9

Spät am nächsten Morgen stapfte Lucifer durch den Wald hinter dem Herrenhaus und versuchte, nicht an den vergangenen Tag zu denken. Er hatte Phyllida die Wahrheit gesagt, sie hatten zurückgemusst, hatten sich voneinander zurückziehen müssen. Er war wild auf ein unerforschtes Gebiet gestürmt, viel zu schnell für sie und auch für ihn.

Gott sei Dank war das Unwetter aufgezogen.

Den Morgen hatte er heute mit einem Frühstück begonnen, an einem Tisch, der für seinen Geschmack viel zu leer war. Noch nie zuvor hatte er allein gelebt, das einsame Leben gefiel ihm nicht. Er war dann in die Bibliothek gegangen und hatte damit begonnen, Horatios Schreibtisch zu durchsuchen. Zwei Stunden hatte er damit verbracht, Horatios Korrespondenz zu lesen.

Danach musste er unbedingt aus dem Haus. Ein Spaziergang durch den Wald, um die Lage seines Landes bis hinunter zur Axe zu erkunden, schien passend zu sein und zudem ein körperlicher Ausgleich.

Er hatte das Gefühl, als sei die ganze Energie des Unwetters vom gestrigen Abend in ihm angestaut.

Das Unwetter hatte Regen mit sich gebracht, inmitten eines heftigen Schauers hatten sie schließlich Colyton erreicht. Auch wenn jetzt wieder die Sonne schien, so war es doch noch immer feucht im Wald, der Geruch von regennassen Blättern wehte mit dem Wind zu ihm. Hinter dem Stall war er nach Osten gegangen und hatte den Weiher zu seiner Linken liegen gelassen. Die Bäume vor ihm wurden lichter, noch nicht einmal eine halbe Meile war er gegangen. Nach weiteren fünfzig Schritten stand er am Rande eines ausgedehnten Feldes, das sanft abfiel, dahinter entdeckte er eine üppig grüne Wiese. Hinter der Wiese floss die Axe, ein graublaues Band, das im Sonnenschein glänzte.

Er schlenderte über das Feld, als eine Bewegung links von ihm seine Aufmerksamkeit weckte. Er sah hin und blieb dann stehen.

Phyllida marschierte, nein, sie stürmte über das Feld. Die Röcke wehten hinter ihr her, so schnell schritt sie aus. Den Blick hatte sie nach vorn gerichtet, ihr dunkles Haar glänzte in der Sonne. Die Haube hielt sie in der Hand.

Sie knetete die Haube, verdrehte sie, und ihre Hände schlossen sich fest um den Rand.

Lucifer ging in ihre Richtung, um sie aufzuhalten.

Sie sah ihn erst, als sie schon beinahe vor ihm stand. Sie schrak zurück, ihre Augen blitzten, und sie hob eine Hand an die Brust. Ein leiser Aufschrei kam aus ihrem Mund, hätte sie ihn nicht erkannt, wäre er wohl viel lauter gewesen. Dann starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was ist passiert?« Er widerstand dem Wunsch, sie in seine Arme zu ziehen. »Was ist los?«

Sie holte noch einmal tief Luft, dann blickte sie auf ihre Haube. Sie zitterte. »Sieh nur!« Einen Finger steckte sie durch ein Loch im oberen Teil der Haube. »Die Kugel hat nur knapp meinen Kopf verfehlt!«

Der Ton ihrer Stimme machte deutlich, dass sie nicht vor Angst zitterte. Sie war schrecklich wütend. Jetzt wirbelte sie herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. »Wie können sie es wagen!« Hätte sie die Haube nicht in beiden Händen gehalten, sie hätte wohl ihre Faust geschüttelt. »Diese dummen Jäger!«

Sie hielt inne, holte noch einmal tief Luft und bekam dann einen Schluckauf.

Lucifer streckte die Hand aus und nahm ihre Hand in seine, er zerrte leicht an der Haube, bis sie losließ. Dann zog er sie an sich, bis sie ihn ansehen musste.

Ihr Gesicht war ausdruckslos, weder ruhig noch gelassen, sondern ausdruckslos, als könne sie ihre übliche Maske nicht zeigen, sondern würde darum kämpfen, ihre Gefühle zu verbergen. Ihre Augen waren groß und dunkel, in ihnen spiegelten sich ihre Gefühle. Er erkannte Furcht, echte Furcht, doch sie nutzte ihren Zorn, um sie zu verbergen.

Er zog sie noch näher an sich, bis sie nahe genug war, die Wärme seines Körpers zu fühlen und den Schutz seiner Anwesenheit. Sie war so angespannt, dass er nicht einmal das Risiko eingehen wollte, einen Arm um sie zu legen. Sie würde es ihm nicht danken, wenn sie vor seinen Augen zusammenbrach. »Wo ist das denn passiert?«

Sie senkte den Kopf und blickte auf seine Brust, dann deutete sie mit der Hand nach hinten. »Dort drüben. Zwei Felder weiter.« Sie wartete einen Augenblick, dann sprach sie weiter. »Ich kam gerade von einem Besuch bei der alten Mrs Dewbridge zurück - ich gehe jeden Freitag zu ihr.«

Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken. »Jeden Freitagmorgen?«

Sie nickte.

