SELBSTVERGESSENHEIT

Charlie Traversham-Beechers hatte nicht viel Zeit auf dieser Erde. Sich so unvermittelt und so gewaltsam, durch den markerschütternden, kreischenden Aufprall einer Lokomotive auf ein Nebengleis, nach Sterne versetzt zu sehen war natürlich nicht von ihm geplant gewesen. Zu Lebzeiten hatte er nicht das Geringste über das Haus gewusst, nur dass Charlotte vor über zwanzig Jahren zusammen mit Horace Torrington aus London verschwunden war, von Liebe und Läuterung umschwebt wie von Konfetti. Seitdem hatte er sie ein- oder zweimal gesehen. Diese Begegnungen hatten sich seinem Gedächtnis eingebrannt, wie auch seine begehrlichen, vergeblichen Bemühungen, die Bekanntschaft mit ihr zu verlängern. Einmal hatte er sie unter Androhung einer Erpressung vor dem Warenhaus Whiteleys in London in ein Taxi gezerrt und einen Nachmittag lang versucht, sie sich mit Zuckerzeug und halb spielerischem Zwang gefügig zu machen. In den finsteren Windungen seines Hirns war sie das Licht, das ihn vielleicht retten könnte. Den ganzen Rest seines einsamen, ausschweifenden Lebens hatte er sie vermisst. Ihre Porträts an seinen Wänden verfolgten ihn. Jeder Drink, den er in sich hineinkippte, galt ihr, ihr und der Hoffnung, sie vergessen zu können.

Der Zufall ist ein zerbrechliches Gebilde, als Erklärung für das Funktionieren der Welt ebenso unbefriedigend wie das gewichtigere »Schicksal«, aber durch irgendeine alchemistische Kombination aus Begehren und brutaler Gewalt wurde irgendein winziges, zartes Fädchen im gewaltigen und komplexen universellen Gewebe zerrissen, als Charlie Traversham-Beechers bei einem Zugunglück auf einer Nebenlinie in der Nähe von Whorley ums Leben kam. Seine Nähe zu Sterne und die Intensität seiner Gefühle für Charlotte – eine signifikante stoffliche Bindung, deren er sich noch nicht bewusst war –, wie auch die plötzliche Art seines Todes, ließen sein Ich vorübergehend in der Schwebe verharren. Ein Umstand, das hatte er mit der neu gefundenen Klarheit seiner Position erkannt, der es ihm ermöglichte, zusammen mit einer Gruppe anderer Unglücklicher in mehr oder weniger körperlicher Form ein kleines Weilchen länger zu bleiben und Rache an der Person zu nehmen, die er sein Leben lang geliebt und gehasst hatte – Charlotte Thompson. Nachdem er dieses Ziel erreicht hatte, war er nun sich selbst überlassen. Gäste und Familienmitglieder hatten sich zerstreut, und Traversham-Beechers, die Ratte auf dem sinkenden Schiff, klammerte sich noch eine Zeit lang an das Wrack, bevor er anfing, durch die Gänge zu streifen, um zu sehen, welches neue Unheil er noch anrichten könnte. Er durchstöberte das Haus wie ein Hund eine Gosse.

Vierzig bis fünfzig Körper, auch wenn sie – insbesondere wenn sie – ausreichend mit Speisen und Getränken versorgt wurden, haben Bedürfnisse, die über die Kapazitäten eines fensterlosen Studierzimmers und eines spärlich möblierten Frühstückszimmers hinausgehen. Die Passagiere stellten fest, dass ein Problem des Bewohnens von Körpern die häufige Notwendigkeit der Entwässerung war, effizient, aber unangenehm. Sie sahen sich zunehmend in Verlegenheit. Zwei Übertöpfe aus Porzellan, die Pflanzen enthalten hatten, wurden einer niedrigen, aber notwendigen Verwendung zugeführt, ebenso wie auch der Kohlenkasten, der inzwischen bis zum Rand gefüllt war.

Trotz des üblen Geruchs wurde die Stimmung der Gäste immer ausgelassener. Die Lieder, die sie wohlgesättigt angestimmt hatten, als die Familie bei ihrem Resteessen saß, wurden lauter und ungebärdiger, während sie durch ihr vorübergehendes Zuhause schlurften.

It does seem so naughty, oh my!

Men are so rough, they’ll splash me and duck me!

sangen sie. Und:

Come on, out, out!

Und mit den Liedern und Gesängen hob sich ihre Stimmung noch mehr, bis sie zum Schluss aus den beiden winzigen, inzwischen stickigen und besudelten Räumen hervorquollen. Beide Türen schlugen laut gegen die Wände, als hätte ein heftiger Windstoß sie gepackt.

Es ist schwer zu sagen, was stärker war, der Gestank, der aus den Zimmern in die Halle drang, oder die frische, angenehme Luft, die ihre armen, sich allmählich auflösenden Gesichter umfächelte. Der Sauerstoff erfüllte sie mit neuer Energie, ihr wohlgenährtes Singen wurde lauter, als sie weiter ins Haus vordrangen.

Das Heulen des Sturms hatte sich etwas gelegt, dafür war der Regen noch heftiger geworden und prasselte unerbittlich auf den bereits völlig aufgeweichten Boden.

In diesen Regen starrte Patience Sutton hinaus. Sie stand am Fenster im Zimmer ihres Bruders, in das die beiden sich zurückgezogen hatten, um sich nach den Demütigungen im Speisezimmer gegenseitig zu trösten. Von ihren Gastgebern war keine Spur zu sehen, es gab nur die rüpelhaften Gesänge und Rufe, die nun durch jeden Teil des Hauses hallten und zusammen mit dem Trommeln des Regens alle Ecken und Winkel durchdrangen.

Come, come, come and make eyes at me,

Down at the old Bull and Bush

Ernest lehnte mit dem Rücken an der Tür, sowohl der Bequemlichkeit, als auch der Sicherheit wegen, obwohl er sich Letzteres lieber nicht eingestehen wollte, und beobachtete seine Schwester, die am Fenster stand.

»Es ist alles so furchtbar«, sagte sie.

»Ja. Es ist …« Er suchte in seinem Herzen nach einem passenden Ausdruck. »Es ist zutiefst schockierend.«

Traversham-Beechers’ Enthüllungen über Mrs Swift hatten ihn sehr schockiert. Doch an der hohen Meinung, die er von Emerald hatte, konnte weder die moralische Schwäche ihrer Mutter noch die bösartige Stimmung, die den ganzen Esstisch erfasst hatte, etwas ändern – all das ließ sich auf die rastlosen, anarchischen Ereignisse des Abends zurückführen. Aber dass sie ihn als »sonderbar« bezeichnet hatte, das konnte er nicht vergessen. Die Bemerkung steckte wie ein Angelhaken im Gewebe seiner Gefühle fest.

»Em hat das, was sie vorhin gesagt hat, nicht wirklich gemeint, Ernest«, sagte Patience, als könnte sie seine Gedanken lesen.

»Es ist nicht wichtig. Wahrscheinlich bin ich ja tatsächlich sonderbar.«

»Nein, das bist du nicht. Genauso wenig, wie ich unsäglich bin.« Patience rieb sich die Nase. »Sieh nur«, sagte sie, »da ist Mr Buchanan.«

Er trat zu ihr ans Fenster. Und tatsächlich lief John Buchanan, die Jacke über den Kopf gezogen, unter ihnen durch den auf die Auffahrt prasselnden Regen zu seinem Auto, riss die Tür auf und sprang hinein. Nachdem er eine Weile im Inneren herumgekramt hatte, kam er mit der Anlasserkurbel wieder zum Vorschein und stolperte durch den sintflutartigen Regen zur Kühlerhaube des Autos, aber obwohl er die Kurbel mehrere Male energisch betätigte, ließ sich der Motor nicht zum Anspringen bewegen. John lief zurück, zog die Tür auf und machte sich anscheinend am Anlasser zu schaffen. Dann hastete er erneut nach vorn und betätigte die Kurbel noch einmal.

»Es scheint nicht zu funktionieren«, sagte Patience.

