EIN SCHRECKLICHER UNFALL
Lady war ein nützliches Pony, das – mehr kleines, gedrungenes Pferdchen – mit Leichtigkeit in der Lage war, den Brougham zu ziehen, sofern die Fahrt nicht zu lang und die Fracht nicht zu schwer war. Das Auto war im Vergleich zum bewährten Team, bestehend aus Lady und dem geschlossenen Einspänner, unpraktisch klein und zudem unzuverlässig und deshalb in seiner Box gleich neben der von Ferryman zurückgelassen worden – die schwarzen Reifen im Stroh, mit dem der gepflasterte Boden bestreut war, der Kühler kalt.
Robert, der kurz vor dem Mittagessen von seiner ersten Fahrt zum Bahnhof mit Edward Swift zurückgekommen war, stand um Viertel nach drei abfahrbereit vor der Eingangstür, aber Clovis ließ sich natürlich wie üblich Zeit. Er litt wieder einmal an einer seiner niedergedrückten Stimmungen und kam, statt sich zu beeilen, so langsam aus dem Haus geschlichen, dass Robert erst einmal einen kleinen Riss in einem seiner ledernen Kutschhandschuhe begutachten musste, um ihn nicht anzuschreien.
Mit für den Fall plötzlicher Regengüsse geschlossenem Verdeck rollte die Kutsche zwischen den Eiben hindurch gemächlich vom Haus weg. Robert weigerte sich nämlich, in den Trab zu gehen, bevor die Straße erreicht war, weil er fürchtete, Lady könnte sich einen Muskel zerren, wenn sie sich nicht erst im Schritttempo aufwärmte.
Um Viertel vor vier fing Myrtle an, Emerald die Haare zu machen, die dichter, dunkler und länger waren als die ihrer Mutter, für gewöhnlich aber nur hastig hochgerafft und ungeduldig mit Nadeln festgesteckt wurden. Emerald wusste nie genau, ob sie wirklich alle Nadeln gefunden hatte, wenn sie ihre Haare abends löste. Sie waren so schwer, dass sie ihren Kopf im wahrsten Sinn des Wortes nach unten drückten und eine arge Belastung für ihren Hals darstellten, wenn sie müde war. Die Erleichterung, sie abends über ihren Rücken fallen zu lassen, ganze Hände voll davon zu fassen und Strähne für üppige Strähne auszubürsten, bevor sie sie zum Schlafen zu einem losen Zopf flocht, gehörte zu den Freuden ihres Lebens (auch wenn sie halb damit rechnete, dabei eines Tages auf ein Mäusenest zu stoßen).
Während Myrtle sich an ihren Haaren zu schaffen machte, puderte Emerald sich das Gesicht so langsam sie nur konnte, um der Langeweile entgegenzuwirken. Anders als ihre Mutter schminkte sie sich nie die Lippen, sondern stäubte nur etwas Puder über Gesicht und Dekolleté und trug gelegentlich, so wie jetzt, einen Hauch von Rouge auf ihre Wangen auf.
»Wenn du noch lange an meinen Haaren herumfummelst, Myrtle, werde ich mich, nur um etwas zu tun zu haben, derart angemalt haben, dass ich wie ein Clown aussehe, «, sagte sie.
»Fast fertig, Miss Em«, antwortete Myrtle, den Mund voller Haarnadeln, gab Emerald aber trotzdem erst nach weiteren zwanzig Minuten frei. Aber die Mühe hatte sich gelohnt, und sie konnte nicht leugnen, dass ihre Haare einfach wundervoll aussahen: seidig glänzend, kunstvoll ineinanderverschlungen und über einem kleinen Rahmen so hoch aufgetürmt, dass ihr cremeweißes Gesicht mit der weichen Wangenlinie im Vergleich dazu wie das eines kleinen Kätzchens wirkte.
»Myrtle, du vergeudest bei uns deine Zeit. Du könntest mit Haaren ein Vermögen verdienen.«
»Ja, Miss Em«, sagte Myrtle. »Sollen wir für die Party den Kamm hineinstecken?«
»Oder Federn …«, sagte Emerald und stand auf.
