STINTE UND SCHERBEN

John Buchanans blauer Rolls-Royce glitt zwischen den beiden unpraktisch kleinen Torhäuschen hindurch, die den Anfang der Auffahrt zu Sterne bildeten. Im selben Moment erhellte der erste Blitz die sanft geschwungenen Zinnen und hob den scharf gezackten Schotter hervor, mit dem der Weg befestigt war. Das Krachen des Donners folgte wenige Augenblicke später, so als schlage jemand mit einem Nudelholz auf einen Blecheimer, um die Ratten zu verscheuchen. Aber John auf seinem bequemen Ledersitz, eingehüllt in das behagliche Schnurren des Autos, brauchte die Elemente nicht zu fürchten. Er musste nicht einmal mit dem Stab für die Scheibenwischer herumhantieren, denn noch fielen nur ein paar große, vereinzelte Regentropfen, und das Haus war jenseits des Tunnels der Auffahrt problemlos auszumachen.

Mit einer Erregung, die fast vergleichbar war mit der, die man bei einem Kauf empfinden würde, beobachtete er, wie das Licht der Scheinwerfer über Bäume, Gärten und Mauern streifte und in geheime, nächtliche Bereiche eindrang. Alles hoben sie hervor, und als er anhielt, verharrten sie auf der Veranda, die ihm Schutz bieten, und auf der Haustür, die ihn willkommen heißen würde.

Er schaltete Scheinwerfer und Motor ab, stieg aus, streifte die Autohandschuhe ab und bewegte seine steifen Finger. Dann warf er die Handschuhe ins Auto und näherte sich – auf die Minute pünktlich – dem Haus.

Auf der Veranda, außerhalb der Reichweite des Regens, der jetzt in Schwaden gegen die Fenster prasselte wie eine Handvoll Steinchen, betätigte John gebieterisch und anhaltend den Klingelzug.

Er musste lange warten, während von drinnen das aufgeregte Bellen der Spaniels zu hören war, bevor Mrs Trieves in ihrem ewig schwarzen Kleid ihm öffnete.

»Guten Abend, Sir«, lächelte sie – wenn nicht unbedingt herzlich, so doch immerhin in der Absicht, ihn willkommen zu heißen.

John Buchanan scheuchte die um ihn herumspringenden Hunde gutmütig beiseite, trat ein und sagte jovial: »Guten Abend, Mrs Trieves; dieses Mal werde ich erwartet.«

»Kommen Sie herein, Sir, lassen Sie mich Ihren Mantel nehmen. Kusch, Nell! Die Familie ist im Salon – wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

»Ich denke, ich weiß, wo der Salon ist, Mrs Trieves.«

»Natürlich, Sir. Dann entschuldigen Sie mich bitte.«

Er hatte sie mit seiner Bemerkung nicht wegschicken wollen, aber sie huschte wie der Blitz davon – so als habe sie etwas Dringendes zu erledigen. Die Hunde rannten hinter ihr her, und er stand allein in der hohen, quadratischen Halle. Vor ihm schwang sich die Treppe nach oben, und in der Stille machte das riesige Feuer sich bemerkbar. Er konnte hören, wie die Flammen über das Holz leckten.

Wäre Sterne sein Haus, dachte er, würde er sofort elektrische Leitungen verlegen lassen – überall, von ganz oben bis ganz unten. Er würde Licht in all die dunklen Ecken bringen, alles mit elektrischem Strom beleuchten, so wie jedes zivilisierte Gebäude neuerdings taghell beleuchtet wurde. Es würde natürlich bedeuten, hinter die ganzen Wandverkleidungen vordringen zu müssen, aber die ließen sich leicht entfernen, und der knifflige Stuck auch. Schon wollte er hingehen und prüfend dagegenklopfen, um sich ein Bild davon zu machen, in welchem Zustand alles war, als er Frauenschritte auf der Treppe hörte. Einen Augenblick später tauchte Emerald auf.

Sie kam als schimmernde Lichtgestalt auf ihn zu. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er verwirrt und dachte unerklärlicherweise an die bodenlose Polsterbank im Salon, stellte sich vor, wie er unter allgemeinem Gelächter hindurchbrach.

»Hallo, John. Was für ein Wetter. Hat es Sie schlimm erwischt?«

»Nein, nicht wirklich …«

Sie trug seine Kamee. »Haben Sie schon von unserem Abenteuer gehört?«

»Abenteuer?«

»Von dem Unglück, meine ich.«

»Unglück?«

»Dem Zugunglück.«

»Guter Gott.«

»Ja, auf der Nebenlinie, nicht weit von hier.«

»Hat es Tote gegeben?«

»Das wissen wir nicht. Aber sie haben einen Teil der Überlebenden hierhergeschickt, und natürlich haben wir gern geholfen, aber die elende Eisenbahn hat immer noch niemanden geschickt, um sie wieder abzuholen, und deshalb sind sie – nun ja, sie sind immer noch hier.«

John sah sich in der Halle um. »Wo haben Sie sie denn hingesteckt?«

»Im Augenblick sind sie alle im Frühstückszimmer. Möchten Sie sie sehen?«

Er zögerte. Mit etwas Derartigem hatte er nicht gerechnet, und er war kein Freund von Überraschungen. »Nun – ja, wahrscheinlich.«

»Kommen Sie mit.« Sie ging vor durch die Halle. Der Kamm in ihren Haaren schimmerte grün und bernsteinfarben. Er hätte ihn gern berührt.

Am Frühstückszimmer angekommen, legte sie die Hand auf den Knauf und sah zu ihm hoch.

»Wenn ich die Tür öffne, fangen sie wahrscheinlich alle an, auf uns einzureden«, sagte sie.

»Dann lassen wir es eben, wenn Sie nicht wollen.«

»Die Ärmsten sind sicher völlig erschöpft.«

Sie machte die Tür auf: Das Zimmer war leer. Keine Menschenseele zu sehen. Nur der Geruch nasser Wollmäntel hing noch in der Luft.

»Wo können sie bloß sein?«, fragte Emerald.

John war ebenso perplex wie sie – mehr noch. »Wie viele sind es denn? Kann es sein, dass sie einfach von selbst gegangen sind?«

»Es sind eine ganze Menge. Und ich weiß nicht.«

In diesem Moment kam Myrtle – in frischer Schürze und Haube – aus dem Durchgang geschossen, der zur Küche führte, und machte Anstalten, an ihnen vorbeizuflitzen. Sie hielt mehrere Kerzen in den Händen.

»Myrtle, weißt du, wo die Passagiere abgeblieben sind?«

Myrtle blieb stehen und vollführte einen hastigen Knicks. »Ja, Miss Em. Mrs Trieves hat sie ins Studierzimmer gesteckt, weil sie ihr ständig in die Quere kamen.«

Das Studierzimmer ging im hinteren Teil des Hauses von der Halle ab. Es war ein dunkler, nur selten benutzter Raum, der gegenüber dem Frühstückszimmer den Vorteil hatte, weiter von der Küche und der bevorstehenden Party entfernt zu sein.

»Ich verstehe. Danke. Ich muss mich wirklich darum kümmern, dass sie abgeholt werden.«

Emerald wirkte so besorgt und abgehetzt, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er war an eine lebensprühende Emerald gewöhnt, die er bewunderte, nicht an eine besorgte.

»Sie tragen meinen Schmuck«, sagte er, um auf wichtigere Dinge zu sprechen zu kommen.

Ihre Finger berührten die Kamee an ihrem Hals, die in der Mulde ihres Schlüsselbeins ruhte.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

Automatisch lächelte sie. »Vielen Dank, John. Kommen Sie, gehen wir zu den anderen.«

Der Salon war von Farben durchflutet, die die Luft geradezu zu durchtränken schienen. Dunkelorange, Gold, Rosa, Kerzenschimmer und dazu die Gestalten von Rehen, Vögeln und Einhörnern, auf Chintz, Gobelin, Tuch und als Holzschnitzerei, sie alle wirkten in der Grandiosität seiner blassen Proportionen fast unwesentlich, schwebend. Die Anwesenden – Patience, Ernest, Clovis und der neu dazugekommene Gentleman, erinnerten an Figuren aus einem Ballett. Sie waren nicht mehr prosaisch, sondern voller Grazie, eins mit dem Haus.

Clovis war damit beschäftigt, ungeschickt einen der Vorhänge vor das Fenster zu ziehen, um die Nacht auszuschließen, unterbrach sein Tun aber, als Emerald und John hereinkamen. Patience, die auf einem Stuhl saß, erhob sich, um sie zu begrüßen. Sie trug Weiß – oder zumindest eine Farbe, die Weiß sehr nahekam –, aber auch ihr Kleid hatte die Farben des Raumes angenommen. Ernest stand in der Nähe eines großen, goldgerahmten Gemäldes. Als er Emerald sah, durchfuhr auch ihn, ebenso wie John, ein schwindelndes Gefühl, und er verschränkte die Hände auf dem Rücken noch fester, wie um sich selbst Halt zu geben. Der Gentleman hatte auf der zerbrochenen Polsterbank Platz genommen und fühlte sich dort, wie es schien, durchaus behaglich, denn wie durch ein Wunder war es ihm gelungen, den kaputten mittleren Teil zu vermeiden. Er sprang auf, als John und Emerald das Zimmer betraten. Sein schwarzer Schnurrbart zuckte erfreut.

»Das Geburtstagskind!«, rief Patience.

»Das hier ist John Buchanan«, übernahm Emerald die Vorstellung. »Clovis, wo ist Mutter?«

Clovis zuckte die Schultern, hob als Gruß an John nachlässig die Hand und fuhr sich dann damit durch die Haare, die daraufhin wirr in die Höhe standen und sich erst in den nächsten Minuten langsam wieder legten.

»Guten Abend, John«, sagte er. »Sind Sie vorhin nach Hause gefahren, oder haben Sie in der Zeit, in der wir uns umgezogen haben, draußen herumgelungert?«

John ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Guten Abend, Clovis«, sagte er umgänglich.

»Du siehst absolut himmlisch aus, Emerald«, kam es von Patience.

»Vielen Dank. John, darf ich Ihnen Miss Patience Sutton vorstellen«, fuhr Emerald fort. »Und ihren Bruder, Ernest Sutton. Ernest, Patience, John Buchanan.«

Alle reichten sich die Hand und nickten oder vollführten eine kleine Verbeugung, zeigten sich mit der Schüchternheit des frühen Abends erfreut über die Bekanntschaft. Alle – mit Ausnahme des zu Gast weilenden Passagiers – waren noch in einem Alter, in dem eine Dinnerparty sich anfühlte wie früher, als sie sich mit den Schuhen ihrer Mütter und den Zylindern ihrer Väter verkleidet und nur so getan hatten, als ob.

»Und das ist … ich muss mich entschuldigen, ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Charlie Traversham-Beechers. Sehr erfreut.«

Es war zehn Minuten vor acht. Sie gruppierten sich zu einem lockeren Kreis.

»Charlie ist ein Eindringling«, verkündete Clovis aufgekratzt. »Eigentlich gehört er zu den anderen Passagieren, aber zum Glück habe ich ihn unter ihnen herausgepickt.«

»Das stimmt. Ich entschuldige mich in aller Demut für meine Aufmachung. Meine Abendgarderobe befindet sich in meinem Gepäck, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo das abgeblieben ist.«

»Es muss eine sehr enervierende Erfahrung sein«, sagte Patience mitfühlend und wandte den Blick von den dunklen Haaren ab, die am Ansatz seines am Hals offenen Hemds zu sehen waren.

Charlie brach in fröhliches Gelächter aus, und die anderen fielen in sein Lachen ein, ohne recht zu wissen, wieso eigentlich.

»Eine enervierende Erfahrung!«, lachte er. »Vermutlich ist das auch eine Möglichkeit, die Auswirkungen eines schrecklichen Zugunglücks zu beschreiben, Miss Sutton. Enervierend!«

Patience errötete bis an die Wurzeln ihrer blonden Haare. »Ich meinte das verlorene Gepäck«, sagte sie leise.

»Natürlich, natürlich.«

Ernest trat zu seiner Schwester, blieb neben ihr stehen und bot ihr durch seine Anwesenheit stumme Unterstützung, während der Gentleman fortfuhr: »Ich hatte nicht damit gerechnet, hier ein Haus vorzufinden. Vermutlich hatte ich überhaupt keine Vorstellung, was ich erwarten sollte. Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass der Eisenbahnwaggon, in dem man sitzt, mir nichts, dir nichts aus den Gleisen geworfen wird.«

»Furchtbar … Und dann wurden Sie von den anderen getrennt?«, erkundigte sich Emerald, die Näheres erfahren wollte.

»Ja, ich trottete hinter ihnen her, oder sie hinter mir, und dann – es war wirklich ein Glück, dass ich dieses Haus gefunden habe, muss ich sagen.«

»Für uns auch«, sagte Clovis liebenswürdig, allerdings stand er mit dieser Meinung ziemlich allein da.

»Hat der Dienstmann Ihnen den Weg zum Haus beschrieben?«, versuchte Patience, sich nicht vom Thema abbringen zu lassen. (»Der Schaffner«, murmelte Clovis, aber Patience achtete nicht auf ihn.)

»Und hat man Ihnen gesagt, was mit Ihnen allen geschehen soll?«, fügte Emerald hinzu.

»Und waren Sie auch zu Fuß unterwegs? Hat denn niemand von Ihnen das Fuhrwerk und die Kutsche gesehen?«, lautete Ernests logische Frage. Von ihnen allen wirkte er am gelassensten, schien am wenigsten beeinflusst von der bizarren Vitalität des Gentleman.

»Ach, du meine Güte, so viele Fragen. Ich will versuchen, sie der Reihe nach zu beantworten.« Sich einem nach dem anderen zuwendend, deutete er nacheinander auf sie. »Ja, hat er. Nein, man hat uns gar nichts gesagt. Ja, wir mussten alle zu Fuß gehen, und es war verflixt unbequem und weit und breit kein Fahrzeug in Sicht. Diese Schuhe sind für Teppiche und Bewunderung gemacht, nicht dafür, über Lehmwege zu stapfen. Die anderen armen Teufel sind wahrscheinlich eher an Schusters Rappen gewöhnt.«

Damit waren sie um keinen Deut klüger.

In diesem Augenblick war aus einem der oberen Zimmer ein lautes Krachen zu hören. Alle blickten zur Decke, an der die Kronleuchter zitterten.

»Donner oder ein Möbelstück?«, fragte Clovis.

»Du hast doch keinen von ihnen nach oben gelassen, oder?«, fragte Emerald nervös.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo die Leute sind, Em«, sagte Clovis ohne jede Spur von schlechtem Gewissen. »Ich war bis vor ein paar Minuten mit unserem Freund in der Bibliothek. Mrs Trieves ist für sie verantwortlich. Übrigens, soll ich Ihnen vielleicht einen Kragen und eine Fliege ausleihen? Ich bin sicher, dass ich beides irgendwo finden kann.«

»Ja, natürlich. Daran hätten wir auch schon früher denken können!«, antwortete der Gentleman und lachte erneut.