»Ich gehe runter«, sagte Ernest. »Schließ aber bitte die Tür hinter mir ab, Patience. Ich habe das Gefühl, diese Passagiere haben irgendwo die ein oder andere Flasche gefunden. Sie hören sich an, als wären sie – unterwegs.«

»Unterwegs?«

»Sie klingen so laut.«

»Stimmt. Die Ärmsten. Keine Sorge, ich schließe ab.« Damit verließ Ernest das Zimmer, entfernte sich aber erst, als er hörte, wie sie den Schlüssel umdrehte.

Er ging durch den oberen Korridor des Hauses, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Allerdings hing ein merkwürdiger Geruch in der Luft – einer, den er rätselhafterweise mit Formaldehyd in Verbindung brachte.

Als er jedoch um die Ecke zur Haupttreppe bog, stieß er auf eine ganze Anzahl Passagiere, von denen einige planlos herumstanden, während andere irgendwie entschlossen auf ihn zukamen. Ihre Mienen unterschieden sich, aber allen gemein war ein Ausdruck benommener Verstörtheit auf den schlaffen Gesichtern. Zuerst bemerkten sie ihn nicht. Einige sangen …

Her father killed rats and she sold sprats,

All round, and over the water …

Andere wiegten sich zum stockenden Rhythmus hin und her oder betrachteten unter leisem Gemurmel aufmerksam die Gemälde und Wandverzierungen von Sterne.

Ernest war unsicher, ob er sie zur Rede stellen sollte. Als sie ihn erblickten, drehten einige sich zu ihm um, und einer rief kämpferisch: »He, Mister, wie lange wird es denn noch dauern?«

»Werden wir hier übernachten müssen?«

Mit gesenktem Kopf drängte sich Ernest zwischen ihnen hindurch und murmelte etwas wie: »Das besprechen Sie am besten mit Ihren Gastgebern.« Dabei wurde ihm klar, dass er John Buchanan unbedingt davon abhalten musste wegzufahren, denn ohne ihn wären sie, sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, noch deutlicher in der Minderzahl.

»Entschuldigen Sie, es tut mir leid«, sagte er, als er zwischen ihnen hindurchhastete. Schuldbewusst registrierte er ihre extreme Blässe und dass viele von ihnen, entgegen seiner früheren Wahrnehmung, merklich hinkten.

In der Halle sah er noch einmal zurück zu dem etwa ein Dutzend, das auf der Treppe stand, und stieß auf dem Weg zur Tür mit einer weiteren armen Kreatur zusammen. Es war eine alte, einäugige Frau, die ihn schief anfunkelte und wissen wollte: »Wo sind die Betten?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Ernest erneut und rannte geradezu nach draußen. Dabei hoffte er trotz der Tatsache, dass Patience die Tür abgeschlossen hatte, dass die Passagiere nicht versuchen würden, in die Schlafzimmer vorzudringen.

Der Regen traf ihn wie ein Eimer voller Flusswasser. Auf der Stelle völlig durchnässt, lief er durch die Dunkelheit auf den Rolls-Royce zu.

Als er John erreichte, schrie er über das Tosen des Regens hinweg: »John!«

John, vom Wolkenbruch ebenfalls völlig durchnässt, drehte sich um.

»Das verdammte Ding will nicht anspringen«, rief er aufgeregt. »Los, steigen Sie erst einmal ein.«

Sie suchten Zuflucht im Inneren des Wagens.

»Ich finde, Sie sollten wieder ins Haus kommen«, fing Ernest an.

»Verdammt!«, rief John über das laute Trommeln des Regens auf dem Dach hinweg. Das Auto leckte – Wasser rieselte im Dunkeln über das schimmernde Walnussholz der Innenverkleidung.

»Bei diesem Wetter werden Sie es nie schaffen, die Lampen anzuzünden«, sagte Ernest, ein vernünftiger Einwand.

»Verdammt!«, rief John noch einmal. »Ich bleibe auf keinen Fall unter diesem Dach!«

Ernest war klar, dass John sich etwas von der Seele reden wollte, also wartete er, während das Wasser von seinem Gesicht tropfte, obwohl er sich wegen der Kreaturen im Haus ziemliche Sorgen machte.

»Eine Hure! Eine Dirne! Eine Hure!«, rief John aufgebracht. Dann: »Die Tochter einer Hure! Ich will verdammt sein, wenn ich noch irgendetwas mit ihr zu tun haben will – verdammt – ich …« Und er verstummte verstört.

»Ah«, machte Ernest. »Es geht um Emerald.«

»Sie kann doch nicht erwarten, dass ich sie jetzt noch heirate.«

»Der Mann ist ein Flegel und ein Schurke.«

John ging nicht darauf ein.

»Ich hätte auf meinen Vater hören sollen. Der hat immer gesagt, dass die hier nicht hergehören.« In seiner Empörung war John in die Ausdrucksweise seiner Kindheit zurückgefallen.

»Oh«, machte Ernest. »Bitte, John. Kommen Sie wieder mit ins Haus. Die Passagiere …« Aber John war nicht in der Stimmung zuzuhören.

»Hier, ziehen Sie den Choke – so! Helfen Sie mir!« Damit sprang er aufs Neue aus dem Auto, und Ernest beobachtete, wie er eine Zeit lang an der Kurbel herumdrehte, ohne dass der widerspenstige Motor ansprang, bevor er wieder ins Auto stieg, dessen Scheiben durch die Hitze seiner Wut sofort beschlugen.

»Haben Sie den Choke betätigt?«, fragte er vorwurfsvoll.

»Nein«, sagte Ernest.

»Was?« Ernest fürchtete, er würde ihn schlagen.

»Es ist doch viel zu dunkel. Außerdem sind die Zündkerzen wahrscheinlich völlig nass. Gehen wir wieder ins Haus.«

»Ins Haus?«, schrie John.

»Sie können sie nicht im Stich lassen!«

»Ich werde auf keinen Fall in diesem Haus schlafen!« Seine Stimme klang hart.

»Dann hätten Sie das Auto nicht im Regen stehen lassen sollen«, sagte Ernest, inzwischen ebenfalls aufgebracht. »Bei all den vielen Leuten im Haus wäre es bedeutend besser, wenn wir zusammenhalten würden.«

»Das alles geht mich nichts an.«

»John, seien Sie doch vernünftig. Der Knecht und sein Sohn sind immer noch nicht zurück. Es sind Damen …«

»Ha!«

»Es sind Damen im Haus … und falls etwas passieren sollte …«

»Was sollte denn passieren?« Endlich hörte John ihm zu.

»Wir sind völlig in der Minderzahl.«

»Verstehe. Also gut, gehen wir.«

Damit gingen sie ins Haus zurück.

Allmählich hatte Smudge nur noch den einen Wunsch, Lady in den Stall zurückzubringen, wagte sich aber nicht aus ihrem Zimmer. Die Szene, die sie im Speisezimmer beobachtet hatte, hatte sie furchtbar verängstigt, und jetzt erschallten die ungestümen Gesänge der Passagiere so laut, dass sie bis in ihr abgelegenes Zimmer zu hören waren.

Auch das Pony selbst war ihr inzwischen zur Last geworden, denn die Pferdeäpfel, die es überall fallen ließ, machten das Zimmer offen gestanden zu einem mehr als unerfreulichen Aufenthaltsort. Wie die Passagiere stellte auch Smudge fest, dass Unbehagen, Schmutz und Gestank die Folge waren, wenn man Zimmer zu Zwecken benutzte, für die sie nicht gedacht waren. Wenn sie das Fenster öffnete, prasselte der Regen herein; wenn sie es geschlossen hielt, war die Luft kaum erträglich. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie Mähne und Schweif des Ponys zu Zöpfen flocht und später, auf dem Boden liegend, das Flohspiel spielte, während draußen der Sturm tobte, aber beim Gedanken daran, für den Rest der Nacht mit dem Pony zusammen hier oben eingepfercht zu sein, graute es ihr.

In der Halle zogen John und Ernest ihre triefend nassen Jacken aus. Ernest konnte die Gruppe auf der Treppe nicht mehr sehen, und auch die einäugige alte Frau war verschwunden, aber merkwürdigerweise wirkten das Singen und das Reden sogar noch lauter als zuvor, hallten körperlos durch die Leere, und der faulige Geruch hing immer noch in der Luft. Vielleicht, vermutete Ernest, hatte einer aus der Gruppe eine unsaubere, schwärende Wunde, denn so etwas konnte, wie er wusste, extrem unangenehm riechen, allerdings war der Gestank so stark, dass er zahlreiche Schwären zur Ursache haben musste.

