5

Phyllida wusste, warum er sie geküsst hatte. Er war kein Unhold, er war nicht ihr Feind, aber er war ein erfahrener Verführer. In dieser Hinsicht war sie naiv, dennoch wusste sie, dass er sie geküsst hatte, um sie zu erschüttern, um ihre Entschlusskraft zu schwächen, damit sie ihm all das verraten würde, was sie wusste. Sie hatte ihn nach seinen Gründen gefragt, doch im gleichen Augenblick, in dem sie die Frage ausgesprochen hatte, hatte sie die Antwort bereits gekannt.

Sie saß in der zweiten Reihe der Kirchenbänke und blickte über den Gang zur anderen Seite, wo Lucifer saß. Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gefühlen, während er Cedric lauschte, der die Predigt las. Covey hockte neben ihm, ein Stück weiter weinte Mrs Hemmings in ihr Taschentuch. Hemmings tätschelte ihr verlegen den Arm. Mit kreidebleichem Gesicht starrte Bristleford vor sich hin. Während die anderen vielleicht einen Freund oder einen Nachbarn verloren hatten, hatten Covey, die Hemmings und auch Bristleford einen geliebten Herrn verloren, ihr weiteres Leben stand vor einer unsicheren Zukunft.

Phyllida sah wieder zu Lucifer - sein Gesicht verriet vielleicht nichts von seinen Gedanken, doch es fiel ihr nicht schwer, genau diesen Gedanken zu folgen. Im Augenblick ruhte sein Blick auf dem Sarg vor dem Altar, auf dem sich der Schein des schwachen Lichts widerspiegelte, der durch die bunten Glasfenster fiel. Doch seine Gedanken waren nicht bei Horatio und auch nicht bei dem Menschen, der ihn in den Sarg gebracht hatte.

Phyllida blickte nach vorn. Cedric sprach immer weiter. Ihre Gedanken gingen zurück zu ihrem dringendsten Problem - wie sollte sie mit Lucifer umgehen?

Sein Name ging ihr nicht aus dem Sinn, er passte so gut zu ihm. Sie hatte gleich vom ersten Augenblick an gewusst, was für ein Mann er war, obwohl ihr das erst vollkommen klar geworden war, nachdem sie ihn vollständig bekleidet und bei Bewusstsein erlebt hatte. Erst dann war offensichtlich gewesen, was er war.

Der Grund, warum die Mütter der jungen Mädchen sich um ihn bemühten und warum Frauen die Fassung verloren, wenn er sie anlächelte, war offensichtlich - er stellte sein Licht unter keinen Scheffel. Ganz im Gegenteil, seine kraftvolle männliche Energie, seine rauen Seiten, die sich hinter seiner anmutigen Eleganz verbargen, waren kein Zufall, all das gehörte zu dem Spiel, das er spielte.

Ein Spiel, das er auch mit ihr spielte.

Glücklicherweise wusste sie Bescheid. Sie war voller Selbstvertrauen und kontrollierte die Welt um sich herum. Seine Küsse hatten sie überhaupt nicht beunruhigt. Sie hatte sie nicht erwartet, aber wenn sie jetzt darüber nachdachte, so war sie eigentlich gar nicht überrascht. Er hatte schon daran gedacht, sie zu küssen, als er sie in der Nacht zuvor auf seinem Bett festgehalten hatte. Der Wald war ganz einfach die passendere Umgebung gewesen.

Würde er sie noch einmal küssen? Diese Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte das Gefühl genossen, sie hatte sich überhaupt nicht bedroht oder gezwungen gefühlt, keinen Augenblick lang hatte sie geglaubt, in Gefahr zu sein. Aber wenn sie nach mehr verlangte, forderte sie vielleicht ihr Schicksal heraus.

Außerdem … sie warf einen schnellen Blick zur Seite, wo ein kleiner Mann in schwarzer Kleidung saß, dessen verkniffenes Gesicht nichts von seinen Gedanken verriet. Mr Crabbs war Horatios Anwalt, er war aus Exeter gekommen, um das Testament zu eröffnen. Zusammen mit Mr Crabbs war sein Lehrling gekommen, Robert Collins.

Mit ein wenig Glück wäre sie heute Abend, nachdem sie mit Robert und Mary Anne gesprochen hatte, von ihrem Eid erlöst. Dann könnte sie Lucifer erklären, was in Horatios Wohnzimmer geschehen war, und sie könnten sich mit vereinten Kräften daran machen, Horatios Mörder zu finden.

Das war ihr Ziel, und davon würde sie sich nicht ablenken lassen, selbst wenn das bedeutete, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Er war ganz sicher der faszinierendste Teufel, der ihr je begegnet war, und tief in ihrem Inneren war sie davon überzeugt, dass er ihr niemals ein Leid antun würde.

Ungeduldig wartete sie darauf, dass Cedric seine Predigt beendete.

Nachdem die Andacht vorüber war, trat Lucifer zusammen mit Cedric, Sir Jasper, Thompson, Basil Smollet und Mr Farthingale vor, sie hoben den Sarg hoch und trugen ihn langsam hinaus auf den Friedhof. Während der kurzen Zeremonie am Grab musterte Lucifer die Gesichter der Männer, die er noch nicht kannte. War der Mörder unter ihnen? Die Damen waren nicht bei ihnen, sie hatten sich in einer Gruppe neben dem Seiteneingang der Kirche versammelt.

Als die Erde auf den Sarg fiel, trat Lucifer neben Sir Jasper und Mr Farthingale. Zusammen gingen sie zur Kirche zurück, und Lucifer erfuhr, dass Mr Farthingale, genau wie Sir Jasper, zum Rückgrat dieses Landes gehörte, er kümmerte sich um sein Land und seine Familie, es war nicht wahrscheinlich, dass er etwas mit dem Mord an Horatio zu tun hatte.

Zusammen mit den anderen Männern trat auch Lucifer zur Gruppe der Damen, die Familien fanden sich und gingen gemeinsam über den Dorfanger. Sir Jasper führte die Gruppe an, Jonas ging gleich neben ihm, und Phyllida folgte den beiden. Lucifer ging an ihrer Seite. Sie warf ihm einen schnellen Blick von der Seite zu, und ihr Blick schien ihn zu fragen, wie soll es jetzt weitergehen?