Sein Griff um ihre Hand wurde fester, doch dann zwang er sich, sich zu entspannen. Er zog ihren Arm unter seinen. »Ich möchte, dass du mir ganz genau zeigst, wo es passiert ist.«

Er wollte mit ihr den Weg zurückgehen, doch sie widerstand. »Das hat doch keinen Zweck. Sie sind längst nicht mehr da.«

»Ich weiß.« Er bemühte sich, ruhig zu sprechen, denn das brauchte sie jetzt. »Ich möchte nur, dass du mir genau zeigst, wo du gewesen bist. Weiter werden wir gar nicht gehen.«

Sie zögerte, doch dann nickte sie. »Also gut.«

Er führte sie den Weg zurück und half ihr dann über einen Zaunübertritt. Ein Stück blauen Stoffs hing an einem der Holme, weil sie in ihrer Eile ihr Kleid zerrissen hatte.

Trotz ihres Zorns war sie sehr verängstigt gewesen.

Sie war es noch immer.

Sie kamen an den Rand des nächsten Feldes, und Phyllida blieb stehen. »Ich war dort.« Mit ihrer Haube deutete sie in die Richtung. »Genau in der Mitte des Feldes.«

Lucifer hielt ihre Hand und schätzte die Entfernung ab. »Kann ich die Haube bitte einmal haben?«

Sie reichte sie ihm, und er hob sie hoch - zwei Löcher entdeckte er darin. Ohne ein weiteres Wort gab er sie ihr zurück. Sein Gesicht war versteinert. In dem kritischen Augenblick hatte sie nach unten gesehen, die Kugel war von hinten durch die Haube gedrungen, gleich unter dem oberen Rand, und war dann auf der anderen Seite wieder ausgetreten. »Lass mich nach deinem Kopf sehen.«

»Sie hat mich nicht getroffen«, brummte sie, erlaubte ihm aber dennoch nachzusehen.

Wie mahagonifarbene Seide lag das Haar auf ihrem Kopf, keine Wunde war zu sehen. Er stellte sich vor, wie die Haube auf ihrem Kopf gesessen hatte, dann strich er mit den Fingern über ihr Haar. Staub, ganz feiner Staub, blieb an seinen Fingerkuppen hängen. Er roch daran. Pulver - die Kugel war wirklich sehr nahe gewesen.

Er warf einen Blick zurück über das Feld. Der Weg führte nicht mitten durch das Feld sondern lief in Richtung auf den Fluss. »Hast du irgendetwas gehört oder gesehen?«

»Nein, aber …« Sie hob den Kopf. »Ich bin losgerannt. Ich weiß, das ist dumm, aber ich bin einfach nur gerannt.«

Das hatte ihr vielleicht das Leben gerettet. Er sagte nichts, holte nur tief Luft und wartete, bis seine Wut sich ein wenig gelegt hatte. Sie war über das Feld gegangen, und der einzig mögliche Ort, wo sich jemand verstecken konnte, war eine Ansammlung von Bäumen auf der anderen Seite des Feldes.

»Ich bringe dich zur Farm.«

Der Blick, den sie ihm zuwarf, verriet ihm, dass sie protestieren wollte. Doch nach einem Augenblick des Zögerns nickte sie nur und gab schweigend nach.


Sir Jasper war draußen, als sie auf der Farm ankamen. Lucifer brachte Phyllida zu Gladys und machte dieser deutlich, auch wenn Phyllida das abstritt, dass ihre Herrin gerade einen gehörigen Schock erlebt hatte.

Als er ging, warf Phyllida ihm einen bösen Blick zu, doch er achtete nicht darauf. Sie war in Sicherheit.

Durch den Wald ging er zurück zum Herrenhaus und freute sich, als er feststellte, dass Dodswell mit dem Rest seiner Pferde angekommen war. Dodswell hatte die Tiere gut verpflegt, sie waren ausgeruht genug für einen schnellen Galopp.

Er nahm Dodswell mit und ritt zu den Bäumen auf dem Feld zurück. Am Rande des Feldes stieg er ab, sie banden die Pferde fest, und Lucifer erklärte Dodswell, wonach sie suchten.

Sie fanden es schließlich auf einer Seite der Bäume, auf der Seite, die man von dem Weg aus nicht einsehen konnte.

»Nur ein Pferd.« Dodswell untersuchte die Spuren in der regenfeuchten Erde. »Schöne, saubere Vorderhufe.«

Lucifer starrte auf den Boden. »Ich finde keine Abdrücke von den Hinterhufen.«

»Nein, das Gras ist hier zu dicht, leider.«

Grimmig nickte Lucifer. »Was halten Sie davon?«

»Ein ordentlich gepflegtes Pferd, frische Hufeisen, keine Absplitterungen, keine Kerben, gut gepflegte Hufe.«

»Das Pferd eines Gentleman.«

»Ein Pferd, das zumindest aus dem Stall eines Gentleman kommt.« Dodswell betrachtete Lucifer interessiert. »Warum interessieren wir uns dafür?«

Kurz erzählte ihm Lucifer von dem Pferd, das hinter den Büschen des Herrenhauses gestanden hatte, und wer am heutigen Morgen ein Loch in der Haube hatte. Den Grund dafür nannte er ihm allerdings nicht.

