16
»Jonas, kann ich einen Augenblick mit dir reden?« Mit Phyllida an seiner Seite lächelte Lucifer die beiden jungen Damen an, mit denen Jonas sich gerade unterhalten hatte.
Die jungen Damen kicherten, dann machten sie einen Knicks und eilten davon, über die Schulter hinweg sahen sie noch einmal schüchtern zurück.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte Jonas nach einem Blick auf Lucifer.
»Ja, die gibt es.« Lucifer lächelte, als würden sie sich über belanglose Dinge unterhalten.
Jonas warf Phyllida einen fragenden Blick zu. »Ich dachte, Phyl sei bei dir.«
»Das war ich ja auch«, unterbrach Phyllida ihn. »Wir haben andere Schwierigkeiten.«
Jonas zog eine Augenbraue hoch. Phyllida vermied es, ihn anzusehen, sie entschied sich, Lucifer alles erklären zu lassen.
»Hast du bemerkt, ob einer der Gentlemen vor vielleicht fünfzehn Minuten den Ballsaal verlassen hat?«
Jetzt zog Jonas beide Augenbrauen hoch. »Cedric ist gegangen und dann auch Basil. Filing war schon vorher weg. Und auch Grisby ist weggegangen. Es müssen auch noch andere den Ballsaal verlassen haben, denn es wurde getanzt, und es waren nicht sehr viele Paare auf der Tanzfläche, und nicht viele Männer standen am Rand. Lady Fortemain hat ein wenig auf den Busch geklopft.«
»Ist Cedric zurückgekommen?«
»Er kam vor wenigen Minuten, und Basil kam etwa eine Minute vor ihm zurück. Sie sahen beide ein wenig erregt aus. Ich habe die anderen noch nicht wieder entdeckt, aber so genau habe ich auch nicht aufgepasst.« Jonas sah die beiden fragend an. »Was ist denn passiert?«
Lucifer erklärte es ihm kurz, während Phyllida sich in dem Saal umsah und versuchte herauszufinden, wer von den Gentlemen nicht da war. Die Menschenmenge war noch immer ziemlich dicht. »Findest du nicht, dass wir vielleicht eine Falle aufbauen könnten?«, fragte sie, als Lucifer seinen Bericht beendet hatte.
Die beiden Männer sahen sie verständnislos an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.
»Was denn für eine Falle?«, fragte Lucifer nach einer Weile.
»Ich konnte diesmal keinen Blick auf den Mörder werfen, und du hast auch nur einen vagen Eindruck von ihm bekommen. Das muss er wissen, er hat gar keinen Grund zu verschwinden. Angenommen, er ist noch immer da, dann können wir ihn vielleicht dazu ermuntern, sich noch einmal zu zeigen.«
Lucifer starrte sie an. »Und du willst dafür den Köder spielen?«
»Wenn ihr beide aufpasst, dann wird es nicht gefährlich für mich.«
»Wenn wir beide aufpassen, wenn einer von uns in deiner Nähe sein sollte, dann wird er sich nicht zeigen. Wir wissen doch, dass er nicht dumm ist.«
»Du musst ja nicht so offensichtlich in der Nähe bleiben. Es kommen noch eine ganze Reihe Tänze. Jeder wird von uns erwarten, dass wir uns trennen.«
Lucifer unterdrückte die Panik, die in ihm aufzusteigen drohte, und betrachtete Phyllidas gelassenes Gesicht. Was sie vorschlug war … vernünftig. Doch sein Instinkt warnte ihn deutlich. Dennoch gab er nach. »Falls du versprichst, im Ballsaal zu bleiben …«
»Ich habe die Absicht, die ganze Zeit über in Sichtweite zu bleiben.« Sie hob herausfordernd das Kinn, ihre dunklen Augen blitzten warnend. »Ich bin in der Lage, meine Rolle perfekt zu spielen. Ihr müsst mich beide nur aus der Entfernung beobachten. Jetzt werde ich verschwinden.«
Sie nahm die Hand von Lucifers Arm, und er musste sich bemühen, nicht nach ihr zu greifen, um sie festzuhalten. Mit einem anmutigen Nicken und einem Lächeln wandte sie sich um und verschwand in der Menschenmenge.
Lucifer sah ihr nach. Leise fluchte er vor sich hin.
»Ich wünschte, du hättest nein gesagt«, meinte Jonas.
Doch Lucifer hatte keine andere Wahl. Nicht wenn er wollte, dass sie ihn heiratete. »Ich werde zur anderen Seite des Ballsaales gehen und von dort aus alles beobachten.« Jonas schlenderte davon.
Phyllida tanzte und plauderte, dann tanzte sie wieder. Sie ging durch den Raum, strahlte und war charmant. Sie sprach noch einmal mit Cedric, Basil und Grisby. Sie tat so, als hätte ihr Erinnerungsvermögen sie verlassen, und unterhielt sich mit Silas, als wäre ihre Begegnung auf dem Friedhof nie passiert.
Doch alles war umsonst. Kein Gentleman kam auf sie zu mit auch nur der geringsten bösen Absicht.
Irgendwann einmal stand plötzlich Lucifer neben ihr. »Genug. Das gefällt mir nicht. Er wird sich unter Druck gesetzt fühlen, und da könnte er ganz besonders gefährlich sein.«
»Sehr wahrscheinlich ist er eher aus dem Gleichgewicht und besonders verletzlich.« Sie schlenderte weiter und hörte nicht darauf, ob er noch etwas zu sagen hatte.
