17

Der nächste Tag war ein Sonntag. Lucifer ging mit schnellen Schritten über den Dorfanger. Ein leichter Wind wehte kleine Wölkchen über den blassblauen Himmel. Die letzten Leute beeilten sich, in die Kirche zu kommen. Lucifer ging mit ihnen und wählte dann einen Platz im hinteren Teil der Kirche.

Er blickte suchend über die Köpfe der Menschen und versuchte, Phyllida zu entdecken. Er hatte sie am vergangenen Nachmittag nach Hause gefahren, über ihr nächstes Treffen hatten sie gar nicht gesprochen. Dodswell passte auf das Herrenhaus auf, und er war gekommen, um sie zu bitten, den Tag mit ihm zu verbringen, sich die Bücher anzusehen, die Widmungen zu lesen, einen Spaziergang auf der Wiese mit ihm zu machen - was immer sie wollte.

Er entdeckte Sir Jasper. Lady Huddlesford und Frederick saßen neben ihm. Auch Miss Sweet war da. Doch Phyllida konnte er nicht sehen und auch Jonas nicht.

Die Orgel begann zu spielen, die Gemeinde erhob sich, als Mr Filing und die kleine Gruppe der Chorknaben eintraten. Lucifer zögerte, dann verließ er seinen Platz und ging so unauffällig wie möglich zu Sir Jasper hinüber.

Sir Jasper lächelte ihn an.

»Phyllida?«, fragte Lucifer leise.

Sir Jasper beugte sich zu ihm. »Kopfschmerzen«, flüsterte er. »Sie ist zu Hause.«

Kopfschmerzen. Lucifer holte tief Luft, dann nickte er und zog sich wieder zurück. Hinten in der Kirche zögerte er an der letzten Reihe, dann wandte er sich um und verließ die Kirche.

Noch viel schneller, als er gekommen war, ging er über den Dorfanger zurück. Es gab keinen Grund, absolut keinen, warum Phyllida keine Kopfschmerzen haben sollte. Frauen bekamen nun einmal Kopfschmerzen, doch sie benutzten diese oft auch als Entschuldigung. Wenn er die Farm erreichte und feststellte, dass Phyllida im Bett lag, dann würde er ihre Kopfschmerzen akzeptieren, und die nagenden Sorgen in seinem Kopf würden wieder verschwinden.

Bis dahin war noch immer ein Mörder unterwegs, der es auf sie abgesehen hatte. Als er den Weg erreichte, begann er zu laufen.

Von der Kirche aus erreichte man die Farm schneller über den Weg durch das Dorf. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er durch das Tor lief. Er läutete an der Tür, dann öffnete er sie und ging hinein. »Phyllida?«

Eine Tür wurde geöffnet, und Jonas kam aus der Bibliothek. Er starrte Lucifer erschrocken an. »Sie ist nicht bei dir?«

Lucifer öffnete den Mund, doch Jonas hob die Hand und hielt ihn zurück. »Ich habe Phyllida durch den Wald zum Herrenhaus gebracht, ich bin gerade erst zurückgekommen. Sie hat gesagt, dass du normalerweise nicht in die Kirche gehst und zu Hause wärst.«

Lucifer verzog das Gesicht. »Normalerweise schon, aber heute bin ich in die Kirche gegangen, um sie dort zu treffen.«

Jonas griente, und Lucifer wandte sich wieder zur Tür. »Ich habe Dodswell im Herrenhaus zurückgelassen, also ist sicher nichts geschehen.« An der Tür blieb er noch einmal stehen und sah zurück. »Hat sie dir einen Grund genannt, warum sie mich sehen wollte?«

Jonas griente noch immer, er schüttelte den Kopf. »Nichts, was sie mir anvertrauen wollte. Aber sie hatte einen braunen Hut, ihre Tasche und einen Sonnenschirm bei sich. Ich habe angenommen, dass du mit ihr irgendwo hingehen solltest.«

»Hmm. Zweifellos werde ich das schon bald erfahren.« Mit einem Nicken verließ Lucifer den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Mit ihr irgendwo hingehen. Als er die Farm verließ und durch den Wald ging, versuchte er sich vorzustellen, was Phyllida wohl vorhatte. Er hatte angenommen, dass ihre Nachforschungen im Augenblick ruhen würden, dass sie darüber nachdenken müssten, was sie als Nächstes unternehmen sollten. Offensichtlich hatte Phyllida das bereits getan und hatte eine Antwort gefunden.

Er wusste schon, wohin er am liebsten mit ihr gehen würde, aber dazu brauchte sie weder einen Sonnenschirm noch ihre Tasche. Normalerweise brachte sie keine Tasche mit, wenn sie ihn im Herrenhaus besuchte.

Seine Schritte wurden länger. Nach ein paar weiteren Schritten begann er zu laufen. Der Weg durch den Wald war holprig, er konnte nicht so schnell laufen, wie er es gern getan hätte. Doch die Panik in seinem Inneren hatte nicht nachgelassen, sie wurde nur noch größer.

Er rannte durch den Küchengarten ins Haus. Dodswell begegnete ihm im Flur.

Ein Blick in sein Gesicht genügte.