Sie besaß zwei Nachmittagskleider, die sie an ihrem Geburtstag tragen konnte, und stieg nun vorsichtig in eins davon hinein. Es war ein alter Freund. Sie hatte es schon zu ihren beiden letzten Geburtstagen getragen, und einmal zu Weihnachten, mit einem Samtschal darüber, damit es der Jahreszeit entsprach. So still sie konnte, stand sie am Fenster, während Myrtle die Knöpfe am Rücken zumachte. Im Allgemeinen bevorzugte Emerald Kleider, die sie allein an- und ausziehen konnte, aber wenn es sein musste, nahm sie Myrtles Hilfe in Anspruch.
»Es ist schon fast fünf. Wo bleiben sie nur?«
Myrtle war mit den Knöpfen fertig. »Wenn sonst nichts mehr ist, Miss Em?«
»Nein, natürlich nicht. Vielen Dank für deine Hilfe.«
Myrtle ließ sie allein, und sie blickte, an ihren Nägeln herumkauend, in Richtung Tor. Ihr Zimmer war ein Eckzimmer, sodass kaum etwas, was auf Sterne geschah, dem Blick aus seinen Fenstern entging, aber die Allee war zu dunkel, und sie konnte nur an den Schatten herumrätseln, die immer dichter wurden.
Von außen betrachtet, dachte Emerald, gab sie sicherlich ein romantisches Bild ab: die anmutige junge Frau am hohen Fenster ihres anmutigen alten Hauses, die nervös auf die Ankunft ihrer Gäste wartete, während eine hin und wieder zwischen den Wolken hervorlugende Nachmittagssonne die Scheiben aufblitzen ließ. Sähe man dieses Bild, würde man kaum annehmen, dass die junge Dame nur auf ihren mürrischen Bruder, eine Freundin aus Kindertagen, deren Mutter und John Buchanan wartete. So ausgedrückt, klang es kein bisschen aufregend.
Beim Gedanken an John Buchanan allerdings, der in romantischer Hinsicht so ganz und gar kein Interesse an ihr hegte und dessen gleichmütige Bewunderung in ihrer Schicklichkeit zum Haareausraufen verwandtschaftlich gewesen war, ging sie zum Frisiertisch zurück, schraubte ein kleines Döschen auf – das ihre schamlose Mutter voller Hoffnung dort hingestellt hatte – und tupfte einen Hauch roter Farbe auf ihre Lippen. Ihr Gesicht wirkte auf der Stelle strahlender und lebendiger, nicht zuletzt wegen des kurzen, mutwilligen Aufblitzens ihrer Augen.
»So, du eingebildeter John Buchanan«, sagte sie, spitzte den Mund zu einem Lippenstiftkuss und streckte die Zunge heraus.
Plötzlich stand Smudge in der Tür.
»Mit wem redest du da?«
»Mit mir selbst. Ich muss es mir unbedingt abgewöhnen.« Sie drehte sich zu ihrer Schwester um.
»Du siehst wunderschön aus«, hauchte Smudge hingerissen. »Schade, dass du dich nur für Patience Sutton so schön gemacht hast.«
»Genau das habe ich auch gedacht, Smudge«, sagte Emerald, ohne John zu erwähnen.
»Schöner als eine Märchenprinzessin.«
»Und das ist das Problem mit hübschen Kleidern. Man kommt dadurch auf Ideen, die nur mit einer Enttäuschung enden können.«
»Das darfst du nicht sagen, Em«, rebellierte Smudge gegen diesen Zynismus. »Schließlich kannst du nicht wissen, was passieren wird.«
Just in diesem Augenblick, wie als Reaktion auf das, was sie gesagt hatten, so als hätten die zahllosen, nicht aufeinander abgestimmten Zahnräder des Zufalls plötzlich doch für einen kurzen Moment ineinandergegriffen, hörten sie den Brougham draußen vorfahren.
Ungewöhnlich war, dass Lady im sehr schnellen Trab über den Kies kam. Räder und Hufe klangen unrhythmisch und laut, und dann folgten das Knirschen laufender Schritte und ein lautes Rufen.
Smudge war als Erste am Fenster.
»Es ist Clovis! Was hat er bloß?«
Emerald raffte ihren Rock und lief gemeinsam mit Smudge zur Tür, wo die beiden in ihrer Hast zusammenprallten. Sie hielten sich jedoch nicht weiter damit auf, sondern rannten auf die Treppe zu.
Auf dem Absatz stießen sie auf ihre Mutter.
»Was ist passiert?«, fragte sie, und sie liefen zu dritt nach unten und erreichten die Halle in dem Moment, in dem die Haustür aufflog.