John lauschte. Er beschäftigte eine große Arbeiterschaft und wusste, wann er einen Mob vor sich hatte.

»Im Moment scheinen sie ganz guter Dinge zu sein«, sagte er. »Aber ich verstehe, was Sie meinen. Wir könnten tatsächlich Unannehmlichkeiten bekommen.«

»Wir müssen die anderen finden.«

»Vielleicht sollten wir Traverall-Beechers …«, fing John zögernd an. »Er hat es schon einmal geschafft, sie wieder zur Vernunft zu bringen – obwohl ich seinen Namen nur höchst ungern in den Mund nehme.«

»Dann lassen Sie es«, sagte Ernest kurz angebunden. »Wir kommen auch ohne ihn zurecht.«

Sie liefen die Treppe hinauf. An Emeralds Tür angelangt, verzichtete Ernest auf jede Etikette und klopfte ohne weitere Umschweife einfach an.

»Ich bin’s, Ernest«, rief er. »Bist du da drin, Emerald?«

»Ja«, lautete ihre gedämpfte Antwort.

»Ist die Tür abgeschlossen?«

Mit einer Kopfbewegung gab John ihm zu verstehen, was er vorhatte, und ging den Korridor entlang, um Clovis zu suchen.

»Wieso fragst du?«, fragte Emerald.

Ernest senkte diskret die Stimme.

»Ich halte es für das Beste, wenn du in deinem Zimmer bleibst«, sagte er.

Offensichtlich war die Neugier stärker als ihr Bedürfnis, sich zu verstecken, denn einen Moment später hörte er, wie der Schlüssel gedreht wurde, und Emerald spähte heraus.

»Wieso?«, fragte sie.

Wenn seine Schwester weinte, wurde ihr Gesicht ganz schmal und blass. Emeralds Gesicht hatte sich auf völlig andere Weise verändert. Ihre Lider und Lippen waren angeschwollen, ihre Wangen tränenverschmiert, ihre Haare zerzaust und aufgelöst. Er vergaß die Passagiere. Emerald erinnerte ihn an eine Pfingstrose in einem Wolkenbruch, nur weniger intensiv in der Farbe – vielleicht eher an eine Rose. Aufgewühlt sah er sie an.

»Wieso soll ich in meinem Zimmer bleiben?«, fragte sie erneut.

»Wegen der Passagiere. Sie treiben sich im ganzen Haus herum und verhalten sich ziemlich – ausschweifend. Wir müssen sie wieder unter Kontrolle bringen.«

»In einem abgeschlossenen Schlafzimmer kann ich nicht viel dazu beitragen, oder?«, sagte sie mit einem Schniefen. »Einen Augenblick.«

»Ich finde nicht, dass …«, fing er an, aber es hatte keinen Zweck. Sie machte ihm die Tür vor der Nase zu. Einen Moment später kam sie wieder zum Vorschein, nachdem sie sich offensichtlich Wasser ins Gesicht gespritzt und einen Versuch unternommen hatte, ihre Haare ein wenig zu bändigen.

»Ernest«, sagte sie zerknirscht. »Es – das alles tut mir so unendlich leid.«

»Vergiss es einfach«, antwortete er so steif, dass nichts mehr zu sagen blieb. Trotz ihrer Bemühungen, sich etwas herzurichten, steckte der Kamm, der ihre Haare geschmückt hatte, schief in einer völlig wirren Strähne hinter ihrem Ohr. Ernest zog ihn heraus und reichte ihn ihr.

»Danke«, sagte sie, ließ ihn auf den Schreibtisch neben ihrer Tür fallen und folgte ihm. Ein Chor von Stimmen begleitete sie aus der Ferne.

Clovis und John kamen aus der anderen Richtung auf sie zu, Clovis ein Stück hinter John, der ihn so barsch aus seinem Zimmer kommandiert hatte, wie man es höchstens bei einem Hund tat. Clovis war sich zutiefst bewusst, wie beschämend und demütigend das, was Traversham-Beechers gesagt hatte, für sie alle war.

»Ich kann nicht in meinem Zimmer bleiben«, sagte Emerald, zu John, aber der schien nicht mit ihr reden zu wollen.

»Dann sollten wir auch Patience holen«, sagte Clovis abrupt und gleichzeitig befangen.

Es war jedoch nicht nötig, Patience zu holen. Sie hatte ihre Stimmen gehört und erschien von selbst. Umsichtigerweise hatte sie sich umgezogen und trug nun ein schlichtes Sergekleid. Sie war für jede Unternehmung gerüstet.

»Patience, es tut mir so leid«, sprudelte Emerald hervor, und Clovis schloss sich ihrer Entschuldigung mit rauer, kaum hörbarer Stimme an, worauf Patience knapp antwortete: »Lasst uns nicht mehr darüber reden. Dieser Trivering-Beeching ist der Übeltäter, nicht ihr.«

Plötzlich ertönte hinter ihnen eine laute Stimme – die Stimme einer Frau –, die aus voller Kehle schmetterte:

Daisy! Daisy! Give me your answer do!

I’m half crazy! …

Aber als sie sich umdrehten, war niemand zu sehen. Der Korridor war leer.

»Ach du meine Güte«, sagte Patience. »Mrs Swift?« Und sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um nach ihr zu sehen.

Clovis, der sich wieder gefasst hatte, klopfte an ihre Tür. »Mutter?«

Schweigen.

»Du solltest aus dem Zimmer kommen«, sagte Emerald leise zu der hölzernen Tür vor sich. »Die Passagiere laufen überall im ganzen Haus herum. Wir müssen ihrer Herr werden. Weißt du, wo …?« Sie brachte Traversham-Beechers’ Namen nicht über die Lippen, nicht nur, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, sondern vor allem, weil allein der Gedanke an den Mann ihr so zuwider war. »Weißt du, wo der andere Gast abgeblieben ist? Mutter?«

Hinter der Tür war kein Geräusch zu hören.

»Mrs Swift?«, rief Ernest.

»Ja, ich bin hier. Aber ich komme nicht zu euch«, lautete die entschlossene Antwort der Hausherrin.

»Ich finde, du solltest«, sagte Emerald.

»Ich komme trotzdem nicht.«

Die anderen blieben einen Moment stehen, in Gedanken bei der skandalösen Vergangenheit der Frau, die sich weigerte, zum Vorschein zu kommen, ganz zu schweigen davon, wie unleidlich sie sein konnte.

»Niemand von uns ist gerne hier!«, schrie John, der sich nicht mehr beherrschen konnte, die störrische Tür an. »Ich zumindest nicht. Ich hätte nicht übel Lust, Sie alle zusammen Ihrem Schicksal zu überlassen. Wie es aussieht, haben Sie sich das alles selbst zuzuschreiben!«

»Um Himmels willen, Mann!«, sagte Ernest.

»Geht weg«, sagte Charlotte hinter der Tür.

»Schließen Sie wenigstens ab, Mrs Swift!«, legte Ernest ihr noch ans Herz, bevor sie sich entfernten.

Charlotte hörte ihre Schritte immer leiser werden. Die Tür war bereits abgeschlossen. Sie hatten sie dabei unterbrochen, wie sie, ihr Taschentuch zerknüllend, im Zimmer auf und ab gelaufen war und spitzenbesetzte Kleidungsstücke in einem Versuch, sie zu packen, im ganzen Zimmer verstreut hatte. Auf dem Bett lag ein Koffer. Ein Schrankkoffer, aus dem Ankleidezimmer herbeigezerrt, stand offen auf dem Boden davor. Beide waren bis zum Bersten gefüllt. Auch ihr Schmuck, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, war gepackt. Sie konnte die Lieder und das gelegentliche Geschrei der Passagiere hören, aber beides kümmerte sie keinen Deut. Die Passagiere waren ihr völlig egal. Sollten sie doch verrotten, dachte sie. Dem Gestank nach zu urteilen, der unter ihrer Tür hindurchdrang, taten sie das bereits.