»Warten Sie. Es dauert nur einen Augenblick«, sagte Clovis und galoppierte aus dem Zimmer, aber Charlie Tramerson-Beamer folgte ihm mit einem schmeichlerischen Feixen.

Es war nicht Lady, die den Frisiertisch umgeworfen hatte, sondern Smudge selbst, als sie sich darauf kniete, um die Ohren des Ponys nachzuzeichnen. Vor Schreck hatte Lady einen Satz nach hinten gemacht und war gegen die Tür geprallt. Diese beiden Geräusche zusammen bildeten den Krach, der unten im Salon zu hören gewesen war. Nun saß Smudge mit weit gespreizten Beinen auf dem Boden und hielt mit einer Hand den schweren Spiegel fest, der gefährlich zwischen umgekipptem Frisiertisch und Boden in der Schwebe hing, während sie mit der anderen die Leine des Ponys umklammerte.

»Braves Mädchen, Lady. Ganz ruhig, ruhig«, sagte sie beschwichtigend, und Lady blieb ganz still stehen, während Smudge den Spiegel vorsichtig aufrichtete, der zum Glück nicht zerbrochen war – Pony und Kind waren nur um Haaresbreite vor sieben Jahren Pech verschont geblieben –, und ihre überall verstreuten Kohlestifte einsammelte.

»Ich muss jetzt gleich nach unten gehen, Lady. Und du bist derweil ein braves Mädchen und wartest schön, bis ich zurückkomme.«

Lady sah aus wie ein Pony, das vielleicht tun würde, was es geheißen wurde, vielleicht aber auch nicht.

In seinem Zimmer kramte Clovis auf der Suche nach etwas Passendem für den Hals seines Freundes im Schrank herum. Währenddessen ging Charlotte in ihrem Zimmer umher, ohne auf das klägliche Miauen zu achten, das aus der Schachtel unter dem Bett drang. Im Salon lächelte Emerald – Rouge auf den Wangen und wieder ganz Herrin ihrer selbst – John Buchanan liebenswürdig an. Der allerdings wandte sich, ohne sie zu beachten, Patience zu.

»Wir kennen uns bereits, Miss Sutton«, sagte er. »Von früher, als wir noch Kinder waren. Das ist inzwischen viele Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut an Sie und finde, Sie haben sich überhaupt nicht verändert. Allerdings hatten Sie damals einen anderen Bruder dabei, denn …«, er wandte sich fragend an Ernest, »wir sind uns noch nicht begegnet, nicht wahr?«

»Sie irren sich, wir kennen uns durchaus. Ich bin Ernest«, sagte Ernest.

»Ja, das ist Ernest«, bestätigte Patience.

»Ernest? Hieß so nicht auch der Junge, an den ich mich von damals erinnere?«, fragte John.

»Das war ich. Ich erinnere mich noch gut an Sie, John«, half Ernest ihm auf die Sprünge.

»Merkwürdig«, sagte John stirnrunzelnd. »Ich fürchte, ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie.«

»Nun, da ich keinen anderen Bruder habe, war es definitiv dieser hier – Ernest eben«, sagte Patience ein wenig pikiert.

»Verstehe«, brummte John nachgiebig, allerdings mit der Miene eines Menschen, der kein großes Aufheben wegen einer Sache machen will, jedoch sehr wohl weiß, dass er im Recht ist. Er war stolz auf sein Gedächtnis. Er war stolz auf sehr viele Dinge. Und insgeheim war er absolut sicher, dass es einen anderen Bruder gegeben hatte, einen mit karottenroten Haaren und einer Augenklappe, den diese beiden gut aussehenden Geschwister entweder vergessen hatten oder aus irgendeinem Grund vor ihm geheim halten wollten. Aber da er die Suttons nicht gut der Lüge bezichtigen konnte, ließ er die Sache auf sich beruhen.

Ernest nahm für einen Augenblick seine Brille ab, um sich die Augen zu reiben, und Emerald ertappte sich dabei, dass sie sich praktisch vorbeugte, um sein Gesicht ohne die Brille in Augenschein nehmen zu können. Erst als er sie wieder aufsetzte, löste sich der Bann, unter dem sie gestanden hatte, und sie wandte sich wieder John zu. Sie fand keine höfliche Möglichkeit zu sagen: Ja, Sie haben recht. Ernest hat sich so verändert, dass er praktisch nicht wiederzuerkennen ist. Er war unzweifelhaft kein sehr einnehmendes Kind und sieht jetzt völlig anders aus. Also sagte sie nur: »Es muss irgendwann Ostern gewesen sein, als ihr alle euch kennengelernt habt.«

»Du hast recht!«, rief Patience, aber es blieb ihnen erspart, in ihrem kollektiven Gedächtnis nach nostalgischen Erinnerungen an Ostereier und Pfänderspiele herumzukramen, die Horace Torrington sich für sie ausgedacht hatte, weil die Tür erneut geöffnet wurde. Clovis und sein neuer Freund kamen, übers ganze Gesicht strahlend, ins Zimmer, wobei Clovis auf die steife Hemdbrust und die weiße Fliege deutete, die Charlie mit fahlen Fingern zurechtzupfte.

»Na, was sagen Sie nun?«, fragte Charlie mit einem sonnigen Lächeln. »Was sagen Sie nun?«

Vielleicht, dachte Emerald, hatte sie den Mann vorhin falsch eingeschätzt. Er schien entschlossen, alle für sich einzunehmen.

»Sie sehen sehr elegant aus, Mr …« Sie schüttelte den Kopf, weil sie den Namen schon wieder vergessen hatte. »Wirklich sehr elegant. Und wer hätte gedacht, dass Clovis mehr als ein ordentliches Hemd in seinem Schrank hat? Clo, würdest du bitte ein Scheit nachlegen? Es ist kaum zu glauben, dass das Feuer schon wieder …«

Ein gewaltiger Donnerschlag – laut genug, um die dicken Wände zu durchdringen – ließ sie mitten im Satz innehalten und die anderen Gäste erschrocken und entzückt nach Luft schnappen.

»Genau das Richtige an einem Abend wie diesem!«, rief Charlie vergnügt, und alle drängten sich wie in Erwartung eines Feuerwerks an die hohen Fenster. Sie spähten durch das Glas, versessen auf mehr Donner, mehr wild zuckende elektrische Entladungen. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Hinter ihnen wurde die Tür geöffnet.

Alle drehten sich um.

Charlotte, ein lebendes Gemälde im Rechteck der Tür, erwartete ihre Begrüßung.

»Mutter …«

»Guten Abend …«

Charlottes bisher bewundernder Ausdruck – der entweder denen galt, die sie betrachtete, oder aber ihr selbst – verwandelte sich plötzlich in etwas, das Entsetzen gleichkam und das sie nicht überspielen konnte. Ihre Finger krampften sich so fest um den Türknauf, in diesem Fall einen aus Kristall, dass sie weiß wurden, und sie blickte den neu zu ihnen gestoßenen Gentleman wie gebannt an.

»Sie?«, sagte sie.

»Ja.« Die Stimme des Besuchers klang gelassen, aber seine katzenartige Stille wirkte bedrohlich. »Und doch habe ich das Gefühl, mich erneut vorstellen zu müssen, obwohl mein Name sich, anders als der Ihre, nicht verändert hat. Mrs Swift, nicht wahr?«

»Ja, Charlotte Swift«, murmelte sie, ohne ihre außergewöhnlichen Augen von seinem Gesicht zu lösen.

Getrieben von dem Gefühl, ihre Mutter beschützen zu müssen, obwohl sie nicht wusste, wovor eigentlich, trat Emerald neben sie.

»Mutter, der Herr war ebenfalls im Zug. In dem, der entgleist ist. Clovis hat ihn zum Essen eingeladen.«

Und Clovis fügte hinzu: »Ma, das hier ist Mr … Charlie sagte, ihr beide kennt euch?«

Unvermittelt stimmte Charlotte ihr undefinierbarstes und liebenswürdigstes Lachen an.

»Wir kennen uns tatsächlich, Clovis. Charlie Traversham-Beechers ist ein alter Bekannter. Allerdings ist das schon viele Jahre her.« Sie schien keine Probleme zu haben, sich an seinen Namen zu erinnern.

»Elf Jahre, um genau zu sein«, sagte er.

»Nur elf? Ich bin so überrascht, Sie zu sehen. Wie entzückend, dass es Sie ausgerechnet hierher verschlagen hat. Die Schicksalsgöttinnen müssen Sie geleitet haben.« Sie lachte erneut. »Missgünstige, was den Zug betrifft, wohlgesinnte insofern, als Sie dadurch nach Sterne geführt wurden. Ich bin entzückt, dass Sie uns beim Essen Gesellschaft leisten wollen. Das heißt, wenn es meiner Tochter recht ist. Es ist nämlich ihr Geburtstag, müssen Sie wissen.«

Sie bedachte Emerald, die sie in diesem Moment anbetungswürdig fand, mit einem Lächeln.

»Du siehst wunderschön aus, Mutter«, sagte sie.

»Nicht annähernd so schön wie du, mein Liebling. Dein Kleid ist ein absoluter Triumph«, antwortete Charlotte, obwohl sie dabei nicht ihre Tochter ansah, sondern die vier Männer im Raum. »Hallo, Patience. Und willkommen, Edm… Ernest. Ein herzliches Willkommen an alle!« Sie schlenderte zwischen ihnen umher und begrüßte jeden Einzelnen mit großer Offenheit. »Was für ein aufregender Tag es für uns war – natürlich nicht annähernd so aufregend wie für Sie, Mr Traversham-Beechers. Ich nehme an, die arme Mrs Trieves hat zumindest versucht, das Essen anzukündigen? Eventuell sogar mehr als einmal?«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Florence Trieves, sehr adrett, von einem Stückchen Lauch in ihren Haaren und einem gehetzten Gesichtsausdruck abgesehen, stand vor ihnen.

»Das Essen ist angerichtet, Mrs Swift«, sagte sie und wollte sich wieder zurückziehen, wurde dabei aber unterbrochen beziehungsweise, als hätte sie einen Schlag erhalten, gewaltsam daran gehindert durch den Anblick des elegant ausstaffierten Besuchers, der sich seinerseits, fast auf Zehenspitzen stehend, bemühte, von ihr bemerkt zu werden. Fast konnte man meinen, er habe, einem Trommelwirbel hinter den Kulissen folgend, Haltung angenommen. Wie erstarrt sah Florence ihn an.

»Wa… wa…«, stotterte sie, löste den Blick dann mühsam von seinem Gesicht und sah ihre Arbeitgeberin an. Das zitternde Stückchen Lauch fiel aus ihren Haaren.

Charlotte hielt sie mit Blicken fest. »Wir haben noch einen weiteren Gast, Mrs Trieves«, verkündete sie gelassen, von allen beobachtet. »Ich glaube, Sie kennen ihn noch nicht?«

Es folgte eine kurze, ausdrucksvolle Stille, in der vieles mitschwang.

»Nein, natürlich nicht. Danke, Ma’am«, sagte Florence und machte abrupt kehrt.

Charlotte drehte sich strahlend zum Zimmer um und zögerte nur ganz kurz, als der Eindringling, Traversham-Beechers, vortrat und ihr seinen Arm anbot. Die anderen wandten sich einander zu und überlegten, wer der Etikette nach wen zum Essen führen musste, und im Schutz der allgemeinen Verwirrung sagte Traversham-Beechers zu Charlotte: »Ich bin so froh, dass du uns Zuflucht gewährst – mir insbesondere.«

Sie bedachte ihn mit einem durchdringenden, ängstlichen Blick. »Habe ich denn eine Wahl?«, murmelte sie, nur für seine Ohren bestimmt.

»Komm«, war alles, was er darauf erwiderte, und er klopfte aufmunternd auf seinen Unterarm.

Sie schob ihre Hand durch seinen Ellbogen, sodass ihre blassen Finger leicht auf seinem schwarzen Ärmel ruhten.

»Geh du bitte voran, Emerald. Mr Buchanan!«, rief sie mit gekünstelter Unbeschwertheit.

John vollführte eine kleine Verbeugung vor Emerald, nahm ihre Hand und zog sie fest unter seinen Arm. Emerald war erleichtert, dass er endlich Notiz von ihr nahm; sie hatte schon angefangen, sich unsichtbar zu fühlen. Ebenfalls erleichtert war sie, dass sie nicht gezwungen war, Ernests Arm zu nehmen, da sich allein beim Gedanken daran, ihn zu berühren, die bloße Haut an ihren Armen, ihrem Dekolleté und ihrem Hals plötzlich noch nackter anfühlte. Es war keine unangenehme Nacktheit, ganz im Gegenteil, aber gerade deswegen sehr aufwühlend. Der Mann entkleidete sie, ohne sie auch nur anzusehen. Johns solide Gegenwart war Schutz, und sie klammerte sich an seinen Unterarm wie an einen Anker.

Da es nun schon zwei Paare gab, blieben Clovis, Patience und Ernest als verlegenes Dreiergespann zurück. Clovis warf Patience einen Blick zu, bei dem es vielen anderen Mädchen angst und bange geworden wäre, aber da er entsprechend der Regeln gesitteten Benehmens keine andere Wahl hatte, trat er auf sie zu und reichte ihr seinen Arm. Sie nahm ihn.

»Clovis«, sagte sie.

»Patience«, antwortete er steif.

Obwohl sie einander nicht ansahen, waren sie sich der Nähe des jeweils anderen zutiefst bewusst. Clovis konnte nicht umhin zu bemerken, dass Patience angenehm nach irgendetwas Blumigem duftete; und sie konnte nicht umhin, die Hitze wahrzunehmen, die von ihm ausstrahlte und im krassen Gegensatz zu seiner zur Schau gestellten Unterkühltheit stand.

Nur Ernest hatte niemanden, den er zum Essen führen konnte.

»Wir sind formiert. Ernest, würdest du bitte die Nachhut bilden und uns Rückendeckung geben?«, lautete Charlottes etwas obskure Anweisung, und die Gesellschaft verließ das Zimmer.

Trappelnde Füße im Flur hinter ihnen kündigten die Ankunft von Smudge an. In der Hoffnung, sich unauffällig unter sie mischen zu können, ging sie die letzten Schritte auf Zehenspitzen.

»Kein Haarband?«, tadelte ihre Mutter, und Smudge griff hastig an die Seite ihres Kopfes, wo eine große, nachlässig gebundene Schleife schlaff herunterbaumelte. »Außerdem riechst du nach Pferd. Warst du wieder in den Ställen?«

Unter den Blicken ihrer Mutter, ihrer Geschwister und der Gäste, die alle unauffällig versuchten, den Stallgeruch zu erschnuppern, wischte Smudge ihre schmutzigen Hände an ihrem blauen Samtrock ab.