»Wenn du so freundlich wärst, mich den Männern vorzustellen, die ich noch nicht kenne …?«

Sie senkte zustimmend den Kopf. »Natürlich.«

Sie benahm sich, als hätte er sie nie geküsst. Lucifer verbarg sein Erstaunen vor ihr.

Soweit er es sagen konnte, war es wahrscheinlich die gesamte Gemeinde, die ihnen folgte, als sie durch das Tor des Herrenhauses schritten, durch Horatios Garten, und dann das Haus betraten.

Das Totenmahl war die perfekte Gelegenheit, nicht nur die Einheimischen alle kennen zu lernen, sondern auch, um ihre Verbindung zu Horatio zu erfahren. Die meisten sprachen über ihr letztes Treffen mit ihm und teilten Lucifer ihre Ansicht über den Mord mit.

Phyllida blieb immer in seiner Nähe, sie sorgte dafür, dass die Leute ihn begrüßten, und gab ihm die nötigen Informationen, um ihm den Status der einzelnen Menschen im Dorfleben zu erklären und auch ihre Verbindung zu Horatio. Wenn er geglaubt hätte, dass sie mit dem Mord an Horatio etwas zu tun hatte, so wäre er misstrauisch gewesen. Doch er bewunderte nur ihr gesellschaftliches Geschick.

»Mr Cynster, darf ich Ihnen Miss Hellebore vorstellen. Sie lebt in dem Haus gleich nebenan.«

Lucifer beugte sich über Miss Hellebores Hand. Sie war alt, mit einem lieblichen, faltigen Gesicht, und reichte ihm nur bis zur Schulter.

Miss Hellebore umklammerte seine Hand. »Ich war in der Kirche, als es geschehen ist - es ist so schrecklich. Sonst hätte ich vielleicht etwas gehört. Sie hatten mich gerade zu Hause abgesetzt, als man Sie gefunden hat - was war das nur für ein Durcheinander! Aber ich bin froh, mein Lieber, dass Sie nicht der Täter waren.« Sie lächelte vage, und ihr Blick trübte sich ein wenig. »Horatio war eine liebe Seele. Es ist ein solcher Kummer, dass so etwas geschehen musste.«

Ihre Stimme erstarb. Phyllida griff nach ihrer anderen Hand und tätschelte sie aufmunternd. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Harriet. Mr Cynster und Papa werden herausfinden, wer das getan hat, und danach wird hier alles wieder friedlich sein.«

»Das hoffe ich so sehr, meine Liebe.«

»Auf dem Tisch steht Spargel - möchten Sie welchen haben?«

»Oh, ja, gern. Auf welchem Tisch?«

Mit einem Blick, der ihm versicherte, dass sie zurückkommen würde, führte Phyllida die alte Dame weg.

Lucifer sah den beiden nach. Trotz der Tatsache, dass Phyllida nicht verheiratet war und weder die älteste noch die angesehenste Lady im Raum, so wandten sich doch die Dorfbewohner ohne zu zögern an sie - um Beruhigung zu finden oder den richtigen Weg. Ihr Charakter, ihre Persönlichkeit wiesen ihr diese Rolle zu, sie strahlte eine ruhige, gelassene Art aus, sie schien ständig die Kontrolle über die Dinge zu haben.

Das Verlangen, sie in einem Zustand wilder, unkontrollierter Lust zu sehen, erwachte in ihm - wieder einmal. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite und gab seinen Gedanken eine andere Richtung.

»Mr Cynster.« Jocasta Smollet, so hochmütig wie am vergangenen Nachmittag, als sie auf der Straße an ihnen vor übergerauscht war, kam am Arm von Sir Basil auf ihn zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Basil stellte die beiden einander vor.

»Ich hoffe doch«, meinte Jocasta, »dass Sie wenigstens noch ein paar Tage in Colyton bleiben. Wir würden Sie gern einmal nach Highgate einladen, ich bin sicher, dass es hier in dieser Gegend wenig gibt, das einen Gentleman wie Sie unterhalten kann.«

Hätte Jocasta die Nase noch ein wenig höher getragen, sie wäre nach hinten gekippt.

»Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde.« Lucifer entdeckte, dass Phyllida durch die Menschenmenge auf ihn zukam. Sie sah Jocasta erst, als sie beinahe bei ihm angelangt war. Ihr Lächeln verschwand, und sie änderte die Richtung, so dass sie an ihnen vorbeiging.

Ruhig streckte er die Hand aus und legte die Finger um ihr Handgelenk, dann zog er sie an seine Seite. Ihre Hand legte er auf seinen Arm, dann sah er Jocasta an. »Trotz der unangenehmen Umstände habe ich es sehr genossen, die Menschen hier kennen zu lernen. Sie waren alle sehr freundlich zu mir und haben mich willkommen geheißen.« Er warf Phyllida einen Blick zu. »Besonders Miss Tallent hat mir sehr geholfen.«

»Wirklich?« In diesem einen Wort lag eine ganze Welt an Zweideutigkeit. Jocasta richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, dann senkte sie steif den Kopf. »Die liebe Phyllida ist zu allen so nett. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss unbedingt mit Mrs Farthingale sprechen.«

Sie schwebte davon, Basil war so verlegen, dass er ihr nicht folgte. Er plapperte nebensächliche Dinge, aus denen Lucifer entnahm, dass er in der Kirche gewesen war, als Horatio ermordet wurde.

Als Basil schließlich ging, blickte Lucifer auf Phyllida hinunter. »Warum mag Miss Smollet dich nicht?«

Phyllida schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht.«

Lucifer sah sich in dem Raum um. »Es gibt drei Männer, die ich noch nicht kennen gelernt habe.«

Der Erste von ihnen war Lucius Appleby. Phyllida stellte die beiden einander vor, dann ging sie, um sich mit Lady Fortemain zu unterhalten. Lucifer bemühte sich gar nicht erst, seine Absicht zu verbergen, Appleby beantwortete seine Fragen, doch er war nicht sehr mitteilsam.