Fünfzehn Minuten später trat Lucifer in den Kreis, der sich um Phyllida gebildet hatte, und holte sie geschickt aus der Mitte. Er legte ihre Hand auf seinen Arm und schlenderte mit ihr durch den Raum. »Ich denke, wir sollten nach Hause gehen.« Er hatte genug. Er fühlte die Anspannung in seinen Schultern, außerdem schmerzte seine linke Schulter. »Wenn er sich dir bis jetzt nicht genähert hat, dann gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass er es noch tun wird.«
Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu. Der Ausdruck ihres Gesichts war ruhig und gelassen, doch ihre Augen blitzten gefährlich. »Du weißt sehr gut, dass wir diesen Mann nicht identifizieren können, wenn wir den Hut nicht finden. Wir können nicht viel tun, außer ihn dazu zu bringen, es noch einmal zu versuchen. Hier, wo wir von unseren Freunden umgeben sind, ist der sicherste Ort dafür. Du bist hier, Jonas ist hier. Diese Gelegenheit ist viel zu gut, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen.«
Sie hielt seinem Blick stand. Lucifer schluckte und brummte dann unwillig. Er fühlte sich zunehmend in die Enge getrieben. »Das ist keine gute Idee.«
Sie hob das Kinn, ihre Augen blitzten. »Das ist meine Idee, und sie ist vollkommen vernünftig.«
Mit diesen Worten schwebte sie davon.
Lucifer biss die Zähne zusammen und ließ sie gewähren. Entweder ließ er sie das tun, was sie wollte, oder er ging das Risiko ein, ihr zu zeigen, dass er noch viel besitzergreifender war als ihre anderen Verehrer. Verglichen mit einem Cynster, kamen sie noch recht gut weg. Das Schicksal lachte ihn sehr wahrscheinlich aus.
Er biss die Zähne zusammen, ging zum Ende des Ballsaals und lehnte sich mit der unverletzten Schulter gegen die Wand. Er beobachtete sie, während sie einen weiteren Ländler tanzte, dann unterhielt sie sich mit einer Gruppe Ladys. Danach ging sie durch den Saal von einem zum anderen. Er sah, wie sie zögerte und sich umsah. Er folgte ihrem Blick, doch er konnte nicht erkennen, wen sie anstarrte.
Dann ging sie ein wenig schneller, ihrer Entschlossenheit nach zu urteilen hatte sie entweder etwas gesehen oder sie hatte einen Plan. Ihre Ideen gefielen ihm nicht. Seine Brust wurde ganz eng, als er versuchte, ihr zu folgen.
Er verlor sie in der Menschenmenge. Panik ergriff ihn. Er blieb stehen und blickte über die Köpfe der Menschen, dort entdeckte er Jonas. Jonas schüttelte den Kopf. Auch er hatte sie verloren. Lucifer fluchte, dann wandte er sich um und entdeckte sie plötzlich. Am anderen Ende des Ballsaales trat sie gerade neben Lucius Appleby auf die Terrasse.
Appleby? Lucifer überlegte nicht erst, was für einen Plan sie haben könnte. Er bezweifelte, dass Appleby Phyllida eingeladen hatte, mit ihm hinauszugehen. Nein, sie hatte ihn nach draußen gelockt, und der Himmel allein wusste, warum. Aber draußen war es unwahrscheinlich gefährlich mit nur einem Mann als ihrem Begleiter. Wer konnte schon ahnen, wer sich in der Dunkelheit alles versteckte.
Die Entfernung zur nächsten Terrassentür schien eine ganze Meile zu sein, eine Meile voller Hindernisse, die alle lächelten und nickten und sich mit ihm unterhalten wollten. Er erreichte die Tür - sie war verschlossen. Er musste die ganze Länge des Raumes entlang zu der Tür gehen, durch die Phyllida und Appleby verschwunden waren, ohne eine Spur zu hinterlassen, wohin sie gegangen waren.
Er trat auf die Terrasse, Jonas, der noch weiter weg gestanden hatte, folgte ihm. Er sah sich um und entdeckte einen kleinen, flüchtigen Schimmer blauer Seide, die gerade um die andere Seite der Terrasse entschwand. Er ging hinter ihr her und machte sich gar nicht die Mühe, leise aufzutreten. Als er um die Ecke bog, entdeckte er Phyllida ein paar Meter weiter, sie lehnte an der Balustrade und unterhielt sich mit Appleby, der vor ihr stand.
Hinter der Balustrade standen dichte Büsche, gerade richtig für einen Mann mit einem Messer, um sich darin zu verstecken.
Lucifer streckte die Hand aus, schloss sie um Phyllidas Arm und zog sie zu sich, weg von den Büschen. Er ignorierte ihren erschreckten Aufschrei und wandte sich an Appleby. »Entschuldigen Sie uns bitte, Appleby. Miss Tallent wollte gerade gehen.«
Appleby sah ihn verständnislos an, der Ausbund eines gut geschulten Angestellten. Mit einem kleinen Nicken wandte sich Lucifer ab, so dass Phyllida einen schnellen Blick auf sein Gesicht werfen konnte, dann ging er über die Terrasse davon und zog sie hinter sich her.
»Was tust du da?«, zischte sie. Sie versuchte, ihr Handgelenk aus seinem Griff zu befreien, doch er fasste nur noch fester zu und ging weiter.