»Ja«, gab sie zu.

»Geh und wasch dir auf der Stelle die Hände«, befahl Emerald.

»Oh nein!«, protestierte Smudge. »Dann müsst ihr aber auf mich warten. Und wer führt mich zum Dinner?«, wollte sie, von einem Fuß auf den anderen trippelnd, wissen.

»Ich, Miss Imogen«, sagte Ernest mit fester Stimme und machte sich bereit, so lange zu warten, wie Smudge brauchte, um sich herzurichten.

»Gut. Vielen Dank«, murmelte Charlotte. »Sollen wir dann?« Und sie machte Anstalten, ihn zurückzulassen.

Genau da klingelte das Telefon.

Alle blieben stehen und lauschten auf das harsche Geräusch, das aus der fernen Halle zu ihnen drang. Wie immer klang es gebieterisch und modern, an diesem Abend aber auch auf misstönende Weise Unheil verkündend.

Sie warteten.

Das Telefon klingelte weiter. Nach einer ganzen Weile hastete Myrtle an ihnen vorbei, völlig außer Atem und damit beschäftigt, ihre Haube zurechtzurücken. Mit sich brachte sie den verlockenden Duft von Röstzwiebeln und Schmorfleisch.

Sie erreichten die Tür des Speisezimmers genau in dem Augenblick, als Myrtle zurückgetrottet kam und vergeblich versuchte, den Anschein zu erwecken, sie habe nichts anderes zu tun, als das Telefon zu beantworten.

»Mrs Swift, Ma’am? Miss Torrington? Es ist die Eisenbahn. Wegen der Passagiere.«

»Oh – an die habe ich überhaupt nicht mehr gedacht«, sagte Charlotte. »Muss ich wirklich ausgerechnet jetzt mit diesen Leuten sprechen?«

»Bitte, Mutter«, flehte Emerald. »Vielleicht wollen sie sie endlich abholen …«

»Clovis, würdest du?«

»Ach, verflixt …«

»Soll vielleicht ich den Anruf entgegennehmen?«, schlug Charlie Traversham-Beechers mit seltsam gebieterischer Stimme vor. »Ich hatte bereits früher mit der Eisenbahn zu tun.«

»Nein!«, kam es scharf von Charlotte. »Nicht Sie!«

Als sie die Halle erreichten, lenkte ein lautes Klicken sie ab – allerdings kam es nicht aus dem Telefon, sondern aus dem Studierzimmer.

Alle beobachteten gebannt, wie der Knauf sich drehte und die Tür immer weiter und weiter geöffnet wurde. Dicht gedrängt kamen die Passagiere zum Vorschein. Wie Käfer, die man aus einem Schuhkarton schüttelt, quollen sie aus dem Zimmer hervor. Es schienen so viele zu sein! Vorhin war es doch höchstens ein Dutzend oder so? Jetzt waren es mindestens zwanzig. Die Familienmitglieder und die Gäste blieben stehen und blickten ihnen entgegen. Falls irgend möglich, sahen die ungeladenen Gäste noch armseliger und schäbiger aus als bei ihrer Ankunft. Ein paar von ihnen schlenderten ziellos zu den Fenstern, um in den Regen hinauszublicken, der in tausend kleinen Rinnsalen, die die stürmische Aussicht zersplitterten, an den Scheiben hinabrann.

Aufschreckend erinnerte Emerald sich an das Telefon und eilte hinüber. Die elenden Gesichter wandten sich ihr zu, um sie zu beobachten.

»Die Eisenbahn«, flüsterten sie sich gegenseitig zu. »Die Eisenbahn.«

Gäste, Familienmitglieder und Passagiere standen in der Halle herum, während Emerald zu dem Tischchen mit dem Telefon lief.

Sie griff nach dem Hörer.

Durch die pulsierenden Leitungen und die lange, geflochtene schwarze Schnur drang an diesem windigen Abend ein knackendes, scharrendes Geräusch an ihr Ohr, wie Wellen, die über Kiesel schäumen und sie klickend gegeneinanderschleudern.

Aus weiter Ferne flüsterte eine leise, müde Stimme: »Hallo?«

»Hallo? Ist dort die Eisenbahngesellschaft?«, fragte Emerald unsicher.

»Ja«, antwortete die leise Stimme, und doch hatte Emerald aus irgendeinem Grund große Zweifel, dass es sich tatsächlich um die Eisenbahngesellschaft handelte. Die Stimme klang eher wie die eines Kindes, eines geschwächten Kindes. »Ja, hier spricht die Great Central Railway«, sagte die Stimme, und eine kleine Gruppe, die flüsternd am Fenster stand, drehte die Köpfe, um Emerald anzusehen.

Die Wellen spülten über die fernen Kiesel, vor und zurück, vor und zurück. Schließlich vibrierte eine Klingel. Sie klingelte und klingelte. Dann bellte eine laute männliche Stimme: »Ja, hallo?«

Unwillkürlich zuckte Emerald zusammen und hielt den Hörer ein Stück von ihrem Ohr weg.

»Ja bitte?«, sagte sie.

»Madam, geht es um den heutigen Unfall auf der Nebenlinie?«

»Ja, ja!«

Die Stimme war jetzt so laut, dass sie trotz des Sturms für alle hörbar war.

»Wir haben weitere Passagiere für Sie!«

»Weitere Passagiere?«, rief Emerald völlig entgeistert. Alle anderen waren ebenfalls fassungslos. Fassungslos und zutiefst bestürzt.

»Mehrere. Und sie müssen abgeholt werden. Sie haben die Gruppe verfehlt, die wir vorhin geschickt haben. Wie konnte das passieren?« Der Tonfall des Mannes war nun extrem scharf. »Wie, wenn ich fragen darf? Sie mussten sich auf eigene Faust durchschlagen!«

Emerald war schockiert über seine Aggressivität. Was hatten sie bloß getan, um das zu verdienen?

»Wir – nun, wir …«

»Sie dürfen die neue Gruppe auf keinen Fall verfehlen. Wir haben sie bereits zu Ihnen geschickt. Es gibt kein anderes geeignetes Haus in der Gegend. Sie müssen unbedingt unterwegs abgeholt werden, haben Sie das verstanden? Abgeholt und untergebracht.«

»Ja, wir holen sie«, hörte sie sich mit ruhiger Stimme sagen, ohne auf das flehentliche Gesicht ihrer Mutter zu achten.

»Sehr gut. Übrigens werden wir Sie heute Abend nicht mehr erreichen können«, fuhr die Stimme fort. Herrisch, blechern, wie ein Lautsprecher auf einer politischen Versammlung, der die Leute auffordert, sich zu zerstreuen, schallte sie quakend durch die Halle von Sterne. »Wir können heute Nacht nichts mehr tun. Haben Sie das verstanden?«

»Wirklich nicht?«, fragte Emerald. Ihr elfenbeinfarbenes, grünes und rosa Partykleid mit den fließenden Konturen, ihre üppigen braunen Haare, ihr glitzernder, perlenbesetzter Kamm, ihr cremeweißer Hals und ihr energisch hochgerecktes Kinn waren der Brennpunkt, auf den sich die Blicke all der vielen unterschiedlichen Menschen richteten. »Können Sie wirklich gar nichts tun?«, wiederholte sie.

»Nein«, sagte die Stimme noch lauter als bisher. »Sie müssen bis zum Morgen allein zurechtkommen. Es ist Ihre Pflicht. Wissen Sie, wie abgelegen Sie sind? Wissen Sie, wie weit jegliche Hilfe zu Ihnen hinausfahren muss? Sie müssen allein zurechtkommen. Unbedingt. Hören Sie mich noch?«

Emerald senkte den Kopf. »Ja, ich höre Sie.«

Hastig, als wäre Emerald, nachdem man ihr das klargemacht hatte, bereits in Vergessenheit geraten und als wäre es an der Zeit, sich anderen, drängenden Aufgaben zuzuwenden, fügte die Stimme hinzu:

»Die Great Central Railway entschuldigt sich für Ihre Unannehmlichkeiten. Auf Wiedersehen.« Ein lautes Knacken verriet, dass das Gespräch beendet war.

Allgemeine Stille.

Dann kreischte Elsie Goodwins Stimme: »Ach du meine Güte!«

Und ein Klicken. Und wieder Stille.

Die Familienmitglieder und die Gäste betrachteten die dicht zusammengedrängten Gesichter der Reisenden, die Reisenden starrten vage zurück. Charlie Traversham-Beechers, der Charlottes Arm für den Moment losgelassen hatte, stand ein Stück abseits, mit dem Rücken an der Wand, die Handflächen dagegengepresst, ein Glitzern in den Augen, das entweder Entschlossenheit oder Triumph ausdrücken konnte. Niemand achtete auf ihn, bis auf Smudge, die bei seinem Anblick zurückwich.

Emerald sah sich unter den Anwesenden um: Smudge in der Nähe der Treppe; die eifrigen, eleganten Gestalten ihrer Freunde und ihrer Familie; die finsteren, enttäuschten, unruhigen Fremden.

»Nun denn«, sagte sie. »Wie Sie gehört haben, wird es der Eisenbahngesellschaft nicht möglich sein, Sie noch heute abzuholen. Vielleicht hat das Wetter etwas damit zu tun.«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, prasselte der Regen noch gnadenloser gegen die Fenster.

Die Passagiere schienen sich nicht zu bewegen. Tatsächlich aber schoben sie sich näher.

»Ich bedaure sehr, dass Sie Ihren Weg nicht fortsetzen können«, fuhr Emerald fort. »Und es tut mir leid wegen Ihrer – Ihrer Unannehmlichkeiten.«

Immer noch kamen die Reisenden langsam auf sie zu.

»Was wollen Sie denn noch?«, rief Charlie Traversham-Beechers mit lauter Stimme und brach den Bann ihres kollektiven Blicks. Sein Ton klang sehr gebieterisch. »Alles Weitere später«, sagte er.

»Ich verspreche es«, fügte Emerald hinzu.

Beschwichtigt oder aber eingeschüchtert, wichen die Passagiere langsam zurück. Mit ruckhaften Bewegungen, wie die flackernden Bilder einer rückwärts abgespulten Filmrolle, zogen sie sich ins Studierzimmer zurück und schlossen die Tür.

»O mein Gott!«, ächzte Charlotte sotto voce und stieß ein leises, hysterisches Lachen aus.

Smudge schob sich neben sie und ergriff ihre Hand.

»Mutter«, sagte sie. »Sie haben bestimmt Hunger.«

Charlotte sah sie kalt an. »Sei nicht albern, Smudge. Sie können unmöglich erwarten, auch noch durchgefüttert zu werden.«

»Wir sollten uns wirklich mehr um sie kümmern«, räumte Emerald ein, die nach dem Zusammentreffen mit den Fremden immer noch leise zitterte und tief Luft holte, um wieder ruhiger zu werden.

»Nicht an deinem Geburtstag«, sagte Charlotte.

Alle zögerten kurz, betrachteten die geschlossene Tür des Studierzimmers und erforschten ihr Gewissen.

Dann lächelte Traversham-Beechers. Seine Stimme glitt in die Stille hinein wie eine Schlange in einen Schlafsack. »Alles schön und gut«, sagte er. »Aber was ist mit den anderen, die unterwegs sind? Sollten Sie nicht besser die Anweisungen befolgen? Sollten Sie nicht jemanden schicken, der sie abholt?«

Emerald nickte. »Jemand muss Robert bitten, sich mit Stanley auf den Weg zu machen und sich um sie zu kümmern. Clovis?«

»Ist gut, ich flitze zu den Ställen«, sagte Clovis. Und flitzte.

»Das alles«, sagte Charlotte in die Stille hinein, die auf seinen Abgang folgte, »ist ja sehr unterhaltsam, aber was ist mit dem Essen? Sollen wir endlich hineingehen?«

Sie hielt ihrem schnurrbärtigen Begleiter den Arm hin.

In diesem Augenblick ertönte ein gedämpftes Scheppern, ein splitterndes, nachhallendes Geräusch, gefolgt von einem kurzen Aufschrei. Die Gäste sahen sich ein wenig nervös um. Dieses Mal waren weder Donner noch umstürzende Möbel die Ursache des Lärms. Vielmehr schien er aus Richtung der Küche zu kommen.

Die Geburtstagsgesellschaft nahm an einem Tisch Platz, auf dem keinerlei Speisen zu sehen waren.

Befremdlicherweise roch es intensiv und verlockend nach Mockturtlesuppe, ein Geruch, der in der kalten Luft hing wie Dampf, der sich soeben erst aufgelöst hat. Die Terrine jedoch, sollte es eine gegeben haben, war nirgends zu sehen. Alle fragten sich, wo sie hingekommen sein konnte.

Ein paar Minuten zuvor war Myrtle, nachdem sie Emerald ans Telefon gerufen hatte, ins Esszimmer gehastet, um die schnell kalt werdende Suppe zu holen und in der Küche warm zu halten, bis die Gäste sich wieder eingefunden hatten. Unglücklicherweise waren ihre Finger noch fettig vom Abwaschen des Tiegels, in dem der Kalbskopf für die Suppe überbrüht worden war. Das Fett auf ihrer Haut, das im kalten Wasser hart geworden war, fing unter der Wärme der schweren, vergoldeten Terrine mit der Mockturtlesuppe an zu schmelzen und machte ihre Finger schlüpfrig, und in der Küchentür war die randvolle Terrine ihrem Griff entglitten, auf die Steinfliesen aufgeschlagen und zersprungen.

Die reichhaltige Suppe ergoss sich, gemischt mit Porzellanscherben und -splittern, völlig unbrauchbar geworden, in einem glitzernden, unfassbaren Schwall über die Küchenschwelle, unter den Schrank, auf die Fläche vor dem Herd und in Ritzen, Rinnen und Winkel, deren Existenz niemand sich je vorgestellt hatte. Stumm vor Entsetzen schöpften Florence und Myrtle die heiße Flüssigkeit mit den Händen auf, versuchten, ihrer mit grauen Scheuerlappen Herr zu werden, schaufelten sie auf alte Zeitungen und versenkten sie im Müll. Das dauerte eine Weile. Florence ersparte der zutiefst zerknirschten Myrtle jede Strafpredigt. Viel schlimmere Dinge waren ihnen beiden zugestoßen – oder würden ihnen noch zustoßen. Dennoch war der Verlust der Suppe ein schwerer Schlag: das Abbrühen des Kalbskopfes, das Zerkleinern des Gehirns, die Unmengen von Madeira und das gewissenhafte Formen jedes winzigen Hackbällchens waren umsonst gewesen. Es war eine bittere Niederlage.