Sie unterbrach ihr hektisches Treiben, trat ans Fenster und krallte die Hand in die Troddeln des Vorhangs.

Sie war ein für alle Mal ruiniert. Das Einzige, was ihr noch blieb, war die Flucht. Am Morgen, vor der Rückkehr ihres Mannes, würde sie sich unauffällig davonschleichen. Beim Gedanken an den unerschütterlichen, ehrbaren Edward Swift mit seinen glatt rasierten, hellhäutigen Wangen und dem ordentlich festgesteckten Ärmel stieß sie ein unwillkürliches Ächzen aus. Beim Hinausblicken sah sie nur ihr eigenes blasses Spiegelbild. Wenn doch nur Robert, Stanley und die Kutsche endlich zurückkämen.

»Bitte kommt zurück«, flüsterte sie. »Bitte.«

»Sie kommen nicht«, sagte eine ruhige männliche Stimme hinter ihr.

Charlotte fuhr herum und wollte ihren Augen nicht trauen, als sie Traversham-Beechers mitten im Zimmer stehen sah. Einen amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht, den Blick auf sie gerichtet, zwirbelte er die Enden seines Schnurrbarts zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war eine Geste, die sie gut kannte.

Es war nicht Traversham-Beechers an sich, das Werkzeug ihres Untergangs, der sie so mit Schrecken erfüllte – er war schon immer ein Rohling und ein Widerling gewesen. Es war die Art seines Erscheinens, die Unmöglichkeit dieses Erscheinens, durch die abgeschlossene Schlafzimmertür hindurch.

»Mein Gott!«, rief sie. »Du …« Sie hatte sagen wollen: »Du musst sofort gehen«, merkte aber, dass sie keinen Ton herausbekam. Es gab keinen anderen Weg als den durch das Fenster oder die Tür, und beide waren fest verschlossen.

»Du packst, Lottie?«, erkundigte er sich beiläufig.

»Ja«, antwortete sie matt. »Du hast mich vernichtet.«

»Zumindest deinen Ruf.«

»Gibt es etwas anderes?«

»Alles, was du dir hier geschaffen hast …«, sinnierte er.

»Dahin.«

»Du meinst, sie werden dir nicht verzeihen?«

»Meine Familie? Würdest du es tun?«

»Wenn meine Mutter …? Grundgütiger, nein«, lachte er.

»Ach Gott, Charlie«, sagte sie und ließ sich müde auf den gepolsterten Hocker vor dem Frisiertisch sinken. »Warum hast du das getan?«

»Smudge?«, flüsterte Emerald, klopfte und drehte den Knauf, während die anderen still hinter ihr standen.

»Smudge?« Aber von drinnen kam keine Antwort. »Sicher schläft sie schon«, sagte Emerald. »Und die Tür ist abgeschlossen. Zum Glück.« Damit entfernten sie sich wieder, um sich um die singende Meute unten zu kümmern.

Smudge schlief keineswegs. Ihr tief verwurzelter Stolz hinderte sie daran, die Tür aufzureißen und den anderen das Pony und das Ausmaß ihres eigenen, schändlichen Tuns zu offenbaren.

Die arme Smudge war völlig erschöpft. Übertroffen wurde ihre Erschöpfung nur von ihrem verzweifelten Wunsch, das Pony in den Stall zurückzubringen und es endlich los zu sein. Aber Lady hatte sich hingelegt, eine Katastrophe, und war weder durch gutes Zureden noch durch Klatschen oder Pfeifen dazu zu bewegen, wieder aufzustehen. Im Bewusstsein ihres mächtigeren Körpers sah sie Smudge nur herablassend an und blieb einfach liegen.

Für eine Weile gab Smudge ihre Bemühungen auf, schmiegte sich an den Bauch des Ponys und lauschte auf das Gurgeln, das darin zu hören war, und auf die fernen Gesänge der Passagiere. Die warme, runde Schwellung war so behaglich, das gepflegte Fell so weich, dass Smudge am liebsten eingeschlafen wäre. Aber das durfte sie nicht. Den Tränen nahe, rappelte sie sich wieder hoch.

»Nein, Lady! Wir dürfen nicht schlafen!«, schimpfte sie.

Lady sah sie an, als wollte sie sagen: Du kannst meinetwegen machen, was du willst. Ich dagegen …

»Also gut, dann schlaf, aber nur ganz kurz. Danach gehen wir nach unten. Hast du mich verstanden?«

Sie trat ans Fenster und öffnete es. Die kühle, frische Nachtluft umströmte sie, der feine Regen benetzte ihr Gesicht.

»Du hast eine schreckliche Schweinerei angerichtet«, sagte sie zu dem Pony. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Sie setzte sich auf die Fensterbank. Ein schneller Streifzug über die Dächer würde sie wunderbar erfrischen. Anschließend würde sie sich um das unmanierliche Pony kümmern.

»Bis gleich«, sagte sie.

Der Wind hatte sich gelegt. Die Dachschiefer waren zwar noch nass, aber Smudge kannte den Weg. Noch auf der Fensterbank sitzend, ein Bein drinnen, eins draußen, raffte sie ihre schweren Röcke und stopfte sie in Clovis’ Schal, den sie sich um die Taille gebunden hatte. Dann richtete sie sich vorsichtig auf. Eine Hand flach an die Innenseite der Wand gelegt, tastete sie mit der anderen hoch über sich nach der Metallschelle, mit der das dicke Regenrohr am Haus befestigt war.

Ein gutes Stück weiter, am anderen Ende des Korridors, bewegten sich Patience, Clovis, Ernest, Emerald und John unsicher und zögernd auf die Haupttreppe zu und gingen hinunter.

Sie stießen auf ein Gewimmel zechender Passagiere, mindestens zwanzig in der Halle und dazu mehrere andere, die singend und lachend überall herumschlenderten.

The folks, amazed, all thought her crazed,

All along the Strand, Oh,

To hear a girl with sprats on her head …

»Wir hätten die Küchentreppe nehmen sollen!«, sagte Emerald und blieb wie angewurzelt stehen, als ein Mann im Mantel mit seiner nassen Schulter gegen ihren nackten Arm streifte.

Lieder und Rufe, untermalt vom Weinen von Babys, dazu das kreischende, anfeuernde Geschrei von Frauen, das noch gedämpfte Stampfen von Füßen und das Schnippen von Fingern, als sie – mit eigenartiger Selbstvergessenheit – zu tanzen anfingen.

»Mein Gott!«, sagte Ernest. »Was sollen wir bloß tun?«

Plötzlich wurden sie von einigen der singenden Passagiere bemerkt.

»Macht mit!«, riefen sie.

»Tanzt mit uns!«

Die Passagiere hatten sich in Halle und Flur zu schiefen Reihen formiert und führten einen eigenartigen kleinen Tanz auf.

»Es sind so furchtbar viele!«, flüsterte Patience beklommen.

»Na los!«, schrie einer aus der Menge ihr zu und hielt ihr seine welke Hand hin. »Wie wäre es mit einem Tänzchen in den Mai?«

»Nein, danke«, antwortete Patience höflich.

»Wir müssen verhindern, dass sie noch wilder werden«, sagte John, aber noch während er sprach, verwandelte sich das Singen in Geschrei, das Tanzen in ein Stampfen, und die Stimmen erhoben sich klagend und fordernd.