Außer Atem, das Gesicht totenblass, die Arme weit ausgebreitet, verkündete Clovis: »Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Ein Zugunglück!«
Die beiden Frauen eilten auf ihn zu, während Smudge zitternd zurückblieb.
»Mein Gott, wo?«, rief Charlotte.
»Auf einer Nebenlinie!« Die Antwort war irgendwie seltsam. Auf einer Nebenlinie? Welcher? Und wo?
»Einer Nebenlinie?«, wiederholte Emerald.
Sie hörten Robert nach Stanley rufen und das gedämpfte, hektische Geräusch von Hufen und Reifen auf Kopfsteinen, das sich von der Rückseite des Hauses näherte.
»Ja«, antwortete Clovis. »Anscheinend ist ein Waggon komplett aus den Schienen gesprungen …«
»Was ist mit Patience?«, wollte Emerald erschrocken wissen.
»Nichts, nichts. Sie ist hier«, sagte Clovis und trat einen Schritt zur Seite.
Und hinter ihm, mit einem angespannten, ängstlichen Gesicht unter einem feschen Strohhut mit blumengeschmückter Krempe, stand die stets adrette Patience Sutton. Überwältigt von Erleichterung und Wiedersehensfreude, umarmte Emerald ihre Freundin.
»Patience! Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«
Patience sah ziemlich mitgenommen aus. »Emerald«, sagte sie. »Ja … es war nicht unser Zug, der entgleist ist, zum Glück, aber – die armen Leute – es ist auf einer Nebenlinie passiert.« Wieder diese Nebenlinie.
»Wo denn genau?« In diesem Augenblick erblickte Emerald auf dem Kies hinter Patience eine hochgewachsene Gestalt, bei der es sich zweifelsfrei nicht um Camilla Sutton handelte. »Und wer um alles in der Welt ist das?«
Patience sah sie verwirrt an.
»Ernest natürlich!«
»Ernest? Aber wo ist deine Mutter?«
»Wir haben ein Telegramm geschickt.«
»Wirklich?«
Charlotte, die in ihrer Selbstvergessenheit nicht daran gedacht hatte, die Nachricht von Camilla Suttons Erkrankung weiterzugeben, warf ein: »Clovis, hat es Tote gegeben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß nur, dass sie Leute hier bei uns, auf Sterne, unterbringen müssen. Wir sollen den Brougham und das Fuhrwerk schicken. Da ist Robert ja schon …«
»Leute hier bei uns unterbringen?«, rief Charlotte. »Wieso denn das?«
In seiner Hast klang Clovis kurz angebunden. »Weil es ganz hier in der Nähe passiert ist und die Passagiere …«
»Wir haben überhaupt nichts gehört«, wunderte sich Charlotte.
»Nein, Mutter, natürlich nicht. Aber es ist Meilen von jedem Bahnhof entfernt passiert.«
Emerald sah, dass der junge Mann, von dem Patience behauptete, er sei ihr Bruder Ernest, den Emerald als klein und schmächtig und so schreckhaft wie ein Häschen in Erinnerung hatte, seine Jacke ausgezogen hatte, um Stanley zu helfen, Ferryman rückwärts zwischen die Deichselstangen des Fuhrwerks zu manövrieren, damit Robert ihn anschirren konnte.
»Wer hat denn gesagt, wir sollen das Fuhrwerk schicken?«, fragte sie ihren Bruder.
»Und was soll das heißen, sie müssen Leute bei uns unterbringen?«, kam es indigniert von Charlotte.
»Wir haben auf der Straße einen Mann getroffen. Einen Schaffner.«
Er wurde von Patience unterbrochen, die mit klarer Stimme sagte: »Ich denke, es war ein Dienstmann.«
Clovis drehte sich zu ihr um. »Was?«
»Ich denke, es war ein Dienstmann, kein Schaffner«, wiederholte Patience geduldig.
»Es war ein Schaffner«, beharrte Clovis.
»Nein, definitiv ein Dienstmann. Schließlich fuhr er auf einem Fahrrad.«
Clovis warf ihr einen aufgebrachten Blick zu. »Du musst es ja wissen!«
Sie blieb ungerührt. »Doch, doch, es war ganz bestimmt ein Dienstmann, da bin ich mir sicher. Er trug eine Mütze wie ein Dienstmann.«
»Du irrst dich. Aber was immer seine Funktion, er war ziemlich aufgeregt und hat gesagt, es habe einen schrecklichen Unfall gegeben und wir müssten Hilfe schicken.«
»Also kamen wir her«, beendete Patience den Satz und lächelte zu Clovis auf, der sie nicht beachtete und fortfuhr: »Wir sollen Passagiere von Tibbets Cross hierherbringen und dann auf die Eisenbahngesellschaft warten.«
»War es George?«, erkundigte sich Charlotte mit gepresster Stimme.