Clovis, der dem verständlicherweise nicht sehr begeisterten Robert den Auftrag erteilt hatte, sich zusammen mit Stanley auf die Suche nach den neuen Passagieren zu begeben, stand zitternd und tropfend in der Tür von Roberts behaglicher Bleibe über der Sattelkammer und beneidete die beiden um die Überreste ihres Abendessens, die noch auf dem geschrubbten Tisch standen. Es war vielleicht eine bescheidene Mahlzeit, aber immerhin war es eine Mahlzeit, im Gegensatz zu seinem bislang nur hypothetischen Dinner.

Während die beiden tüchtigen Männer sich für den Aufbruch in die Nacht fertig machten, von Kopf bis Fuß in Ölzeug gekleidet wie die Besatzung eines Rettungsbootes, kehrte Clovis völlig ausgehungert ins Speisezimmer zurück. Als er seinen Platz inmitten der kleinen, nervösen Gruppe einnahm, kam ihm der Gedanke, dass jetzt nur noch sie selbst, Florence und Myrtle auf Sterne waren, und sonst gab es niemanden auf Meilen und Meilen im Umkreis.

Die Sitzordnung der kleinen Gesellschaft gestaltete sich wie folgt: Emerald saß an der einen Schmalseite des Tischs, flankiert von Ernest Sutton und John Buchanan; Smudge und der zusätzliche Gast saßen sich in der Tischmitte gegenüber, wo Smudge seine auffallend kirsch-pflaumenfarbene Weste voller Staunen beäugte; Clovis, am anderen Ende des Tischs, hatte seine Mutter und Patience Sutton als Nachbarinnen. Der Tisch bot so viel Platz, dass sich mehrere unsichtbare Personen zwischen sie hätten setzen können, ohne dass es eng geworden wäre.

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte nicht, die Zeit verging lautlos, die Tür wurde nicht geöffnet. Weder Myrtle noch Florence Trieves erschienen mit irgendeinem Teil des Essens, mit keiner noch so kleinen Vorspeise, keinem Amuse-Bouche, keiner Krume, keinem Krümel, keinem nichts. Emerald schob den Fuß auf der Suche nach Wärme und Trost unter einen der beiden schlafenden Spaniels. Jenseits der Wände des Speisezimmers lagen in der einen Richtung häusliche Plackerei und in der anderen herrenlose Gäste, dachte sie, während sie den Blick durch die rauchigen Tiefen des Raums schweifen ließ, über die hohen Kerzen in ihren Leuchtern und die goldenen Flammen, die sich züngelnd in die blaue Luft reckten.

»Emerald, ich hoffe, du empfindest es nicht als unangemessen«, ergriff Patience schüchtern das Wort. »Aber da wir es anscheinend mit einer … einer Verzögerung zu tun haben, wäre es dir vielleicht recht, wenn ich dein Geschenk jetzt hole?«

»Oh!«, machte Emerald. »Ja, gerne.«

Charlotte erhob sich anmutig von ihrem Stuhl. »Wollen wir beide dann auch nach dem Geschenk sehen?«, sagte sie und schwebte mit einem über die schlanke Schulter geworfenen »Smudge?« aus dem Raum.

»Also gut, Geschenke«, sagte Patience aufspringend.

Emerald blieb als einziges weibliches Wesen in der Gesellschaft von John, Ernest, Clovis und Charlie Traversham-Beechers zurück. Es war eine überaus ungewöhnliche Situation.

Die Weine, die hochprozentigeren Getränke und die Liköre in ihren Karaffen reihten sich wie gigantische, kantig geschliffene Juwelen auf der Anrichte aneinander und warteten auf den ersten Gang.

Früher hatte Theodore Trieves, Florences verstorbener Ehemann, unterstützt von einem Hausdiener, den Posten des Butlers auf Sterne bekleidet. Seitdem hatten drei Männer – Wiggs, Morton und Stoves, alle ohne Hausdiener zu ihrer Unterstützung – den Posten mit unterschiedlichem Erfolg innegehabt. Seit das Torrington-Swift’sche Vermögen noch weiter geschwunden war, gab es überhaupt keine männlichen Hausbediensteten mehr, die die entsprechenden Pflichten übernehmen konnten. Wenn die Familie gelegentlich einmal alkoholische Getränke zu sich nahm – hin und wieder ein Glas Champagner, immer ein großer Genuss –, so war Edward der dafür zuständige Mann, beim Öffnen der Flaschen unterstützt von seiner zweiarmigen Frau oder seinem Stiefsohn.

Heute Abend hätte Florence Trieves die Getränke servieren sollen, aber Emerald wusste, dass allzu viele Aufgaben auf der Hauswirtschafterin und Köchin lasteten, die im Übrigen nirgends zu sehen war. Von daher war es vielleicht angebracht, diese spezielle Aufgabe einem geeigneten Mann zu übertragen. Niemand wäre geeigneter gewesen als ihr Bruder, aber Clovis fummelte an seinen Kragenknöpfen herum, die ihn offenbar piesackten, und bemerkte ihren Blick nicht. (Nachdem er bereits sein ganzes Leben lang Krägen getragen hatte, dachte Emerald, hätte er sich eigentlich inzwischen daran gewöhnen können.) Farmer John Buchanan saß steif zu ihrer Linken, anscheinend gelähmt durch die Verzögerung; er und die stehen gebliebene Uhr schienen viel gemein zu haben, dachte sie. Ihn würde sie auf keinen Fall bitten. Es hätte aussehen können, als böte sie ihm eine Vertraulichkeit an, und sie hatte sich in dieser Hinsicht an diesem Tag schon einmal in die Nesseln gesetzt. Ernest sah sie zwar an, aber unerklärlicherweise war der Gedanke, seinem Blick zu begegnen, ihr unangenehm. Sie konnte nicht einmal in seine Richtung sehen, ohne zutiefst verlegen zu werden, ein unhaltbarer Zustand beim Dinner, wo man absolut verpflichtet war, sich mit seinen Nachbarn zu unterhalten. Sie versuchte, das Wort WEIN mittels gedanklicher Wellen ins Hirn ihres Bruders zu senden, aber es war Traversham-Beechers, der ihre Gedanken las.

»Wie Miss Sutton möchte ich auf keinen Fall den Eindruck der Ungebührlichkeit erwecken«, äußerte er seidenglatt. »Aber fänden Sie es entsetzlich unhöflich von mir zu erwähnen, dass eine Vielzahl von Karaffen bereitsteht, sich aber anscheinend niemand einfindet, die Köstlichkeiten unter die Leute zu bringen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er geradezu gewichtslos auf – ein faszinierender Anblick – und war wie der Blitz an der Anrichte. Endlich fing Clovis Emeralds Blick auf und reagierte mit einem mimischen »Wieso nicht?«. Und sie fügte sich mit einem aufgebrachten Wimpernschlag in die Situation.

»Gute Idee«, kam es von John, der über all das so verblüfft war, dass er sich bemüßigt fühlte, das Wort zu ergreifen.

Nur Ernest Sutton schien sich angesichts dieses himmelschreienden Fauxpas noch steifer aufzurichten. Stieß sich denn niemand sonst daran?, fragte er sich mit vor Missbilligung gesträubten Nackenhaaren. Es war doch zweifellos Clovis’ Aufgabe, sich um den Wein zu kümmern. Allerdings stand es nicht ihm zu, etwas dazu zu sagen, und so blieb er stumm.

»Was nehmen wir denn am besten?«, murmelte der Gentleman an der Anrichte vor sich hin. »Passend zum ersten Gang? Es riecht nach Suppe. Irgendetwas Fleischiges …« Seine Finger tänzelten über die Flaschen wie über eine heiß geliebte Klaviertastatur, schnippten gegen die silbernen Etikettenanhänger an ihren dünnen Kettchen. »La la la«, summte er. »Sherry!«

Mit einer einzigen fließenden Bewegung ergriff er die Karaffe, zog den Stöpsel heraus und schenkte ein. Dann setzte er sich, hob sein Glas in Richtung Emerald und zwinkerte ihr breit zu.

»Zum Wohlsein, und nochmals herzlichen Dank«, sagte er und leerte das Glas auf einen Zug.

Wo um alles in der Welt bleibt das Essen, und was sollen wir bloß mit all den vielen Leuten im Studierzimmer machen, sobald die geladenen Gäste abgefüttert sind?, fragte sich Emerald und bemühte sich, ein Gastgeberinnenlächeln auf ihre Lippen zu zaubern, die nicht mehr so rosig waren wie vorhin – der größte Teil der vorhin aufgetragenen Farbe war im Verlauf des angespannten, bisher nicht sehr gelungenen Abends von ihr abgeleckt worden.

Oben trippelte Smudge vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen, den Blick auf die elegante, hin und her ruckende Kehrseite ihrer Mutter gerichtet, die die Schachtel mit dem Kätzchen unter dem Bett hervorzog.

»So«, sagte Charlotte beim Auftauchen. Der Schuhkarton war mit Schnur zugebunden und mit Löchern versehen. Ein gedämpftes Maunzen drang daraus hervor.

»Tenterhooks«, hauchte Smudge.

»Ich hoffe, es war nicht zu lange in der Schachtel. Lass sehen …« Charlotte reichte Smudge die Schachtel mit ihrem beweglichen Inhalt, ging im Zimmer umher, griff sich hier einen Schal, dort ein Tuch, und ließ sie wieder fallen. »Ich habe weder einen Brief noch eine Karte, aber es ist doch nett, ein Kätzchen geschenkt zu bekommen, und die kleine Bowes war froh, es los zu sein, und – ah!« Sie hatte ein Stück Samt gefunden. »Halt die Schachtel, damit …«, wies sie Smudge mit kalter Stimme an. »Nein! Wie kann man nur so ungeschickt sein – so doch nicht. Nimm die Hand da weg.«

Smudge versuchte, den schnell wechselnden Stimmungen ihrer Mutter zu folgen, und hielt lammfromm die Schachtel. Das Miauen des Kätzchens klang inzwischen herzzerreißend.

»Kann ich es jetzt nach unten bringen? Kann ich?«, bettelte sie. Charlotte küsste sie auf die Stirn.

»Ja, mein Liebes.«

Und Smudge rannte los.

Als sie jetzt für einen Augenblick allein war, blieb Charlotte schwankend stehen und drückte den Handrücken leicht gegen ihre Stirn. Ihre Wimpern flatterten.

Mein Gott, dachte sie. Er … Was hat das bloß zu bedeuten?

Und während sie sich nach Edwards starkem Arm sehnte, der ihr ein Trost gewesen wäre, war sie gleichzeitig zutiefst erleichtert, dass er nicht da war.

In ihrem Zimmer kramte Patience, leise vor sich hin summend, das hübsch eingewickelte Päckchen unter den mit zarten Spitzen besetzten Schlüpfern in den weich gepolsterten Tiefen ihres Schrankkoffers hervor. Sie zupfte die Schleife zurecht, schloss die Tür hinter sich und ging, immer noch summend, durch den stillen Korridor in Richtung Treppe.

Ihr blonder Kopf wippte beim Hinuntergehen auf und ab. Hoffentlich findet Emerald das alles immer noch so faszinierend wie früher, dachte sie, das Geschenk vorsichtig haltend, während sie leichtfüßig die gebohnerte Treppe hinunterhüpfte. Die Landschaften in Öl – bewaldete Berge und fremdländische Tempel – erinnerten sie an die Zeit in ihrer Kindheit, als sie, Ernest und ihre Eltern Sterne oft besucht und die Torringtons ebenso oft in Berkshire zu Gast gehabt hatten. Ihr persönlich war Sterne immer lieber gewesen; es war ein so glückliches Haus und robust genug, um Hiebe mit Krocketschlägern und aufprallende Tennisbälle unbeschadet zu überstehen, Ponyrennen auf dem Rasen …

Urplötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hob den Kopf, bemerkte einen Mann in der Halle unter sich und erschrak zutiefst. Abgelenkt durch seinen Gesichtsausdruck, der voller Bewunderung war, rutschte ihr zierlicher Schuh von der Kante der Stufe ab, und in diesem Moment, in dem sie das Gleichgewicht verlor, erkannte sie: Es war dieser Mann, dieser Traversham, der sie beobachtete. Sie stieß einen Schrei aus, riss die Arme hoch und hätte fast – aber nur fast – das Geschenk fallen gelassen. Die Treppe war unglaublich glatt, die Steinplatten der Halle sicher kein Spaß; sie durfte unter keinen Umständen fallen. Mit weißen Fingern umklammerte sie das kostbare Kästchen, während ein Bein unter ihr wegrutschte und das andere nachgab und einknickte, und sie landete als schlitterndes Häufchen fast am Fuß der Treppe, sicher voller blauer Flecken, aber nicht wirklich verletzt. Ihr Kopf ruhte leicht an der massiven Balustrade.

Ihre Hände zitterten angesichts der Gefahr, in der sie sich befunden hatte. Glühend vor Verlegenheit hob sie den Kopf, um zu sehen, wie der Mann reagierte.

Er war nicht da. Die Halle war leer.

Er konnte doch unmöglich einfach weggegangen sein, wenn er Zeuge ihres Sturzes geworden war? Hatte sie sich nur eingebildet, ihn zu sehen? Hatte eins der hohen Gemälde, die überall hingen und deren elegante Gestalten fast aus den Rahmen zu steigen schienen, sie getäuscht?

Patience saß auf der Treppe, umklammerte Emeralds Geschenk und versuchte, sich zu fassen. Sie schüttelte den Kopf wie als Reaktion auf eine innere Stimme. Ja! In Erinnerungen versunken, hatte sie das wohl nicht ungewöhnliche Gefühl gehabt, das sich so oft einstellt, wenn man aus einem Tagtraum aufschreckt, nämlich beobachtet zu werden. Dabei hatte niemand sie beobachtet, höchstens sie selbst. Sie hatte sich sehr töricht verhalten – und konnte sich glücklich schätzen, dass ihr Sturz so glimpflich ausgegangen war. Armer Ernest, er wäre begeistert gewesen über einen verknacksten Knöchel, den er verarzten konnte.

Sie stand auf. Im gleichen Augenblick wurde die Tür des Studierzimmers geöffnet, und drei der Passagiere – eine Frau, ein Kind und ein junger Mann – kamen heraus. Zum zweiten Mal binnen drei Minuten stieß Patience einen Schrei aus.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?«, fragte die Frau, deren besorgtes Gesicht unter einem arg ramponierten Strohhut hervorlugte.

In einem verwirrenden Augenblick des Wiedererkennens glaubte Patience, es sei ihr Hut – er hatte die gleiche Form, die gleichen Blumen an der Krempe, aber der hier war völlig zerknautscht und keineswegs das elegante Gebilde, das sie selbst während ihrer Reise aufgehabt hatte. Sie merkte, dass sie die Frau, deren Ausdruck nach wie vor fragend und besorgt war, völlig verwirrt anstarrte.