Nachdem Lucifer Phyllida wiedergetroffen hatte, führte er sie durch den Raum. »Ist Appleby immer so reserviert? So zurückhaltend?«

»Ja, immerhin ist er ja auch Cedrics Sekretär.«

Lucifer blickte zu seinem nächsten Opfer. »Was war Appleby denn, bevor er Cedrics Sekretär wurde? Hat er das je erwähnt?«

»Nein. Ich nehme an, er hat wohl immer irgendwo in einem Büro gearbeitet. Warum fragst du?«

»Ich bin sicher, er war in der Armee. Er hat das richtige Alter - ich wollte es nur wissen. Also, und wer ist das?«

Einen Augenblick später meinte Phyllida: »Darf ich dir Pommeroy Fortemain vorstellen, Sir Cedrics Bruder.«

Lucifer streckte ihm die Hand entgegen.

Pommeroys Augen traten ein wenig vor, er machte einen Schritt zurück. »Ah …« Mit großen Augen sah er Phyllida an. »Ich meine … nun ja …«

Phyllida seufzte verärgert auf. »Mr Cynster hat Horatio nicht umgebracht, Pommeroy.«

»Hat er nicht?« Pommeroy sah von einem zum anderen.

»Nein! Um Himmels willen, wir sind hier bei Horatios Totenmahl! Dazu hätten wir doch nicht seinen Mörder eingeladen.«

»A-Aber … er hatte das Messer.«

»Pommeroy«, Phyllida sprach überdeutlich, »niemand weiß, wer der Mörder ist, aber eines wissen wir ganz sicher, Mr Cynster kann es nicht gewesen sein.«

»Oh.«

Danach benahm Pommeroy sich einigermaßen normal, er antwortete auf Lucifers Fragen beinahe übereifrig. An jenem Sonntag hatte er seine Mutter in die Kirche begleitet, und, so versicherte er ihnen beiden, er wusste gar nichts.

»Das stimmt leider.« Phyllida ging zur anderen Seite des Raumes hinüber, die Hand auf ihrem Arm schien sie gar nicht zu bemerken.

»Das dachte ich mir auch.« Lucifer sah sich um. »Unser letzter Verdächtiger sieht sich gerade die Bücherregale an.«

Sie ahnte, wer das war, noch ehe sie Silas Coombe gegen übertraten, der gerade ein Buch mit einem Goldschnitt in der Hand hielt. Schnell zog er die Hand zurück, als hätte das Buch ihn gebissen, und starrte die beiden mit ausdruckslosem Gesicht an.

»Guten Tag. Mr Coombe, nicht wahr?« Lucifer lächelte. »Miss Tallent hat erwähnt, dass Sie eine Ahnung von Büchern haben. Horatio hat eine wirklich gute Sammlung zusammengetragen, finden Sie nicht auch?«

Sein Blick über die Bücherregale forderte Silas auf, seine Meinung dazu zu sagen. Das war ein guter Schachzug. Phyllida hielt sich zurück, während Silas sich ausschweifend ausließ, er war Wachs in der Hand des Mannes, von dem er nicht einmal ahnte, dass er ihn aushorchte.

»Nun, normalerweise gestehe ich das gar nicht, aber Sie sind immerhin ein Gentleman, der eine Menge Lebenserfahrung hat.« Silas sprach ein wenig leiser. »Ich bin kein großer Kirchgänger, müssen Sie wissen. Schon in meiner Jugend habe ich mir das abgewöhnt - ich sehe keinen Sinn darin, zusammen mit all den steifen Matronen in der Kirche zu sitzen, die altersmäßig gar nicht zu mir passen. Ich habe bessere Dinge zu tun.«

Silas blickte über die Bücherregale in seiner Nähe. »Ich nehme an, Sie haben keine Ahnung, wer das hier alles erben wird?«

Lucifer schüttelte den Kopf. »Zweifellos werden wir das schon bald erfahren.«

»Ah, ja - der Notar ist hier, nicht wahr?« Silas sah sich in dem Raum um, dann runzelte er die Stirn. »Er starrt Sie an.«

Lucifer blickte in die Richtung, Phyllida auch. Es war sofort offensichtlich, dass Mr Crabbs darauf wartete, ein Wort mit Lucifer reden zu können.

»Wenn Sie uns entschuldigen würden«, murmelte Lucifer. »Ich werde sehen, was er möchte.«

Sofort, als sie von Silas wegtraten, kam Mr Crabbs auf sie beide zu. Lucifer blieb vor den Bücherregalen stehen und wartete auf ihn. Crabbs lächelte höflich, als er zu ihnen trat.

»Mr Cynster, ich wollte nur sicher sein, ob es angenehm ist, wenn ich das Testament verlese, gleich nachdem die Gäste gegangen sind.«

»Angenehm?« Lucifer runzelte die Stirn. »Für wen?«

»Natürlich für Sie.« Mr Crabbs sah ihn eindringlich an. »Nun, du liebe Güte - ich habe angenommen, dass Sie Bescheid wissen.«

»Worüber sollte ich Bescheid wissen?«

»Dass Sie, abgesehen von einigen kleineren Zuteilungen, der Alleinerbe von Mr Welham sind.«


Crabbs hatte diese Worte so laut ausgesprochen, dass Lady Huddlesford, Percy Tallent, Sir Cedric und Lady Fortemain sie gehört hatten. Es dauerte nur Sekunden, bis ganz Colyton die Nachricht erfahren hatte. Die Versammlung zerstreute sich, als hätte jemand einen Gong geschlagen. Die Menschen gingen auseinander, offensichtlich konnten sie es kaum erwarten, so bald wie möglich die unerwarteten Einzelheiten des Testaments zu erfahren.

Trotz der Tatsache, dass bei der Testamentseröffnung nur sehr wenige Menschen anwesend waren, hatte sich doch die ganze Aufmerksamkeit in Colyton in der letzten Stunde auf die Bibliothek von Horatio gerichtet.