»Ein Jäger war es nicht. Was sollte ein Jäger hier schießen? Es gibt bis jetzt weder Wachteln noch Wild, und um Tauben zu schießen, sind wir hier viel zu weit vom Wald weg. Kaninchen sind im Augenblick auch keine da.« Mit grimmigem Gesicht sah sich Dodswell um. »Hier gibt es nichts zu jagen.«

Nur eine Frau, die einsame Spaziergänge liebt und regelmäßig wohltätige Dinge tut. Lucifer sah noch einmal auf die Hufabdrücke und versuchte, die Anspannung in seinen Schultern ein wenig zu lindern. »Lassen Sie uns zurückreiten. Wir haben alles erfahren, was wir können.«


Bristleford wartete schon auf Lucifer, als er in den Flur trat.

»Mr Coombe ist hier, Sir. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt.«

»Danke, Bristleford.« Lucifer ging sofort zur Bibliothek. Silas Coombe stand vor einem der Bücherregale und zuckte zusammen, als Lucifer die Tür öffnete, eine Hand hatte er noch gehoben. Lucifer hätte schwören können, dass Coombe die Bücher mit dem Goldschnitt bewundert hatte. Mit unbewegtem Gesicht schloss er die Tür hinter sich und ging zu dem Schreibtisch hinüber. »Goldschnitt hält meist nicht sehr lange - aber das wissen Sie wohl selbst, nicht wahr?«

Er sah Coombe mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zupfte an seiner Jacke, die schwarz-weißen Streifen ließen ihn noch plumper aussehen als er war.

»Oh, richtig. Richtig! Ich habe nur die Arbeit bewundert.« Er kam auf den Schreibtisch zu.

Lucifer deutete auf einen Stuhl, dann setzte er sich hinter den Schreibtisch. »Also, was verschafft mir diese Ehre?«

Coombe setzte sich und war eifrig bemüht, seine Rockschöße zu richten. Dann erst sah er Lucifer an. »Natürlich vermisse auch ich Horatio sehr. Ich würde behaupten, dass ich einer der wenigen Menschen hier in der Gegend war, der seine Großartigkeit zu schätzen wusste.«

Er machte eine ausladende Handbewegung, und Lucifer hatte keinerlei Zweifel, dass in Coombes Augen die Großartigkeit von Horatio in seinem Besitz gelegen hatte. Coombe blickte an den Bücherregalen entlang. »Es muss Ihnen wohl sehr erstaunlich vorkommen, dass jemand sein Leben damit verbringt, all diese staubigen Wälzer zusammenzutragen. Es ist wirklich eine erstaunliche Anzahl.«

Lucifer ließ sich nichts anmerken. Er hatte nur mit Sir Jasper und Phyllida über sein Interesse an Sammlungen gesprochen, und keiner von den beiden hatte mit anderen darüber geredet.

»Also, es kommt Ihnen vielleicht eigenartig vor, aber ich selbst interessiere mich auch sehr für Bücher, wie Sie vielleicht schon im Dorf gehört haben. Man sieht mich deshalb hier als einen rechten Exzentriker an, müssen Sie wissen.«

»Wirklich?«

»Ja, oh ja. Also, um auf den Punkt zu kommen, mir ist klar, dass sie all das hier wohl loswerden wollen - zweifellos werden Sie schon bald damit beginnen, alles auszuräumen. Die Bücher nehmen so viel Platz ein. Sie stehen überall in der unteren Etage dieses Hauses, und ich würde behaupten, sicher auch oben?«

Lucifer tat so, als hätte er diese Frage überhört.

»Nun ja.« Coombe rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und zog an seinen Rockschößen. »Ich glaube, dass ich Ihnen in dieser Hinsicht helfen könnte.«

Er lehnte sich zurück, mehr sagte er nicht. Lucifer war gezwungen, ihn zu fragen. »Wie denn?«

Jetzt beugte sich Coombe wieder vor, als habe er seinen Text sorgfältig auswendig gelernt. »Oh, alle könnte ich natürlich nicht übernehmen! Du liebe Güte, nein! Aber ich würde gern einige von Horatios Büchern meiner Sammlung hinzufügen.« Er strahlte. »Als Erinnerung, könnte man sagen. Ich bin sicher, das hätte Horatio sich auch gewünscht.«

Lächelnd lehnte er sich wieder zurück. »Ich werde einfach kommen und mir die Bücher ansehen, wenn Sie sie einpacken - immerhin möchte ich Ihnen keine Umstände machen.«

»Das werden Sie nicht.« Lucifer versuchte, sich Coombe mit einem Messer in der Hand vorzustellen, doch dieses Bild überzeugte ihn nicht. Wenn es überhaupt einen Mann im Dorf gab, der beim Anblick von Blut in Ohnmacht fiel, er würde wetten, es wäre Coombe. Dennoch war er am letzten Sonntag nicht in der Kirche gewesen. »Ich habe noch gar nicht daran gedacht, die Bücher zu verkaufen, aber sollte ich das tun, dann würde ich wahrscheinlich einen Agenten aus London damit beauftragen.«

Coombes Stirn runzelte sich. »Ich hoffe, dass Sie mir die erste Auswahl gewähren, wenn die Zeit wirklich kommen sollte.«