»Ich rette dich vor dir selbst! Was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht, einfach nach draußen zu gehen?« Er zog sie ein Stück näher und ging etwas langsamer, damit sein Körper sie so gut wie möglich abschirmte. »Da draußen ist dunkle Nacht!« Er deutete auf die Wiese hinter der Terrasse. »Er hätte auf dich schießen können, ohne dass er das Risiko eingegangen wäre, dass ihn jemand gesehen hätte.«
Phyllida sah zu der Wiese hinüber. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
Lucifer biss die Zähne zusammen. »Nun, aber ich habe daran gedacht. Deshalb habe ich dir ja auch das Versprechen abgenommen, den Ballsaal nicht zu verlassen.«
»Das habe ich nicht versprochen.« Sie hob die Nase ein wenig. »Ich habe nur gesagt, ich würde in Sichtweite bleiben. Ich dachte, du hättest aufgepasst.«
Bei ihrem Ton, der an seine Verletzlichkeit rührte, musste er sich auf die Zunge beißen. »Ich habe aufgepasst. Und Jonas auch. Aber wir haben dich beide für einen Augenblick aus den Augen verloren, und dann bist du hinausgegangen. Wir hätten dich beinahe verloren.«
Bei dem Gedanken schien eine eisige Hand nach seinem Herzen zu greifen. Seine Stimme wurde noch einen Ton tiefer und wesentlich bedrohlicher. »Ich wiederhole, was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht?«
Er blieb stehen, und auch sie musste stehen bleiben und ihn ansehen. Ihr Kinn war noch immer störrisch gehoben. »Ich gebe zu, das mit der Dunkelheit habe ich nicht bedacht, aber meine Gründe waren vollkommen vernünftig. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich sonst mit Appleby gehen sollte.«
»Also war das deine Idee?«
»Natürlich! Appleby ist doch derjenige, der am sichersten weiß, welcher Mann den Raum verlassen hat und wer zurückgekommen ist. Er ist Cedrics rechte Hand, er hilft bei allen Dingen und handelt als Cedrics Stellvertreter. Wenn Cedric den Raum verlässt, dann ist Appleby aufmerksam und passt auf die anderen Gäste auf, für den Fall, dass jemand etwas braucht.«
»Also«, schloss Lucifer grollend, »ist es wohl unwahrscheinlich, dass Appleby der Mörder ist. Er hatte sicher Dienst …«
»Genau! Also war ich bei ihm nicht in Gefahr. Appleby mag mich genauso wenig wie ich ihn, also bin ich auch nicht das Risiko eingegangen, dass er einen Annäherungsversuch macht. Und immerhin hast du behauptet, er sei beim Militär gewesen, also war ich bei ihm ganz bestimmt in Sicherheit, da draußen auf der Terrasse.«
Lucifer verkniff sich die Bemerkung, dass sie selbst bei ihm nicht in Sicherheit war. Mit der Hand deutete er zum Ballsaal. »Lass uns hineingehen.«
Mit einem verärgerten Schnauben wandte sich Phyllida um. Er hielt noch immer ihr Handgelenk und ging jetzt neben ihr her. Jonas hatte den Kopf aus der Tür gesteckt, und als er die beiden sah, ging er in den Ballsaal zurück. »Nun?«, fragte Lucifer, als sie sich der offenen Tür näherten. »Konnte Appleby dir etwas sagen?«
Mit hoch erhobenem Kopf trat Phyllida über die Schwelle. »Nein.«
»Ich habe mich gefragt, ob du mich vielleicht auf eine Fahrt nach Exeter begleiten möchtest.«
Phyllida hob den Kopf und unterdrückte ein erschrockenes Aufkeuchen. Lucifer stand nur zwei Schritte von ihr entfernt. Wie konnte er unbemerkt so nahe kommen?
Jetzt zog er eine Augenbraue hoch, streckte die Hand aus und nahm ihr den Korb mit Blumen aus ihren zitternden Fingern. Sie zwang ihren Blick zu den Rosen, von denen sie eine Blüte abschnitt. Als sie die Blüte in den Korb legte, meinte sie: »Wenn du solange warten kannst, bis ich die Blumen ins Wasser gestellt habe, komme ich gern mit. Eine Ausfahrt wäre schön, und in Exeter gibt es einige Leute, die ich besuchen möchte.«
Lucifer senkte den Kopf. »Um die Freude deiner Gesellschaft zu genießen, werde ich warten.«
Zwanzig Minuten später half er ihr in den Wagen und setzte sich dann neben sie auf den Kutschsitz, griff nach den Zügeln und ließ seine Schwarzen loslaufen. Er fühlte Erleichterung, als er den Wagen die Einfahrt hinunterlenkte.
Phyllida saß neben ihm, gelassen, ein wenig abweisend - aber immerhin war sie da. Nach seinem Benehmen am gestrigen Abend war er nicht sicher gewesen, wie sie ihn empfangen würde, er war sogar bereit gewesen, sie zu entführen, wenn sie nicht aus freiem Willen mitgekommen wäre. Aber das hatte sie Gott sei Dank getan. Sie hatte noch nicht einmal eine Haube aufgesetzt.
Die Schwarzen bogen aus der Ausfahrt der Farm, und er warf ihr einen schnellen Blick zu, sie benutzte einen Sonnenschirm, um ihre blasse Haut vor der Sommersonne zu schützen, doch er konnte ihr Gesicht sehen. Er betrachtete sie, sah den Schwung ihrer Lippen, ihr Kinn und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder seinen Pferden zu.
Nach dem gestrigen Abend würde er jeden seiner Schritte sorgfältig überdenken müssen.
Schweigend ratterten sie über das Land, und mit jeder Minute wurde ihr Schweigen freundlicher. Der Sonnenschein schien ihre Steifheit zu vertreiben, und als sie in Honiton angekommen waren, zeigte sie ihm bereits bereitwillig die Sehenswürdigkeiten.
Die Straße befand sich in einem guten Zustand, und seine Schwarzen waren ausgeruht. Die Kutsche flog nur so dahin. Der Wind wehte durch Phyllidas Haar, die Geschwindigkeit war erregend, die Wärme der Sonne entspannte sie - sie konnte gar nicht anders, als ihr Gesicht dem Wind entgegenzuhalten und zu lächeln.