Lucifer legte das Testament beiseite und schob den Schreibtischsessel zurück. Er hatte das Schriftstück gerade zusammen mit Crabbs ein zweites Mal durchgelesen, um sicherzugehen, dass er auch alle Einzelheiten verstanden hatte. Für jemanden, dem die umfangreichen Pflichten eines herzoglichen Haushaltes nicht fremd waren, waren die Auflagen, die Horatio in seinem Testament verfügt hatte, ziemlich einfach zu verstehen. Lucifer lehnte sich in dem Schreibtischsessel zurück und sah sich in dem Zimmer um.

Crabbs saß an einem Ende des Schreibtisches und blätterte in einigen Dokumenten. An der Anrichte nebenan war sein Assistent, Robert Collins, dabei, ihre Sachen zusammenzupacken. Die Hemmings, Covey und Bristleford hatten nach der Verlesung das Zimmer wieder verlassen, alle waren äußerst erleichtert und erfreut über den Ausgang der ganzen Sache.

Lucifer selbst war … ein wenig benommen.

»Hmm-hmm.«

Er sah zu Crabbs und zog dann eine Augenbraue hoch.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl vorhaben, das Herrenhaus zu verkaufen. Ich könnte mich umhören, wenn Sie das möchten.«

Lucifer starrte Crabbs an, ohne ihn richtig wahrzunehmen. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht zu verkaufen.«

Diese Erklärung überraschte ihn selbst noch mehr als Crabbs, doch wenn sein Impuls so stark war, hatte es keinen Zweck, dagegen anzugehen. »Sagen Sie.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Crabbs. »Gab es noch andere Menschen, die vielleicht erwartet haben, Horatio zu beerben?«

Crabbs schüttelte den Kopf. »Er hatte keinerlei Familie - nicht einmal irgendwelche anderen familiären Bindungen. Der Besitz gehörte Mr Welham allein, er konnte damit machen, was er wollte.«

»Wissen Sie denn, wer Horatios gesetzlicher Erbe gewesen wäre, ehe er dieses Testament aufsetzte?«

»Soweit ich weiß, hat es davor kein anderes Testament gegeben. Ich habe dieses Testament vor drei Jahren aufgesetzt, als Mr Welham hierher gezogen ist und ich für ihn zu arbeiten begonnen habe. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass er zuvor kein anderes Testament gemacht hatte.«


Später, als die Schatten länger wurden, ging Lucifer durch den Wald zurück zur Farm. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner Hose geschoben, den Blick zu Boden gerichtet. Er kletterte über Wurzeln und wich Pfützen aus, doch in Gedanken war er weit weg.

Crabbs hatte sich verabschiedet, er war ins Red Bells gegangen. Da Lucifer im Augenblick nicht im Herrenhaus wohnte, hatte er Crabbs auch nicht aufgefordert, dort zu übernachten. Er wollte Bristleford, die Hemmings und Covey nicht damit belasten, sich um den Notar zu kümmern, nicht am heutigen Abend.

Er hatte Crabbs angewiesen, sich mit Heathcote Montague in Verbindung zu setzen, der für die Cynsters die geschäftlichen Angelegenheiten regelte. Wenn Montague sich darum kümmerte, würde die formelle Übereignung des Besitzes schnell und gründlich geschehen. Lucifer nahm sich vor, Montague einen Brief zu schreiben.

Auch Gabriel würde er schreiben. Und Devil. Und seinen Eltern.

Lucifer seufzte. Er bekam eine erste Ahnung von den Pflichten, die auf ihn zukamen. Den größten Teil seines Lebens war er solchen Pflichten aus dem Weg gegangen. Doch das ging jetzt nicht mehr. Horatio hatte ihn zu seinem Erben eingesetzt - er hatte jetzt die Pflicht, sich um dessen Sammlung, um das Herrenhaus, um Covey, Bristleford und die Hemmings zu kümmern. Zusätzlich zu seiner Verantwortung für den Garten.

Dieser Gedanke machte ihm noch mehr Sorgen als alles andere.

Horatio hatte ihm beigebracht, wie man eine Sammlung verwaltete, seine Familie hatte ihn darauf vorbereitet, einen Landbesitz zu führen und die Dienerschaft anzuleiten. Doch niemand hatte ihm je etwas darüber beigebracht, wie man einen Garten pflegte, geschweige denn einen Garten, wie Horatio ihn geschaffen hatte.

Der Garten weckte ein eigenartiges Gefühl in ihm.

Vor ihm führte der Weg in die Büsche, die die Farm umgaben, und von dort aus in ein Geflecht aus Wegen. Lucifer versicherte sich, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, dann ging er tief in Gedanken versunken weiter.

Bis ein wütendes Etwas durch eine Lücke in der Hecke gestürmt kam und mit ihm zusammenstieß.

Phyllida stockte bei diesem Zusammenstoß der Atem. Noch bevor sie aufgesehen hatte, wusste sie, wessen Arme es waren, die sich so plötzlich um sie schlossen. Wäre sie eine Frau, die sich auf ihren ersten Impuls verließ, so hätte sie aufgeschrien und wäre davongelaufen. Stattdessen fixierte sie ihn mit einem blitzenden Blick und trat dann einen Schritt zurück.

Er ließ die Arme sinken. Dabei besaß er noch die Unverschämtheit, arrogant eine Augenbraue hochzuziehen.

»Ich entschuldige mich.« Ruhig wandte sie sich um und ging auf das Haus zu.

Er holte sie ein und ging dann neben ihr her, während sie damenhaft den Weg entlangschwebte. Er sah in ihr Gesicht, doch sie weigerte sich, ihn anzusehen - sie wollte nicht sehen, ob sein Mund sich spöttisch verzogen hatte oder ob seine Augen belustigt aufblitzten. Der Teufel hatte ihr Leben um so vieles schwieriger gemacht.

»Das machst du sehr gut.«

Seine leisen Worte forderten sie heraus.

»Was?«

»Du versteckst deinen Zorn sehr gut. Worüber hast du dich denn so aufgeregt?«

»Über eine Bekannte, die besonders schwierig ist. Eigentlich sind es sogar drei Bekannte.« Er, Mary Anne und Robert. Er hatte das Herrenhaus geerbt, Mary Anne war durchgedreht, weil sie befürchtete, dass er jetzt vielleicht hier bleiben würde, und Robert war auch keine große Hilfe gewesen, weil er der gleichen Meinung war.