»Ja, durchaus, vielen Dank«, sagte sie schließlich. Sie wollte nur weg von hier. Wie konnte sie bloß gedacht haben, diese kleine blonde Frau habe ihren Hut auf? Sie sah ihr kein bisschen ähnlich. Wahrscheinlich hatte der Sturz sie völlig durcheinandergebracht.

»Vielen Dank«, wiederholte sie. »Es geht mir gut.«

»Werden wir bald weiterkönnen?«, erkundigte sich die Frau. »Wir werden allmählich ungeduldig.«

»Ich hoffe es«, antwortete Patience und machte sich auf den Weg zum Speisezimmer. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr mit einem Klicken geschlossen wurde, und war nicht im Geringsten versucht, noch einmal zurückzusehen.

Die Szene, die sie bei ihrer Rückkehr zur Party vorfand, war ausgelassen. Zwar war immer noch kein Essen zu sehen, aber sie wurde von Gelächter begrüßt. Smudge sprang aufgeregt auf und ab und rief »Hurra! Hurra!«, während Emerald ein winziges Kätzchen in der Hand hielt und dessen niedliches Gesicht betrachtete.

Der Besucher, ihr Bruder, John und Clovis saßen lachend – und trinkend, wie sie bemerkte – am Tisch, während Charlotte auf der anderen Seite des Zimmers stand, eingerahmt von den Vorhängen, ein wohlwollendes, wenn auch etwas glasiges Lächeln auf dem Gesicht. Der Besucher sah beileibe nicht so aus, als wäre er, nachdem er sie auf der Treppe beäugt hatte, gerade erst ins Zimmer zurückgekehrt. Vertieft in die Betrachtung des Kätzchens, sah er nur kurz zu Patience hinüber.

»Sieh nur, Patience, sieh nur. Es heißt Tenterhooks«, rief Smudge, und Patience klatschte entzückt in die Hände.

»Wie süß!«, rief sie.

»Meint ihr, es ist hungrig?«, fragte Emerald.

»Das sind wir wohl alle«, bemerkte der Besucher, dessen Offenheit nach einer kaum merklichen Pause mit Gelächter quittiert wurde.

»Und was hast du da, Patience?«, fragte Ernest. Natürlich wusste er genau, was es war, er wollte nur die Aufmerksamkeit auf sie lenken, damit sie ihr Geschenk überreichen konnte. Emerald gab das Kätzchen an Smudge weiter, die es an ihren Hals drückte.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Emerald«, sagte Patience und überreichte ihr das Kästchen. »Es ist von uns beiden – und natürlich von Mutter.«

Alle Augen richteten sich auf Emerald, die lächelnd die Schleife aufzog. »Wie hübsch du es eingepackt hast, Patience«, lobte sie.

»Sie hatte schon immer geschickte Fingerchen«, kam es, sehr von oben herab, von ihrer Mutter.

Die Schachtel wurde geöffnet. Sie enthielt ein Kästchen aus poliertem Walnussholz mit einem Verschluss aus Messing. Emerald öffnete es nur zögernd, denn plötzlich wusste sie, was sie darin vorfinden würde.

Mehrere Dutzend Glasplättchen, alle in knisterndes Seidenpapier gehüllt, schmiegten sich in den schwarzen Samt, mit dem das Kästchen ausgeschlagen war.

»Oh!«, machte Emerald.

»Und?«, fragte Patience mit eifriger Stimme.

»Wie großzügig! Und wie lieb!«, sagte Emerald, klang allerdings nicht sehr überzeugend.

Patience machte ein langes Gesicht. »Hast du denn gar kein Interesse mehr an deinem Mikroskop, Emerald?«, fragte sie unglücklich.

»Nein, doch, natürlich«, sagte Emerald.

»Sie hat es seit Ewigkeiten nicht mehr angerührt«, fiel Clovis ihr vergnügt in den Rücken.

»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach Emerald mit einem schuldbewussten Seitenblick auf Patience.

»Sie hat ihre Notizbücher und den ganzen anderen Kram längst weggeräumt. Sie interessiert sich schon lange nicht mehr dafür, stimmt doch«, sagte Clovis.

»Wie schade«, murmelte Ernest, der sich noch gut daran erinnerte, wie Emerald und er beim Betrachten vielgliedriger Käferbeine die Köpfe zusammengesteckt hatten.

»Es ist ein wundervolles Geschenk«, sagte Emerald betont, aber Patience ließ sich nicht täuschen.

»Es war eine dumme Idee von mir. Ich hätte bei Rosenwasser bleiben sollen«, sagte sie so leichthin, wie es ihr möglich war, aber nun war sie es, die nicht sehr überzeugend klang, und ihre Kehrseite, auf die sie so hart aufgeschlagen war, fing an, entsetzlich wehzutun.

»Patience …«

»Du musst eben denken, dass es der gute Wille ist, der zählt«, sagte sie lächelnd.

John streckte eine mächtige Pranke aus. »Darf ich?«, fragte er, wickelte einen der Objektträger aus und hielt ihn gegen das Licht. »Sie könnten natürlich nie eine wirkliche Wissenschaftlerin werden«, sagte er.

»Madame Curie wäre da vielleicht anderer Ansicht«, kam es von Emerald.

»Die ist ja auch Ausländerin«, gab er zurück, und damit war das Thema für ihn anscheinend erledigt.

Er zerknüllte das Papier und ließ es fallen. Emeralds Hand zuckte instinktiv vor, um es aufzufangen, bevor es auf dem Boden landen konnte. Sie strich es auf dem Tisch glatt, und mit einem Stich, als hätte jemand sie mit einem Papiermesser in die Seite gepikst, dachte sie an die letzten Tage ihres Vaters zurück. Als sie damals gemerkt hatte, dass die Wissenschaft keine Antwort auf diese Krankheit zu bieten hatte, hatte sie alle kindischen Interessen beiseitegeräumt, sich auf weibliche Tugenden besonnen, sich nützlich gemacht, ihn gepflegt. Es war beileibe nicht das, was er sich für sie gewünscht hätte, wie es abgedroschen so oft hieß. Weit davon entfernt. Er hasste es. Aber so war es nun einmal. Ihr geliebter Vater war krank geworden, ihre Mutter völlig verzweifelt, ihr Bruder starr vor Schock. Ihr Opfer war notwendig. Und das war das Ende. Sie hatte nicht wissen können, dass sie wie eine verzauberte Prinzessin alles, was sie zuvor gewesen war, so komplett vergessen würde. Die Pflicht hatte ihr Herz mit einem Bann belegt.

Smudge strich mit dem Finger über den ausgewickelten Objektträger. »Es sieht aus wie Zuckerguss. Am liebsten würde ich hineinbeißen«, sagte sie, das Gesicht im Fell des Kätzchens vergraben.

»Du würdest Blut spucken und eines schrecklichen Todes sterben«, sagte Clovis.

»Was ist das eigentlich?«, fragte Charlotte und sah sich ruhelos um. Sie wusste es natürlich sehr wohl, runzelte aber gereizt die Stirn, weil Patience typischerweise wieder einmal zu voller Form aufgelaufen war und etwas absolut Langweiliges auf die Party gebracht hatte.

Ernest bemerkte ihren abfälligen Blick und runzelte finster die Stirn. Natürlich setzte er sofort wieder einen anderen Ausdruck auf, aber Charlotte hatte mitbekommen, wie er sie ansah, und hörte auf, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Seine Reserviertheit hatte etwas durchaus Männliches, sinnierte sie, und seine Haare waren nicht mehr eigentlich rot, sondern eher … Sie suchte nach einem treffenden Vergleich – eher wie das Holz eines Brombeerstrauchs. Früher einmal hätte es ihr Spaß gemacht, den Zauber zu finden, der ihn in ihren Bann gezogen hätte.

Traversham-Beechers beobachtete Charlotte wie ein Frettchen. Er erhob sich von seinem Platz und schob sich verstohlen auf sie zu. Atemlos beobachtete sie, wie er immer näher kam, und fürchtete, jemand könnte sie sehen und ihre Verbindung erraten, aber als sie gemeinsam am Fenster standen, blieben sie unbeobachtet.

»Du hast dich überhaupt nicht verändert«, flüsterte er, obwohl er nicht das Geringste über sie wusste.

»Seit ich dich das letzte Mal gesehen und verabscheut habe?«, fauchte sie.

»Damals warst du nicht so unfreundlich wie jetzt«, spöttelte er.

»Geh zurück auf deinen Platz, lass mich in Ruhe«, zischte sie, und er zog sich lächelnd zurück.

Ganz gleich aus welchem Grund dieser Mann auf Sterne aufgetaucht war, Florence Trieves wusste, dass sie sich erst einmal um das Essen kümmern musste.

»Und, Myrtle, sind wir so weit?«, keuchte sie, setzte sich in Bewegung und hielt die Tür mit dem Rücken auf.

»Ja, Ma’am.«

»Die verflixten Überlebenden sind sicher verwahrt?«

»Alle im Studierzimmer, Ma’am. Und kein Mucks von ihnen.«

»Dann los.«

Die Servierplatten in den Händen, begaben sie sich zur wartenden Tischgesellschaft.

»Ah!«, rief der bereits leicht alkoholisierte Besucher anerkennend, als ihm der Duft von Butter und zartem Fisch in die Nase stieg. »Ja!«

Alle anderen bewahrten ihre guten Manieren und begaben sich trotz ihres Hungers mit schicklicher Zurückhaltung zum Tisch. Charlotte machte es sich wohlig auf ihrem Platz bequem.

Florence tat allen auf, und bald waren die zarten gemalten Palmwedel und Blätter auf den kleinen Tellern verdeckt von Petersilie, Stinten, gekochtem Aal und den verschiedensten Soßen. Die ausgehungerten Gäste bedienten sich dankbar, während Florence den Tisch mit der Sherry-Karaffe umrundete. Als sie zu Traversham-Beechers kam, sah sie Charlotte an und deutete dann mit hochgezogenen Brauen in seine Richtung, und Charlotte gab ihr mit den Augen ein fast unmerkliches Zeichen. Die Bande zwischen ihnen verstärkten sich.

Die beiden Spaniels, Nell und Lucy, waren aufgewacht, als sie das Kätzchen rochen, und rannten aufgeregt im Zimmer herum, stießen mit den Köpfen gegen die Möbel und bellten wie von Sinnen. Emerald zerrte die hysterischen Hunde nach draußen, während das Kätzchen, so stachlig wie die Schale einer Kastanie und kaum größer als eine solche, giftig hinter ihnen herfauchte.

»Geben Sie mal her«, kommandierte Traversham-Beechers, und John hob das kleine Kätzchen hoch und tat wie geheißen.

Der Besucher nahm es. Das Kätzchen klammerte sich gewichtslos an seine dicken Finger. Über dem Tisch baumelnd, sah es sich blind um.

»Nicht! Sie halten es zu nah an die Flamme!«, rief Emerald, als sie, nachdem sie die aufgeregten Hunde ausgesperrt hatte, an ihren Platz zurückkam.

»Glauben Sie etwa, ich würde ein schutzloses Tier ansengen?«, fragte der Besucher, zog die Hand aber nicht zurück, sondern schwenkte das Kätzchen spielerisch über der leckenden Kerzenflamme hin und her.

Einer nach dem anderen unterbrachen die Anwesenden ihr Essen. Der Stint geriet in Vergessenheit, als alle Blicke sich auf das kleine Kätzchen richteten, das über dem Leuchter baumelte und die Krallen so weit ausgefahren hatte, wie es nur irgend ging. Der Gentleman schien sie provozieren zu wollen, schien sie herauszufordern, ein Machtwort zu sprechen, und erfüllte sie gleichzeitig mit dem Wunsch, seine Billigung zu finden. Niemand war so schwach wie Clovis, der zu kichern anfing. Emerald war fassungslos.

»Hören Sie damit auf!«, rief sie, und der Mann zog die Hand langsam zurück und grinste alle der Reihe nach aalglatt an.

»Wie dumm«, sagte er, »dass niemand geröstete Katze mag.«

Er ließ das Kätzchen auf Charlottes Hand fallen. Seine Pfoten fühlten sich auf ihrer Haut glühend heiß an.

Ein kurzes Schweigen trat ein, dann fingen alle auf einmal an zu reden, bis die Unterhaltung, gelöst durch Sherry, Essen und Erleichterung, eine solide, selbst laufende Richtung einschlug, die allen Anwesenden gefiel – außer vielleicht dem Besucher, der seinen Teller mit einer Brotrinde abwischte und unheilvolle Blicke über den Tisch wandern ließ.

Charlotte drückte das Kätzchen an ihre Wange und genoss dabei sowohl ihre vergleichbare Schönheit als auch den Eindruck der Liebenswürdigkeit, den sie durch ihr Verhalten erweckte.

»Armes Ding«, gurrte sie und tunkte den Finger in die fischig-feuchten Reste auf ihrem Teller, um ihn von der kratzigen Zunge des Tiers ablecken zu lassen.

»Ich weiß nicht, wer von euch beiden die schöneren Augen hat«, sagte Patience wie aufs Stichwort, wurde aber, da sie dem falschen Geschlecht angehörte, nicht weiter beachtet. Sie sah schüchtern zu Clovis hinüber und versuchte, die Verwirrung, die sein blendendes Erscheinungsbild bei ihr auslöste, durch eine Unterhaltung zu überspielen.

»Ich finde es sehr bedauerlich, dass wir Mr Swift nicht sehen werden, solange wir hier sind«, fing sie an.

Clovis war sich bewusst, dass sie von Traversham-Beechers beobachtet wurden, und seine Stimmung, so formbar wie Knetmasse, veränderte sich unter dem Einfluss des subversiven Fremden wie geschmeidiger Ton auf einer Töpferscheibe. Eine Rastlosigkeit, die durch die schnippische Patience nicht befriedigt wurde, machte sich in ihm breit.

Sie wartete auf seine Reaktion; ihr höflich aufmerksamer Blick überbrückte die Lücke zwischen ihren Stühlen. »Er ist in Manchester«, brummte er.

»Geschäftlich? Es scheint dort eine Menge Liquidationen zu geben, wenn man nicht einmal an einem Samstag auf seinen rechtlichen Beistand verzichten kann.«

Clovis ging nicht auf ihr Bemühen um einen leichten Ton ein und sah sie nur ausdruckslos an, aber der Besucher auf der anderen Seite des Tischs lachte plötzlich auf.

»Bildschön und auch noch geistreich«, sagte er anerkennend.

Patience, die sich daran erinnerte, wie er sie auf der Treppe angestarrt hatte (oder hatte sie es sich wirklich nur eingebildet?), errötete.

»Vielleicht könnte ich Sie in Versuchung führen.« Traversham-Beechers blickte sich am Tisch um. Sein vertraulicher Ton war eigentlich zu leise, um über den breiten Tisch hinweg bis zu Patience zu dringen, aber sie hörte ihn so deutlich, als hätte er ihr die Worte ins Ohr geflüstert; alle hörten ihn, als hätte er ihnen die Worte ins Ohr geflüstert.