Lucifer zuckte mit den Schultern. »Ich muss erst einmal sehen, wie sich alles entwickelt. Es gibt auch Agenten, die den Auftrag gar nicht erst annehmen, wenn sie glauben, dass die reifsten Pflaumen bereits gepflückt sind.«

»Also wirklich!« Coombe plusterte sich wie eine aufgeregte Henne auf. »Ich muss schon sagen, dass ich glaube, Horatio hätte es sich gewünscht, dass ich einige seiner Schätze bekommen sollte.«

»Ist das so?« Beim Ton seiner Stimme sank Coombe in sich zusammen. Doch er hielt Lucifers Blick stand. »Leider ist Horatio nicht mehr da. Ich aber schon.« Lucifer stand auf und zog an der Klingel, dann sah er Coombe wieder an. »Wenn es sonst nichts gibt, ich habe eine ganze Menge Geschäfte, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen.«

Die Tür öffnete sich. »Ah, Bristleford - Mr Coombe möchte gehen.«

Coombe stand auf, sein Gesicht war rot angelaufen. Dennoch reckte er sich und verbeugte sich dann. »Einen guten Tag, Sir.«

Lucifer senkte zum Abschied den Kopf.

Als Coombe an der Tür angekommen war, gab Lucifer Bristleford ein Signal, dieser nickte beinahe unmerklich, dann führte er Coombe hinaus und schloss die Tür.

Lucifer war gerade dabei, seine Korrespondenz zu sichten, als Bristleford zurückkam.

»Sie wünschten etwas, Sir?«

»Schicken Sie mir Covey.«

»Sofort, Sir.«

Ein paar Minuten später betrat Covey das Zimmer. Lucifer lehnte sich zurück. »Ich habe eine Aufgabe für Sie, Covey.«

»Ja, Sir?« Covey blieb neben dem Schreibtisch stehen und verschränkte die Hände.

Lucifer warf einen Blick auf die Bücherregale. »Ich möchte, dass sie mir eine komplette Aufstellung von allen Büchern Horatios machen.«

»Von allen?« Covey warf einen Blick auf die langen und hohen Bücherregale.

»Fangen Sie im Salon an, danach nehmen Sie sich die Bücher hier vor und dann in den anderen Zimmern. Von jedem Buch möchte ich den Titel, den Herausgeber, das Datum des Erscheinens, und ich möchte, dass Sie nach Widmungen suchen oder nach Randnotizen. Wenn Sie solche Notizen finden, stellen Sie diese Bücher beiseite, und zeigen Sie sie mir am Ende eines jeden Tages.«

Covey reckte die Schultern. »Jawohl, Sir.« Er schien sehr erfreut, wieder Befehle zu bekommen. »Soll ich für diese Liste ein Kontobuch benutzen?«

Lucifer nickte. Covey holte ein Kontobuch und einen neuen Stift aus einem Schrank und ging dann in den Salon hinüber. Lucifer sah ihm nach, als er die Tür hinter sich schloss, dann lehnte er sich zurück, das Leder seines Sessels knarrte.

Die Bücher, die er am Tag des Mordes im Salon entdeckt hatte und die ein Stück aus dem Regal herausgezogen worden waren, hätten nicht zufällig nach vorn rutschen können.

Jetzt wollte Coombe die erste Auswahl unter Horatios Büchern treffen können. War es möglich, dass Coombe der Mörder war?

Lucifer blickte auf den Stapel Korrespondenz. Es gab noch viele andere Fragen, auf die er im Augenblick keine Antwort wusste.

Was war es, was Horatio ihm hatte zeigen wollen?

Und wo, um alles auf der Welt, war es versteckt?

Spät an diesem Abend stand Lucifer am Fenster seines Schlafzimmers und sah hinaus, er betrachtete das Mondlicht, das über den Dorfanger fiel. Den halben Nachmittag hatte er damit verbracht, das Haus zu durchsuchen in der Hoffnung, dass etwas, irgendein Stück des Hausrates, das ihm bis jetzt noch unbekannt war, einzigartig genug war, um Horatios geheimnisvoller Gegenstand sein zu können. Er hatte erst jetzt das Ausmaß seines Erbes begriffen, doch der Lösung des Rätsels war er keinen Schritt näher gekommen.

Das Haus war eine wahre Schatzkiste. Jedes einzelne Stück besaß Geschichte und hatte einen Wert, der weitaus größer war als der reine Gebrauchswert. Dennoch hatte Horatio, wie so manch anderer Sammler auch, seine besten Stücke benutzt, so wie es vorgesehen war, und hatte sie nicht versteckt. Wo also befand sich dieser geheimnisvolle Gegenstand? War er offen zur Schau gestellt? Oder hatte er ihn verborgen in irgendeinem anderen Gegenstand, der als Versteck diente?

Diese Möglichkeit bestand. Lucifer nahm sich vor, alles gründlich zu durchsuchen.

Diesen geheimnisvollen Gegenstand zu finden - der wahrscheinlich der Grund für den Mord an Horatio war - war nur eines seiner Probleme. Das drängendste, kritischste Problem jedoch war herauszufinden, warum irgendein Mann versucht hatte, Phyllida umzubringen, und dazu auf einem Pferd geritten war, das sehr gut das gleiche Pferd sein konnte, das im Gebüsch versteckt gewesen war, als Horatio ermordet wurde.

