürgermeisterin in ganz Kalifornien“, sagte sie. „Ich habe Erdbeben, Schneestürme, vernichtete Weinernten und kürzlich das katastrophale Feuer miterlebt, das eine unserer Schulen zerstört hat. Wir haben Busladungen von Männern und eine Realityshow überlebt. Diese Stadt wird sich nicht von einer gigantischen Vagina in die Knie zwingen lassen.“

Nevada schluckte. „Das hatten Sie gestern schon erwähnt, als Sie uns auf der Baustelle besuchten, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, was wir …“

„Löst das Problem“, unterbrach Marsha sie barsch. „Ihr beide kennt Ms Stoicasescu von früher. Ihr seid der Grund, warum sie hier ist. Ich mache euch beide für das, was sie vorhat, verantwortlich.“

Nevada wollte widersprechen, dass es nicht ihre Schuld war. Dass sie nichts mit Cat zu tun hatte. Aber die sieben Frauen, die sie anstarrten, wirkten nicht so, als würden sie sich auf eine derartige Diskussion einlassen.

„Ja, Ma‘am“, sagte sie leise. Sie war sich nicht sicher, was „verantwortlich sein“ in diesem Fall hieß, aber es bedeutete bestimmt nichts Gutes.

Tucker beugte sich vor. „Wenn ich kurz darf? Es war nicht Nevada, die eine Beziehung zu Cat hatte, sondern ich. Also liegt es auch in meiner Verantwortung und nicht in ihrer.“

„Nevada und Cat sind Freundinnen. Nevada hat sie in der Stadt herumgeführt.“

Nevada zuckte innerlich zusammen. So viel dazu, das Richtige zu tun, dachte sie.

Die Bürgermeisterin seufzte. „Ich finde es sehr reizend, dass Sie Nevada verteidigen. Das spricht für Sie. Im Moment ist es mir ehrlich gesagt egal, wer das Problem löst. Ich will es einfach nur vom Tisch haben – und ich will, dass unsere Unterhaltung darüber festgehalten wird. In meiner Stadt gibt es keine gigantische Vagina. Haben wir uns verstanden?“

Nevada und Tucker nickten beide.

„Gut. Ihr dürft jetzt gehen.“

Sie standen auf und verließen eilig den Sitzungssaal. Sobald sie allein im Flur standen, lehnte Nevada sich gegen die Wand.

„Wenn wir nicht in dem ganzen Schlamassel mittendrin stecken würden, wäre die Sache ziemlich lustig.“

„Wem sagst du das.“ Er lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. „Und jetzt?“

„Jetzt reden wir mit ihr und erklären ihr, dass die Stadt ihr Geschenk nicht haben möchte.“ Sie wollte eigentlich sagen, dass Tucker mit ihr reden sollte, aber die beiden hatten seit Cats Ankunft in Fool‘s Gold keine Zeit zusammen verbracht. „Ich mach das.“

„Bist du dir sicher? Ich kann es auch versuchen.“

„Nein. Du bist ihr Ex. Das bedeutet zu viel emotionalen Ballast. Wir sind nur befreundet.“

„Was wirst du ihr sagen?“

„Ich habe keine Ahnung.“

In der Hoffnung, Cat dort zu finden, machte sich Nevada auf den Weg zum Gold Rush Ski Lodge and Resort. Der winzige seltsame Mann, der ihr Assistent war, sagte, dass Cat arbeite, und gab Nevada die Adresse eines Industriegebiets am Rand der Stadt. Dorthin fuhr Nevada mit dem Auto.

Das riesige Gebäude war in ein Dutzend oder mehr kleinere Einheiten unterteilt worden. Die ganz am Ende hatte beinah die doppelte Deckenhöhe. Als sie daran dachte, wie viel Platz man bräuchte, um eine gigantische Vagina zu bauen, entschied sich Nevada, es erst einmal dort zu versuchen.