»Nein, Mutter, es war nicht George. Ich kenne George. Es war ein anderer Mann, ein älterer Mann. Er sagte, es wäre das Beste …«
»Meinst du, älter als der Bursche, der uns am Bahnhof geholfen hat?«, fragte Patience und zupfte die Perlmuttknöpfe an ihrer Manschette einen nach dem anderen zurecht. »Das finde ich nämlich nicht. Falls das George war, würde ich eher sagen, dass dieser Mann bedeutend jünger war.«
Emerald wurde von dem Drama, das sich hinter den beiden abspielte, durch deren Wortwechsel abgelenkt. Ernest und die beiden Pferdeknechte hatten ihre liebe Mühe mit Pferd und Fahrzeug. Ernests Gesicht konnte sie nicht sehen, beobachtete aber, wie er eine Hand fest auf Ferrymans Hals legte, während die andere das Zaumzeug gepackt hielt, denn Ferryman, der als Reitpferd nicht daran gewöhnt war, angespannt zu werden, wehrte sich mit aller Macht dagegen und scharrte derart mit den Hufen, dass der Kies aufspritzte.
»Ich sage dir, er hatte graue Haare! Aber findest du wirklich, dass es so wichtig ist, wie alt der Bursche war?«, sagte Clovis zu Patience.
»Clovis«, mischte Emerald sich ein, ohne die Augen von der Szene hinter ihm zu lösen. »Hör auf zu streiten und kümmere dich lieber um das Pferd.«
Er gehorchte ihr dankbar. Im gleichen Augenblick betrat Florence Trieves die Halle, blieb hinter Smudge stehen und legte die Hände auf die knochigen Schultern des Kindes.
»Was ist passiert?«
»Es hat ein Zugunglück gegeben«, sagte Charlotte.
»Auf irgendeiner Nebenlinie«, fügte Emerald hinzu.
»Und wir sollen uns um die Passagiere kümmern«, sprach Charlotte aufgewühlt weiter. »Niemand scheint sich einigen zu können, was genau passiert ist. Aber anscheinend soll Sterne eine Zwischenstation für die Überlebenden sein, bis die Eisenbahngesellschaft zu einer Regelung gefunden hat.«
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, stöhnte Florence Trieves. Ihre Hand zuckte hoch und befingerte angespannt die Uhr an ihrer Brust. Dann stieß sie ein »Mein Gott« aus, da sie erst jetzt die Männer bemerkte, die sich mit Ferryman abmühten, der immer größeren Anstoß daran nahm, zum Rückwärtsgehen gezwungen zu werden, und ein für ein so großes Pferd sehr hohes und schrilles Wiehern von sich gab.
Die Frauen – auch Smudge, die sich aufgeregt und entsetzt zugleich an Florences Rock klammerte – traten auf die Veranda hinaus, um besser sehen zu können.
»Ho!«, rief Robert, als das Pferd unvermittelt einen Satz nach vorn machte.
Clovis bekam einen Stoß von Ferrymans mächtigem Kopf ab, wurde nach hinten geschleudert und trat dabei auf Ernests Jacke, die auf dem Boden lag. Er bückte sich, hob sie auf, schüttelte sie aus und warf sie als eine Art Scheuklappe über den Kopf des Pferdes.
»Das ist Ernests Jacke«, quietschte Patience, aber das Pferd, das jetzt nichts mehr sehen konnte und orientierungslos war, stand einen Moment später endlich in der Deichsel.
Ernest und Robert machten sich daran, die Riemen festzuzurren. Dabei fiel Emerald auf, dass Ernest, von dem sie immer noch nur den Rücken sehen konnte, sehr kräftige und gerade Schultern hatte und einen halben Kopf größer war als Robert.
»Hör zu, Emerald«, sagte Clovis. »Stanley und ich nehmen das Fuhrwerk und Robert den Brougham. Ihr anderen bleibt hier.«
»Wieso kann ich nicht auch mitkommen?«, wollte Emerald indigniert wissen.