»Warum fahren wir eigentlich nach Exeter?«
Sie wartete, die Augen halb geschlossen, den Mund zu einem Lächeln verzogen, und fühlte Lucifers Blicke auf ihrem Gesicht. »Ich muss mit Crabbs reden«, antwortete er schließlich, »und um die ganze Sache abzurunden, sollten wir uns auch dort in den Ställen erkundigen. Dann dachte ich, dass wir irgendwo am Fluss essen könnten, ehe wir den Weg zurück über die Küstenstraße nehmen.«
Phyllida nickte. »Das klingt sehr schön.«
»Du hast erwähnt, dass du einige Leute besuchen möchtest?«
»Ich würde gern im Zollhaus vorbeisehen, um den Kontakt mit Leutnant Niles zu halten. Und während du dich mit Crabbs triffst, könnte ich mit Robert reden.« Sie warf Lucifer einen Blick zu, doch der nickte nur.
»Wenn du möchtest, können wir zuerst zum Zollhaus fahren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns zuerst in den Ställen erkundigen, dann zu Mr Crabbs fahren und dann zum Zollhaus, danach können wir im Gasthaus Mermaid essen.« Noch einmal sah sie schnell zu Lucifer, doch diesmal entging ihm der Blick nicht. Sie sah ihm in die Augen, lächelte und sah dann wieder nach vorn auf die Straße. »Jonas hat mir erzählt, sie hätten das beste Bier in Exeter. Von dort aus kommen wir gleich auf die Küstenstraße.«
Lucifer verzog lächelnd das Gesicht. »Einverstanden.« Er ließ die Schwarzen langsamer gehen, als die ersten Häuser in Sicht kamen. »Also, meine Liebe, welchen Weg nehmen wir?«
Phyllida zeigte es ihm, und ihre Begeisterung erwärmte ihm das Herz genauso sehr wie die Sonne. Sie besuchten zuerst die Mietställe und erhielten die erwartete Antwort - an dem fraglichen Sonntag hatte niemand ein Pferd gemietet. Danach fuhren sie zu Mr Crabbs, und Lucifer zog sich mit ihm in das private Heiligtum seiner Kanzlei zurück, so dass Phyllida im Büro auf ihn wartete, wo Robert Collins an seinem Schreibtisch saß. Fünfzehn Minuten später kam Lucifer zurück und entdeckte Phyllida, die gelassen lächelte, während Robert ein wenig entspannter zu sein schien.
Noch einmal verbeugte Lucifer sich vor Crabbs, der sie höflich verabschiedete, danach gingen die beiden nach drau ßen, wo ein kleiner Junge auf die Pferde aufgepasst hatte. Lucifer warf dem Jungen eine Münze zu, dann half er Phyllida in den Wagen. »Was hast du Robert gesagt? Weiß er, dass ich über die Briefe Bescheid weiß?«
»Nicht so ganz.« Phyllida fasste die Röcke zusammen, damit er neben ihr genug Platz hatte. »Ich habe ihm gesagt, du hättest mir erlaubt, nach dem Schreibtisch zu suchen. Er macht sich schreckliche Sorgen wegen dieser ganzen Sache.«
»Das habe ich bemerkt.« Lucifer fragte sich, warum die Briefe wohl so wichtig sein mochten, doch dann schob er den Gedanken beiseite. »Wo ist das Zollhaus?«
Das Zollhaus stand am Kai, nur wenige Minuten von der High Street weg, eine abschüssige, gepflasterte Straße hinunter. Der Kai bildete das Ufer des Flusses Exe, Boote lagen dort am Ufer und hüpften auf den Wellen. Lucifer hielt vor dem hübschen zweistöckigen Gebäude aus Ziegelsteinen an, das Phyllida ihm gezeigt hatte. In der Nähe stand ein Schiffsjunge, dessen Augen beim Anblick der Schwarzen aufleuchteten. Lucifer winkte ihn heran.
Ein Stück weiter am Kai lag ein Gasthaus vor den Hügeln, die sich dahinter erhoben. Das Zeichen einer Meerjungfrau hing über der Tür. Lucifer befahl dem Jungen, die Schwarzen zu dem Gasthaus zu führen und sie dem Stallknecht zu übergeben.
»Es wird nicht lange dauern«, meinte Phyllida, als er ihr aus dem Wagen half.
Sie führte ihn in das Gebäude und ging sofort zu dem Tresen, der an einer Seite der Wand stand. »Ich möchte gern mit Leutnant Niles sprechen. Wenn Sie ihm bitte sagen würden, dass Miss Tallent hier ist.«
Der Mann hinter dem Tresen betrachtete sie, als sie sich die Handschuhe auszog. »Der Leutnant ist beschäftigt. Er erledigt hier nur geschäftliche Angelegenheiten.«
Phyllida hob den Kopf und sah den Mann an. »Hier geht es um Geschäfte.«
Lucifer hatte hinter ihr langsam den Raum betreten, jetzt stand er gleich hinter ihr und sah den Mann an.
Der Mann schluckte, dann blickte er wieder zu Phyllida. »Ich werde es ihm sagen. Miss Tallent, sagten Sie?«
»In der Tat.« Phyllida wartete, bis der Mann durch die Tür verschwunden war, ehe sie sich zu Lucifer umwandte. »Was hast du mit ihm gemacht?«
Lucifer riss erstaunt die Augen auf. »Nichts.« Er lächelte. »Ich war nur ich selbst.«
Phyllida machte ein unwilliges Geräusch. Dann wandte sie sich wieder zu dem Tresen, als sich die Tür dahinter öffnete. Ein Gentleman in der Uniform der Zollbeamten erschien, lächelnd streckte er ihr die Hände entgegen.
»Miss Tallent.« Er ergriff ihre Hand und sah dann an ihr vorbei Lucifer an.