Sie klopfte an die Tür, doch niemand antwortete. Sie klingelte und öffnete schließlich einfach. Ohrenbetäubend laute Musik begrüßte sie. Wenn sie raten sollte, würde sie auf die Black Eyed Peas tippen.

Ein großes Gerüst stand mitten im Raum, genau wie damals in L. A., als Nevada Cat zum ersten Mal begegnet war. Es erhob sich bis zu der beinahe sieben Meter hohen Decke. Massive Metallplatten standen in einem Regal, und Nevada erkannte, dass die Grundstruktur der Skulptur bereits angelegt worden war. Stangen waren so zusammengebunden, dass sie ein riesiges V bildeten. Ein Flaschenzugsystem würde die Metallplatten auf die entsprechende Höhe bringen.

Cat stand an einem langen Tisch und schnitt mit einer gefährlich aussehenden Schere Metallstücke ab. Schwere Handschuhe schützten ihre Hände. An der Wand hing eine Zeichnung des fertigen Werks.

Wirbel, Wellen und feinste Muster bedeckten die weiblichen Kurven. Wenn man für einen Moment vergessen konnte, dass es sich um eine Vagina handelte, war es wunderschön.

Cat schaute auf und erblickte Nevada. Sie lächelte breit, zog die Handschuhe aus und drückte auf einen Knopf auf der Fernbedienung. Die Musik verstummte.

„Du bist gekommen!“ Cat eilte auf sie zu und zog sie in die Arme. „Findest du meine Werkstatt nicht auch einfach fabelhaft? Sie ist perfekt.“

Nevada erwiderte die Umarmung und zog sich dann vorsichtig zurück. „Ich erinnere mich noch an dein Atelier in Los Angeles. Es fällt mir immer noch schwer, diese schwere handwerkliche Arbeit mit der unglaublich schönen Leichtigkeit in Verbindung zu bringen, die deine fertigen Werke auszeichnet.“

Cats grüne Augen strahlten vor Stolz. „Das ist meine persönliche Form der Magie.“ Sie nahm Nevadas Hand und zog sie daran mit sich zu der Zeichnung an der Wand. „Ich weiß nicht immer von Anfang an, was ich tue. Manchmal lasse ich das Stück während der Arbeit zu mir sprechen. Aber dieses Mal hatte ich eine Vision. Es ist so klar und eindeutig.“ Sie lachte. „Ich habe beinahe das Gefühl, ich muss es gar nicht machen. Ich kann einfach die Hand ausstrecken und berühren, was es einst sein wird.“

„Faszinierend“, murmelte Nevada. „Du bist eine Inspiration, dass du die Stadt auf diese Weise ehrst.“

Cat lehnte sich gegen sie. „Das muss ich. Schließlich stammst du von hier.“

Oh nein. Nicht das schon wieder.

„Es gibt nur ein Problem.“

Erwartungsvoll schaute Cat sie an.

„Das Thema des Objekts“, begann Nevada vorsichtig. „Du bist so brillant und berühmt. Die Menschen werden herströmen, um das Werk zu betrachten. Aber man ist besorgt, dass es für Fool‘s Gold etwas schlüpfrig ist.“

Cat verdrehte die Augen. „Ich bitte dich. Sei nicht so provinziell. Meine Arbeit feiert die Macht der Frauen.“

Nevada nahm an, dass eine riesige Brust noch schlimmer wäre, aber nicht viel. „Okay, aber das hier ist eine sehr familienorientierte Stadt. Die Eltern wollen ihren Kindern nicht erklären müssen, was das ist.“

„Warum nicht? Wir sollten stolz auf unsere Körper sein. In jedem von uns steckt so viel Schönheit.“ Empört zog sie die Augenbrauen in die Höhe. „Willst du mir etwa sagen, die Stadt möchte mein Geschenk nicht haben?“

Ihre Stimme war leise, beinahe neutral, aber Nevada bekam ein ganz schlechtes Gefühl im Bauch.