Lucifer bewegte die Schultern, um die Anspannung ein wenig zu lockern, die er seit dem späten Nachmittag darin gefühlt hatte, als er auf die Farm gegangen war, um mit Sir Jasper zu sprechen.

Und natürlich auch mit Phyllida, aber die war nicht zu Hause gewesen.

Weder in der Bibliothek noch im Salon oder mit einem Schock in ihrem Bett. Diese verflixte Frau hatte sich einen Wagen bestellt und war weggefahren, um eine der bedürftigen Seelen zu besuchen. Wenigstens war sie nicht zu Fuß unterwegs.

Natürlich war sie die Erste gewesen, von der Sir Jasper die Geschichte erfahren hatte - ihre Version, dass ein fehlgeleiteter Jäger Schuld hatte, ihre Angst hatte sie erfolgreich heruntergespielt.

Er hatte versucht, diesen Eindruck zu korrigieren, doch zwei Dinge hatten ihn dabei ernsthaft behindert. Zunächst hatte Sir Jasper keine Ahnung von Phyllidas Anwesenheit in Horatios Salon, daher hatte er keinen Grund anzunehmen, dass der Mörder von Horatio sich überhaupt für Phyllida interessieren könnte. Ohne Sir Jasper die ganze Wahrheit zu sagen, ohne Phyllida zu verraten, hatte es gar keinen Zweck, auf eine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen hinzuweisen und auf die Möglichkeit, dass wahrscheinlich auch beide Male das gleiche Pferd benutzt worden war, daher war es praktisch unmöglich, ihn auf den Ernst der Situation aufmerksam zu machen.

Das zweite Hindernis war die Tatsache, dass Sir Jasper alles, was seine Tochter ihm erzählte, glaubte. Und da all dies gegen Lucifer sprach, war es ihm auch nicht gelungen, Sir Jasper aufzurütteln und ihn dazu zu bringen, seine Tochter besser zu beschützen. Alles, was er geschafft hatte, war, seine eigene tiefe Besorgnis über den Schuss und über Phyllidas Sicherheit deutlich zu machen.

Sir Jasper hatte nur wissend gelächelt und hatte ihm versichert, dass Phyllida sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte.

Aber nicht, wenn ein Mörder hinter ihr her war. Diese Worte hatte er nicht laut ausgesprochen, doch es war ihm schwer gefallen, sie zurückzuhalten.

Er war durch den Wald zum Herrenhaus zurückgegangen, und dabei war es ihm nur mühsam gelungen, sein Temperament unter Kontrolle zu halten. Als er dann endlich am Herrenhaus angekommen war, hatten seine Gefühle eine nagende Unruhe in ihm geweckt.

Jetzt blickte er über den vom Mondschein erhellten Dorfanger und war entschieden beunruhigt. Morgen würde er sie finden …

Eine Gestalt huschte über die Straße und kam dann über den Dorfanger.

Lucifer starrte genauer hin. Er wusste, was er sah, doch sein Verstand weigerte sich, es zu begreifen. »Verdammt! Was zum Teufel tut sie da?«

Er wirbelte herum und lief los, um eine Antwort auf seine Frage zu bekommen.

Sie stand auf der seitlichen Veranda, mit dem Kontobuch in der Hand, als er an der Kirche ankam.

Phyllida sah, wie er aus dem Schatten trat, groß, dunkel und bedrohlich wie ein Gott, der bei weitem mit seinen Untertanen nicht einverstanden war. Sie hob das Kinn und warf ihm einen warnenden Blick zu. Neben ihr stand Mr Filing.

»Mr Cynster!« Filing schloss das Kontobuch.

»Es ist schon in Ordnung«, versicherte Phyllida ihm. »Mr Cynster weiß über die Gesellschaft und darüber, wie sie geführt wird, Bescheid.«

»Oh, also gut.« Filing öffnete das Buch wieder und lächelte Lucifer an. »Es ist ein nettes kleines Geschäft.«

»Das habe ich gehört.« Lucifer erwiderte das Lächeln des Vikars nicht. Er ging an Filing vorbei, trat neben Phyllida und sah sie dann an, die Hände in die Hüften gestützt, eine ausgezeichnete Imitation einer zornigen Gottheit. »Was tust du hier?«

Er hatte den Kopf gesenkt, so dass sein Mund ihrem Ohr recht nahe war. Sie sah nicht auf. »Ich vergleiche die Waren mit dem Frachtbrief - siehst du?« Sie zeigte es ihm, als Hugey mit einer schweren Kiste kam. »Stellen Sie das links neben Mellows Sarkophag.«

Hugey nickte der bedrohlichen Gestalt neben ihr umsichtig zu, dann verschwand er in der Kirche.

Nach ihm kam Oscar, der Lucifer offener betrachtete. Phyllida fühlte sich gezwungen, die beiden einander vorzustellen. Oscar nickte, in den Armen hielt er ein kleines Fass.