»Gott sei Dank.« Dodswell hielt ihm eine Nachricht entgegen. »Miss Phyllida war hier und hat Sie gesucht.«

»Ich habe sie auch gesucht.« Lucifer faltete das Blatt Papier auseinander. Ein weiteres Blatt fiel heraus. Phyllida hatte geschrieben:

L, unser Aushilfsmädchen hat mir dies hier gebracht, gerade als ich zur Kirche gehen wollte. Sie hat gesagt, jemand hätte an der Hintertür geklopft, und sie hätte diese Nachricht auf der Treppe gefunden. Wie du aus dieser Nachricht ersehen kannst, scheint es, dass wir den Mörder von Horatio endlich gefunden haben oder zumindest jemanden, der weiß, wem der braune Hut gehört. Molly ist die Schneiderin von Lady Fortemain. Ich wollte dich bitten, mich zu dem Treffen zu begleiten, allerdings ging das nicht, und Jonas war schon wieder weg, ehe ich wusste, dass du nicht hier warst. Dodswell wollte ich auch nicht mitnehmen, weil dann niemand auf das Herrenhaus hätte aufpassen können. Wenn ich noch nicht zurück bin, wenn du aus der Kirche kommst, dann kannst du mich vielleicht hier treffen oder auf dem Rückweg. P.

Es folgte noch die Beschreibung des Weges. Lucifer richtete seine Aufmerksamkeit auf die andere Nachricht, die Phyllida bekommen hatte. »Miss Tallent« war in einer offensichtlich weiblichen Schrift auf die Vorderseite geschrieben. Er faltete das Papier auseinander und las:

Liebe Miss Tallent, wie Sie wissen, arbeite ich auf Ballyclose, und ich habe gehört, dass sie nach dem Besitzer eines gewissen braunen Hutes suchen. Ich kennen einen Gentleman, der einen braunen Hut verloren hat, aber ich bin nicht sicher, ob es richtig wäre, Ihnen zu sagen, wer dieser Gentleman ist, wenigstens nicht solange, bis ich sicher bin, dass es sich um seinen Hut handelt.
Ich möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, ganz be sonders nicht dieser gewisse Gentleman, dass ich mit Ihnen rede. Ich habe nicht viel Freizeit, aber ich könnte mich am Sonntag aus dem Haus schleichen, wenn alle in der Kirche sind. Wenn Sie möchten, dass ich mir den Hut ansehe und feststelle, ob es der Hut ist, den ich meine, dann könnten Sie mich am Sonntag während der Kirchzeit in der alten Drayton Hütte finden, und ich würde versuchen, Ihnen zu helfen.
Mit höflichen Grüßen Molly

Die Nachricht sah echt aus. Die Worte waren sorgfältig geschrieben, man konnte sich leicht vorstellen, dass eine Näherin sich mit der Abfassung dieser Nachricht abgemüht hatte.

Lucifer wartete darauf, dass seine Panik nachließ. Doch das geschah nicht. Ein Teil von ihm drängte wie der Teufel danach, schnell zu reagieren. Sein Körper war angespannt, erfüllt von dem Wunsch, etwas zu tun.

Er fluchte und faltete die Seiten wieder zusammen.

War es seine Intuition, die ihm sagte, dass sie in Gefahr war, dass sie der Gefahr entgegenlief? Oder war es sein Instinkt, elementar und primitiv, der darauf bestand, dass sie nur dann sicher war, wenn sie in seiner Nähe war?

Oder war es ganz einfach nur die Panik, diese entsetzliche Furcht, dass sie ihm genommen werden könnte, wenn sie nicht in seiner Nähe war?

Er schob all die Fragen beiseite und versuchte, aus Phyllidas Wegbeschreibung klug zu werden. Die alte Drayton Hütte stand ein wenig nördlich der Felder, die den Weg nach Dottswood und Highgate säumten. Er hatte gehört, dass sie verlassen war. Während ihm die Logik sagte, dass alles in Ordnung wäre, dass der Mörder gar nicht wissen konnte, dass Phyllida allein dort draußen war, so musste er doch zugeben, dass die Drayton Hütte ein eigenartiger Treffpunkt für eine Frau war, die von Ballyclose kam.

Aber wer wusste schon, was im Kopf einer Frau vor sich ging?

Das waren genau seine Worte gewesen, als er von Phyllida gesprochen hatte. Er stopfte die Nachrichten in seine Tasche. »Ich werde Miss Tallent folgen.«

Dodswell nickte. »Aye. Ich werde hier warten und aufpassen.«

Er kannte den Weg bis zu der Stelle, an der ein schmaler Pfad den Weg vom Dorf kreuzte. Danach musste Lucifer immer wieder auf Phyllidas Wegbeschreibung sehen, während er über die Felder lief, über Zaunübertritte stieg und an kleinen Baumgruppen vorüberkam. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte auf seine Schultern. Es wäre ein hübscher Spaziergang gewesen, wäre er nicht so angespannt gewesen und so schnell gegangen.

Als er um eine Baumgruppe herumkam, blieb er stehen, um noch einen Blick auf Phyllidas Wegbeschreibung zu werfen. Der Wind drehte sich - er roch Rauch.

Mit hoch erhobenem Kopf schnüffelte er und roch noch einmal Rauch. Er warf einen Blick auf die Notiz, dann stopfte er sie in seine Tasche und begann zu laufen.

Noch ein Feld musste er überqueren, die verlassene Hütte lag offensichtlich auf einer Lichtung dahinter. Er bahnte sich einen Weg durch eine Hecke und lief dann über das Feld, auf dem in Kniehöhe die Frucht stand. Bäume verdeckten die Landschaft, die hinter dem Feld lag, doch noch immer wehte Rauch mit dem Wind zu ihm. Er sprang über ein Tor und lief dann durch die Bäume. Dann hörte er das Knistern.