„Sie machen sich Sorgen wegen der Vagina. Wäre es etwas anderes, vielleicht …“

„Etwas anderes?“ Cats Stimme überschlug sich beinah. „Sie wagen es, mir vorzuschreiben, was ich erschaffen soll? Sie mischen sich in meinen künstlerischen Prozess ein? Wissen die überhaupt, wer ich bin? Regierungen zahlen mir Millionen von Dollar für meine Arbeit. Weißt du, wie viel die Franzosen mir für mein Stück geben – eine Arbeit, die ich nach hinten geschoben habe, um das hier zu entwerfen, mein Dankeschön an diese Stadt?“

„Wenn sie deine Kunst nicht angemessen zu schätzen wissen, solltest du vielleicht noch einmal darüber nachdenken, ob sie deines großzügigen Geschenks überhaupt würdig sind.“

„Niemals.“ Cat stapfte davon und wirbelte nach ein paar Schritten herum. „Wie können sie es wagen! Ich bin eine Künstlerin! Sie haben kein Recht, mein Geschenk abzulehnen. Kein Recht, sich zu beschweren. Es ist ein Geschenk. Man kann nicht selber bestimmen, was für ein Geschenk man erhält. Mein Werk wird dieser kleinen Stadt einen Platz auf der internationalen Kunstlandkarte bescheren. Man sollte mich auf Knien anflehen, es ihr zu überlassen.“

Ihre Stimme schwoll bei jedem Wort an, sodass sie am Ende beinah schrie. Nevada fand die Situation nicht sonderlich angenehm, aber wirklich mulmig wurde ihr erst, als Cat den Schweißbrenner in die Hand nahm und ihn entzündete.

„Okay“, sagte sie und eilte zur Tür. „Du denkst darüber nach, und wir sprechen später noch mal.“

Sie huschte nach draußen und zuckte zusammen, als sie Cats Schrei hörte. Das Geräusch hallte noch in ihren Ohren nach, als sie schon in ihrem Truck saß und davonraste.

„Sieh es doch mal positiv“, meinte Tucker. „Wenigstens musst du dir jetzt keine Gedanken mehr darüber machen, dass sie was von dir will.“

„Halt den Mund.“ Wütend funkelte Nevada ihn an.

Sie wünschte, sie wären allein, damit sie ihn in den Bauch boxen könnte. Aber hier auf der Baustelle, inmitten ihrer Arbeiter und dem Sprengungsteam, das gerade dabei war, die letzten Handgriffe zu erledigen, erschien ihr das nicht richtig.

Die gute Nachricht war, dass heute die Sprengung stattfand und sie sich danach vermutlich besser fühlen würde. Es ging doch nichts über eine starke Explosion und einen darauf folgenden heftigen Erdrutsch.

„Soll ich noch mal mit ihr reden?“, bot Tucker an.

„Sie würde dich vermutlich mit einem Flammenwerfer angreifen. Was im Moment gar nicht mal so schlecht klingt.“

Tucker grinste. „Hab keine Angst. Du könntest es mit ihr aufnehmen.“

„Sie hat gemeingefährliche Werkzeuge und ist in entsprechender Stimmung, sie einzusetzen. Du hättest sie hören sollen. Sie findet die Stadt undankbar. Wenn das doch nur ausreichen würde, um ihre Meinung zu ändern.“

Nevada schaute zu, wie ihre Männer in Position gingen. „Ich muss los.“

„Nach der Sprengung wirst du dich besser fühlen.“

„Das hoffe ich auch.“

Ein Stück von einem Berg wegzusprengen war ein komplexer Vorgang. Dutzende von Sicherheitsleuten hatten ihre Plätze eingenommen. Nevada schaute sich noch ein letztes Mal ihren Verantwortungsbereich an, dann lehnte sie sich zurück, um die Show zu genießen.

„Äh, Boss?“

Sie drehte sich um und sah Jerry auf sich zukommen. An seiner Seite war Cat.