Lucifer nickte ihm zu. »Sie sind Thompsons Bruder, habe ich gehört.«

»Aye, das stimmt.« Oscar griente ihn an, erfreut darüber, dass er ihn kannte. »Wie ich gehört habe, haben Sie sich entschieden, hier in Colyton zu leben.«

»Ja. Ich habe nicht vor, so schnell wieder abzureisen.«

Phyllida beugte sich über das Kontobuch und tat, als hätte sie die Unterhaltung gar nicht gehört. Oscar ging weiter, ihm folgte Marsh. Er hustete, und sie musste auch ihn Lucifer vorstellen. Ehe die Waren dieser Nacht verstaut waren, waren alle Männer Lucifer vorgestellt worden, und er war von allen akzeptiert worden, viel zu schnell, wie es Phyllida schien.

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, als sie in die Gruft ging, und musste grollend gestehen, dass er eine beherrschende Persönlichkeit war, ganz besonders in einer Nacht wie dieser. Genau wie derjenige, von dem er seinen Namen erhalten hatte, war er dunkel und bedrohlich, als er ihr die Treppe hinunter nach unten folgte.

Phyllida hob entschlossen das Kinn und machte sich dann an ihre Buchführung. Er blieb noch einen Augenblick neben ihr stehen, doch dann ging er hinüber zu Mr Filing, der die Kisten an den richtigen Platz schob. Sie hörte, wie er Mr Filing seine Hilfe anbot, eine Hilfe, die Filing gern annahm. Phyllida hörte das Rutschen der Kisten auf dem Steinboden, während sie sich wieder auf ihre Zahlen konzentrierte.

Erst als sie schließlich das Kontobuch schloss und sich reckte, bemerkte sie, dass Lucifer und Filing schon lange fertig waren. Als sie sich umwandte, stellte sie fest, dass beide an der Wand lehnten und sich ernsthaft unterhielten. Filing wandte ihr den Rücken zu, und Lucifer sprach so leise, dass sie ihn nicht verstehen konnte.

Sie räumte schnell ihren »Schreibtisch« auf, dann ging sie zu den beiden hinüber.

Lucifer sah ihr entgegen. »Also, bis auf Sir Jasper und Jonas, Basil Smollet und Pommeroy Fortemain waren die meisten Männer nicht in der Kirche.«

Filing nickte. »Sir Cedric kommt recht unregelmäßig, genau wie Henry Grisby. Auf die Ladys kann ich mich verlassen«, er lächelte Phyllida an, »aber ich fürchte, die Männer der Gemeinde sind eher ein wenig hartnäckiger.«

»Unbequem in diesem Falle.«

Phyllida sah zu Filing. »In der Tat. Ich habe alles eingetragen, es ist alles in Ordnung, also wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«

»Ihnen auch eine gute Nacht, meine Liebe.«

Filing verbeugte sich, Phyllida wandte sich lächelnd ab.

Lucifer reckte sich. »Ich bringe dich zur Farm.«

Sie war überhaupt nicht überrascht, als er das sagte. Sie senkte den Kopf und ging dann die Treppe hinauf. »Wenn du möchtest.«

Vor ihm verließ sie die Kirche und ging über den Dorfanger. Seine Schritte wurden ein wenig länger, bis er neben ihr war. Ihr ganzer Körper prickelte, und all ihre Nervenenden waren angespannt.

Ihre wüste Fahrt von den Klippen nach Colyton hatte ihnen keine Zeit gelassen, verlegen zu sein oder sich dessen bewusst zu werden, was geschehen war, doch als sie dann erst einmal in ihrem Schlafzimmer angekommen war, war alles über sie hereingebrochen. Sie war ganz sicher gewesen, ihm nie wieder in die Augen sehen zu können, ohne zumindest so heftig zu erröten, dass alle wussten, was geschehen war. Beinahe hatte sie sich schon vorgenommen, ihm aus dem Weg zu gehen - aber ganz sicher würde sie nie wieder in seinen Armen liegen.

Dann hatte jemand auf sie geschossen, und er war gekommen - und sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als sich in seine Arme zu werfen und sich dort sicher zu fühlen. Das Verlangen war so stark gewesen, dass sie erbebt war, nur mit aller Kraft hatte sie diesem Wunsch widerstanden.

Es war dumm, so zu fühlen, zu glauben, dass der einzig sichere Ort in seinen Armen war. Und es war auch gefährlich, denn sie wusste, dass sein Interesse nur flüchtig war. Wenn sie ihm erst einmal alles gesagt hatte, was sie wusste, dann hätte er keinen Grund mehr, sie zu verführen.

Den ganzen Nachmittag hatte sie damit verbracht, sich das immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, sich zu sagen, dass sie bis jetzt ganz gut überlebt hatte, dass sie im Dorf noch immer in Sicherheit war. Sie musste nur ein wenig vorsichtiger sein, und alles wäre gut. Sie würde Mary Annes Briefe finden, dann konnte sie Lucifer alles sagen. Danach würden sie den Mörder finden, und das Leben wäre wieder so wie zuvor.

Bis auf die Tatsache, dass Lucifer im Dorf bleiben würde. Er würde nicht abreisen. Und sie könnte ihm nicht aus dem Weg gehen.

Es gab nur eine einzige Lösung - sie musste sich benehmen wie immer und so tun, als wäre nichts Außergewöhnliches auf den Klippen geschehen. Sie musste so tun, als würde er sie auf keinen Fall beunruhigen.

Das war gar nicht so einfach, wenn er sie ansah wie in diesem Augenblick.