Als er aus den Bäumen wieder herauskam, entdeckte er die Hütte auf einem kleinen Abhang vor ihm. Die Vordertür stand offen, er rannte über einen alten Gartenweg und bemerkte, dass nicht nur die Tür, sondern auch die Fenster geöffnet waren.

Das Dach war aus altem Reet, ausgetrocknet und löchrig, Flammen züngelten daraus hervor. Die offenen Fenster und Türen boten dem Feuer Nahrung.

Rauch wehte um ihn, als wolle er versuchen, ihn von der Tür zu vertreiben. Er hustete, wandte sich ab, holte tief Luft und drang dann in die Hütte vor.

Seine Augen tränten, doch auch wenn er nicht darauf achtete, konnte er kaum etwas sehen. Der Rauch wirbelte um ihn herum und wurde jeden Augenblick dichter. Er fühlte Wände zu beiden Seiten, es musste ein Flur sein, in dem er stand. Mit gesenktem Kopf und ausgestreckter Hand, das Taschentuch vor Mund und Nase gedrückt, ertastete er sich den Weg.

Holz - ein Türrahmen. Er ging in das Zimmer. Seine Füße traten auf etwas, er stolperte und fiel auf die Knie.

Flammen hatten die Decke des Zimmers erfasst, das Feuer dröhnte. Die Flammen hatten auch den Türrahmen erfasst und wehten nach draußen.

Lucifer hockte auf Händen und Knien und hustete. Er hatte sein Taschentuch verloren und konnte kaum noch atmen. Seine Lungen brannten.

Worüber war er gestolpert? Blind streckte er die Hände aus und hätte vor Erleichterung beinahe geweint, als er ein Bein berührte, das Bein einer Frau. Phyllida oder die Näherin? Er fühlte weiter, ertastete den Körper, bis er am Haar angekommen war. An ihrem Haar.

Phyllida. Die seidigen Strähnen in seiner Hand waren in seine Erinnerung gebannt. Ihr Kopf in seiner Hand hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Phyllida.

Die Erleichterung war so groß, dass er einen Augenblick lang innehielt. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, sie atmete noch, aber nur flach.

Er selbst konnte auch kaum noch atmen, konnte sich nicht konzentrieren, nicht denken.

Plötzlich ertönte ein lautes Knacken über seinem Kopf und dann ein Knall wie aus einer Pistole. Noch einmal wurden die Flammen um sie herum angefacht, die Hitze wurde noch eindringlicher, verbrannte die Luft.

Er konnte nicht länger atmen. Mit flachen, kleinen Atemzügen kam er auf die Beine, doch richtete er sich nicht ganz auf. Er beugte sich über Phyllida, fasste sie um die Taille, dann bemühte er sich, sie über seine Schulter zu heben.

Ein Schauer von Funken regnete auf ihn hernieder, als er sich in die Richtung drehte, in der er die Tür vermutete. Er machte zwei Schritte und stieß gegen den Türrahmen. Phyllida hing über seiner Schulter, ihr Kopf schlug gegen seinen Rücken. Er hielt ihre Beine fest und schlurfte in den Flur. Es hatte keinen Zweck, nach oben zu sehen, das Dach über ihnen glühte rot hinter dem dichten Rauch, der sie umgab.

Er stieß gegen die Wand des Flurs, dann stolperte er wieder und fiel. Er streckte die Hand aus und ertastete die Vordertür. Alles in seinem Kopf drehte sich. Einen Augenblick lang blieb er benommen liegen, ihm war übel. Über ihm knackte etwas, brennendes Holz fiel auf ihn hinunter. Ein Stück davon traf seine Hand, weitere Stücke fielen auf Phyllidas Rock. Er keuchte auf, doch er konnte keine Luft in seine Lungen bekommen, dann wischte er heftig die brennenden Holzstücke von Phyllidas Rock. Der Rock war versengt, doch er hatte kein Feuer gefangen.

Ein Schwall kühler Luft traf ihn, über ihm wütete das Feuer.

Lucifer atmete tief auf, hielt die Luft an und kam wieder auf die Füße.

Er stolperte über die Schwelle und machte noch drei Schritte, ehe er auf dem Weg vor der Haustür wieder zusammensank. Sie hatten das Schlimmste hinter sich, doch sie waren noch nicht gerettet. Sie waren dem Haus viel zu nahe.

Hustend und würgend sah er zum Haus zurück, seine Augen brannten. Die Haustür war von Flammen eingehüllt, die hell und verzehrend leuchteten. Aus den offenen Fenstern drang Rauch, dahinter tanzten noch immer die Flammen.

Wenn Molly, die Schneiderin, dort drinnen war, dann konnte er nichts tun, um sie zu retten.

Er sah auf Phyllida hinunter. Sie war von seiner Schulter geglitten, als er gefallen war, jetzt lag sie bewusstlos neben ihm. Er holte tief Luft und fühlte, wie seine Lungen brannten. Keuchend richtete er sich auf die Knie. Auf die Füße zu kommen schaffte er nicht.

In seinem Kopf drehte sich alles, als er den Arm um Phyllida schlang und sie an seine Seite zog. Dann zerrte er sie mit sich, während er den Pfad entlang zur Wiese kroch, so weit wie nur möglich vom Haus weg. Er kam an eine Stelle, wo die Wiese ein wenig nach unten abfiel. Dort legte er sich hin und zog Phyllidas bewusstlosen Körper zu sich heran, legte ihr Gesicht auf seine Brust und schützte ihren Kopf und ihre Schultern mit seinen Armen. Dann rollte er die Wiese hinunter bis zu einem flachen Stück moosigen Grases, weit weg von der brennenden Hütte.