»Guten Morgen, Leutnant Niles.« Phyllida deutete auf Lucifer. »Darf ich Ihnen Mr Cynster vorstellen. Er lebt jetzt in Colyton.«
»Oh?« Mit unschuldig fragendem Gesicht schüttelte Niles Lucifers Hand. »Soll das bedeuten, dass Sie sich jetzt auch für die Colyton Import Gesellschaft interessieren?«
»Ein mildes Interesse«, gab Lucifer zurück. »Rein beratend.«
Er bemerkte, dass Phyllida den angehaltenen Atem ausstieß. Niles wandte sich wieder ihr zu, und sie begann zu reden. »Ich wollte mit Ihnen nur noch einmal die Zahlen durchgehen und fragen, ob wir unsere Zahlungen ändern müssen.«
»In der Tat.« Niles winkte sie in sein Büro. »Wenn Sie bitte mitkommen würden?«
Er und Phyllida versanken in eine Unterhaltung über die verschiedenen Waren, die die Gesellschaft in letzter Zeit eingeführt hatte, die sie in Zukunft noch einführen wollte, und über die Zölle, die auf die verschiedenen Lieferungen gezahlt werden mussten. Lucifer lehnte sich zurück und lauschte, es faszinierte ihn wie Phyllida, wenn sie erst einmal die Gelegenheit hatte, die Unterhaltung und auch Niles dominierte. Sie war von Kopf bis Fuß eine Geschäftsfrau.
Er lächelte innerlich, als sie endlich mit dem Leutnant fertig war. Sie steckte die Liste mit den neuesten Zolltarifen in ihre Tasche, stand auf und wandte sich zu ihm um. Sie wartete, bis sie sich von Niles verabschiedet hatten und wieder draußen auf dem Kai standen, ehe sie ihn fragte: »Und was amüsiert dich an der ganzen Geschichte so sehr?«
»Gar nichts. Ich bin sehr angetan, gar nicht amüsiert. Mir ist nur gerade der Gedanke gekommen, dass du auch mir bei meinen Geschäften eine große Hilfe wärst und nicht nur ich dir mit der Gesellschaft helfen könnte.« Er nahm ihren Arm und führte sie zu der Meerjungfrau.
»Geschäfte?« Sie sah zu ihm auf. »Was für Geschäfte machst du denn?«
Es dauerte das ganze Mittagessen über und noch länger, um ihr das alles zu erzählen. Als er endlich damit fertig war, saßen sie bereits wieder in seinem Wagen und fuhren über die Stra ße, die schließlich an der Küste entlangführen würde. Phyllida war fasziniert.
»Ich hatte ja gar keine Ahnung. Ich habe geglaubt, du seist nur ein feiner Mann aus London - dass du nicht mehr tust, als dich nur in Ballsälen zu amüsieren und die Ladys zu verzaubern.«
»Das stimmt ja auch, aber man muss doch etwas tun, um seine Zeit zu verbringen.«
»Hmm.« Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Also ist dein Interesse für eine Viehzucht wirklich echt?«
»Wenn man bedenkt, dass ich jetzt das Land dazu besitze, wäre es doch eine Schande, es nicht zu nutzen, und eine Viehzucht einzurichten scheint mir ein wunderbarer Ausgleich zu meiner Sammlertätigkeit.«
»So habe ich das noch gar nicht gesehen, aber ich nehme an, das stimmt.« Phyllida sah nach vorn auf die Straße.
Dann packte sie plötzlich seinen Arm. »Halt an!«
Lucifer zog die Zügel an und sah zu ihr hinüber. »Was ist los?«
Sie wandte sich um und starrte die Straße zurück. Lucifer folgte ihrem Blick. Ein Kesselflicker wanderte die Straße hinab nach Exeter.
»Der Hut!« Phyllida sah ihn mit großen Augen an. »Dieser Kesselflicker trägt den Hut!«
Lucifer wandte die Pferde um. »Ganz ruhig«, warnte er Phyllida, als er auf der gleichen Höhe mit dem Kesselflicker angekommen war. Sie starrte den Mann an - und auch den Hut -, doch sagte sie nichts. Lucifer fuhr noch etwa hundert Meter weiter, dann wendete er den Wagen noch einmal. Er fuhr bis auf etwa die gleiche Höhe wie der Mann, dann zog er die Zügel an.
»Guten Tag.«
Der Kesselflicker blieb stehen und legte die Hand an die Hutkrempe - an die Krempe des Hutes, der ganz offensichtlich nicht ihm gehörte.
»Guten Tag, Sir, Ma’am.«
»Dieser Hut«, meinte Phyllida. »Haben Sie den schon lange?«
Ein vorsichtiger Blick trat in die Augen des Mannes. »Den habe ich gefunden, ehrlich, ich habe ihn nicht gestohlen.«
»Das habe ich auch nicht angenommen.« Phyllida lächelte ihm aufmunternd zu. »Wir haben uns nur gerade gefragt, wo Sie ihn wohl gefunden haben.«
»Auf einer Straße an der Küste.«
»Wie weit weg denn? Noch vor Sidmouth?«
»Aye - noch ein ganzes Stück davor. Ich habe Axmouth verlassen und mich entschieden, ein Stück ins Land zu gehen. Dort gibt es ein verschlafenes kleines Dorf, es heißt Colyton.«
»Das kennen wir«, mischte sich jetzt auch Lucifer ein.