»Vielleicht kann ich Sie alle in Versuchung führen.«

Binnen eines Augenblicks hatte er ihre gebannte Aufmerksamkeit. Die Unterhaltung geriet ins Stocken und verstummte dann vollends.

Wieder einmal richteten sich alle Augen auf Traversham-Beechers, der langsam in seine Brusttasche griff, ein silbernes Zigarettenetui hervorzog und es Patience hinhielt, die das schimmernde Ding verwundert ansah.

Charlotte setzte Tenterhooks auf dem Tischtuch ab. Wieder zeigte ihr Gesicht den Ausdruck, den es gehabt hatte, als sie den Besucher im Salon zum ersten Mal erblickte: erstaunt und alarmiert. Clovis, dem ebenso wie den anderen nichts davon auffiel, war einfach nur verwirrt.

»Ihr Zigarettenetui?«, fragte Patience. »Was soll ich damit?«

»Sich eine Zigarette nehmen? Sicher nicht, oder etwa doch, Miss Sutton?«

»Ganz gewiss nicht!«

»Nein, nein, glätten Sie Ihr Gefieder. Interessieren könnte Sie, was das Zigarettenetui repräsentiert – Sie und Miss Torrington.«

»Mich?« Emerald war ebenso perplex wie Patience.

»Gewiss. Als junge Damen auf der Schwelle zu … so vielen Dingen, könnte es Sie vielleicht im Hinblick auf Ihre Bestrebungen interessieren.«

»Und welche Bestrebungen sollten das sein?«, wollte Emerald trocken wissen.

»Nun, natürlich das Bestreben, sich einen Partner zu angeln.«

»Ach so.«

»Was sonst? Falls Sie, Miss Sutton, nicht von der rudimentären Nonchalance meines jungen Gastgebers eingenommen sind, oder Sie, Miss Torrington, von diesen beiden anderen unerfahrenen Kreaturen«, er nickte in Richtung John und Ernest, »dann suchen Sie vielleicht nach Reife? Dieses Etui ist solide fünfunddreißig Jahre alt. Oder nach Eleganz? Das Etui ist sehr schmal, schmiegt sich unmerklich in die kleinste seidengefütterte Tasche und trägt den Stempel eines erstklassigen Silberschmieds. Oder …« Er richtete den Blick auf Emerald. »Sind Sie vielleicht auf der Suche nach Reichtum?«

Die Frage hing in der Luft. Clovis hatte das Gefühl, einen Meister bei der Arbeit zu beobachten; John war gegen seinen Willen beeindruckt von der Unverfrorenheit des Burschen; einzig Ernest hielt mit zusammengebissenen Zähnen den Blick auf den Tisch gerichtet und weigerte sich, sich in diese Sache hineinziehen zu lassen. Er hatte das eigenartige Gefühl, dass man sich am besten gegen Traversham-Beechers’ Charme wehren konnte, indem man ihn nicht ansah. Und Charlotte – nun, keiner bemerkte, wie extrem blass sie geworden war. Das Herz rutschte ihr in die Magengrube, ihr wurde schwindlig. Sie erlebte das alles nicht zum ersten Mal.

»Wenn ich, wie Sie sagen, tatsächlich auf der Suche wäre«, sagte Emerald mit zitternder Stimme, »würde ich, nun ja, würde ich gewiss nichts davon mit Ihnen besprechen – schon gar nicht bei Stint und Appetithäppchen«, kam sie betont zum Schluss.

»Stint und Appetithäppchen«, wiederholte er mit sinnlicher Stimme. »Sehr hübsch ausgedrückt, sehr hübsch.« Und er lächelte.

Im Gleichklang, wie ein gut aufeinandereingespieltes Ponygespann, merkten Patience und Emerald zu ihrem Entsetzen und gegen ihren Willen, dass sie sein Lächeln erwiderten. Er blickte von einer zur anderen, genoss seinen Triumph, während seine Finger leicht auf den kleinen, runden, harten Knöpfen seiner Weste herumtrommelten. Emerald schlug die Beine übereinander. Patience rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

Clovis spürte die unbehagliche Anziehung zwischen ihnen und fühlte sich verunsichert. Er hatte gehofft zu sehen, wie Patience in Verlegenheit gebracht wurde, aber nicht auf diese Weise. Gleichzeitig jedoch regte sich in ihm unleugbar der Jagdtrieb, auch wenn es ihm nicht gefiel, dieses Gefühl zu haben.

»Hersehen«, sagte der Fremde schnell, und mit einer kaum merklichen Bewegung war das silberne Etui verschwunden.

»Wo ist es hin?«, schrie Smudge, die sich nicht beherrschen konnte und aufsprang, bevor sie wieder auf ihren Platz zurückplumpste, das Kätzchen hochriss und es an ihre Brust drückte, als wollte sie sich selbst daran hindern, noch einmal bei Tisch zu sprechen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

Selbst Emerald und Patience hatten erstaunt die Luft angehalten, als das Zigarettenetui plötzlich verschwand. John, Clovis und sogar Ernest lachten ungläubig und in plötzlicher Unschuld; sie tauschten kindliche, freundliche Blicke miteinander.

Charlotte hatte sich inzwischen gewappnet.

»Beruhigt euch, Kinder«, sagte sie kühl. »Es ist in seinem Ärmel.«

»Ach, tatsächlich?«, lächelte der Gentleman und fügte rätselhafterweise hinzu: »Auf diese Weise werden Sie mich nicht aufhalten. Und ich war sicher, es ist …« Er stand auf und griff hinter den kunstvollen Turm von Charlottes Haaren. Ein schneller Schauder durchlief ihren ganzen Körper.

»Hier!« Und mit großartiger Geste zog er das Etui, das im Kerzenlicht schimmerte, aus ihren Haaren hervor.

Patience klatschte in die Hände.

»Noch einmal!«, rief sie. »Ich liebe Zaubertricks.« Sie hatte ihr Unbehagen von vor wenigen Minuten völlig vergessen, so absolut hingerissen war sie nun von ihm.

Traversham-Beechers sah Charlotte an. »Alles für meine Gastgeberin«, sagte er, »die uns alle so freundlich aufgenommen hat.«

Während er das sagte, hörten sie ein anschwellendes Flüstern, einen leisen Aufschrei der vergessenen Passagiere im Studierzimmer, wie von einem nächtlichen Wald, durch den der Wind streicht. Alle am Tisch hielten lauschend inne, erinnerten sich schuldbewusst daran, dass sie ihren Fisch verzehrt hatten, während sich niemand um das Wohlbefinden der unglückseligen Passagiere kümmerte. Nur Smudge hatte das Geräusch nicht bemerkt – das Kätzchen an ihr Ohr gepresst, hörte sie nur sein Schnurren.

Das kurze Schweigen wurde durch Myrtles überstürztes Erscheinen gebrochen, die einen Brotkorb hereinbrachte und auf den Tisch stellte. Der Brotkorb erinnerte Smudge daran, dass sie sich um das Pony Lady kümmern musste. Auch wenn sie auf der Geburtstagsfeier noch so viel Spaß hatte, durfte sie ihr Großes Unterfangen nicht vergessen. Mit einem Seufzer sprang sie auf.

»Entschuldigt mich bitte!« Sie setzte Tenterhooks auf ihren Stuhl und flitzte aus dem Zimmer.

Es bereitete ihr Unbehagen, auf dem Weg nach oben an dem wimmelnden Studierzimmer vorbeizumüssen, und sie rannte sowieso immer, wenn sie allein im Haus unterwegs war. Durch den Flur, durch die mit grünem Stoff bespannte Tür, in die Küche mit dem dort herrschenden Chaos – hastig sah sie sich um und entdeckte in einer Kiste auf dem Boden einen wurmstichigen Apfel und einen alten Kanten Brot. Sie griff sich beides, riss die Tür zur Hintertreppe auf und rannte keuchend hinauf.

Lady hatte sich die Zeit damit vertrieben, das Federbett zu zerkauen und mehrere Kohlestifte unter ihren Hufen zu zermalmen, aber es war kein ernsthafter Schaden entstanden. Jetzt döste sie mit hängender Unterlippe vor sich hin, ein Hinterbein elegant auf die Hufkante gestellt. Smudge setzte sich vor sie, fütterte sie und versuchte, den Kopf an die Wand gelehnt, wieder zu Atem zu kommen.

Die Luft in der Küche war zum Schneiden, so angefüllt war sie von Dampf und Dunst und allen möglichen Gerüchen. Schluss mit appetitanregenden kleinen Fischen und zarter beurre blanc; jetzt war es Zeit für das Fleisch.

Florence wischte sich den Schweiß von der Stirn und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. Sie hätte gern ein frisches Kleid angezogen, das hier stand fast vor Schweiß. Sie konnte nichts mehr riechen; war schon zu lange mitten in diesem Getümmel; ihre Haarwurzeln, ihre Nagelhäutchen, die Sohlen ihrer Füße in den Stiefeln waren überzogen von fettigen Schichten; Bratensäfte, Fette, Stärken waren unbemerkt Teil von ihr geworden. Ihre Zunge war abgestumpft; sie hätte nicht einmal mehr eine eingelegte Zwiebel geschmeckt, hätte ihr jemand eine in den Mund gesteckt.

Sie richtete sich hoch auf, ganz still, absolut konzentriert. Keulen, Haxen, Brötchen, Schnur, Rosenkohl, Kaninchen, Beilagen, Verzierungen aller Art. Sie beugte sich vor. Ihre Finger arbeiteten an Achten, Spiralen, Rosetten, Muschelchen, winzig, winziger, am winzigsten.

Nachdem Smudge sich vergewissert hatte, dass das Pony keine unmittelbare Gefahr für sich selbst oder das Haus darstellte, trat sie den Rückweg ins Speisezimmer an. Als sie über den leeren oberen Treppenabsatz trottete, erwartete sie nicht, auf einen Mann zu stoßen, der soeben die Ecke der Treppe umrundete. Sie blieb wie angewurzelt stehen, die Hände vor sich gestreckt, wie um sich abzubremsen.

Er war riesig und wirkte noch riesiger und behäbiger durch den großen Reisesack, den er auf dem Rücken trug. Er hatte sich eine Mütze, so wie ein städtischer Angestellter sie tragen mochte, in die Stirn gezogen und tief liegende, brennende Augen über einem dichten Bart. Hinter ihm klammerten sich zwei kleine Kinder mit dünnen Beinchen verängstigt an das Geländer.

»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er.

Smudge wartete nicht ab, was er vielleicht sonst noch sagen wollte. Sie rannte den Korridor entlang, weg von ihm, und die Küchentreppe hinunter.

»Mrs Trieves!«

Florence kippte fast aus ihren Stiefeln. »Smudge! Miss Imogen! Großer Gott!« Ihre Kopfhaut kribbelte, vor Schreck oder Schweiß oder beidem.

»Sie müssen kommen und helfen«, rief Smudge, die zitternd und blass vor Angst am Fuß der Küchentreppe stand, aber Florence musste sich um andere Dinge kümmern.

»Nicht jetzt, nicht jetzt.«

»Ich war oben, weil ich – weil ich – und da war ein Mann! Ein Mann!«

»Ich kann jetzt nicht!«

»Dann vielleicht Myrtle?« Smudge war verzweifelt.

»Räumt den Tisch ab.«

»Irgendjemand. Emerald … Mutter?« (Dass sie ausgerechnet an ihre Mutter dachte, war Beweis für ihre Verzweiflung.) »Mrs Trieves, sie sind oben!«

»Oben? O mein Gott, das darf doch nicht wahr sein. Komm mit!«

Sie nahm Smudges Hand und zerrte sie aus dem Raum.

Als sie durch die mit grünem Stoff bespannte Tür kamen, stießen sie unverzüglich auf ein kleines Grüppchen Passagiere, die durch den Flur schlichen und sich leise miteinander unterhielten.

»Zurück!«, befahl Florence der kleinen Gruppe mit gebieterischer Stimme, packte Smudges Hand noch fester und lief mit ihr zum Speisezimmer.

»Sie haben das Studierzimmer verlassen und sind überall im ganzen Haus!«, rief sie.

»Was?«, »Großer Gott!« und andere Rufe des Entsetzens kamen von der Gruppe am Tisch.

»Meine Damen, Sie bleiben hier«, befahl John, der bereits aufgesprungen war. Clovis und Ernest taten es ihm nach. Gemeinsam begaben sie sich zur Tür.

»Trivering …« Clovis hatte den verflixten Namen schon wieder vergessen. »Kommen Sie nicht mit?«

»Muss ich wirklich?«, erwiderte der Mann träge und hievte sich gemächlich hoch.

»Nun machen Sie schon!«, drängte John, aber der Mann ließ sich nicht zur Eile antreiben.

Die anderen warteten ungeduldig in der Tür, dann gingen sie zu viert los.

Ohne die Herren, sicher hinter geschlossener Tür, waren die Frauen nun unter sich. Florence stand an der Anrichte, zögerte, sich zu den anderen an den Tisch zu setzen.

»O mein Gott«, sagte Charlotte, sich Luft zufächelnd. »Wie furchtbar.«

»Ich weiß wirklich nicht, was wir uns dabei gedacht haben, sie derart schäbig zu vernachlässigen«, sagte Emerald.

»Unsinn«, gab ihre störrische, reuelose Mutter zurück. »Man sollte sie alle vor die Tür setzen und durchprügeln! Wenn Robert doch nur hier wäre«, rief sie und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.

Smudge ging zu ihr, kniete sich vor sie und berührte ihr Kleid.

»Lass das!«, sagte sie zurückzuckend, und Emerald ergriff die Hand des Kindes. Stumm lauschten sie auf das Geschrei und das Gepolter jenseits der Tür des Speisezimmers.

Mehrere Überlebende hatten sich aus dem abgelegenen Studierzimmer herausgewagt und streunten nun hungrig durch das Haus. Ihre Stimmung war nicht verärgert oder bedrohlich, sondern vielmehr geprägt von fiebriger Unruhe. John Buchanan, mit einem Wanderstock bewaffnet, hatte den Rest des Hauses abgesucht, aber außer dem Mann mit den Kindern, der inzwischen wieder zur Gruppe zurückgebracht worden war, war niemand oben gewesen.

Die hungrigen Seelen suchten Ruhe oder Nahrung, suchten Trost und Kommunikation, suchten, wie es schien, die Torringtons, und standen nun widerspenstig in der Halle beisammen.

»Wir möchten mit der Dame des Hauses sprechen!«, rief eine Frau. »Wir wollen einfach nur weiter! Und wir haben Hunger. Wir haben solchen Hunger. Das alles ist doch nicht unsere Schuld!«

»Aber, aber, wir werden sehen, was sich tun lässt«, versuchte Ernest, sie zu beschwichtigen, und fragte sich, während er sie betrachtete, ob die Frau nicht vielleicht doch auf irgendeine Art verletzt war, die ihm vorher nicht aufgefallen war, oder ob ihre alarmierende Blässe nur die Nachwirkung des Unfalls und des langen Eingepferchtseins war. »Ich muss mich wirklich entschuldigen«, sagte er.