Sie hatte gehofft, die Beerdigung würde Mary Anne davon überzeugen, dass die Briefe verglichen mit dem Mord nicht so wichtig waren. Doch stattdessen war sie, dank Mary Annes Empfindlichkeit, jetzt noch weiter davon entfernt, Lucifer zu erzählen, warum sie an diesem Morgen in Horatios Wohnzimmer gewesen war. Wütend hatte sie Mary Anne und Robert am Brunnen zurückgelassen und war davongerannt. Nur, um dann ausgerechnet mit Lucifer zusammenzustoßen.

Bei der Erinnerung an diesen Zusammenstoß rann plötzlich eine wohlige Wärme durch ihren Körper. Unter seiner eleganten Kleidung war sein Körper muskulös und hart, und obwohl sie sehr schnell gelaufen war, hatte er nicht einmal gewankt. Sie sah zu ihm auf. »Ich nehme an, du hast wirklich das Herrenhaus geerbt?«

»Jawohl. Offensichtlich gab es keine anderen Verwandten, und daher …«

Sie traten auf die Wiese. Phyllida sah zum Haus. »Wenn ich so offen sein darf, was hast du für Pläne? Wirst du das Haus verkaufen, oder möchtest du hier leben?«

Sie fühlte seinen Blick auf ihrem Gesicht, doch sie sah ihn nicht an.

»Du darfst so offen sein, wie du möchtest, aber …«

Beim Ton seiner Stimme warf sie ihm einen schnellen Blick zu.

Er lächelte. »Ich war auf dem Weg, die Dinge mit deinem Vater zu besprechen. Vielleicht könntest du mich zu ihm bringen?«

Sir Jasper war in seiner Bibliothek. Lucifer war nicht sehr überrascht, dass Phyllida wieder verschwand, nachdem sie ihn dorthin geführt hatte. Doch dann kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem Gläser und eine Karaffe standen.

»Nun, dann sind Sie wohl jetzt Landbesitzer in Devon, wie?«

»In Kürze, wie es scheint.« Lucifer nahm das Glas Brandy, das Phyllida ihm reichte. Ihrem Vater gab sie auch ein Glas, dann zog sie sich auf das Sofa zurück, das den beiden Sesseln gegenüberstand, in denen er und Sir Jasper saßen.

»Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie mit dem Besitz tun möchten?« Unter buschigen Augenbrauen hervor sah Sir Jasper ihn an. »Sie haben den Besitz Ihres Vaters in Somerset erwähnt …«

»Ich habe noch einen älteren Bruder - er wird den Familienbesitz erben. In den letzten Jahren habe ich hauptsächlich in London gelebt, ich habe mir mit meinem Bruder das Haus geteilt.«

»Also haben Sie keinen anderen Besitz, der Ihre Aufmerksamkeit verlangt?«

»Nein.« Das hatte Horatio gewusst. Lucifer blickte auf das Glas mit dem Brandy. »Es gibt nichts, was mich davon abhalten könnte, in Colyton zu leben.«

»Und werden Sie das tun?«

Lucifer sah auf, direkt in Phyllidas Augen. Sie war es, die ihm mit der ihr eigenen Direktheit diese Frage gestellt hatte.

»Ja.« Er hob sein Glas und nippte daran, die ganze Zeit über hielt er ihren Blick gefangen. »Ich habe mich entschieden, dass es mir in Colyton gefällt.«

»Ausgezeichnet!« Sir Jasper strahlte. »Ein wenig frisches Blut können wir hier ganz gut gebrauchen.« Ausschweifend erklärte er die Vorzüge der Gegend, und Lucifer ließ ihn reden, während er gleichzeitig versuchte, den Blick in Phyllidas braunen Augen zu deuten. Mit ruhigem Gesicht beobachtete sie ihren Vater, doch ihre Augen … und die Winkel ihres hübschen Mundes zogen sich ein wenig nach unten …

Sir Jasper war endlich fertig, Lucifer sah zu ihm hinüber. »Da gibt es noch etwas, das ich erwähnen möchte. Ich sehe Horatios Erbe als ein Geschenk an, ein Geschenk, das ich nicht annehmen könnte, wenn ich nicht alles daransetzen würde, seinen Mörder der Gerechtigkeit zuzuführen.«

Sir Jasper nickte. »Ihre Gefühle ehren Sie.«

»Schon möglich, aber ich könnte mich in Horatios Haus niemals wohlfühlen, ich könnte seine Sammlung niemals in Besitz nehmen, wenn ich nicht alle Hebel in Bewegung setzen würde, seinen Mörder zu finden.«

Sir Jasper warf ihm einen verschmitzten Blick zu. »Soll ich das als Warnung auffassen, dass Sie wirklich die Absicht haben, jeden Stein umzudrehen?«

Lucifer hielt seinem Blick stand. »Jeden Stein. Sogar jeden einzelnen Kiesel.«

Sir Jasper dachte darüber nach, dann nickte er. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, aber wie Sie wohl zweifellos wissen, wird es nicht leicht sein, diesen Mörder zu fassen. Tatsache ist, niemand hat ihn gesehen.«

»Es könnte noch andere Beweise geben.« Lucifer leerte sein Glas.

Sir Jasper folgte seinem Beispiel. »Das können wir nur hoffen.« Als Phyllida die leeren Gläser auf das Tablett zurückstellte, meinte er: »Natürlich können Sie so viele Nachforschungen anstellen, wie Sie möchten. Und wenn Sie irgendwelche behördliche Unterstützung brauchen, werde ich alles tun, was mir möglich ist.« Er stand auf. »Horatio war einer von uns. Ich nehme an, Sie werden sehr schnell feststellen, dass es eine ganze Anzahl von Menschen gibt, die Ihnen gern dabei helfen, seinen Mörder zu finden.«

»In der Tat.« Auch Lucifer stand auf, sein Blick ruhte auf Phyllida. »Ich hoffe, das wird der Fall sein.«


Er wollte, dass sie ihm dabei half, Horatios Mörder zu finden. Doch die Frage hatte er noch nicht gestellt.

Sie wollte ihm helfen. Selbst wenn er sie nicht fragen würde, so würde sie ihm doch ihre Unterstützung nicht verwehren.