»Ich schärfe Messer.« Der Kesselflicker deutete auf einen Sack auf seinem Rücken. »Nachdem ich in dem Dorf fertig war, bin ich weitergezogen, nach Westen und dann nach Nordwesten, es gibt da einen Weg, der nach Honiton führt, dahin wollte ich als Nächstes gehen. Den Hut habe ich auf diesem Weg gefunden, ein Stück vor Colyton.«
Phyllida nickte. »Dann müssen Sie den Weg an der Kirche vorbei genommen haben und an der Schmiede vorbei, den Hügel hinauf …«
»Aye, das ist richtig.«
»Dann gibt es da einen kleinen Abhang, ein flaches Tal, von dem aus man zur nächsten Anhöhe kommt - sagen Sie mir, wenn ich zu der Stelle komme, wo Sie den Hut gefunden haben -, und dann steht dort ein großes Tor, danach wird der Weg schmaler und führt nach unten, zum Meer …«
»Da ist es! Genau an der Stelle habe ich den Hut gefunden. Ich war gerade unten an der Hecke, kurz vor der Stelle, wo der Weg zum Meer endet. Ich habe den Hut aufgehoben, habe den Staub abgeklopft - es stand kein Name darin. Ich habe mich umgesehen, aber dort gibt es meilenweit kein Haus. Dann bin ich ein paar Meter weitergegangen, und der Weg wurde zu einem schmalen Pfad, der nach Nordwesten nach Honiton führt.«
Der Kesselflicker strahlte Phyllida an, sie strahlte zurück.
»Hier.« Lucifer hielt ihm zwei Münzen hin. »Eine ist für den Hut, die andere für Ihre Hilfe. Sie werden sich davon eine anständige Kappe kaufen können, können sich noch ein gemütliches Zimmer mieten, ein gutes Essen und ein paar Getränke bezahlen.«
Die Augen des Kesselflickers wurden ganz groß und leuchteten. »Mein Glückstag - der Tag, an dem ich den Hut gefunden habe.« Er reichte ihn Phyllida.
Lucifer gab ihm die beiden Münzen. »An welchem Tag war das, an welchem Tag haben Sie den Hut gefunden?«
Der Mann verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich habe Axmouth am Montag verlassen und habe einen Tag zwischen Axmouth und Colyton verbracht. Ich habe am Friedhofstor geschlafen und bin dann früh am nächsten Morgen nach Honiton aufgebrochen, das war der Tag, an dem ich den Hut gefunden habe.«
»Also haben Sie ihn am Dienstag gefunden?«
»Aye, aber nicht an diesem Dienstag. Es muss der Dienstag davor gewesen sein, ich war beinahe eine ganze Woche in Honiton und bin dann hinunter nach Sidmouth gezogen.«
»Also am vorigen Dienstag.« Lucifer nickte. »Wir danken Ihnen.«
Der Kesselflicker blickte auf die Münzen in seiner Hand. »Ich glaube, ich habe zu danken.«
Sie verließen ihn, der noch immer über sein Glück erstaunt war. Lucifer lenkte die Schwarzen wieder zurück und sah dann Phyllida an.
Sie hielt den Hut auf ihrem Schoß und starrte darauf. »Kein Wunder, dass wir ihn nicht finden konnten, dass wir ihn nirgendwo entdeckt haben. Er muss ihn sofort losgeworden sein.«
Ihre Stimme klang ein wenig abwesend, und Lucifer runzelte die Stirn. »Dieses große Tor, das du erwähnt hast, das ist doch der Eingang zum Herrenhaus von Ballyclose, nicht wahr?«
Phyllida nickte.
»Und was liegt am Ende des Weges, der zum Meer führt?«
Phyllida holte tief Luft. »Das ist der Hintereingang von Ballyclose. Da ist noch nicht einmal ein Tor, nur ein Loch in der Hecke, aber das gibt es schon ewig. Jeder, der nach Ballyclose reitet, benutzt dieses Loch, es sei denn, man will gleich ins Dorf.«
»Also wenn jemand von Ballyclose kommt und nicht durch das Dorf zurückreiten will, dann benutzt er diesen Weg?«
»Jawohl.«
Beim Klang ihrer Stimme sah Lucifer Phyllida noch einmal an. »Was denkst du?« An ihrem Gesicht konnte er das nicht ablesen.
Sie holte tief Luft. »Es muss doch Cedric gewesen sein.«
Nachdenklich blickte er auf seine Pferde. »Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten.«
»Und die wären?«
»Zunächst einmal, dass es nicht Cedrics Hut ist.«
Phyllida hob den Hut hoch und drehte ihn in ihrer Hand. »Nur weil ich mich nicht daran erinnern kann, dass er ihn vielleicht getragen hat, bedeutet das noch lange nicht, dass es nicht doch sein Hut ist. Du hast doch gesehen, wie viele Hüte er hat. Ich kannte die Hälfte davon nicht.«
»Aber nur weil er alle seine Hüte aufhebt, heißt das noch lange nicht, dass dieser Hut hier auch ihm gehört.« Lucifer sah sich den Hut noch einmal an. »Ich glaube wirklich nicht, dass er ihm gehört.«
»Wenn ich mir da nicht einmal sicher sein kann, wieso kannst du dir dann sicher sein?«
Lucifer verkniff sich die Erklärung, warum er nicht glaubte, dass es Cedrics Hut war, immerhin war es nur eine Vermutung. Nach einem Augenblick lenkte er ein. »Also gut, überlege doch einmal. Der Mörder, nicht aber Cedric, weiß, dass die Bücher in Horatios Bücherei ein wirkliches Motiv für Cedric sind, Horatio umzubringen, obwohl das, so muss ich zugeben, mehr ist, als wir von jedem anderen herausfinden konnten. Der Mörder jedoch hat noch ein ganz anderes Motiv, ein Motiv, von dem wir keine Ahnung haben. Jetzt muss er also diesen Hut loswerden, und er legt ihn an einen Ort, an dem genug Menschen vorbeikommen, so dass also, wenn der Hut wirklich entdeckt wird, alles auf Cedric hindeutet und nicht auf ihn.«
Phyllida starrte ihn an. »Das ist aber eine verworrene Erklärung. Glaubst du wirklich, jemand könnte so denken?«
Lucifer warf ihr einen schnellen Blick zu. »Unser Mörder ist uns schon verschiedene Male entkommen - er ist rücksichtslos, klug und ohne jegliche Gewissensbisse. Wahrscheinlich arbeitet sein Verstand immer so.«
»Hmm …« Phyllida sah auf den Hut hinunter. »Oder könnte es ganz einfach doch Cedric gewesen sein?«
Lucifer stieß einen Seufzer aus. »Ich habe wirklich Schwierigkeiten, mir Cedric als den Mörder vorzustellen. Nicht, weil ich nicht glaube, dass er zu so etwas fähig wäre, sondern nur, weil ich denke, er würde es nicht tun.«
»Ich kann ihn mir auch nicht als Mörder vorstellen, aber …« Phyllida sah nach vorn. »Ich denke, wir sollten gleich nach Ballyclose fahren.«
»Warum?«
»Wegen dem hier.« Sie deutete auf den Hut. »Ich kann es nicht ertragen, daran zu denken, dass Cedric der Mörder sein könnte, ohne sicher zu sein. Ich möchte es herausfinden - mit diesem Hut hier - sofort.«
»Was um alles in der Welt hast du denn vor? Willst du einfach so hereinplatzen und ihn fragen, ob das sein Hut ist?«
Phyllida hob das Kinn. »Genau das will ich tun.«
»Phyllida …«
Lucifer widersprach ihr, vernünftig und dann ganz vehement. Sie wollte die Sache geklärt haben, heute, auf die eine oder die andere Art. Am Ende sah Lucifer auf den Hut auf ihrem Schoß, presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Also gut«, brummte er nach einem Augenblick. »Wir werden nach Ballyclose fahren, und dann kannst du mit ihm reden.«
Mit hoch erhobenem Kopf akzeptierte Phyllida das.