Lucifer hob den Kopf und sah zu der Hütte zurück. Flammen schossen aus allen Fenstern und wehten über die Außenwände. Es war eine Todesfalle.

Phyllida war noch immer bewusstlos, sie atmete nur flach. Doch sie lebte.

Er atmete tief ein, schloss die Augen und sank auf das Gras zurück.


Der Wind drehte sich und brachte den schwachen Geruch von Rauch mit sich, bis hin zum Dorfanger. Ein Feuer um diese Jahreszeit erforderte sofortiges Einschreiten. Männer kamen mit Schaufeln und Säcken angerannt, mit allem, was ihnen gerade in die Hände fiel.

Die Thompson Brüder waren die Ersten, die angelaufen kamen. Andere gesellten sich zu ihnen, einige Männer kamen auf Pferden, nicht alle waren gesattelt. Kammerdiener, Stallburschen, Lakaien und auch ihre Herren, alle waren dabei. Lucifer entdeckte Basil, der den anderen Befehle zurief. Cedric hatte seinen Rock ausgezogen, er schwang eine Mistgabel und zerrte das brennende Reet vom Dach, damit die anderen mit den Säcken die Flammen ersticken konnten.

Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Hütte, niemand hatte bis jetzt Lucifer und Phyllida entdeckt. Lucifer blieb ganz still liegen, sein Kopf dröhnte, er war viel zu schwach, um sich zu bewegen, während er dem beinahe unhörbaren Atem Phyllidas lauschte. Das Geräusch hielt ihn bei Bewusstsein, ließ ihn noch klar denken.

Dann begannen die Flammen schwächer zu werden, weil ihnen die Nahrung fehlte. Die Hütte war mehr oder weniger bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Thompson zog sich in den Garten zurück, um wieder zu Atem zu kommen, und entdeckte sie dort. Er stieß einen überraschten Ruf aus und kam den Abhang heruntergelaufen.

Auch andere hatten sich umgewandt und die beiden entdeckt, sie folgten Thompson. Lucifer winkte Thompson zu sich heran, mit der Hilfe des kräftigen Mannes gelang es ihm, sich aufzusetzen. Seine Handrücken waren verbrannt, auch seine Fingerkuppen. Sein Haar war zum großen Teil unversehrt, doch sein Rock war ruiniert, auf den Schultern und dem Rücken waren Brandflecken. Um sie herum versammelte sich die Menschenmenge - Oscar, Filing, Cedric, Basil, Henry, Grisby und andere. Alle waren äußerst schockiert und erschrocken. Lucifer räusperte sich. »Ich habe sie bewusstlos in der Hütte gefunden«, brachte er schließlich heraus. »Die Hütte brannte bereits lichterloh.«

Filing schob sich durch die Menge und kniete neben Phyllida nieder. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht hatte sie zur Seite gedreht. Filing umfasste sanft ihre Schultern und hob sie ein wenig hoch, um sich zu versichern, dass sie noch atmete. Dann legte er sie auf das weiche Moos zurück. »Wir müssen euch beide hier wegbringen - Phyllida muss zurück zur Farm.«

Lucifer schloss die Augen. Noch immer drehte sich alles um ihn herum. »Sir Jasper?«

»Die Leute von der Farm hatten die Kirche schon verlassen, ehe der Alarm losging.«

Lucifer war nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht. Sir Jasper wäre erschüttert, doch er konnte noch immer damit rechnen, dass der ältere Mann sich um alles kümmerte. Er selbst war dazu im Augenblick nicht in der Lage.

Basil hockte sich neben Phyllida. Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Locke ihres Haares aus dem Gesicht. Sein eigenes Gesicht war angespannt und voller Entsetzen. Phyllidas Haar war teilweise verbrannt, ihr blaues Kleid war noch schlimmer in Mitleidenschaft gezogen als Lucifers Rock. Gott sei Dank hatte sie ein festes Kleid getragen und nicht eines aus Musselin. Mit ein wenig Glück hatte sie keine schwereren Verbrennungen erlitten. Basils Hand zitterte, als er sie wieder zurückzog, sein Gesicht war kreidebleich.

Genau wie die Gesichter einiger anderer Leute. Henry Grisby bot sich an. »Dottswood liegt am nächsten. Ich habe einen Bauernkarren, den ich holen kann. Es dauert zwar eine Weile, aber …« Er hielt inne.

Filing nickte. »Ja, Henry, das ist der beste Vorschlag. Geh, und hol ihn.«

Henry nickte und zog sich dann zurück. Sein Blick hing noch immer an Phyllida. Dann wandte er sich um und lief den Abhang hinauf, langsam zuerst, doch dann schneller. Als er oben angekommen war, raste er los.

»Schrecklich, schrecklich.« Cedric richtete sich auf, er war genauso erschüttert wie alle anderen, es war offensichtlich, dass er um Fassung rang. Er sah Lucifer an. »Ging es um den Hut?«

Lucifer sah ihn an, dann blickte er zu der qualmenden Hütte. »Ich glaube, sie hatte den Hut bei sich.«


Phyllida erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit auf der Fahrt zur Farm. Das sanfte Schaukeln des Wagens, die frische Brise holten sie in die Wirklichkeit zurück. Sie öffnete die Augen und wurde sofort von einem Hustenanfall geschüttelt.