»Du kannst doch ganz unmöglich so dumm sein zu glauben, dass es irgendein hirnloser Jäger war, der auf dich geschossen hat.«

»Aber du kannst nicht beweisen, dass es nicht so war.«

»Als Beweis haben wir neben der Baumgruppe auf dem Feld Hufspuren gefunden, die genauso aussehen wie die im Gebüsch hinter dem Herrenhaus.«

Sie ging ein wenig langsamer. »Jemand ist eben dort geritten … deshalb kann es trotzdem ein Jäger gewesen sein.«

»Es gab auf diesem Feld gar nichts zu jagen.«

Bis auf sie. Eine kalte Hand schien nach ihr zu greifen, eisig rann es über ihren Rücken. Phyllida unterdrückte ein Erschauern. Sie ging weiter, doch die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, im Licht dieser neuen Tatsache sah alles ganz anders aus.

Beinahe hatte sie sich davon überzeugen können, dass es wirklich ein sorgloser Jäger gewesen war - trotz ihrer instinktiven Furcht, es hatte keinerlei logischen Grund gegeben, etwas anderes anzunehmen. Doch jetzt … Könnte es sein, dass der Mörder versuchte, auch sie umzubringen?

Aber warum? Sie hatte den Hut gesehen, das stimmte, aber es war ganz einfach nur ein brauner Hut gewesen - sicher würde sie ihn wiedererkennen, wenn sie ihn sah, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Sie hatte aufmerksam nach diesem Hut Ausschau gehalten, doch sie hatte ihn nicht mehr gesehen. Und bis sie das Gegenteil bewiesen hatten, war sie davon ausgegangen, dass jemand von außerhalb ins Dorf geritten war, um Horatio umzubringen. Doch das schien jetzt gar nicht mehr so wahrscheinlich zu sein. Und wenn Lucifer Recht hatte und das gleiche Pferd, das am Sonntag hinter dem Gebüsch angebunden gewesen war, jetzt auch heute Morgen hinter dem Wäldchen gestanden hatte, dann konnte sie ihm nur zustimmen.

Der Mörder kam aus dem Dorf, und er hatte versucht, auch sie umzubringen.

Er musste glauben, dass sie ihn identifizieren konnte, doch ganz sicher nicht nur wegen des Hutes. Den hätte er längst verbrennen können, und da sie bis jetzt nichts gesagt hatte, musste es doch offensichtlich sein, dass sie den Hut nicht wiedererkannt hatte. Gab es vielleicht noch etwas anderes, das sie gesehen hatte?

Mit gerunzelter Stirn ging sie weiter.

Neben sich hörte sie ein verächtliches Geräusch. Sie fühlte Lucifers Blick auf ihrem Gesicht und glättete ihre Stirn schnell wieder.

»Ich sollte deinem Vater etwas über deine Verbindung zu dem Mörder sagen.«

Sie stellte sich vor ihn. »Du hast doch nicht etwa eine Andeutung gemacht?«

Er sah sie böse an. »Nein - aber das sollte ich tun. Und ich werde es tun, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dich in Sicherheit zu wissen.«

Sie atmete ein wenig leichter. »Ich passe schon auf.«

»Du passt auf? Sieh dich doch nur an. Mitten in der Nacht läufst du hier draußen herum - allein!«

»Aber niemand weiß, dass ich hier bin.«

»Bis auf alle diejenigen, die etwas mit dieser Sache hier zu tun haben.«

Sie schnaubte verächtlich. »Niemand von diesen Männern ist der Mörder, und das weißt du auch.«

Schweigen senkte sich über sie.

»Willst du etwa behaupten, dass niemand bemerkt hat, dass alle paar Nächte Licht in der Kirche ist?«

»Natürlich bemerken die Leute das - sie glauben, es sind Schmuggler.«

»Also weiß jeder, dass du hier bist.«

»Nein! Sie können sich nicht einmal vorstellen, dass ich hier bin - ich bin eine Frau, vergiss das nicht.«

Das brachte ihn zum Schweigen. Doch nur für einen kurzen Augenblick. »Glaub mir, das werde ich sicher nicht vergessen.«

Sie stolperte. Er griff nach ihrem Arm, zog sie hoch und drehte sie zu sich herum. Sie beruhigte sich wieder und blickte über seine Schulter zum Dorfanger. »Gütiger Gott!« Sie starrte an ihm vorbei. »In deinem Salon ist gerade ein Licht aufgeblitzt.«

Sie erstarrten beide und blickten zum Herrenhaus. Alles war dunkel, doch dann flackerte wieder ein Licht auf. Noch ehe sie genauer hinsehen konnten, huschte ein schwacher Schein über die Fenster des Salons. Jemand hatte eine Lampe angezündet und sie dann heruntergedreht.

Phyllida holte tief Luft. »Das muss der Mörder sein!«

»Bleib hier!«

Lucifer ließ sie los und lief den Abhang hinunter.

»Hah!« Phyllida rannte hinter ihm her.

Sie umrundeten den Entenweiher und schlichen dann über die Straße, dabei waren sie sorgfältig darauf bedacht, lockere Steine zu vermeiden. Als sie am vorderen Zaun angekommen waren, duckten sie sich in die Schatten und liefen dann an der Gartenmauer des Herrenhauses entlang. Lucifer war vor ihr am Tor, er richtete sich auf und öffnete es …

Es quietschte.