»Was nun?«, schrien sie. »Was nun?«

Smudge klammerte sich an das Regenrohr. Unter ihr ging es steil, glatt und ununterbrochen hinunter bis zum Boden. Das hier war immer der kniffligste Teil, dachte sie, aber ihr wild hämmerndes Herz würde dafür sorgen, dass sie nicht unaufmerksam wurde. Sie hielt sich gut fest, schob sich über den Sims, löste die Hand von der inneren Wand und schob sich weiter, bis sie das Rohr packen und ihre Zehen in den Spalt zwischen Metall und Wand schieben konnte. Jetzt war das Schlimmste überstanden. Am Regenrohr hochzuklettern war zwar ein Abenteuer, aber gar nicht so anders, als unten im Garten auf einen niedrigen Baum zu steigen. Jedenfalls war es bei jedem Wetter zu schaffen. Ihre kleinen Hände packten die Verklammerung, ihre Stiefel pressten sich fest an das Rohr. Sie war schon oft zur breiten Regenrinne des Dachs hochgeklettert. Wie immer gab es einen kurzen, spannenden Moment, als sie den Überhang der vorspringenden Brüstung bewältigen musste und, als sie sich nach hinten lehnte, das nasse Metall unnachgiebig und glatt unter ihren klammernden Fingerspitzen spürte, aber obwohl ihre dünnen Ärmchen vor Anstrengung schmerzten, schaffte sie es, den Vorsprung zu überwinden, benutzte alle Kraft in ihren Beinen, um sich mit zwei großen Schritten nach oben zu schieben, und befand sich wenig später hoch oben auf der breiten Rinne, durch die das Wasser rauschte, die mit Kies und Steinen bedeckte Fläche vor dem Haus tief unter sich. Keuchend lehnte sie sich gegen die kalten Schieferplatten des Dachs, von denen noch Regenwasser ablief. Innerlich jubelnd ließ sie sich nach hinten fallen. Die huschenden Wolken zogen über ihr vorbei, gelegentlich von einem wässrigen Mond beleuchtet. Ihre Haare und ihre Haut waren klatschnass, ihr Herz jubilierte triumphierend. Hier war sie frei, war weit weg vom Geschrei der Passagiere und den übel riechenden Ausscheidungen des Ponys. Wie herrlich es war, sich gegen das Dach zu lehnen, die Arme weit ausgebreitet, die Füße fest in der Regenrinne verankert – der Regenrinne, durch die eisiges Wasser strömte, über ihre Stiefel rauschte, ihre Zehen in Eisklumpen verwandelte und sie zu guter Letzt daran erinnerte, dass sie nicht ewig hier bleiben konnte. Jetzt kam der einfache Teil; jetzt würde sie auf Erkundung gehen. Immer noch gegen das Dach gelehnt, spähte sie durch die Dunkelheit, erkannte die helle Steinbalustrade des Balkons ihrer Mutter, etwa fünfzehn Meter weiter und drei unter ihr und bewegte sich darauf zu.

Lange, mit Rüschen besetzte Pantaletten, Schlüpfer und Unterröcke bedeckten Charlottes Bett wie Schaum ein aufgewühltes Meer. Charlie Traversham-Beechers schob sie wie ein entschlossener Schwimmer beiseite.

»Komm her, Charlotte. Komm, setz dich zu mir.«

Aber Charlotte blieb, wo sie war: auf dem Hocker. Ihr erster Schock über sein unerklärliches Auftauchen in ihrem Zimmer hatte sich ein wenig gelegt, und sie dachte nur, was für ein unangenehmer Mensch er immer gewesen war.

»Es ist schon spät«, flüsterte er. »Aber wir haben noch Stunden bis zum Morgen.«

»Jemand wird kommen …«

»Dein Sohn? Glaubst du wirklich, dein Sohn wird kommen, um dich zu holen? Jetzt, wo er weiß, was du bist?«

»Du bist so grausam. Was willst du von mir?«

»Ich habe nicht sehr viel Zeit. Und da dachte ich, ich amüsiere mich ein bisschen.«

Und er hob eins der Kleidungsstücke vom Bett (eine Pluderunterhose mit Spitzenbesatz) und begann, es in Streifen zu reißen.

»Rohling!«, rief sie.

»Keins deiner Kinder macht sich noch etwas aus dir, Charlotte. Keins von ihnen wird kommen«, sagte er.

Einen Augenblick lang wurde sie durch ein Scharren auf dem Dach über ihr abgelenkt.

»Ich möchte, dass du gehst«, sagte sie. »Du hast deinen Spaß gehabt – mit mir wirst du keinen mehr haben.«

Während das Kind auf dem nassen Dach lag und die Frau in ihrem Schlafzimmer bedrängt wurde, brachten die tanzenden Horden in der Halle, Stöcke und Arme schwingend, mit den Füßen stampfend, die Fundamente von Sterne zum Erbeben mit ihrem Schrei: »Was nun? Was nun?« Gerichtet war er an die kleine Gruppe, die sich auf der Treppe eng zusammendrängte: Emerald, Patience, Clovis, John und Ernest. Die Hände der Damen suchten Schutz in den Ellbeugen der Herren.

»Wir können sie nicht so weitermachen lassen«, rief Ernest.

»Aber was sollen wir dagegen tun?«, fragte Patience. Ihre in dünnen Schühchen steckenden Füße tasteten sich rückwärts die polierte Treppe hinauf.

Emerald wandte sich an Clovis. »Clo«, sagte sie, seine beiden Hände nehmend. Torrington-Augen versenkten sich in Torrington-Augen. »Wir müssen das alte Haus öffnen und sie dort unterbringen, allesamt!«

Ohne den Grund dafür zu verstehen, war Clovis augenblicklich davon überzeugt, dass ihr Vorschlag richtig war; er war so solide wie ein gut geölter Riegel, der in seine Halterung geschoben wird. »Natürlich«, stimmte er ihr mit neuer Energie zu. »Das alte Haus wird sie aufnehmen.«

Florence war allein in der Spülküche. Sie hatte Myrtle davongejagt. Denn als Florence, erfüllt von ohnmächtiger Wut, aus dem Speisezimmer in die Küche gekommen war und nichts anderes gewollt hatte, als ihres Kummers Herr zu werden und ihre Fassung wiederzufinden, hatte Myrtle, die bis zu den Ellbogen in Spülwasser steckte, es gewagt, sie zu fragen, was los sei. Als die aufgebrachte Florence daraufhin mit einer langstieligen Schöpfkelle auf sie losging, hatte sie sich Hals über Kopf in eine Ecke geflüchtet und dort zusammengeduckt.

»Mach, dass du hier rauskommst! Raus! Raus!«, schrie Florence, und Myrtle war völlig verängstigt die Küchentreppe hochgerannt, und weiter, die kleine Speichertreppe hinauf und in die Sicherheit ihrer Kammer, wo sie sich auf ihr Bett warf und vor Wut und Erschöpfung in Tränen ausbrach.

»Ich gehe heute Abend auf keinen Fall wieder runter«, versprach sie sich selbst. »Ich hasse die alte Hexe!« Kurz darauf war sie, die seit achtzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen war und geschuftet hatte wie ein Berserker, tief und fest eingeschlafen, während die Seifenlauge noch auf ihren Armen trocknete.

Florence war folglich allein. Sich in ihrem verschwitzten Kleid wütend aufrecht haltend, ging sie umher und versuchte, mit nichts als ihren beiden sehnigen Händen und ihrem schmerzenden knochigen Rücken wieder einen Anschein von Ordnung herzustellen. Gleichzeitig gab sie sich alle Mühe, den gedämpften Tumult, der von jenseits des Wirtschaftsflurs zu ihr drang, nicht zu beachten, aber als Emerald und Clovis durch die grüne Tür und in ihre Küche gestürzt kamen, drehte sie sich um.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Clovis mit wilden Augen.

»Wieso sollte mit mir etwas nicht in Ordnung sein?«, fragte Florence verbittert zurück und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.

»Wir müssen das alte Haus öffnen, Mrs Trieves. Für die Passagiere. Wir können nicht zulassen, dass sie noch länger überall im Haus herumlaufen.«

»Das alte Haus öffnen?« Florence konnte es nicht fassen. »Da drin ist es doch stockdunkel!«

Aber sie beharrten darauf. Clovis sah sich nach einer Kerze um, fand einen Stummel auf einem Regalbrett und zündete ihn an.

Emerald ging zur großen Tür am Ende der Spülküche, umfasste mit ihren weißen Händen den gusseisernen Riegel und zog daran.

»Lassen Sie mich das machen«, kam Florence ihr zu Hilfe. Gemeinsam zogen sie den Riegel zurück.

Oben, umgeben von den gerüschten Vorhängen an Charlottes Bett und Fenster, der buttrigen, schimmernden Intimität ihres Boudoirs, ihres Reisekostüms und ihrer überquellenden Koffer, machte der amüsierte Schurke es sich auf ihrem Bett bequem. Er sah nicht mehr ganz so tadellos aus wie zu Beginn, sondern wirkte ein wenig mitgenommen. Zwar war er immer noch lebensgroß, aber nicht mehr so voller Vitalität. Trotzdem war er – gnadenlos. Gegen ihren Willen, völlig erschöpft, fing Charlotte an, kläglich zu weinen.