Eine große Hand legte sich auf ihre.

»Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit.«

Sie blickte auf, Tränen trübten ihren Blick, als sie das Gesicht erblickte, das sie in dem Augenblick vor ihrem inneren Auge gesehen hatte, als sie schon geglaubt hatte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Ihre letzte Empfindung bei vollem Bewusstsein war Bedauern gewesen - Bedauern, dass sie beide nicht mehr die Möglichkeit hätten, so vieles miteinander zu teilen. Sie schloss die Augen und ließ den Kopf wieder sinken. Insgeheim stieß sie ein Dankgebet aus. Das Schicksal war ihr gnädig gewesen, sie hatten noch eine Chance.

Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und klammerte sich an seine Hand. »Wer hat mich gerettet?« Sein Rock war verbrannt und nicht mehr zu retten.

»Psst, du sollst nicht reden.«

Sie hörte eine Bewegung auf dem Kutschsitz des Wagens, dann erkannte sie die Stimme von Henry Grisby.

»Lucifer hat dich gerettet, Gott sei Dank.«

Seine Stimme klang inbrünstig. Wie es schien, hatte sich Lucifer vom Dämon zum Gott gewandelt, wenigstens in den Augen von Henry.

Nicht nur in den Augen von Henry. Phyllida drückte Lucifers Hand, sie war unendlich erleichtert, ihn zu fühlen.

Die Stunden, die folgten, waren ein Durcheinander von Geräuschen, die nur wie durch einen Nebel zu ihr drangen - ihre Lungen brannten noch immer, ihr war schwindlig, sie konnte weder stehen noch sprechen, konnte sich kaum bewegen, nicht einmal den Kopf. Ihre Augen brannten, doch wenigstens konnte sie wieder sehen, wenigstens lebte sie noch.

Immer, wenn ihre Gedanken zurückgingen, weinte sie Tränen der Freude, der Erleichterung, auch Tränen der Gefühle, die so überwältigend waren, dass sie sie nicht zurückhalten konnte.

Auch ihr Vater war schockiert und entsetzt. Sie versuchte, ihn zu beruhigen, aber sie hatte keine Ahnung, ob die Worte, die sie herausbrachte, überhaupt verständlich waren. Jonas trug sie nach oben, aber es war Lucifer, der bei ihr blieb, der sich über ihr Bett beugte und ihr das Haar aus dem Gesicht strich. Hinter ihm waren Sweetie, Gladys und ihre Tante beschäftigt, sie flüsterten miteinander. Lucifer beugte sich nahe zu ihr, sein Gesicht war voller Ruß, doch er sah sie sanfter an als je zuvor.

Seine Lippen legten sich sanft auf ihre. »Ruh dich aus. Ich werde hier sein, wenn du aufwachst. Dann werden wir miteinander reden.«

Ihre Augenlider schlossen sich wie von selbst. Sie glaubte, dass sie noch genickt hatte.


Die Schatten des Abends lagen über ihrem Zimmer, als sie aufwachte. Lange lag sie einfach nur da und freute sich darüber, noch am Leben zu sein.

Mit der Hilfe von Sweetie und ihrer Tante hatte sie ihr ruiniertes Kleid ausgezogen und dann gebadet. Sweetie musste ihr die verkohlten Locken aus dem Haar schneiden. Gladys war mit einer Salbe gekommen. Nachdem auch die kleinsten Verbrennungen versorgt waren, hatte sie einen dünnen Morgenmantel aus Baumwolle übergezogen und sich dann auf ihr Bett gelegt.

Sie hatten sie allein gelassen, und Phyllida hatte geschlafen. Es war, als wäre sie in einen tiefen Brunnen gefallen, schwarz, still und ungestört.

Jetzt fühlte sie sich entschieden besser. Vorsichtig setzte sie sich auf, dann schwang sie mutig geworden die Beine über den Bettrand. Sie hielt sich am Bett fest und stand auf. Ihre Beine schienen sie zu tragen. Hier und da schmerzte es ein wenig, die Verbrennungen und Abschürfungen waren zu spüren, aber nichts konnte sie davon abhalten aufzustehen.

Ein Hustenanfall ergriff sie, ihre Lungen schmerzten. Sie klammerte sich an das Bett und bemühte sich, nach Luft zu ringen. Ihr Hals war wund, jeder tiefere Atemzug schmerzte. Wenn sie versuchte, tief Luft zu holen, musste sie husten.

Als der Hustenanfall ein wenig abgeklungen war, reckte sie sich und ging vorsichtig hinüber zum Klingelzug.

Ihre Zofe Becky kam. Zwanzig Minuten später fühlte Phyllida sich wieder als Mensch. In einem lavendelfarbenen Kleid mit einem Volant und einem schmalen Gürtel aus dunklerem Stoff, mit einem leichten Schal um den Hals und einem Hauch Parfüm, mit ordentlich gekämmtem Haar, war sie bereit für alles, was hinter der Tür lag.

Die Zofe öffnete ihr die Tür. Noch ehe sie über die Schwelle treten konnte, war Lucifer an ihrer Seite.

Er runzelte die Stirn. »Du hättest läuten sollen. Ich hätte …« Er hielt inne und verzog dann das Gesicht. »Ich hätte Jonas Bescheid gesagt, dass er dich nach unten trägt.«

Phyllida lächelte ihn an, in ihrem Lächeln lag ihr ganzes Herz. Dann sah sie sich um und stellte fest, dass auch er sich ausgeruht und erholt hatte. Er trug einen dunkelblauen Rock, der das dunkle Blau seiner Augen unterstrich und sie noch dunkler aussehen ließ. Der Anblick vertrieb ihre Sorgen, derer sie sich erst jetzt richtig bewusst geworden war.