Leider war dieser vielversprechende Morgen, an dem sie gehofft hatte, ihm alles erzählen zu können, einem frustrierenden Nachmittag gewichen, und jetzt wurde daraus auch noch ein entsetzlicher Abend. Aus einem unerfindlichen Grund hatte ihre Tante sich entschieden, an diesem Abend ein informelles Abendessen für einige wenige Menschen zu geben, die auf der Beerdigung dabei gewesen waren. Es sollte so eine Art Totenmahl werden. Phyllida war nicht begeistert davon.

Sie hatte die Absicht gehabt, ein schwarzes Kleid zu tragen, doch dann hatte sie sich für ihr lavendelfarbenes Seidenkleid entschieden. Es war eines ihrer hübschesten Kleider, sie konnte ein wenig Aufmunterung sehr gut gebrauchen.

Sie war die Letzte, die den Speisesaal betrat. Lucifer war bereits da, in seinem mitternachtsblauen Rock, der die gleiche Farbe hatte wie seine Augen, sah er erstaunlich gut aus. Sein Haar schien im Schein der Kerzen schwarz zu sein, die elfenbeinfarbene Krawatte hatte er in einem eleganten Knoten gebunden. Er stand zusammen mit ihrem Vater und Mr Farthingale vor dem Kamin, doch von dem Augenblick an, in dem sie über die Schwelle trat, ließ er sie nicht mehr aus den Augen.

Phyllida senkte grüßend den Kopf, dann ging sie zu den beiden Misses Longdon hinüber, zwei Jungfern unbestimmbaren Alters, die sich ein Haus teilten, das an der Straße lag, die zur Schmiede führte.

Sechzehn Menschen saßen am Esstisch. Nachdem Phyllida noch ein schnelles Wort mit Gladys gewechselt hatte, setzte sie sich. Lucifer saß am anderen Ende des Tisches, gleich rechts von ihrer Tante neben Regina Longdon. Regina Longdon war beinahe taub, also hatte Lady Huddlesford in ihr keine Konkurrenz. Mary Anne und Robert saßen beide viel zu weit weg, als dass sich Phyllida mit ihnen hätte unterhalten können. Da sie also nichts anderes zu tun hatte, überwachte sie das Abendessen.

Ihr Vater vertat nie seine Zeit mit dem Portwein, er führte die Gentlemen in den Salon zurück, nur fünfzehn Minuten nachdem die Ladys es sich dort gemütlich gemacht hatten. In diesen fünfzehn Minuten hatten sie Mary Anne gelauscht, die ein Stück auf dem Klavier gespielt hatte. Sobald die Gentlemen den Raum betraten, schloss Mary Anne das Klavier und mischte sich unter die Gäste, die sich miteinander unterhielten. Phyllida ging zu ihr hinüber.

Mary Anne sah sie kommen, und sofort lag ein beunruhigter Blick in ihren blauen Augen. »Nein!«, zischte sie, noch ehe Phyllida ein Wort sagen konnte. »Du musst doch verstehen, dass es ganz unmöglich ist. Du musst diese Briefe finden, du hast es versprochen

»Ich hätte geglaubt, dass du mittlerweile begreifen würdest …«

»Du bist diejenige, die nicht begreift! Wenn du die Briefe erst einmal gefunden und sie mir zurückgegeben hast, dann kannst du ihm noch immer alles sagen, wenn du so sicher bist, dass es nicht anders geht.« Mary Anne rang die Hände, dann sah sie an Phyllida vorbei. »Oh, gütiger Himmel! Da ist Robert - ich muss ihn retten, ehe Papa ihn in die Enge treibt.«

Mit diesen Worten eilte sie zur anderen Seite des Raumes.

Phyllida sah ihr nach, dabei runzelte sie ein wenig verärgert die Stirn. Noch nie hatte sie Mary Anne so aufgeregt gesehen. »Was um alles in der Welt steht nur in diesen Briefen?«

Sie sah sich in dem Zimmer um, überprüfte, ob einer der Gäste vielleicht etwas brauchte, ob sie ihre Rolle als Gastgeberin spielen musste, doch dann stellte sie fest, dass Lucifer auf sie zukam. Sie wartete, bis er neben ihr stehen blieb und dann zusammen mit ihr die Gäste betrachtete.

»Deine Busenfreundin, Miss Farthingale - wie stehen die Dinge zwischen ihr und Collins?«

»Die Dinge?«

Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Farthingale sah aus, als würde er einen Schlag bekommen, als Collins mit Mr Crabbs hier ankam. Und Mrs Farthingale machte zuerst einen betroffenen Eindruck, doch dann presste sie grimmig die Lippen zusammen und gab sich ihrem Schicksal hin. Ich bin dem Beispiel deines Vaters gefolgt und habe mich den ganzen Abend über ablenken lassen - es würde mir sehr helfen, wenn ich wüsste, welches Spiel hier überhaupt gespielt wird.«

Phyllida sah ihm in die Augen. »Die beiden sind verliebt, wir alle hoffen, dass es ohne eine Tragödie enden wird.« Sie sah zur anderen Seite des Raumes, wo sich Robert Collins mit Henrietta Longdon unterhielt, die offensichtlich neben Mary Anne auf der chaise saß. »Mary Anne und Robert haben sich ineinander verliebt, als sie sich zum ersten Mal gesehen haben. Das war vor sechs Jahren. Die beiden passen perfekt zusammen bis auf eines.«

»Collins hat kein Geld.«

»Genau. Mr Farthingale hat den beiden verboten, sich zu treffen, aber auch wenn Robert in Exeter lebt, sehen sie sich doch immer wieder, und Mary Anne war bis jetzt äußerst hartnäckig.«

»Seit sechs Jahren? Die meisten Eltern hätten längst nachgegeben.«

»Mr Farthingale ist sehr stur. Genau wie Mary Anne.«

»Und wer wird gewinnen?«

»Mary Anne. Glücklicherweise wird Robert schon sehr bald die nötigen Voraussetzungen für eine Registrierung als Anwalt geschaffen haben. Crabbs hat ihm bereits eine Stelle angeboten. Und wenn Robert erst einmal als Anwalt arbeitet, kann er auch eine Frau unterhalten, dann wird Mr Farthingale kapitulieren, weil er keine andere Wahl mehr hat.«