»Du hast mich ruiniert«, sagte sie.

»Das hast du selbst getan, bevor du mich auch nur kanntest.«

»Du hast meine Kinder verstört.«

»Sie sind alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.«

»Ich werde dieses Haus verlieren.«

»Wieso? Wird dein Ehemann dich vor die Tür setzen, wenn er es erfährt?« Er gähnte, als wäre ihm das alles völlig egal, als ermüdete es ihn über alle Maßen.

»Höchstwahrscheinlich. Aber darum geht es nicht. Wir sind völlig pleite. Ob ich weglaufe oder nicht – es ist ein und dasselbe. Ich werde alles verlieren und völlig verarmt sein …«

»So wie du es verdienst.«

»Ich habe dieses Haus geliebt. Meine Kinder werden ihr Zuhause verlieren.«

»Meinst du, mir kommen deswegen die Tränen? Absolut nicht.«

»Ich gehe weg. Robert und Stanley werden bald zurückkommen.« Sie stand auf und ging ans Fenster.

»Ich habe sie weggeschickt, Charlotte.«

»Du?« Sie fuhr zu ihm herum.

»Natürlich.«

»Was meinst du damit?«

Er sah sie abfällig an. »Was glaubst du denn, wer sie weggeschickt hat? Wer dafür gesorgt hat, dass du schutzlos zurückbleibst. Die Eisenbahn?«

»Natürlich«, bestätigte sie. »Sie haben mit Emerald gesprochen und gesagt, wir sollen noch mehr Passagiere aufnehmen.«

»Glaubst du wirklich, eine altehrwürdige Institution wie die Great Central Railway ruft ausgerechnet dich an?« Er seufzte und tat dann etwas Seltsames.

Etwas überaus Seltsames.

Er gab ein Geräusch von sich, das klang, als käme es aus der kleinen, klaffenden Höreröffnung eines Telefons. Sein Mund öffnete sich, und die von Knistern begleitete, selbstsichere, dröhnende Stimme von Mr William Flockhart von der Great Central Railway war zu hören.

»Sie müssen weitere Passagiere aufnehmen«, schrie er, begleitet von telefonischem Knacken und Knistern, und wechselte abrupt zu einer leisen, an ein Kind gemahnenden Stimme aus weiter Ferne: »Ich habe die Eisenbahngesellschaft für Sie«, sagte er affektiert, und dann, ohne menschliches Atemholen, wechselte er zur Stimme von Elsie Goodwin im Postamt über: »Vermittlung! Miss Torrington auf Sterne!«, kreischte er.

»Hör auf!«

Sie spürte, wie ihre Beine angesichts dieser Erscheinung unter ihr nachgaben und sank, schwach vor Angst, auf das Bett, wo sie die Hände vor das Gesicht schlug. Sofort darauf nahm sie sie wieder weg, entsetzt von der Vorstellung, was er tun würde, wenn sie ihn nicht sehen konnte, und war noch entsetzter, als sie sah, dass er auf sie zukam – aber – war er es wirklich?

Während sie widerstrebend hinsah, schien er sich zu verändern. War das möglich? Im einen Moment noch scharf vor dem blassen Hintergrund ihres Zimmers abgezeichnet, schien es nun, als verschwömme er um den Rand herum, als waberten seine Konturen wie eine Seifenblase, die sich ständig verändert. Smudge mit ihren kindlichen Augen hatte etwas Ähnliches bemerkt, als sie glaubte, ihn von Kohlestrichen umrandet zu sehen, aber das hier ging weiter. Charlotte wurde nun Zeugin des unnatürlichen Anblicks eines Mannes, der gleichzeitig größer und breiter wurde; unerklärlicherweise schien er sogar die Form seines Schädels zu verändern. Sein Kopf, eben noch rund und so glatt wie der eines Seehunds, wurde derber, kantiger, wie der Schädel eines Bullen. Verlor sie den Verstand? Träumte sie?

Charlie Traversham-Beechers wurde ausgetauscht.

Seine rotweinfarbene Weste verdunkelte sich zu anthrazit, wurde, während sie zusah, noch dunkler, wurde schwarz. Ihre Augen hefteten sich glasig auf seine goldene Uhrkette, die dicker zu werden schien – dicker wurde –, nicht nur, weil sie vor lauter Angst nicht mehr richtig sehen konnte, sondern tatsächlich. Aus der zarten Goldkordel wurden derbe Bronzeglieder. Sie riss die Augen von seiner Brust los und hob sie noch einmal zu seinem Gesicht. Die unheimliche Eckigkeit seines Kopfes hatte sich – sie spürte, wie die Galle in ihre Kehle stieg – erneut verändert – konnte das sein? Seine Haare, schimmernd vor Haaröl, hinter die bösartigen Ohren zurückgekämmt, sträubten sich, wurden filzig vor Wolle oder Staub, verfilzten sich immer mehr, verdichteten sich, bis es keine Haare mehr waren, sondern der dicke Filz einer Kopfbedeckung, einer Mütze, der Mütze eines Eisenbahnangestellten. Der Schirm wuchs aus seinem Kopf heraus; erst wie ein gigantischer Fingernagel, dann schwarz und glänzend. Das Eisenbahnemblem in seiner ganzen metallischen Solidität bildete sich schimmernd aus. Sie war wie gebannt. Er trat auf sie zu; ein Dienstmann. Ein Eisenbahndienstmann. Mit einem freundlichen Zwinkern zog er mit kurzen Stummelfingern die billige Uhr aus seiner Weste und sagte mit einer Stimme, in der der örtliche Akzent und Kohlenstaub mitschwangen: »Es hat einen schrecklichen Unfall auf der Nebenlinie gegeben, Sir.« Noch näher kommend, lächelte er. »Sie müssen zur Kreuzung fahren, Sir, um sie abzuholen. Bringen Sie sie nach Sterne, wenn ich bitten darf. Die Eisenbahn wäre Ihnen sehr dankbar.«

Und dann, auf einen Schlag, schneller als das Verschwinden von Dampf in einem Zimmer – viel schneller als die Rauchwolken eines Zauberers auf der Bühne –, war der Dienstmann verschwunden und Traversham-Beechers wieder da.

Es war, als wäre er einfach nur durchs Zimmer geschlendert, als hätte der Dienstmann nie existiert. Er saß ihr gegenüber auf dem Bett – zu nahe – und zog lässig eine Zigarre aus seiner Tasche. Nur sein harsches, schweres Atmen ließ darauf schließen, dass die Vorstellung, die er gegeben hatte, anstrengend gewesen war.

»Nun, da wären wir also wieder«, sagte er. Ein dünner Schweißfilm überzog seine Stirn.

Nur die Uhr schien vergessen zu haben, sich wieder zurückzuverwandeln. Sie schwang an ihrer Bronzekette hin und her, streifte leicht über das Paisleymuster der Daunendecke, ganz leicht, in immer kleiner werdenden Bögen.

Charlotte hätte in Ohnmacht fallen, hätte völlig verstört im Zimmer umherlaufen können, hätte erneut anfangen können zu weinen. Aber sie tat nichts davon. Sie schrie. Sie schrie so laut, wie er selbst geschrien hatte, als Emeralds Kuchen angeschnitten wurde. Sie schrie so laut, wie Ferryman geschrien hatte, als er sich dagegen wehrte, eingeschirrt zu werden – lauter sogar. Sie schrie, dass die Hallen und Flure und Türen und Bodendielen von Sterne vom Echo ihres Entsetzens widerhallten.

Smudge, auf dem Dach, ein dürres Zweiglein auf den Schiefern, hörte den Schrei und erstarrte. Der Schreck verschlug ihr den Atem.

»Mutter?«, hauchte sie.

Lady hörte den Schrei ebenfalls, kam endlich auf die Beine und stellte nervös die Ohren auf.