»Du solltest nicht herumlaufen.«

Seine Stimme klang rau. Sie betrachtete sein Gesicht, dann meinte sie: »Warum denn nicht? Du tust es doch auch.«

Er verzog unwillig das Gesicht und versuchte, in ihren Augen zu lesen. »Ich bin aber auch nicht bewusstlos geschlagen worden.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Hat man mich bewusstlos geschlagen?«

»Ja.«

»Nun, jetzt bin ich auf jeden Fall wieder bei Bewusstsein. Und wenn du mir deinen Arm reichst, werden wir es auch nach unten schaffen.«

Das tat er. Vorsichtig ging er mit ihr die Treppe hinunter und dann hinüber zur Bibliothek, und wie sie es vorausgesagt hatte, schafften sie es recht gut.

Vor der Tür der Bibliothek sah sie ihm ins Gesicht. Dann hob sie einen Finger und strich über seine Wange, wie sie es vor zwei Wochen zum ersten Mal getan hatte. »Wenn wir beide zusammenarbeiten, sind wir unbesiegbar.«

Sie hatte damit eigentlich ihren Gang die Treppe hinunter gemeint, doch als sie ihre Worte jetzt hörte, wusste sie, dass sie viel mehr zu bedeuten hatten.

Sie sah zu ihm auf, in seine blauen Augen. Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss in ihre Handfläche. »So sieht es aus.«

Er hielt ihren Blick noch einen Augenblick länger gefangen, dann streckte er die Hand aus und öffnete die Tür der Bibliothek.

Ihr Vater stand auf, als sie eintraten. Genau wie Cedric. Jonas stand am Fenster.

»Meine Liebe.« Mit ausgestreckten Händen kam Sir Jasper auf sie zu, sein Gesicht war besorgt.

Phyllida legte ihre Hände in seine. »Papa.« Sie erwiderte seinen Kuss. »Ich fühle mich viel besser, und ich sollte jetzt wirklich erzählen, was geschehen ist.« Ihre Stimme klang genauso rau wie die von Lucifer.«

»Hmm.« Sir Jasper sah sie an, seine buschigen Augenbrauen waren nach unten gezogen. »Bist du auch ganz sicher, dass du dazu in der Lage bist?«

»Ganz sicher.« Sie griff wieder nach Lucifers Arm und ließ sich von ihm zur chaise führen. Cedric nickte sie zu.

»Ich dachte, Cedric sollte auch dabei sein«, murmelte Lucifer, als sie sich setzte. »Es gibt da gewisse Punkte, bei denen er uns vielleicht helfen kann.«

Phyllida nickte und lehnte sich zurück. Doch noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte Lucifer bereits nach ihren Füßen gegriffen und legte sie hoch. Früher hätte sie ihn wütend angesehen und die Füße wieder auf den Boden gestellt, jetzt allerdings suchte sie nach der bequemsten Lage.

»Also.« Ihr Vater setzte sich auf einen Sessel in der Nähe und räusperte sich. »Wenn du entschlossen bist, uns heute Abend alles zu erklären, dann fangen wir besser gleich an, wie?«

»Vielleicht sollte ich, um Phyllidas Hals ein wenig zu schonen, erst einmal erzählen, was vorher geschehen ist«, meinte Lucifer. »Dann könnte sie von da aus weitererzählen.«

Sir Jasper sah Lucifer erwartungsvoll an. Cedric auf dem anderen Sessel wandte auch den Kopf zu Lucifer. Jonas blieb am Fenster stehen.

Lucifer lehnte sich zurück. »Es gibt da einige Dinge in unseren Nachforschungen, die auch andere Menschen betreffen, die nicht in den Mord an Horatio verwickelt sind und auch nicht in die darauf folgenden Angriffe auf Phyllida, denen aber sowohl Phyllida als auch ich einige Vertraulichkeit schuldig sind.« Er warf Sir Jasper einen schnellen Blick zu. »Wenn Sie akzeptieren, dass bei einigen unserer Entdeckungen keine genaue Erklärung gegeben werden kann, dann könnten wir diese Vertraulichkeit wahren, ohne unsere Erzählung zu beeinträchtigen.«

Sir Jasper nickte, ganz der Friedensrichter. »Manchmal geht es nicht anders. Wenn es jemandem, der nichts Böses getan hat, Schwierigkeiten bereitet, wenn unwichtige Einzelheiten erwähnt werden, dann brauche ich das nicht zu wissen.«

Lucifer nickte. »Dann werde ich also sagen, dass Phyllida am Ort des Mordes kurz nach dem Mord einen Hut gesehen hat, doch später war dieser Hut wieder verschwunden. Bristleford und die Hemmings haben den Hut nie gesehen. Er gehörte auch nicht Horatio. Als dann die Angriffe auf Phyllida offensichtlich wurden, hat sie daraus geschlossen, dass dieser Hut den Mörder identifizieren könnte - wenigstens muss der Mörder das glauben. Denn sonst gibt es nichts, was Phyllida weiß, was das Interesse des Mörders an ihr erklären könnte.«

»Hat Phyllida denn den Hut wiedererkannt?«, wollte Sir Jasper wissen.