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, Miss Em«, wandte Robert sich an sie, »wäre es besser, wenn keiner von Ihnen mitfährt. Wenn Sie hierbleiben, haben wir mehr Platz für die Passagiere. Und jetzt sollten wir uns wirklich auf den Weg machen, wie der Dienstmann gesagt hat.«
Emerald gab ein Geräusch von sich, das einem »Hmpf« sehr nahekam, aber Charlotte, die Herrin des Hauses, entschied die Angelegenheit.
»Völlig richtig, Robert. Sie und Stanley kommen sicher allein zurecht. Emerald und Clovis, ihr bleibt beide hier. Und jetzt fahren Sie schon!«
Clovis stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und kehrte allen den Rücken zu.
»Dann los«, sagte Robert mit entschlossener Stimme, tippte an seine Mütze, sprang auf das Fuhrwerk, dirigierte Ferryman in einem säuberlichen Halbkreis in Richtung der Eiben und ließ die Zügel auf den widerspenstigen Rücken des Pferds klatschen.
Bald waren das Fuhrwerk und die Kutsche in Erfüllung ihrer Mission in einem nie da gewesenen schnellen Trab verschwunden. Die Zurückbleibenden standen auf der Veranda und sahen ihnen nach. Die Allee dämpfte das Geräusch der Räder, das Klappern der Hufe wurde leiser.
Sie waren weg.
Die kleine Gruppe wandte sich dem Haus zu.
»Mein Gott«, sagte Patience, wieder die Munterkeit in Person, die Wangen rosig. »Was für eine unkonventionelle Ankunft. Was für eine Aufregung. Hallo, Mrs Swift.«
»Hallo, Patience«, antwortete Charlotte ohne großen Enthusiasmus und mit einem sehr flüchtigen Blick auf Patience, während sie grazil ihre Röcke raffte, um in die Halle zurückzugehen.
»Und das ist Ernest«, verkündete Patience.
»Hallo«, sagte der junge Mann, der sich soeben hemdsärmelig und leicht außer Atem zu ihnen gesellte.
»Ja, richtig …« Charlotte blinzelte kurz in seine Richtung und machte große Augen. Kokett, wie sie ungeachtet ihres nahenden fünfzigsten Geburtstags immer noch war, plusterte sie augenblicklich ihr Gefieder auf. »Mr Sutton, muss ich inzwischen wohl sagen«, gurrte sie. »Oder sogar Doktor Sutton?«
»Noch nicht, fürchte ich.«
»Wurdest du am Ort des grässlichen Geschehens nicht gebraucht?«
»Anscheinend nicht. Ich habe meine Hilfe natürlich angeboten.«
»Natürlich.«
Ernest schien nicht zu wissen, wie er diese Bemerkung aufnehmen sollte, und schwieg.
Inzwischen waren alle wohlbehalten im Haus angelangt. Emerald schloss die Tür.
»Sie werden frühestens in einer Stunde mit den Überlebenden zurück sein«, sagte sie in dem Versuch, ihre Gedanken zu sammeln.
»Wie viele Überlebende sie wohl antreffen werden? Und in welcher Verfassung sie wohl sind?«, warf Patience voller Enthusiasmus ein.
»Hat dieser Eisenbahnangestellte mehr gesagt als nur ›Überlebende‹?«
»Nichts Hilfreiches«, sagte Clovis. »Alles war ziemlich – hektisch.«
»Ja, nicht wahr?«, stimmte Patience ihm zu und unterbrach sich dann abrupt. »Ist das etwa die kleine Imogen?«, rief sie herzlich, als sie das Kind zum ersten Mal bemerkte. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du gerade mal sieben! Und ich weiß noch sehr gut, wie du nur ein Winzling in der Wiege warst.«
Ihre Stimme fächelte über Smudge hinweg wie die leise schwingenden Perlenfransen eines Kronleuchters. Smudge lächelte zu ihr auf.
»Dein Kleid gefällt mir«, sagte sie hingerissen.
Das Kleid war aus primelfarbenem Musselin und hatte eng anliegende Spitzenmanschetten, die die Hände halb bedeckten. Für die neueste orientalische Mode hatte Patience sichtlich nichts übrig.
»Vielen Dank. Dein Nachthemd gefällt mir auch.«
Erst in diesem Augenblick bemerkten die Mitglieder der Familie das schmuddelige Nachthemd, das Smudge anhatte, und ihre nackten Füße.