Obwohl er natürlich nicht für seine Gastgeber sprechen konnte, hatte er das Gefühl, dass irgendetwas für diese Leute getan werden musste, und beschloss, wenn schon nicht mit der unnahbaren Mrs Swift, so doch vielleicht mit Emerald zu sprechen.

»Wir haben gewartet und gewartet«, sagte eine andere Frau, und überall um ihn herum erhoben sich kläglich-vielstimmig die Rufe »Hunger!« und »Wieso?«.

»Aber, aber«, erklang die durchdringende, nasale Stimme von Traversham-Beechers hinter ihnen, und viele – unter ihnen auch John, der sich noch auf halber Höhe der Treppe befand, und Ernest, der die weinende Frau tröstete – drehten sich zu ihm um.

Die Hände in den Taschen vergraben, stand er in der Tür der Bibliothek.

»Hört mir zu, Leute. Durch Jammern werden wir gar nichts erreichen. Sie und ich müssen hier nun einmal für eine kurze, unbestimmte Zeit ausharren!« Sie hörten ihm aufmerksam zu. »Wir hoffen, dass man auf unsere Bedürfnisse eingehen wird. Wir vertrauen darauf …« Hier hielt er inne, und plötzlich flog über sein Gesicht ein Ausdruck, nur kurz zwar, aber, wie Ernest fand, überaus eindringlich. Ein Ausdruck, der an Grauen gemahnte. »Wir vertrauen darauf«, fuhr er fort, »dass Gott …« Das Wort hallte durch die kalte Luft und verharrte schwebend. »Dass Gott dafür sorgen wird, dass unsere Bedürfnisse befriedigt werden. Bis dahin müssen wir uns in Geduld üben. Lasst uns nun wieder hineingehen!« Damit deutete er erneut auf die offene Tür des Studierzimmers.

Nach dieser Ansprache gaben die dicht gedrängten Passagiere jede Aufmüpfigkeit auf, anscheinend weil sie ihre Machtlosigkeit erkannt hatten. Ernüchtert trotteten sie zurück in den kleinen, quadratischen Raum.

»Gut so«, sagte Traversham-Beechers und machte die Tür entschlossen hinter ihnen zu. »Sollen wir nun zu den Damen zurückgehen?«

Als die Gäste wieder im Speisezimmer vereint waren, verkündete John: »Sie sind alle wieder da, wo sie hingehören.«

»Bravo, John«, sagte Charlotte.

Emerald ließ Smudges Hand los und wandte sich an die Versammelten.

»Wir haben mit unserem Essen angefangen«, sagte sie mit fester Stimme. »Die anderen müssen auch etwas zu essen bekommen.«

Sie fing Ernests ermutigenden Blick auf.

»Hört, hört«, sagte er.

»Das ist doch absurd!«, protestierte Charlotte.

»Nein, Mutter! Sie auch weiterhin zu ignorieren ist absurd. Ich lasse das nicht mehr zu.«

»Emerald!«

»Siehst du denn nicht, dass es so nicht geht? Es werden immer mehr. Ein Teil von ihnen muss zurück ins Frühstückszimmer, die anderen bleiben im Studierzimmer. Und sie müssen etwas zu essen bekommen«, sagte sie bestimmt. »Du verhältst dich sehr unhöflich, Mutter.«

Charlotte war das völlig egal. Sie hatte ihr Leben so eingerichtet, dass sie nie wieder dritter Klasse reisen musste. Sie würde auf keinen Fall mitleidig die Hände ringen wegen Leuten, die sie immer noch benutzten.

»Bitte nicht ins Frühstückszimmer«, verlangte sie trotzig. »Das Frühstückszimmer ist mein spezielles Zimmer.«

»Jedes Zimmer ist dein spezielles Zimmer, Mutter«, sagte Emerald bitter, brach an dieser Stelle aber ab, um es nicht in aller Öffentlichkeit zu einem Streit kommen zu lassen.

»Was sollen wir tun?«, fragte Patience.

Alle, mit Ausnahme des Kätzchens, das die Soßen aufleckte, und mit Ausnahme von Traversham-Beechers, der gähnend zur Decke blickte, wandten sich ihr erwartungsvoll zu.

»Ich belästige euch nur sehr ungern mit unseren häuslichen Angelegenheiten, aber ich glaube, es bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte Emerald mit Blick auf Florence Trieves. »Unser Mädchen, Pearl Meadows, ist krank. Robert und sein Junge sind unterwegs, um die anderen Passagiere einzusammeln, die die Eisenbahn uns schickt. Wir sind nur sehr wenige. Mrs Trieves ist mit Myrtle in der Küche ganz allein, und ich fürchte …« Der Rest des Satzes lag lange Sekunden auf ihrer Zunge, bevor sie ihn hervorbrachte. »Ich fürchte, wir werden in der Küche helfen müssen.«

Sie achtete nicht auf das Stöhnen, das ihre Mutter angesichts dieser unglaublichen Zumutung ausstieß, aber Florence rief: »Nein, Emerald. Ich schaffe das auch allein.«

»Nein, Mrs Trieves. Wir helfen Ihnen.«

»Ich auf jeden Fall«, piepste Patience. »Ich brauche nur eine Schürze. Wo ist die Küche?«

»Danke, Patience.«

»Ich helfe auch«, brummte Ernest.

»Nein«, kam es erneut, aber nur schwach, von Florence.

»Ich auch, Em. Ich habe meiner Mutter oft geholfen«, sagte John.

»Ich meiner zwar nie, aber ich bin auch dabei«, reihte Clovis sich ein.

»Also gut«, rief Charlotte mit plötzlicher Vehemenz. »Dann hast du ja genug helfende Hände für deine schmutzige Arbeit. Und das an deinem Geburtstag! Es ist einfach lächerlich. Und ich sage dir, es wird einen Aufstand geben, wenn du versuchst, diesen grässlichen Leuten auch nur den kleinen Finger zu reichen. Smudge jedenfalls geht auf ihr Zimmer, oder willst du etwa die Kinderarbeit wieder einführen? Und ich ziehe mich ebenfalls zurück. Ich erwarte, nicht gestört zu werden.«

Sie wandte sich dem Anführer der ungeladenen Gäste zu, dem unverschämten Traversham-Beechers.

»Und Sie bleiben hier«, sagte sie betont und zeigte in diesem Augenblick alle Zähne und Klauen, die sie hatte. Das ganze Zimmer schien vor ihr zurückzuweichen.

Der Gentleman war unbeeindruckt.

»Ja, ich glaube, ich werde mich ein Weilchen hier vergnügen«, sagte er träge und zog eine lange Zigarre aus einer Innentasche.

Charlotte drehte sich auf dem Absatz um, hielt der widerstrebenden Smudge die Hand hin, verließ mit ihr zusammen das Zimmer und schloss die Tür.

»Mach dir nichts draus, sie wäre uns sowieso nur im Weg gewesen«, flüsterte Clovis seiner Schwester aufgekratzt zu.

Ihre Aufmerksamkeit wurde durch das anzügliche, rhythmische, saugende Geräusch abgelenkt, mit dem Traversham-Beechers seine Zigarre an einer Kerze anzündete. Gefangen zwischen dem Schock über dieses anstößige Verhalten und einer gewissen anarchischen Bewunderung, starrten die fünf jungen Leute ihn einen Augenblick lang fassungslos an. Dann wandte sich Ernest höflich an Florence: »Zeigen Sie uns bitte den Weg.« Und sie begaben sich in die Küche und überließen den Mann inmitten eines Ozeans schmutziger Teller seinen Vergnügungen.

Schon im Korridor wurde Myrtle mit dem Auftrag losgeschickt, die Passagiere auf die beiden Räume zu verteilen und Sitzgelegenheiten für sie herbeizuschaffen, während sich die Gäste, angeführt von einer unglücklichen Florence, zur Küche begaben. Sie kamen am Frühstückszimmer vorbei, bogen um eine Ecke und gelangten an die mit grünem Stoff bezogene Tür zum Wirtschaftsbereich.

»Vielleicht haben wir hinterher ja doch noch Zeit für ein Spiel – und für deinen Kuchen, falls es einen gibt«, sagte Patience im Gehen aufmunternd zu Emerald.

Die Mitglieder des Haushalts hatten aufgehört, sich über die unaufhörlich wachsende Zahl der Überlebenden zu wundern, und waren zu dem Schluss gelangt, dass an diesem verworrenen Abend niemand von ihnen erwarten konnte, den Überblick zu behalten.

»Sie vermehren sich wie die Fliegen«, schimpfte Myrtle leise vor sich hin, während sie die zusätzlichen Stühle, die sie angeschleppt hatte, auf den Boden knallte und der ganzen undankbaren Bande einen wütenden Blick zuwarf. Sie verfrachtete die Hälfte von ihnen ins Frühstückszimmer und wies die andere Hälfte streng an, im Studierzimmer zu bleiben.

Sie rissen ihr die Stühle mit kraftvollen Fingern aus den Händen, setzten sich irgendwohin, wo Platz war, und beobachteten Myrtle in atemloser Erwartung ihrer Mahlzeit mit glitzernden Augen.

Emerald, Patience, Ernest, John und Clovis, alle in Abendkleidung, sahen sich in der Küche mit ihren Bergen halb fertiger Speisen um.

Wäre Florence jünger oder weniger diszipliniert gewesen, wäre sie an dieser Stelle in Tränen ausgebrochen, aber sie hatte schon seit Jahren nicht mehr geweint. Manchmal hatte sie das Gefühl, all ihre Tränen – die des Kummers und die der Freude – seien für Theodore vergossen worden, und ihre Augen in ihren Höhlen blieben trocken, während sie sich langsam auf einen oft bedachten, staubigen Tod zubewegte. Sie stellte sich vor, dass kleine Säckchen, die eigentlich mit wogenden Tränen gefüllt sein sollten, verschrumpelt zwischen ihren Augäpfeln und ihrem Gehirn lagen. Aber wenn sie Tränen gehabt hätte, hätte sie sie jetzt darüber vergossen, dass ihre ganze Schufterei auf diese Weise, durch diese üble Krise, vergeudet wurde. Sie wollte nicht in ihrer Küche gesehen werden – nicht so.

Sie kam sich vor wie eine große Uhr mit offener Rückseite; ihr Ziffernblatt bestand aus Perlmutt, Diamanten und goldenen Zeigern, aber innen enthielt das Gehäuse nur schmutzige alte Eisenteilchen. War alles, was so wundervoll erschienen war, wirklich nur das? Nur diese Federn? Nur diese winzigen Schräubchen? Nur diese Zahnräder? Sie ließ den Kopf hängen.

»Wo sind die Schürzen?«, sagte Emerald voller Energie. Auf eigenartige Weise genoss sie es geradezu, etwas zu tun, was den Wünschen ihrer Mutter so sehr widerstrebte. Unterschiedliche Teller standen wacklig übereinandergestapelt und warteten darauf, gefüllt zu werden. Die Helfer waren bereit, sie zu kredenzen. Ein großes Messer fest in der Hand, stand Florence über den verschiedenen vorbereiteten Speisen, aber sie brauchte mehrere Anläufe, bevor sie schließlich die Zähne zusammenbiss und die Klinge als Erstes durch die Kruste des Bœuf en croûte stieß. Anschließend nahm sie sich das Kaninchenfrikassee vor, dann die Geflügelpastete … Das Massaker war enorm, die Portionen allerdings notgedrungen klein. Was für acht ein Festmahl gewesen wäre, konnte für dreißig oder mehr höchstens spärlich ausfallen. Waren es am Anfang wirklich so viele gewesen?

Teller um Teller wurde weggetragen, dazu bündelweise Besteck und dicke Brotscheiben. Die hungrigen Besucher, die auf dreibeinigen Hockern, Bänken und Bugholzstühlen saßen, drängten sich um den Schreibtisch im Studierzimmer und die hastig frei geräumten Beistelltischchen und fielen über das ihnen vorgesetzte Essen her.

»Es sind zu viele«, stöhnte Patience. »Es reicht nicht für alle.«

Nachdem das Entree aufgebraucht war, wurde der nächste Gang in Angriff genommen. Florences Messer fand die schlüpfrigen Gelenke des Poulet à la Marengo, durchschnitt das zarte junge Fleisch der Kalbsrolle. Und immer noch waren sie nicht satt. Die Küche glich einem verlassenen Feldlazarett auf der Krim, nachdem die Schlacht sich verlagert hatte: überall Knochen, an denen noch Fleischfetzen hingen, nasse Lappen, fleckige, zerkratzte Schneidebretter und einfach fallen gelassene Utensilien, während sich die Horden über das Nächste hermachten – den Nachtisch.

»Wartet. Mein Gott, wartet!« Florence wandte der Szene der Zerstörung den Rücken zu und schloss die Augen.

»Lassen Sie mich das machen.« Ernest nahm ihr das Messer aus der Hand, während die anderen ringsum weiterarbeiteten.

Emerald beobachtete, wie seine starken Hände die Spitze der Klinge zwischen die zarten Rhabarberscheiben auf der Vanilleschicht der Torte schoben, ohne sie zu zerstören; ihre eigenen Finger zitterten leicht, als sie zwei hauchdünne Teller für die halbmondförmigen Fruchtgeleeschnitze hinhielt, die er als Nächstes vom Löffel schabte. Einen Moment lang streckte Patience ihren schlanken Arm zwischen ihnen hindurch, ergriff einen Krug mit Sahne und huschte damit aus der Küche.

»Hättest du etwas dagegen, wenn ich etwas sage?«, fragte er.

»Das weiß ich erst, wenn du es gesagt hast«, antwortete sie und ging im Geist ein Sortiment wünschenswerter und weniger wünschenswerter Möglichkeiten durch.

»Hast du die Wissenschaft wirklich aufgegeben?«

»Die Wiss… Oh, du meinst mein Mikroskop? Ja, ich glaube schon.«

Er tat einen winzigen Klecks Flammeri auf den Teller, gleich neben das Fruchtgelee.

»Das hätte ich nie erwartet – nach allem, was ich von früher von dir weiß.«

»Tatsächlich?«, fragte sie verwirrt.

»Ja. Noch zwei, bitte.«

Sie hielt ihm zwei weitere Teller hin.

»Verdammt!«, rief Clovis hinter ihnen, als ein fettig-glitschiges Desaster auf den Fliesen landete.

»Ich finde es wirklich sehr schade«, sagte Ernest. Ein weiteres Stück Rhabarbertorte fand ein neues Zuhause. Ein Klecks Fruchtgelee glitt von dem schnell wärmer werdenden Löffel. »Wo du doch so klug bist.«

Emerald sah nicht auf. Aber seine Bemerkung erfüllte sie mit Stolz. Es war ein ungewohntes, aber angenehmes Gefühl.