Eine halbe Stunde später hielten sie auf dem Kiesweg vor der Haustür von Ballyclose. Ein Stallknecht kam herbeigelaufen, Lucifer reichte ihm die Zügel. Er half Phyllida aus dem Wagen, und sie ging vor ihm her die Stufen zum Eingang hinauf.
Der Butler lächelte und verbeugte sich. Er führte sie in den Salon und ging, um seinen Herrn zu holen. Einen Augenblick später kam er zurück. »Sir Cedric ist in der Bibliothek, wenn Sie bitte mitkommen, Miss, Sir.«
Lucifer reichte Phyllida die Hand, und sie stand aus dem Sessel auf, in den sie gerade erst gesunken war. Mit dem Hut in der Hand ging sie vor ihm her zur Bibliothek. Der Butler hielt ihnen die Tür auf, Phyllida schwebte in den Raum. Cedric saß hinter seinem Schreibtisch, er stand auf und lächelte sie an. Phyllida ging sofort zu seinem Schreibtisch und legte den Hut mitten darauf.
Cedric starrte auf den Hut.
Phyllida stand kerzengerade vor dem Schreibtisch und starrte ihn beinahe böse an. »Ist das dein Hut, Cedric?«
Verwirrt blinzelte Cedric. »Nein.«
»Wie kannst du sicher sein?«
Cedric warf Lucifer einen Blick zu, der hinter Phyllida stehen geblieben war, dann sah er vorsichtig wieder zu ihr. Ganz langsam griff er nach dem Hut, hob ihn hoch und setzte ihn auf seinen Kopf.
Jetzt war es an Phyllida, ihn verwirrt anzusehen. »Oh.«
Der Hut saß hoch oben auf Cedrics Kopf, ein ganzes Stück über seinen Ohren. Er war offensichtlich viel zu klein für ihn. Alle Kraft schien Phyllida zu verlassen, sie griff nach dem nächsten Sessel und sank hinein. Dann legte sie die Hände vor die Augen. »Gott sei Dank.«
Lucifer legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, dann streckte er sie Cedric entgegen. »Es gibt eine vernünftige Erklärung.«
»Die würde ich wirklich gern hören.« Cedric schüttelte seine Hand, dann setzte er den Hut wieder ab und betrachtete ihn eingehend. »Aber irgendwie kommt er mir bekannt vor.«
Phyllida nahm die Hände vom Gesicht. »Weißt du, wem er gehört?«
Cedric verzog das Gesicht. »Das kann ich im Augenblick nicht sagen, aber es wird mir schon wieder einfallen. Hüte bemerke ich eigentlich immer.«
Lucifer warf Phyllida einen schnellen Blick zu, doch sie sah Cedric an. »Es ist sehr wichtig, dass wir herausfinden, wem dieser Hut gehört, Cedric.«
»Warum?«, wollte er von Lucifer wissen.
Sie verrieten es ihm.
»Die Widmungen«, meinte Lucifer, nachdem er taktvoll davon erzählt hatte, »würden Ihnen ein offensichtliches Motiv geben, diese Bücher aus Horatios Bibliothek zu entfernen und dann eben auch Horatio auszuschalten.«
Cedric blinzelte. »Weil sie meine Abstammung in Frage stellen könnten?«
Phyllida nickte. »Damit könnte Pommeroy den Besitz von Sir Bentley für sich beanspruchen.«
Cedric betrachtete sie einen Augenblick, dann hüstelte er und vermied es, sie anzusehen. »Das wäre nicht möglich. Papa hat in seinem Testament ausdrücklich meinen Namen als den seines Erben genannt. Und was Pommeroy betrifft, so ist bei ihm, auch wenn es Zweifel darüber gibt, wer mein Vater ist, die Vaterschaft vollkommen sicher. Er ist nicht Papas Sohn.«
»Das ist er nicht?« Phyllida war entsetzt.
Cedric schüttelte den Kopf. »Das weiß natürlich niemand. Mama will das nicht.«
»In der Tat nicht.« Phyllida schüttelte benommen den Kopf.
»Also sehen Sie, da wir von diesem Missverständnis ausgegangen sind …« Lucifer erklärte weiter und ließ nichts aus. Der lächerliche Anblick des Hutes auf Cedrics Kopf hatte ihn wirklich von der Liste der möglichen Verdächtigen gestrichen. Cedric verdaute die Information recht gut, dass er eine Zeit lang an oberster Stelle dieser Liste gestanden hatte. Als Phyllida sich dann mit hochroten Wangen dafür entschuldigte, winkte er nur ab.