Lucifer schüttelte den Kopf. »Sie hat keine Ahnung, wem dieser Hut gehört, aber auch wenn sie sich offensichtlich nicht daran erinnert, so ist doch der Mörder davon überzeugt, dass sie sich irgendwann einmal daran erinnern wird und sie deshalb eine ständige Bedrohung für ihn darstellt, das ist auch die Erklärung für die Angriffe auf sie.«

»Woher weiß denn der Mörder, dass Phyl den Hut überhaupt gesehen hat?«

Diese Frage kam von Jonas, Lucifer wandte sich zu ihm um. »Das wissen wir nicht. Wir können nur annehmen, dass er aus einem Versteck gesehen hat, dass sie den Hut bemerkt hat.«

Lucifer wandte sich wieder zu Sir Jasper und Cedric und erzählte weiter. »Phyllida hat die Augen offen gehalten, um diesen Hut irgendwo zu entdecken - es war ein brauner Hut. Zur gleichen Zeit habe ich den Gedanken verfolgt, dass es etwas in Horatios Büchersammlung geben musste, das hinter der ganzen Sache steckte. Es könnte zum Beispiel sein, dass irgendeine Information in einem der Bücher verborgen war, die der Mörder nicht an die Öffentlichkeit gebracht haben wollte. Wir haben solche Informationen gefunden. Und ganz unerwartet haben wir auch den brauen Hut gefunden.«

Er blickte auf. »Sowohl diese Information als auch der braune Hut haben uns zu Cedric geführt, doch als wir ihn mit den beiden Tatsachen konfrontierten, war es schon sehr bald offensichtlich, dass er nicht der Mörder war. Der Hut passte ihm nicht, und die Information war auch nicht so wichtig, wie sie zuerst geschienen hatte. Cedric hat außerdem ein solides Alibi für den Zeitpunkt, an dem Horatio umgebracht wurde. Das alles haben wir gestern herausgefunden. Aber darüber war es schon Abend geworden. Heute Morgen vor der Kirche hat Phyllida diese Nachricht hier bekommen.« Lucifer zog die Nachricht aus seiner Tasche und reichte sie Sir Jasper. Sir Jasper las sie, dann verhärtete sich sein Gesichtsausdruck, und er reichte die Nachricht an Cedric weiter.

Sir Jasper sah zu Phyllida. »Du hattest also gar keine Kopfschmerzen?«

Phyllida errötete und schüttelte den Kopf. »Molly hatte mich gebeten, niemandem etwas zu verraten. Ich habe Jonas gebeten, mich zum Herrenhaus zu bringen, weil ich die Absicht hatte, Lucifer die Nachricht zu zeigen, um ihn dann zu bitten, mich zu der Hütte zu begleiten.«

»Aber ich war nicht zu Hause, ich war unterwegs, um nach Phyllida zu suchen.«

»Ich habe angenommen«, sprach Phyllida weiter, »dass die Nachricht echt war, als Lucifer also nicht im Herrenhaus war, bin ich allein zu der Hütte gegangen, weil ich annahm, ich wäre in Sicherheit, weil der Mörder ja gar nicht wissen konnte, dass ich allein unterwegs war.«

Cedric reichte die Nachricht an Sir Jasper zurück. »Wer auch immer diese Nachricht geschrieben hat, Molly war es nicht. Sie ist in Truro und macht einen Besuch bei ihrer Familie, außerdem kann dieses Mädchen bis auf einige wenige Worte weder lesen noch schreiben. Mama beklagt sich nämlich immer darüber, dass sie die Listen der Dinge, die eingekauft werden müssen, selbst schreiben muss.«

»Also«, nahm Lucifer den Faden wieder auf, »hat jemand diese Nachricht geschrieben, um Phyllida zu täuschen. Phyllida kannte Molly, wir haben den Hut in der Nähe des Hinterausganges von Ballyclose gefunden. Niemand hat gesehen, wer die Nachricht hierher gebracht hat - Jonas hat alle Angestellten befragt.«

Sir Jasper stieß ein unwilliges Geräusch aus. »Wer auch immer es war, dieser Kerl ist schlau und sorgt sorgfältig dafür, nicht gesehen zu werden.«

»Und das bedeutet«, mischte sich jetzt auch Jonas ein, »dass die meisten Menschen hier ihn kennen.«

Lucifer nickte. »Genau das habe ich auch gedacht. Es ist jemand, der überall im Dorf bekannt ist. Anders wäre es gar nicht möglich.«

»Und was geschah als Nächstes?« Sir Jasper wandte sich wieder an Phyllida, und auch die anderen sahen zu ihr hin.

Sie holte Luft, sorgfältig darauf bedacht, nicht zu tief zu atmen. »Ich erreichte die Hütte. Die Haustür stand auf, als würde jemand im Inneren auf mich warten. Ich bin also hineingegangen und habe nach Molly gerufen, doch es kam keine Antwort. Ich bin ins Wohnzimmer gegangen und bin gleich an der Tür stehen geblieben. Es war niemand da …«

Phyllida musste innehalten, um noch einmal Luft zu holen, um die lähmende Angst zu bewältigen, die bei der Erinnerung wieder in ihr aufstieg, und sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie überlebt hatte. Lucifer stand auf und kam zu der chaise hinüber, um sich auf die Lehne zu setzen. Er nahm ihre Hand, seine Finger schlossen sich darum. Sie blickte auf, sein Gesicht war verschlossen, doch er gab ihr Kraft.