»Ich habe das Mikroskop während der Krankheit meines Vaters weggetan«, flüsterte sie fast, während eine ungewohnte Wärme das kalte Eis ihrer Zurückhaltung zum Schmelzen brachte.

»Ah«, antwortete er ebenso leise. Sein Tortenheber glitt unter den krümeligen Teig, die darin enthaltene Butter ließ das Metall glänzen.

»Großer Gott!«, ereiferte sich Florence, die aus dem Studierzimmer gehetzt kam, beim Anblick der zahllosen Desserts. »Sollen etwa alle so eine Auswahl bekommen?« Aber sie riss die Teller nichtsdestoweniger an sich. Ernest warf Emerald ein langsames, schüchternes Lächeln zu. Ich sehe verboten aus, dachte sie.

Sie hatte mit keinem Gedanken daran gedacht, sich umzuziehen. Jetzt hing ihr schönes Kleid schlaff an ihr herab, voller Fettspritzer, rettungslos ruiniert. Der Saum war völlig verdreckt, weil er ständig über den schmutzigen Boden schleifte. Haarsträhnen hatten sich aus Myrtles kunstvoll aufgesteckter Frisur gelöst. Patience dagegen machte wundersamerweise immer noch einen allgemein frischen Eindruck, der sich erst bei näherer Betrachtung als Illusion herausstellte (ihre Spitzenmanschetten waren mit Bratensoße bekleckert). Sie und Clovis hatten ein eigenes Tempo und einen eigenen Rhythmus gefunden, die an einen Staffellauf erinnerten. Er flitzte durch den Korridor bis zur grünen Tür, sie weiter in die Zimmer, allerdings war das Holen der Teller aus der Küche schneller zu bewerkstelligen als das Verteilen, da die Passagiere unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse hatten (die einen wollten Fisch, die anderen Fleisch, oder nur Geflügel, andere hätten gern alles gehabt, nicht zu erwähnen die verschiedenen Geschmäcker, als es um Obst, Süßspeisen und Zuckerwerk ging). Clovis musste oft hinter Patience herlaufen und ihr beim Herumreichen der Teller und beim Beantworten von Fragen helfen. Dabei fiel ihm auf, dass sie unerschütterlich liebenswürdig blieb, während sie sich nach dem Wohlbefinden der Passagiere erkundigte. Sie schien es richtig zu genießen, ihnen eine Freude machen zu können. Während sie, hell wie eine Goldmünze in dem halbdunklen Studierzimmer, von einer schäbigen Person zur nächsten huschte, fand Clovis ihren Anblick – herzergreifend. Sie schien ihn mit neuer Energie zu erfüllen. Einmal rutschte sie, vielleicht müde von der ungewohnten Dienstbarkeit, auf einem säuberlich abgenagten Knochen aus, der irgendwie auf den Boden gelangt war, denn die Passagiere mussten nicht nur ihr Essen, sondern auch ihre Kinder und ihr Gepäck auf dem Schoß balancieren. Ihr Fuß in dem dünnen Schühchen rutschte unter ihr weg, und Clovis – schnell wie ein Windhund – schoss quer durchs Zimmer, um ihr seinen Arm hinzuhalten.

»Du musst besser aufpassen, Patience. Alles in Ordnung?«, fragte er, als nicht nur sie, sondern alle verkniffenen, blassen Gesichter im Raum innehielten und einen Moment aufsahen. Und was ist mit uns?, schienen sie zu sagen. Wieso fragt keiner, wie es uns geht, wo wir einen so furchtbaren Unfall hinter uns haben und unter Schock stehen und nicht wissen, wie es mit uns weitergehen wird?

Aber Clovis und Patience hatten nur Augen füreinander, als sie dort standen, er immer noch mit der Hand unter ihrem Arm, umschlossen von der Wärme gegenseitiger Fürsorglichkeit. »Danke, Clovis, wie ungeschickt von mir.«

»Überhaupt nicht«, sagte er und bückte sich nach dem Kaninchenknochen, der Patience um ein Haar zu Fall gebracht hätte. Mit einem verlegenen Grinsen richtete er sich wieder auf.

Im Raum war bis auf das Kauen und Atmen aller zwanzig Anwesenden kein Ton zu hören.

»Ob sie allmählich satt sind?«, flüsterte Patience Clovis ins Ohr, aber er war so hingerissen vom Gefühl ihrer Nähe, dass er ihr nicht antworten konnte.

Im leeren Speisezimmer hatte sich Tenterhooks über die Fischreste hergemacht. Was immer hier und dort zu finden war, war aufgeleckt und aufgeschleckt worden, obwohl das Kätzchen vor lauter genüsslichem Schnurren kaum schlucken konnte. Kurz darauf hatte der Magen des Tiers heftig gegen die ungewohnten Essensmassen revoltiert und sie wieder von sich gegeben, und nun sah der Tisch nicht mehr annähernd so einladend aus wie zu dem Zeitpunkt, als die Gäste ihn verlassen hatten. Doch das spielte keine Rolle, da das Speisezimmer – für den Augenblick – menschenleer war. Sogar Traversham-Beechers war verschwunden. Nirgends war auch nur die geringste Spur von ihm zu sehen; kein noch so zartes Rauchwölkchen, kein noch so leiser Hauch von Haaröl hing in der Luft. War er bei den Passagieren, um sich wie sie den Bauch vollzuschlagen? Saß er, in einen schäbigen Wollschal gehüllt, in irgendeiner Ecke, den Kopf eines Babys in der Armbeuge? Oder wanderte er durch die Flure und ließ die Finger über das glatte Holz der Wandverkleidung gleiten? Vielleicht gönnte er seinen müden Knochen auch einfach nur ein wenig Ruhe, bis sie das nächste Mal gebraucht wurden.

Gemeinsam mit Lady hinter der dicken, verschlossenen Tür ihres Zimmers verbarrikadiert, gestärkt durch den Stint und dankbar dafür, dass die anderen durch die anspruchsvollen Überlebenden abgelenkt waren, stürzte sich Smudge mit neuer Energie auf das Porträt des Ponys. Der Versuch, Ladys eine Seite mit Kohle einzureiben und sie dann gegen die Wand zu drücken und auf diese Weise einen Abdruck herzustellen, war mangels Erfolg als zu ehrgeizig aufgegeben worden. Jetzt war Smudge eifrig damit beschäftigt, ihre Nachttischlampe so zu platzieren, dass sie einen akkuraten Schatten des Ponys auf die Wand warf, den sie dann nachzeichnen wollte. Die Minuten flogen unbemerkt vorbei, die Stunden vergingen, ohne dass sie Notiz davon nahm. Sie war voll und ganz in ihr Kunstwerk vertieft.

Im Frühstückszimmer musterten Emerald, Clovis, John, Ernest, Florence und Patience die Reisenden, die endlich mit Essen fertig waren und sich nun verdrossen die Finger ableckten, die Hände ihrer Kinder umfasst hielten oder stumpf ins Feuer starrten. Obwohl sie für den Augenblick zufriedengestellt waren, hatte ihre Stimmung sich nicht merklich gebessert. Falls überhaupt, herrschte sogar eine gesteigerte Atmosphäre der Bedürftigkeit; sie schienen mit ihren nebelhaften Wünschen und Sehnsüchten die Luft selbst aus dem Raum zu saugen.

»Vielleicht können wir uns jetzt wegschleichen?«, murmelte Emerald.

Das kleine Grüppchen trottete in die heillos chaotische Küche, füllte Teller mit was immer noch an Essbarem zu finden war und trug sie ins Speisezimmer. Dort setzten sie sich mit ihren zusammengewürfelten Fleisch- und sonstigen Resten an den Tisch.

Emerald entdeckte das Katzenerbrochene neben ihrem Teller und ließ eine Serviette darüber fallen.

Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte sie, ergriff das Glas, das ihr am nächsten stand (es hatte John gehört, aber jetzt saßen alle kreuz und quer durcheinander), und leerte den ganzen verbliebenen Sherry darin auf einen Zug. Sofort fühlte sie sich gestärkt.

»Wo ist dieser Mann?«, fragte sie und sah sich nach dem zusätzlichen Gast um, aber niemand wusste, wo er geblieben war.

Ohne Traversham-Beechers, die Tür des Speisezimmers fest geschlossen, schwelgte die kleine Gruppe einen kurzen, aufregenden Augenblick lang in einem Gefühl des Triumphs und der Erleichterung, immer noch in Hochstimmung nach ihrem abenteuerlichen Ausflug in die Welt der Dienstbarkeit. Clovis und Emerald tauschten einen verständnisinnigen Blick. Sie hatten die ständig größer werdende Meute erfolgreich abgefüttert. Ihre Mutter war abwesend, hatte sich hochfahrend und verantwortungslos in ihrem Zimmer versteckt, aber sie, die Jungen, waren immer noch zu Emeralds Geburtstag im Speisezimmer versammelt.

»Es ist noch gar nicht so spät«, sagte Emerald. »Vielleicht haben wir tatsächlich noch Zeit für ein Spiel, wie du vorhin gesagt hast, Patience.«

Es wurde gelacht.

»Greift erst einmal zu«, rief Clovis und machte sich mit Genuss über seinen Teller mit den kläglichen Resten her.

Florence, durch die Ungewöhnlichkeit des Abends in einer Position irgendwo zwischen Familienmitglied und Bediensteter gestrandet, stand unsicher zaudernd an der Anrichte und wusste nicht, ob sie sich setzen oder die Getränke servieren sollte. Emerald kämpfte mit einem harten Stück Pastetenkruste, das normalerweise am Rand der Schüssel zurückgelassen worden wäre, jetzt jedoch, mit reichlich Senf bestrichen, ein Genuss war.

»Florence – Mrs Trieves«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Setzen Sie sich doch. Ich denke, die Umstände erlauben eine gewisse Flexibilität, finden Sie nicht auch?«

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns glitt Florence auf den Stuhl zwischen John und Patience, hielt die Hände aber im Schoß gefaltet. John, der für seine gehobene Stellung in der Welt hart gekämpft hatte, empfand es als Zumutung, neben einer Hauswirtschafterin sitzen zu müssen, und errötete vor Verlegenheit. Aber er überspielte sein Unbehagen, bewahrte Haltung und nahm den Teller entgegen, den Emerald ihm für Florence reichte.

»Mrs Trieves«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Etwas Brot? Oder Soße? Einen Augenblick.« Und er versorgte sie mit beidem.

Ihr war die Situation noch peinlicher als ihm. Den Blick auf ihren Teller gesenkt, sagte sie: »Vielen Dank, Mr Buchanan«, das spitze Gesicht hochrot vor Verlegenheit.

Als er sie ansah, wie sie sozusagen von Gleich zu Gleich neben ihm saß, wurde er weicher. Sie wirkte so verlegen und durcheinander. Fast gegen seinen Willen fiel ihm auf, dass ihr Hals, so wie sie den Kopf gesenkt hielt, umspielt von ein paar Haarsträhnen, die sich aus dem straffen Knoten gelöst hatten, den sie immer trug, im Lampenlicht bemerkenswert – was wäre der treffende Ausdruck? – fraulich aussah. Ja, bemerkenswert fraulich. Hübsch sogar. Er riss sich auf der Stelle zusammen, räusperte sich und griff nach einem Glas. Die weiblichen Attribute einer Hauswirtschafterin in mittleren Jahren wahrzunehmen gehörte zu der Art von Denkweise, mit der er sich nicht mehr beschäftigt hatte, seit er mit dreizehn und vierzehn seine körperliche Männlichkeit entdeckt und im ersten errötenden Fieber der Erkenntnis fast zwanghaft auf die anziehenden Formen jedes weiblichen Wesens reagiert hatte, das ihm über den Weg lief, angefangen bei Ladenverkäuferinnen über hagere alte Tanten und Skulpturen bis, beunruhigenderweise, hin zu nicht menschlichen Wesen und sogar Dingen: die hin und her schwenkenden, daunigen Hinterteile von Enten, die bestrickenden Kurven von Treppengeländern. Mrs Trieves war natürlich kein Treppengeländer, aber, wies er sich selbst streng zurecht, sie kam ebenso wenig in Betracht wie ein solches. Und er wandte sowohl seine Gedanken als auch seinen Oberkörper abrupt von ihr ab. Schuld mussten der Wein und die bizarren Umstände sein. Sie war schließlich so alt wie Charlotte Swift – aber, ach du je, das war kein sehr guter Vergleich, da Charlotte in jedem Alter eine umwerfende Schönheit war. Und damit hob John, völlig verwirrt, den Kopf, sah geradeaus vor sich hin und versuchte, überhaupt nicht an Frauen zu denken – ein Vorhaben, das natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Binnen einer Minute fragte er sich, ob Florences Knöchel wohl ebenso hübsch waren wie ihr Hals. Seine Rettung war Emerald, die er, im Profil, an einem Rosenkohl knabbern sah. Das war Eleganz, dachte er. Das war Schönheit, das war Angemessenheit. Er ließ den Blick auf ihr ruhen und fragte sich, ob die Tatsache, dass er sie die ganze Zeit nicht beachtet hatte, einen Einfluss auf die Gleichgültigkeit hatte, die sie ihm gegenüber an den Tag legte. Als sie seinen Blick spürte, sah sie keck zu ihm hinüber, und er hatte seine Antwort und spürte, wie sein Selbstvertrauen zurückkehrte.

»Ich muss sagen, es war ein sehr ungewöhnlicher Abend bisher«, sagte er aufgeräumt.

»Extrem ungewöhnlich«, stimmte Patience ihm zu.

»Ich hoffe, Emerald, Sie haben nichts dagegen, wenn ich sage, dass Sie das alles wunderbar gemeistert haben. Stimmt doch, oder?«, wandte er sich an den ganzen Tisch. »War sie nicht einfach wundervoll?«

»Ach was, ganz und gar nicht. Aber …« Emerald schlug die Hand vor den Mund. »Smudge! Ich muss sie unbedingt holen.«

»Vielleicht schläft sie schon«, sagte Ernest. Bei den Suttons war es nicht üblich, dass Kinder zur Teezeit im Nachthemd herumliefen oder zusammen mit den Erwachsenen am Abendessen teilnahmen.

»Smudge doch nicht«, kam es von Clovis. »Nicht wenn Kuchen zu erwarten ist.«

»Ich habe ihr versprochen, dass sie mir helfen darf, die Kerzen auszublasen.« Emerald stand auf, setzte sich aber gleich darauf abrupt wieder hin, als die Tür aufflog und Charlie Traversham-Beechers, der den Knauf mit tänzelnden Fingerspitzen spielerisch drehte, mit nasaler Stimme verkündete: »Und? Wer sind jetzt die Überlebenden? Ist noch etwas für uns übrig?«