»Also ist Farthingales Getue nur eine Schau?«

»In gewisser Weise schon. Es wird von ihm erwartet, es ist ja nicht so, als könne man Robert nicht vorzeigen.« Er war vielleicht ein wenig zu sanftmütig, zu konservativ, zu wenig bestimmend, doch er kam aus einem akzeptablen Elternhaus. »Die Farthingales haben Robert heute Abend hier nicht erwartet. Jeder weiß Bescheid, und wir alle bemühen uns, die Situation nicht noch zu verschlimmern.«

»Und was ist heute Abend geschehen?«

Phyllida blickte zu Lady Huddlesford hinüber, die am Kamin Hof hielt. »Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich hat meine Tante, die in jedem Jahr zwei oder drei Monate hier verbringt, es vergessen und hat in ihrer Unschuld Robert zusammen mit Crabbs eingeladen.«

»Aber …?«

Phyllida verzog den Mund. »Unter dem sorgfältig aufrechterhaltenen Äußeren ist sie ziemlich romantisch. Ich könnte mir auch vorstellen, dass sie sich einbildet, sie würde den beiden Liebenden den Weg ein wenig ebnen.«

»Ah.«

In diesem einzigen Wort lag sein ganzer Zynismus. Phyllida blickte auf - und entdeckte Percy, der auf sie beide zukam.

Er nickte Lucifer zu, doch er sah Phyllida eindringlich an. »Ich würde gern ein paar Worte mit dir reden, Cousine«, meinte er.

Über was? Doch Phyllida schluckte diese unhöflichen Worte herunter. »Aber natürlich«, antwortete sie.

Percy lächelte Lucifer an. »Eine Familienangelegenheit, müssen Sie wissen.«

Lucifer verbeugte sich.

Phyllida senkte zustimmend den Kopf, dann legte sie die Hand auf Percys Arm und ließ sich von ihm durch die offene Tür auf die Terrasse führen. Dort nahm sie die Hand von seinem Arm und ging zur Balustrade hinüber.

»Nicht hier.« Percy deutete zum anderen Ende der Terrasse. »Hier kann man uns sehen.«

Phyllida seufzte unhörbar auf, dann gehorchte sie ihm und hoffte, Percy würde ihr endlich sagen, was er wollte, damit sie in den Salon zurückkehren konnte. Wenn sie Robert allein erwischte, dann könnte sie den Tag heute vielleicht doch noch nutzen. Robert war vielleicht schwach, aber er war auch entsetzlich konservativ, dabei war er schon fast ein Anwalt und würde dem Gesetz gehorchen. Vielleicht könnte sie ihn davon überzeugen …«

»Es geht darum …« Vor den dunklen Fenstern der Bibliothek blieb Percy stehen. Er zupfte an seiner Weste, dann wandte er sich zu Phyllida. »Ich habe dich beobachtet und dann nachgedacht. Wie alt bist du? Vierundzwanzig?«

Sie lehnte sich gegen die Balustrade und starrte ihn an. »Ja«, gestand sie. »Vierundzwanzig. Und?«

»Nichts und. Du solltest natürlich längst verheiratet sein! Da kannst du meine Mutter fragen, sie wird dir das bestätigen. Du bist mit deinen vierundzwanzig ja schon fast eine alte Jungfer.«

»Wirklich?« Phyllida dachte daran, ihm zu verraten, dass sie als alte Jungfer wirklich glücklich war. »Was geht dich das denn an?«

»Natürlich geht mich das etwas an! Ich bin immerhin das Familienoberhaupt, nun ja, das werde ich sein, wenn dein Vater nicht mehr da ist.«

»Vergiss nicht, ich habe auch noch einen Bruder.«

»Jonas.« Mit einer verächtlichen Handbewegung tat Percy Jonas ab. »Es geht darum, dass du unverheiratet bist, und das ergibt keinen Sinn, nicht, so lange es dazu eine Alternative gibt.«

Phyllida überlegte. Wenn sie Percy zustimmte, war das wahrscheinlich der beste Weg, diese Unterhaltung zu beenden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Was für eine Alternative?«

Percy reckte sich zu seiner vollen Größe und wölbte seine Brust. »Du könntest mich heiraten.«

Der Schock machte Phyllida sprachlos.

»Ich weiß, das kommt für dich überraschend - ich hatte selbst nicht darüber nachgedacht, bis ich hierher kam und sah, wie die Dinge stehen. Aber jetzt finde ich, es ist die perfekte Lösung.« Percy begann, unruhig auf und ab zu laufen. »Familienpflicht, sozusagen - um deine Hand anzuhalten ist genau das, was ich tun sollte.«

Phyllida reckte sich zu ihrer vollen Größe. »Percy, ich fühle mich hier sehr wohl …«

»Genau. Das ist ja gerade das Schöne daran. Wir können heiraten, und du kannst hier auf dem Land bleiben, ich würde sogar behaupten, dass deinem Vater das lieber wäre. Er brauchte dann die Farm nicht ohne dich zu führen. Auf der anderen Seite brauche ich keine Gastgeberin. Ich hatte noch nie eine.« Er nickte. »Ich bin ganz damit zufrieden, allein in London zurechtzukommen.«

»Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Mal sehen, ob ich deinen Antrag richtig verstanden habe.« Beim angespannten Ton ihrer Stimme blieb Percy stehen. »Könnte es vielleicht so sein, dass du im Augenblick an einem point-non-plus bist?«

Mit versteinertem Gesicht starrte Percy sie an.

Phyllida wartete.