Sie sah wieder zu ihrem Vater. »Ich wollte mich gerade wieder abwenden. Ein schwarzes Tuch wurde über meinen Kopf geworfen, Hände schlossen sich um meinen Hals und drückten zu, ich habe mich gewehrt, doch es hatte keinen Zweck. Er hielt mich fest, doch das Tuch war so dick, dass er mich dadurch nicht erwürgen konnte.«

Lucifer sah auf sie hinunter. Sie hatte Abschürfungen an ihrem Hals, die jedoch zum größten Teil durch das Halstuch verdeckt wurden, das sie trug.

»Er … ich glaube, er hat die Geduld verloren. Er hat geflucht und etwas davon gemurmelt, dass ich einen Schutzengel hätte, aber seine Stimme war so … so angespannt, auch durch den dicken Stoff, dass ich sie nicht erkennen konnte.«

»War es der gleiche Mann, der dich auch schon zuvor angegriffen hat?«, fragte Sir Jasper.

Sie nickte. »Es war der gleiche Mann, der mich auf dem Friedhof angegriffen hat.« Sie zögerte, dann sprach sie weiter. »Er hielt mich noch immer fest, doch eine Hand hatte er weggenommen. Ich habe ein Kratzen gehört … dann bin ich zurückgerissen worden.« Sie sah zu Lucifer auf. »Ich glaube, er hat mich mit etwas geschlagen.«

Mit einem Finger strich Lucifer über die Beule hinter ihrem Ohr. Er hatte sie entdeckt, als sie in dem Bauernkarren lag. »Hier.« Ein kleines Stück weiter vorn - wohin der Mörder wohl auch gezielt hatte - und er hätte sie umgebracht. So, wie es aussah, hatte der Schlag sie nur gestreift.

Mit weit aufgerissenen Augen sah ihm Phyllida ins Gesicht. »Ich erinnere mich danach an nichts mehr. Bis ich in dem Wagen wieder aufgewacht bin.«

Lucifer hätte gern gelächelt, nur ein wenig, um sie zu beruhigen, doch das konnte er nicht. »Du warst bewusstlos. Er hat wohl angenommen, dass du in dem Feuer umkommen würdest.«

»Das wäre ich auch beinahe.«

Lucifer hielt ihre Hand noch fester. Er sah Sir Jasper an. »Ich bin Phyllida zu der Hütte gefolgt, und dann habe ich den Rauch gerochen.« Er beschrieb kurz, wie er sie gefunden hatte. »Dann sind Gott sei Dank die anderen gekommen.«

Mit gesenktem Kopf blickte Sir Jasper auf seine Finger, er dachte nach, dann sah er Phyllida und Lucifer wieder an. »Der braune Hut?«

Phyllida sah zu Lucifer. »Ich habe ihn in der Hütte fallen lassen.«

Lucifer schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen. Der Qualm war so dicht, dass ich Phyllida nur durch Tasten gefunden habe. Ich denke, wir müssen davon ausgehen, dass der Hut verbrannt ist.«

Sie Jasper wandte sich an Phyllida. »Ergibt es einen Sinn, wenn wir eine Liste aller Männer aus dem Dorf machen, die braune Hüte tragen?«

»Das habe ich bereits getan. Selbst mit dem Hut in der Hand konnte ich mich nicht daran erinnern, wer ihn getragen hat.«

Sir Jasper verzog das Gesicht. »In diesem Fall glaube ich nicht, dass es sinnvoll ist, öffentlich nach einem Mann zu suchen, der einen braunen Hut trägt. Das würde ja wohl beinahe auf jeden in dieser Gegend hier zutreffen. Sogar ich trage braune Hüte.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Lucifer sah von Phyllida zu Sir Japser. »Auch wenn ich das nicht gern sage, wir sind genauso weit davon entfernt, den Mörder zu identifizieren, wie zu dem Zeitpunkt, als Horatio gestorben ist. Wir hatten den braunen Hut - ich wollte vorschlagen, dass wir damit durch das Dorf gehen sollten. Auch wenn Phyllida sich nicht daran erinnern konnte, wer ihn getragen hat, so hätten andere das vielleicht gekonnt. Sogar Cedric kam der Hut bekannt vor. Aber der Mörder hat wieder einmal zugeschlagen. Wer auch immer es ist, er ist klug, und er ist in der Lage, auch unter Druck zu handeln. Wenn wir den Hut herumgezeigt hätten, hätten wir ihn vielleicht entlarven können. Stattdessen hat er kühn noch einmal zugeschlagen und den Hut verschwinden lassen. Dabei hat er auch beinahe Phyllida umgebracht. Er ist rücksichtslos und gefährlich. Und wir haben keine Ahnung, wer er ist.«

»Wir wissen nur«, mischte sich Jonas noch einmal ein, »dass er sehr wahrscheinlich glaubt, dass Phyllida sich zu irgendeinem Zeitpunkt vielleicht doch noch daran erinnern wird, wem der Hut gehört hat.«

Phyllida seufzte. »Die Wahrheit ist, ich werde mich wohl nie daran erinnern. Soweit ich weiß, habe ich den Hut zum ersten Mal auf dem Tisch in Horatios Salon gesehen, nachdem Horatio umgebracht worden war.«

Nach dieser Erklärung fühlte sich niemand so recht wohl. Lucifer fasste schließlich ihre Hilflosigkeit in Worte. »Wir können jetzt nur beten, dass der Mörder begreift, dass Phyllida für ihn keine Bedrohung ist.«