Die lärmenden Passagiere in der Halle; die wenigen anderen, die sich gefügt hatten und zurück ins Studierzimmer gegangen waren; John, der einen Stock in der hoch erhobenen Hand hielt; Ernest, der versuchte, sich über den Lärm Gehör zu verschaffen; Patience auf der Treppe – alle erstarrten, als der Schrei ertönte.

Emerald und Clovis standen nebeneinander und blickten in die gähnende Dunkelheit des alten Hauses. Emeralds erster Gedanke lautete, dass irgendwo ein Tier zu Tode gekommen war – es war bekannt, dass Kaninchen schreien konnten wie abgeschlachtete Babys, wenn sich die Zähne eines Fuchses um ihre Kehlen schlossen. Aber es war nicht zu leugnen, dass dieser Schrei – da musste sie nicht lange überlegen – der Schrei ihrer Mutter war.

»Großer Gott!«, sagte Clovis und rannte in Richtung des Geräuschs.

Gefolgt von Florence, liefen Emerald und Clovis zu den anderen in die Halle, vermittelten ihr Entsetzen, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde. Langsam gingen sie die Treppe hinauf.

Mitten in der Bewegung erstarrt, standen die Passagiere in der Halle unter ihnen wie ein stummer Wald voller zerzauster, nebelverhangener Bäume und sahen ihnen nach.

»Lassen Sie mich«, sagte John, als sie den Treppenabsatz erreichten, ging schnellen Schritts zu Charlottes Tür, hämmerte dagegen und forderte: »Was ist da drin los? Mrs Swift? Öffnen Sie die Tür!«

Innen war absolut nichts zu hören.

Emerald, die inzwischen hinter ihm stand, während Florence sich an ihre Schulter lehnte, sagte: »John, machen Sie die Tür auf.«

Aber die Tür war verschlossen.

Als sie John gegen die Tür hämmern hörte, trieb sich Smudge, immer noch auf dem schlüpfrigen Dach, zur Eile an und hastete trotz ihrer weichen Knie auf Charlottes Balkon zu. Plötzlich rutschten ihre Stiefel auf den nassen Schieferplatten aus, und sie konnte nur um ein Haar verhindern, dass sie stolperte und Hals über Kopf in die Tiefe stürzte, in den leeren Raum, auf die harte Erde. Gewarnt, schob sie sich nun langsamer, Zentimeter für Zentimeter, über das Dach.

Sekunden vorher war Charlotte, nachdem sie den Schrei ausgestoßen hatte, vom Bett aufgesprungen, um sich in die Ecke neben dem Kleiderschrank zu flüchten, aber Traversham-Beechers duldete nicht, dass sie sich so weit von ihm entfernte, warf sich über das Bett und packte ihr Handgelenk.

»Charlotte«, sagte er, und die Augen in seinem Kopf wurden riesig, wie Tintenflecke, die sich immer weiter ausbreiten. »Charlotte, warum hast du mich verlassen?«

Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Er hatte immer schlecht aus dem Mund gerochen, erinnerte sie sich, war aber überrascht, wie viel unangenehmer der Geruch jetzt war. Wie eine verwesende Taube in einer Regenrinne. Sie senkte den Blick auf seine sich nun schuppenden, anscheinend immer schwächer werdenden Finger.

»Was ist mit deinen Händen?«

»Es ist …« Er betrachtete sie, aber bevor er fortfahren konnte, hämmerte John gegen die Tür und schrie sein: »Was ist da drin los?«

Charlotte löste ihr Handgelenk langsam aus dem Griff des Unholds, der, immer blasser werdend, seine sich auflösenden Fingernägel und weicher werdenden Finger betrachtete, durchquerte das Zimmer auf wackligen Beinen und öffnete die Tür.

John, Clovis, Emerald, Ernest, Patience und Florence stürzten ins Zimmer. Charlotte warf sich unverzüglich in Clovis’ Arme.

Traversham-Beechers drehte sich zu ihnen um und lächelte leise.

»Ihr seid gekommen«, sagte er traurig überrascht.

Die übernatürliche Energie, die er für seine böse Verwandlungsschau gebraucht hatte, schien ihn ermüdet zu haben. Jedenfalls strahlte er nicht mehr diese unglaubliche Kraft aus, die er noch vor wenigen Stunden an den Tag gelegt hatte.

»Was haben Sie im Zimmer meiner Mutter zu suchen?«, herrschte Emerald ihn an. »Gehen Sie! Auf der Stelle.«

Alle starrten Traversham-Beechers an, der sich nicht vom Fußende des Betts wegbewegt hatte.

»Ihr kommt ihr zu Hilfe?«, murmelte er, ziemlich tonlos. »Dieser Person?«

Aber es gab keinen Grund, darauf zu antworten, da alle Anwesenden genau das getan hatten und sich nun mit familiärer, rechtschaffener Empörung auf den Schurken zubewegten, der am Bettpfosten stand. Allerdings ließ er sich nicht so leicht einschüchtern.

»Ihr könnt mir nichts anhaben«, sagte er. »Ich bin nicht wie diese anderen, erbärmlichen Opfer. Die glauben, ich hätte mich an ihre Rockschöße gehängt. Dabei hängen sie an meinen.«

»Was soll denn das bedeuten?«, fragte Emerald, gegen ihren Willen interessiert.

»Meinen Sie etwa, die wollten hierherkommen?«, antwortete er voller Verachtung. »Sie wissen nichts von Ihnen, nichts von ihr …« Dabei deutete er auf Charlotte, die, immer noch an der offenen Tür, allmählich wieder zu sich kam. »Die Ärmsten, sie hätten sich in aller Stille von ihren Genickbrüchen und ihren zerschmetterten kleinen Körpern weggestohlen, aber mein Anliegen, mein Hunger, mein Begehren, hat sie hierhergeführt, hat uns allen diese …«

»Diese?«, wiederholte Ernest.

»Diese?«, fragte Patience.

»… diese eine, letzte Gelegenheit geboten. Unsere Körper noch länger zu bewohnen. Und sie wissen ja selbst, wie sehr sie es genossen haben. Schließlich sind sie, trotz all ihrer Klagen, noch einmal satt geworden. Man weiß die Funktionen des Körpers, so niedrig sie auch sein mögen, erst dann wirklich zu schätzen, wenn sie …« – er blickte traurig auf seine schlaffen Finger, zupfte eine Hautschuppe ab, ließ einen nutzlosen Fingernagel auf den blumengemusterten Teppich fallen – »…vorbei sind.« Dann hob er den Kopf, wachsam wie eine Ratte. »Fast vorbei, aber noch nicht ganz. Noch habe ich genug Kraft in mir. Ich lasse mich nicht wegschicken.«

»Hier oben bleiben Sie jedenfalls nicht«, sagte Clovis drohend.

»Ich sage doch, ich lasse mich nicht wegschicken.«

»Ach nein?«, sagte Emerald.

»Nein!«, rief Charlie Traversham-Beechers, aber sein Gesicht war, wie das der anderen Reisenden, von denen er sich hatte distanzieren wollen, leichenblass geworden, hatte eine fahle, gelbliche Farbe angenommen.

Er fischte die Abendhandschuhe aus seiner Tasche und fing an, sie überzustreifen. Allerdings schienen sie ihm Schwierigkeiten zu bereiten, als wären seine Finger nicht kräftig genug, sich in die engen, weißen Öffnungen zu zwängen. Daraufhin versuchte er, einen Finger der einen Hand mit den Fingern der anderen in den Handschuh hineinzustopfen, aber er knickte um. Es war, als versuchte man, einen Handschuh über die weichen Gelenke eines gekochten Hühnchens zu streifen.

Genau da stieß Emerald ein Bellen aus.

Die anderen drehten sich, für einen Moment völlig frappiert, zu ihr um. Dann fing auch Clovis an zu bellen. Einen Augenblick später schloss sich Ernest mit dem dumpfen, volltönenden Grollen eines Bluthunds an, dann Patience mit dem hohen Kläffen eines Yorkshireterriers. Bald war die ganze Gruppe vereint in einer Kaskade des Gebells. Selbst Charlotte gab ein tollwütiges Gemisch aus Grollen und Kläffen von sich. Charlie Traversham-Beechers’ Augen wurden groß, seine Pupillen huschten nervös zwischen ihnen allen hin und her. Einen Moment später begann er, attackiert von dem Lärm, langsam und wie gegen seinen Willen zurückzuweichen, immer noch mit den Abendhandschuhen beschäftigt. Einer davon fiel zu Boden. Das Bellen wurde lauter, frenetischer.