„Sie haben Besuch“, erklärte Jerry das Offensichtliche.

Nevada unterdrückte ein Stöhnen. „Was tust du hier?“, fragte sie Cat. „Egal. Wir müssen uns weiter zurückziehen. Heute wird gesprengt.“

Sie führte Cat zurück zum Baubüro und gab ihr einen Schutzhelm. Sobald sie den aufgesetzt hatte, stemmte Nevada die Hände in die Hüften.

„Was tust du hier?“, fragte sie erneut.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Cat sie an. Ihr Mund zitterte. „Ich wusste es. Du bist böse auf mich.“

„Nicht wirklich.“

Tränen füllten Cats Augen. „Ich war so verletzt von dem, was du gesagt hast. Es war, als hättest du mir ein Messer ins Herz gerammt und es dann unter deinem Absatz zertreten. Die Essenz meines Seins. Worum du mich gebeten hast, was du verändert haben wolltest … Ich dachte, du kennst m…mich.“ Ihre Stimme zitterte bei dem letzten Wort, als unterdrücke sie einen Schluchzer.

Nevada fluchte leise. Sie bedeutete Cat, ihr zu folgen, und entfernte sich vom Bürocontainer.

„Ich habe nicht vorgehabt, deine Seele zu zertreten.“

„Wieso hast du dann all diese Dinge zu mir gesagt?“

„Weil es nun mal der Wahrheit entspricht. Fool‘s Gold möchte keine gigantische Vagina auf dem Marktplatz stehen haben.“

„Aber es ist mein Geschenk. Es ist, was ich bin.“

„Transzendent?“

Cats Mundwinkel verzogen sich ein wenig nach oben. Nevada mochte mit Mädchensachen nicht viel zu tun haben, aber sie musste zugeben, dass Cat der Inbegriff von Schönheit war.

„Ja“, flüsterte Cat. „Ich möchte es ihnen schenken, weil das so ist, als würde ich es dir schenken. Jedes Mal wenn du es siehst, wirst du an mich denken.“

„Das stimmt.“

Mist und Doppelmist, dachte Nevada. Jemand rief: „Noch eine Minute.“ Sie packte Cat und zog sie noch ein paar Meter weiter zurück.

„Ich habe bereits eine Vagina“, sagte Nevada. Sie konnte nicht glauben, dass sie diese Unterhaltung wirklich führte. „Kannst du nicht irgendetwas anderes machen?“

Cat schüttelte den Kopf.

Nevada seufzte. „Es geht hier nicht um dich. Ich verstehe, dass du uns ein Geschenk machen willst, aber interessiert es dich überhaupt nicht, dass wir es nicht wollen?“

„Das verstehst du nicht. Wenn ihr das fertige Kunstwerk seht, werdet ihr dankbar sein. Jeder von euch.“

„Nein, werden wir nicht. Wir werden entsetzt sein. Kann es nicht irgendetwas anderes sein? Ein Kreis? Die Silhouette einer Frau?“

Cat lachte. „Sei nicht dumm. Natürlich kann es nichts anderes sein. Ich habe keine Kontrolle darüber, was ich erschaffe. Ich muss es einfach tun.“

„Technisch gesehen stimmt das so nicht. Du bist diejenige, die es baut. Du bist diejenige …“

Plötzlich gab es einen Knall, und sie flog durch die Luft.

Sie war sich vage eines Countdowns bewusst gewesen, der heruntergezählt worden war, hatte aber nicht weiter darauf geachtet. Wer konnte auch schon irgendetwas anderes wahrnehmen, wenn Cat in ihrer vollsten verrückten Pracht neben einem stand? Das bedeutete, sie hatte nicht so gut aufgepasst, wie sie es hätte tun sollen, und nicht darauf geachtet, dass sie weit genug von der Explosion entfernt waren.