Das Geräusch war so laut, dass es einen Toten aufgeweckt hätte.

Lucifer rannte über den Weg, der Kies knirschte unter seinen Füßen. Phyllida folgte ihm auf den Fersen.

Das Licht im Salon erlosch plötzlich.

Sie hielten vor der Haustür an, und Lucifer nestelte an den ihm noch unbekannten Schlüsseln herum. Drinnen hörte man Schritte auf dem Fliesenboden. Lucifer hielt inne, er hob den Kopf und lauschte.

Dann fluchte er und steckte die Schlüssel zurück in seine Tasche. Er sah sie an. »Verdammt! Bleib hier!« Er wandte sich um und lief an der Vorderseite des Hauses entlang.

Phyllida folgte ihm.

Lucifer bog um die Ecke und blieb stehen. Phyllida stieß mit ihm zusammen. Sie hielt sich an seinem Rücken fest und sah über seine Schulter.

Sie entdeckte den Schatten einer fliehenden Gestalt. »Da!« Sie deutete mit dem Finger in die Richtung.

Der Mond kam gerade hinter einigen Wolken hervor, als der Mann über die offene Wiese lief. Er rannte in Richtung auf die Büsche davon.

»Bleib hier!« Lucifer verfolgte ihn.

Phyllida zögerte. Es gab noch zwei weitere Ausgänge aus den Büschen - einer führte zum See, der andere … Sie blickte zu dem schmalen Pfad neben der Wiese, dann holte sie tief Luft und lief los.

Die Tatsache, dass sie ihm nicht folgte, ließ Lucifer einen Blick zurückwerfen. Zuerst konnte er sie nicht entdecken - doch dann sah er sie. Sie rannte wie ein Schatten über die Wiese am Haupttor. Ihm blieb das Herz stehen.

»Nein!«, brüllte er. »Komm zurück!«

Sie verschwand im Dunkeln am Eingang zu dem schmalen Weg.

Er fluchte heftig, dann drehte er um und lief ihr nach.

Der Weg wand sich durch die Büsche, er war wie ein Tunnel, dessen Wände pechschwarz waren und dessen Dach den Nachthimmel mit dunklen Ästen abschirmte. Er konnte kaum den Boden unter seinen Füßen erkennen. Äste rissen an seiner Jacke, doch er rannte immer weiter.

Phyllida war schnell - viel schneller, als er erwartet hatte. Noch immer war sie vor ihm, doch er hörte ihre Schritte, obwohl das Blut in seinen Ohren rauschte.

Die Frage war, wie schnell war sie wirklich und wie schnell war der Mörder. Und war er bewaffnet oder nicht.

Würden sie das Ende des Weges noch rechtzeitig erreichen?

Könnte er Phyllida aufhalten, ehe sie in die Arme des Mörders lief?

Dann umrundete er eine Biegung und sah sie, mit letzter Kraft stürmte er weiter. Er holte sie an der Stelle ein, an der die Hecke endete, Schulter an Schulter stürmten sie auf die kleine Lichtung dahinter.

Sie hörten nur noch das Donnern von Hufen.

Sie blieben stehen und sanken in sich zusammen. Lucifer stützte die Hände in die Hüften, seine Brust hob und senkte sich heftig, und er sah Phyllida an. Sie stand vorgebeugt, die Hände auf den Knien, und atmete schwer.

Er wartete einen Augenblick, dann fragte er: »Hast du ihn erkannt?«

Sie schüttelte den Kopf, dann richtete sie sich auf. »Ich habe ihn nur ganz flüchtig gesehen.«

Sie waren zu spät gekommen, um auch noch das Pferd sehen zu können. Lucifer fluchte. Er warf Phyllida einen wütenden Blick zu, dann deutete er auf den Weg hinter ihnen. Er würde ihr später sagen, was er von ihrem Benehmen hielt - nachdem sie beide wieder zu Atem gekommen waren.

Sie gingen den Weg zurück, und als sie auf der Wiese angekommen waren, holte Phyllida noch einmal tief Luft und trat einen Schritt zurück.

Lucifer blieb stehen. Dodswell und Hemmings suchten die Wiese ab. Er seufzte leise, dann murmelte er: »Bleib hier stehen.« Er machte ein paar Schritte, dann hielt er inne. »Du möchtest gar nicht wissen, was ich tun werde, wenn du nicht auf genau der gleichen Stelle stehst, wenn ich zurückkomme.«

Er glaubte, gehört zu haben, wie sie hochmütig schnaufte, doch er warf keinen Blick mehr zurück. Er ging über die Wiese und winkte Dodswell zu, als dieser ihn entdeckte.

»Ein Eindringling - ich habe ihn verfolgt, aber er ist mir entkommen.« Er wartete, bis auch Hemmings herangekommen war, dann sprach er weiter. »Ich werde mich noch ein wenig hier draußen umsehen. Sie können das Haus durchsuchen und feststellen, wie er hereingekommen ist, dann schlie ßen Sie bitte alles ab. Ich habe ja meinen Schlüssel - wir unterhalten uns dann morgen früh.«

Sowohl Hemmings als auch Dodswell waren im Nachthemd, sie nickten nur und gingen dann zurück.

Lucifer wartete, bis sie im Haus waren, dann wandte er sich um und ging zu dem Pfad zurück.