»Aufhören!«, rief er. »Das gehört nicht zum Spiel! Es verstößt gegen die Regeln!«

Aber sie hörten nicht auf, sondern machten weiter, alle sieben – Emerald, Clovis, Charlotte, John, Ernest, Patience und Florence. Als Meute, sich in Raserei hineinbellend, trieben sie ihn zum Fenster. Charlottes Geheul wurde immer lauter, sie war wie ein Wolf, der ein noch feuchtes kleines Lämmchen reißt – wenn sie schon ein Hund sein musste, dann zumindest ein wilder.

Zurückweichend schien Traversham-Beechers zu schrumpfen. »Aufhören! Aufhören!«, rief er.

Rachsüchtig bellten sie ihren Hass aus sich heraus, kläfften ihr Missvergnügen und ihren Spott hervor, zwangen den nun ängstlichen, bedrängten, geschwächten Schurken immer näher an das große Erkerfenster, dessen vom Fußboden bis zur Decke reichendes Schiebefenster auf den geschwungenen Balkon sechs Meter über der Auffahrt hinausging.

Sie grollten, sie heulten, sie schnappten mit den Kiefern, und er, die schlaffen Finger seiner teils behandschuhten Hand vor sich haltend, taumelte rücklings gegen das Glas. Die Scheiben waren groß, aber nicht so groß, dass sie zerbrochen wären, als er gegen sie taumelte, und er wirbelte, von der gesteigerten Lautstärke der wahnsinnig gewordenen Hunde verunsichert, herum, bückte sich, schob mit einem letzten Aufbegehren die Finger in die Griffe, stieß das Fenster hoch und öffnete es so weit es ging. Er schob es hoch, hoch über seinen Kopf und taumelte – nicht etwa in die leere Luft, sondern, in einem verworrenen, stolpernden, ihn aus dem Gleichgewicht bringenden Zusammenstoß, mitten hinein in die erschrockene Smudge, die sich genau in diesem Augenblick von der Regenrinne herabließ.

Das Bellen hörte abrupt auf. Nur Smudges erschrockenes Quietschen durchbrach die plötzliche Stille.

Nachdem er sich, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, unwillkürlich an Smudge festgehalten hatte, machte der Schurke sich nun katastrophalerweise sein Glück zunutze und hielt das Kind fest, drückte es gegen die niedrige, schwache Balustrade, die nicht dazu gemacht war, sich dagegenzulehnen.

»Hört augenblicklich auf!«, schrie er, völlig überflüssigerweise. Denn beim Anblick von Smudge hatten sie ihre Attacke natürlich sofort eingestellt und waren jetzt nur noch um ihr Wohlergehen besorgt.

Traversham-Beechers war zu Lebzeiten kein gewalttätiger Mann gewesen; nun jedoch gähnte vor ihm der Eingang in die Ewigkeit. Seine Demütigung und seine Wut steigerten sich ins Unermessliche, während er zwischen Menschlichkeit und dem unbändigen Impuls, das kleine Mädchen über den Balkon in den sicheren Tod zu kippen, in der Schwebe verharrte.

»Mutter!«, schrie Smudge, die in höchster Not alle Bindungen bis auf die wichtigste vergaß.

Ganz kühl, ohne eine Spur des Entsetzens, das allen anderen Anwesenden so deutlich ins Gesicht geschrieben stand, machte Charlotte einen Schritt auf ihn zu.

»Was hast du vor, Charlie?«, sagte sie, absolut ruhig. »Willst du deine eigene Tochter ermorden?«

Der Schurke hatte die eine Hand um den Hals des Kindes gelegt, die andere hinter ihre Beine, wie um sie über die Brüstung zu heben. Beim scharfen Atemholen aller Anwesenden, das auf diese erstaunliche Frage folgte, ließ er die Hände sinken, und Smudge drehte sich weg, machte sich frei und lief zu ihrer Mutter.

Traversham-Beechers fasste sich wieder.

»Was soll das heißen?«, fragte er, vollkommen aus der Fassung gebracht, und fügte dann zusammenschaudernd hinzu: »Whiteleys?«

»Ihr alle – lasst uns bitte allein«, sagte Charlotte mit fester Stimme, ohne die Augen von ihm zu lösen.

Obwohl sie nur zu gern getan hätte, was Charlotte verlangte, gab Florence den Gefühlen aller Ausdruck, als sie sagte: »Er ist eine Gefahr.«

»Ich muss mit ihm allein sein.«

»Ich bleibe«, sagte Florence Trieves mit grimmiger Stimme.

»Aber, Mutter!«, sagte Clovis.

»Das darfst du nicht!«, sagte Emerald.

»Emerald!« Charlottes Stimme war wie Stahl. »Kinder, tut, was ich gesagt habe. Geht.«

Angesichts ihrer Entschlossenheit und der Vorstellung, dass ihr bereits angeschlagener Charakter in ihren Augen noch mehr Schaden nehmen könnte, wandten alle sich ab und verließen gehorsam das Zimmer.

Als sie die Tür zumachten, setzte Charlotte zum Sprechen an und Florence griff sich den Schürhaken.

Auf dem Treppenabsatz schloss Emerald Smudge voller Dankbarkeit in die Arme, während Patience, Ernest, Clovis und John in stummer Reaktion auf die Szene, deren Zeuge sie soeben geworden waren, beieinanderstanden. Außerdem einte sie die Angst vor dem, was sich hinter der geschlossenen Tür abspielen mochte. Sie waren erschöpft vom Bellen. Längere Zeit sagte niemand ein Wort.

Die Gesänge von unten hatten völlig aufgehört. Eine merkwürdige Stille legte sich über sie.

Ein oder zwei Uhren schlugen unterschiedliche Stunden.

Von drinnen war das leise Gemurmel von Stimmen zu hören.

»Gehen wir ein Stück weiter«, flüsterte Patience.

Sie zogen sich an den Kopf der Treppe zurück.

Der Regen hatte aufgehört. Nachdem sein Trommeln endlich verstummt war, waren sie jetzt nur noch vom Knarren des Hauses umgeben und vom Tröpfeln der Simse.

»Mein Gott!«, stieß Clovis hervor.

Da seine Schwester mit Smudge beschäftigt war, war es Patience, die seine Hand nahm.

Nach der längsten, bittersten Wartezeit hörten sie, wie die Tür geöffnet wurde und erst Florence und dann Charlotte aus dem Schlafzimmer kamen.

Stumm, atemlos; keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Die beiden Frauen kamen bei ihnen an.

»Nun denn«, sagte Charlotte mit einer kleinen Bewegung des Kopfes und einem Gesichtsausdruck, der wie eine offene Herausforderung war. »Sollen wir alle nach unten gehen?«

Emerald deutete wortlos auf die Schlafzimmertür.

»Er ist weg«, sagte Florence voller Überzeugung. »Wir können euch beide versichern, dass er weg ist.«

»Ist das wahr?«, fragte Emerald.

»Ja«, sagte Charlotte. »Er ist wirklich weg.«

Eine weitere Erklärung gab sie nicht.

»Gehen wir«, sagte Florence.

Und so gingen alle, immer noch neugierig, aber gehorsam, nach unten, bis Charlotte, die das Schlusslicht bildete, »Wartet!« rief und alle sich zu ihr umdrehten.

Sie ließ sich auf ein Knie nieder, immer noch ein Bild der Lieblichkeit in ihrem jadegrünen Musselin und ihrer zarten Seide. Auf einer Höhe mit Smudges Augen, blickte sie unter der hohen Tolle ihrer hellen Haare hervor von einem zum anderen und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Was ich vorhin zu ihm gesagt habe, ist nicht wahr. Habt ihr mich verstanden? Es ist nicht wahr!«

Allgemeines Räuspern und abgewandte Blicke. Keiner von ihnen wusste, was er darauf sagen sollte. Bis auf Smudge.

»Natürlich nicht, Mama«, sagte sie. »Wie soll er denn mein Vater sein? Ich habe ihn vor heute doch noch nie gesehen.«