In der einen Sekunde hatten sie sich unterhalten, in der nächsten flog sie durch die Luft. Wenn auch nicht für lange. Der Boden kam sehr schnell näher und stellte sich als wesentlich härter heraus, als er aussah. Sie schlug mit einer Wucht auf, die ihr die Luft aus den Lungen presste.

Einen Herzschlag lang herrschte komplette Stille, dann schnappte sie nach Luft und keuchte beim Einatmen. Ihr tat alles weh. In ihren Ohren rauschte es, und ihr Kopf schien sich unaufhörlich zu drehen.

„Da muss wohl jemand eine ganze Menge erklären“, murmelte sie und setzte sich vorsichtig auf.

Sie bewegte ihre Beine und stellte erfreut fest, dass sie nicht verletzt zu sein schienen. Dann atmete sie ein paarmal tief ein, und langsam konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen.

Cat!

Sie sah, dass ihre Freundin ebenfalls auf der Erde saß und etwas verwirrt dreinschaute. Ein Geräusch wie Donner ertönte. Sie schauten sich beide um und sahen einen Teil des Berges in sich zusammenfallen. Eine dicke Staubwolke erhob sich gen Himmel.

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Nevada.

Cat nickte.

„Ich hätte besser aufpassen müssen“, sagte Nevada. Und vermutlich sollte ich auch aufstehen, dachte sie, aber das kam ihr irgendwie zu schwierig vor.

„Mir geht es gut.“ Cat krabbelte auf sie zu. „Bist du verletzt?“

„Nein. Nur durchgeschüttelt.“ Sie lachte. „Wie ein James-Bond-Martini.“

Cat grinste.

Nevada hörte Rufe hinter ihrem Rücken. Super. Irgendjemand hatte mitbekommen, wie sie durch die Luft geflogen waren, und würde jetzt einen Riesenaufstand machen.

„Ich gehe nicht ins Krankenhaus“, murmelte sie.

Cat rutschte näher und legte die Hände auf Nevadas Schultern. „Alles wird gut“, sagte sie. Dann senkte sie den Kopf und küsste sie.

Nevada wusste, dass sie vermutlich irgendein durch die Explosion induziertes Trauma hatte, aber dennoch erkannte sie einen Kuss, wenn sie einen bekam. Warme weiche Lippen legten sich auf ihre. Das bemerkte sie als Erstes. Weich, nicht fest. Sanft. Cats Parfum hüllte sie ein, und die starken Künstlerinnenhände packten ihre Schultern.

Nevada saß dort wie erstarrt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Cat wegzuschieben schien die beste Reaktion, aber sie wollte nicht gemein sein. Außerdem wusste sie nicht, wo genau sie ihre Hände zum Schieben hinlegen sollte, um bei Cat keinen falschen Eindruck zu erwecken.

Bevor sie einen Plan ausarbeiten konnte, hörte sie jemanden rufen.

„Gold!“, rief der Mann. „Seht ihr das Gold?“

Cat beendete den Kuss. Nevada zog sich ein wenig zurück und sagte sich, dass das ein ausgezeichneter Moment wäre, um aufzustehen und wegzulaufen. Doch bevor sie die Idee in die Tat umsetzen konnte, standen Tucker, Will und ein paar andere Männer um sie herum. Sie hörte jemanden nach den Sanitätern rufen. Tucker kniete neben ihr und schüttelte sie sanft.

„Was, zum Teufel, ist mit dir los?“ Er klang wütend. „Du hättest getötet werden können.“

Er sah so aufgebracht und besorgt aus, dass sie sich auf verdrehte, mädchenhafte Weise sofort besser fühlte.

„Bin ich aber nicht“, erwiderte sie.

„Verdammtes Weibsbild“, murmelte er, bevor er sich vorbeugte und sie ebenfalls küsste.

Dieses Mal war die Berührung vertraut und erregend. Als er sich wieder aufrichtete und sie weiter böse anschaute, konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. Schon komisch: Nach all den Jahren war sie auf einmal das Mädchen, das alle haben wollten.