»Ihr musstet doch alle verdächtigen, die an diesem Sonntag nicht in der Kirche waren. Und ich kann nicht beweisen, was ich in dieser Zeit gemacht habe …«
»Das kannst du vielleicht nicht, ich aber schon.«
Sowohl Lucifer als auch Phyllida wandten sich um. Jocasta Smollet erhob sich aus einem Lehnsessel, der vor dem Fenster stand. Sie hatte die ganze Zeit über dort gesessen.
Cedric sprang auf. »Jocasta …«
Jocasta lächelte ihn an, es war der natürlichste Ausdruck, den Lucifer je auf ihrem Gesicht gesehen hatte. »Mach dir keine Sorgen, Cedric, aber ich werde nicht einfach dastehen und zusehen, wie dein Ruf beschmutzt wird, auch nicht, wenn das bedeutet, dass ich dadurch den Stolz meines Bruders verletze. Wenn wir uns wirklich von allem befreien wollen, dann können wir das auch richtig machen.«
Jocasta stand neben Cedric und sah Phyllida und Lucifer an, die ebenfalls aufgestanden waren. »Cedric«, erklärte sie, »war an diesem Sonntag bei mir - an dem Sonntagmorgen, als Horatio umgebracht wurde.«
Die Erklärung kam so unerwartet, dass Phyllida kein Wort herausbrachte. Cedric machte ein unwilliges Geräusch, dann zog er Jocasta einen Sessel heran. »Hier, setz dich.«
Das tat sie, und auch Cedric und Lucifer setzten sich wieder hin.
Jocasta verschränkte die Hände im Schoß und sah dann Lucifer und Phyllida gelassen an. »Cedric wollte mit mir über unsere Zukunft reden - am Sonntagmorgen, als sowohl Mama als auch Basil in der Kirche waren, das war die einzig mögliche Zeit. Er ist zu mir geritten, kurz nachdem die Kutsche zur Kirche losgefahren war. Der Stallbursche, der sich um sein Pferd gekümmert hat, wird sich daran erinnern. Wir haben uns allein getroffen, aber unsere Haushälterin, Mrs Swithins, war im Zimmer nebenan, und die Tür stand halb offen. Sie kann bestätigen, dass Cedric länger als eine Stunde bei mir war. Er ist erst wieder gegangen, kurz bevor die Kutsche von der Kirche zurückkam.«
»Meine Liebe, wenn wir ihnen schon so viel erzählt haben, dann können wir auch noch den Rest erzählen.« Cedric wandte sich an Lucifer und Phyllida. »Jocasta und ich haben einander nahe gestanden - so viele Jahre lang. Aber als ich vor acht Jahren um ihre Hand angehalten habe, wollte Basil nichts davon wissen. Wir beide verstehen uns nicht.« Cedric zuckte mit den Schultern. »Basil wollte nichts davon hören, dass wir heiraten, und nun ja, ich war damit nicht einverstanden, da fielen einige unschöne Worte. Danach hörte auch Mama von meinem Antrag, und ihr gefiel das auch nicht, dann brach alles zusammen. Jocasta und ich haben uns nicht mehr getroffen - ein ganzes Jahr lang sind wir uns aus dem Weg gegangen. Aber dann bestand Mama darauf, dass ich heiraten sollte«, er warf Phyllida einen Blick zu, »sie wollte unbedingt, dass ich dich heirate, meine Liebe. Doch je mehr Zeit ich mit dir verbracht habe, desto öfter musste ich an Jocasta denken. Ich begriff, dass sie die einzige Frau war, die ich heiraten wollte.« Er streckte Jocasta eine Hand entgegen, sie ergriff sie und lächelte.
»Cedric hat gestern Abend versucht, noch einmal mit Basil zu reden, aber er ist noch immer gegen diese Ehe«, erklärte Jocasta. Sie drückte Cedrics Hand. »Aber wir haben uns entschieden, nicht noch mehr Zeit zu verschwenden. Ganz gleich, was Basil und Mama sagen …«
»Oder auch meine Mama«, unterbrach Cedric sie.
Jocasta senkte den Kopf. »Ganz egal, wir haben uns entschieden zu heiraten.«
Phyllida lächelte. Sie stand auf, auch Jocasta stand auf. Phyllida umarmte Jocasta. »Ich freue mich so sehr für euch.«
Jocastas Lächeln war ein wenig schief, doch sie sah Phyllida in die Augen. »Danke. Ich weiß, ich war in den letzten Jahren nicht unbedingt freundlich, aber ich hoffe, du verstehst mich.«
»Aber natürlich.« Strahlend wandte sich Phyllida zu Cedric und nahm auch ihn in den Arm. »Ich wünsche euch beiden Glück.«
»Sehr nett von dir, meine Liebe.« Cedric tätschelte ihr die Schulter. »Nun ja«, er atmete tief auf, »wenigstens kennst du jetzt den Grund, wenn Mama zu dir kommt und sich an deiner Schulter ausweinen will.«
Phyllida griente ihn an.
Lucifer schüttelte Cedric und Jocasta die Hand und wünschte ihnen Glück, dann gingen Phyllida und er.
»Also!«, meinte Phyllida, als der Wagen aus der Einfahrt rollte. »Jocasta und Cedric! Wer hätte das gedacht.«
Lucifer hielt seinen Mund.
Einen Augenblick später seufzte Phyllida auf. »Basil wird einen Anfall bekommen.« Lächelnd lehnte sie sich in die Kissen zurück, den braunen Hut des Mörders auf ihrem Schoß hatte sie einen Augenblick lang vergessen.