»Ich bin vielleicht im Augenblick ein wenig knapp bei Kasse, aber das ist nur ein augenblicklicher Zustand, nichts Ernstes.«

»Trotzdem. Also, mal sehen … vor einigen Jahren hast du das Erbe deines Vaters bekommen, und von deiner Seite der Familie hast du in dieser Hinsicht auch nichts mehr zu erwarten.«

»Wenigstens nicht, solange Großmama dich als ihre Erbin einsetzt und Tante Esmeralda ihr Vermögen dir und Jonas hinterlässt.«

»Richtig. Und wenn Huddlesford natürlich sterben sollte, wird sein Besitz auf Frederick übergehen.« Phyllida blickte in Percys Gesicht, das sich mittlerweile verdrießlich verzogen hatte. »Das würde also bedeuten, dass, abgesehen vom Erbe deiner Mutter, von der jeder weiß, dass sie sich bester Gesundheit erfreut, kein Goldschatz am Horizont auf dich wartet.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Habe ich Recht?«

»Du weißt verdammt gut, dass du Recht hast.«

»Und ich habe auch Recht, wenn ich glaube, dass die Geldverleiher dir nicht länger aushelfen werden - es sei denn, du könntest ihnen beweisen, dass du in Zukunft einige Gelder erwartest - zum Beispiel von einer Ehefrau, die mit einigen Erbschaften rechnen kann?«

Percy warf ihr einen bösen Blick zu. »Das ist ja alles gut und schön, aber du weichst vom Thema ab.«

»Oh, nein! Tatsache ist, dass du auf dem Trockenen sitzt, und du brauchst mich, um dich aus dem Sumpf herauszuziehen.«

»Und das solltest du auch tun!« Mit hochrotem Gesicht und geballten Fäusten trat Percy näher. »Wenn ich bereit bin, dich aus Pflicht gegenüber der Familie zu heiraten, solltest du darüber erfreut sein, du solltest mich heiraten und mein Vermögen aufstocken.«

Phyllida presste die Lippen zusammen, um eine wenig damenhafte Bemerkung zu unterdrücken. Sie erwiderte den bösen Blick von Percy. »Ich werde dich nicht heiraten - es gibt absolut keinen Grund für mich, das zu tun.«

»Grund?« Percy verzog das Gesicht. »Grund? Ich werde dir einen Grund geben.«

Er packte sie mit der offensichtlichen Absicht, sie zu küssen. Phyllida wich zurück und entzog sich seiner Umarmung fast. Sie hatte sich noch nie vor Percy gefürchtet, sicher, er war drei Jahre älter als sie, doch sie hatte ihn schon von frühester Jugend an um den Finger gewickelt, sie hatte sich daran gewöhnt, ihn stets mit Verachtung zu behandeln.

Doch zu ihrem Entsetzen war er wesentlich kräftiger, als sie gedacht hatte. Sie wehrte sich, doch sie konnte sich seiner Umarmung nicht entziehen. Mit einem Stöhnen riss er sie wieder in seine Arme, hart drängte er sie gegen die Balustrade und versuchte, sie zu zwingen, seine …

Dann war er ganz plötzlich verschwunden.

Phyllida sank gegen die Balustrade und zog heftig die Luft ein, eine Hand lag an ihrer Brust. Sie starrte Percy an, der erstickt am Ende eines langen, blau gekleideten Arms hing.

»Gibt es noch einen See, der näher ist als der Entenweiher? Ich denke, dein Cousin braucht eine Abkühlung.«

Am Ende dieses Arms entdeckte Phyllida Lucifers Gesicht in dem schwachen Licht. Dann sah sie noch einmal zu Percy, dessen Füße den Boden noch immer nicht berührten. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Äh … nein.«

Lucifers Mund verzog sich. Er schüttelte Percy, dann warf er ihn beiseite. Mit einem erstickten Geräusch landete Percy auf dem Boden, schwach schüttelte er den Kopf und wagte es nicht aufzusehen.

Nur zögernd gestand er sich ein, dass es wohl besser so war. Lucifer bemühte sich, seine aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, und sah Phyllida an. Sie atmete noch immer heftig, doch soweit er in dem schwachen Licht erkennen konnte, war die Blässe schon wieder aus ihrem Gesicht gewichen. Ihr Kleid und auch ihre Frisur waren noch in Ordnung - er war zeitig genug gekommen, um ihr das Schlimmste zu ersparen. Er strich seinen Rock glatt, rückte die Manschetten zurecht und bot ihr dann seinen Arm. »Ich würde vorschlagen, wir gehen zurück, ehe dich jemand vermisst.«

Phyllida sah zu ihm auf, sie schluckte, doch dann nickte sie. »Danke.« Sie legte die Hand auf seinen Arm, reckte sich, bis ihr Rücken kerzengerade war, dann hob sie den Kopf. Wieder lag die Maske äußerster Gelassenheit auf ihrem Gesicht, dahinter verbarg sie ihren Schock, das plötzliche Begreifen ihrer körperlichen Verletzlichkeit, das sich auf ihrem Gesicht abgezeichnet hatte.

Es war ein Blick, den er noch nie gern an einer Frau gesehen hatte. Er hätte alles gegeben, um sie vor dieser Erkenntnis zu schützen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass Männer ihr körperlichen Schaden zufügen konnten. Ihre Sicherheit, hier in ihrem eigenen Zuhause, im Dorf und auch in der Umgebung, war etwas, das für sie ihr ganzes Leben lang selbstverständlich gewesen war. Percy hatte ihr diese Sorglosigkeit genommen - das Gefühl der Sicherheit, das sie an diesem Ort genossen hatte.

Und was seinen eleganten Antrag betraf, allein der Gedanke daran ließ Lucifer rot sehen. Mit grimmigem Gesicht bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen, als er Phyllida über die Terrasse führte. Sie traten durch die große Tür ins Licht. Er musterte sie schnell von Kopf bis Fuß, ihr blasses, liebliches Gesicht, die schlanke Gestalt und die weiblichen Rundungen unter dem lavendelfarbenen Seidenkleid bis hin zu den Spitzen ihrer Seidenschuhe. Bis auf ihren Atem, der noch immer ein wenig zu flach ging, gab es keine Anzeichen dafür, dass sie sich aufgeregt hatte.

Seine Brust wurde ganz eng, als er ihr in die Augen sah. Ihr Blick war ausdruckslos, alle Gefühle hatte sie daraus verdrängt.

Während er sie über die Schwelle führte, fragte sich Lucifer, ob es wohl zu spät wäre, noch einmal nach draußen zu gehen, um Percy zusammenzuschlagen.