»Himmel, Smudge«, rief Charlotte, deren Hals sich mit roten Verlegenheitsflecken überzog. »So kannst du doch nicht herumlaufen!«
»Es ist wegen des schrecklichen Unfalls. Da musste ich doch nach unten kommen.«
»Das stimmt, Mutter. Sei nicht böse mit ihr«, versuchte Emerald zu beschwichtigen, da sie sah, wie Zorn auf ihr jüngstes Kind in Charlotte aufwallte.
»Imogen! Sofort nach oben!«
Patience und Ernest stellten sich taub, während die zerknirschte Smudge den Kopf einzog. Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus.
All ihre Vorbereitungen waren vergeblich gewesen. Emeralds Geburtstagsfeierlichkeiten hatten in absoluter Unordnung und Verwirrung begonnen. Verzweifelt suchte sie nach etwas Angemessenem, was sie sagen konnte, nach irgendetwas, das ihrer Mutter und ihren Freunden versichern würde, dass die Gebote der Gastlichkeit bald wieder Anwendung finden würden. Gerade wollte sie die Bibliothek und Tee vorschlagen, als sie innehielt, mitten in der Bewegung erstarrt wie bei »Die Reise nach Jerusalem«.
Sie gehorchte einer Eingebung, einem vielleicht aus früheren Zeiten übrig gebliebenen Instinkt; dem Instinkt, der eine Maus auf ihren kurzsichtigen Wegen innehalten lässt, wenn eine Katze sie vom Stuhl aus beobachtet; der einen vor dem Kamin liegenden Hund plötzlich zittern und winseln lässt, obwohl niemand in der Nähe zu sehen ist.
Und während sie noch zögerte, traf sie völlig unerwartet ein heftiger Windstoß von hinten, drang durch ihr Kleid, blies alle Gedanken an die Konventionen aus ihrem Kopf. Die schwere Haustür war geschlossen, aber die Kälte traf Emeralds Rücken, hatte ihren Weg durch Pfosten und Scharniere gefunden – durch das solide Holz selbst, so schien es, so wie eine unsichtbare kalte Strömung einen manchmal unvermittelt erfasst, wenn man aus dem Meer steigt, und einem den Atem verschlägt.
Innehaltend betrachtete sie die Gesichter ihrer Freunde und ihrer Familie, die aber anscheinend nichts bemerkt hatten, sondern herumstanden und darauf warteten, dass sie ihnen die Stärkung oder Erfrischung anbot, die zu erwarten sie jedes Recht hatten. Aber der Windstoß hatte bewirkt, dass die Luft überall um sie herum laut flüsterte und wisperte, und sie konnte nicht anders, sie musste dem nachgehen.
»Was ist?«, fragte Clovis, als Emerald den Kopf drehte und über die Schulter nach hinten sah.
Sie ging zur Tür, öffnete sie und blickte hinaus in die stürmische Luft. Zitternd, den Blick nach rechts gewandt, die Auffahrt hinunter, gab sie sich alle Mühe, das Bild, das sich ihren Augen bot, zu erkennen.
Plötzlich stand Clovis neben ihr. Er folgte ihrem Blick und stieß einen leisen Pfiff aus. »Meiner Treu«, sagte er. »Sie sind da.«
Alle kamen an die Tür geeilt. Smudge linste hinter Florences Rock hervor.
Es stimmte. Eine kleine Gruppe von Menschen trat langsam und dicht gedrängt aus dem Dunkel der Auffahrt auf die Kiesfläche. Es war schwierig auszumachen, wie viele es waren.
»Sie müssen Robert verfehlt haben … wie seltsam!«, rief Emerald. »Schnell, Mutter.«
Florence Trieves und Smudge blieben in der Tür stehen, während sich Emerald, Charlotte, Clovis, Patience und Ernest in Bewegung setzten, um die Überlebenden zu begrüßen.
Es war eine seltsame Begegnung: Die in frische Farben – festliches Pfauenblau, schimmerndes Grün, leuchtendes Kupfer – gekleideten Mitglieder des Haushalts trafen auf die gedämpften Töne der Reisebekleidung der unter Schock stehenden, apathischen Passagiere.
»Ist der Dienstmann bei ihnen?«, fragte Patience, den Hals reckend, da die anderen ihr die Sicht versperrten.
»Nein«, sagte Clovis, als sich Emerald, allen voran, dem ersten der Passagiere näherte.
»Haben Sie das Fuhrwerk und die Kutsche nicht gesehen?«, fragte sie sie. »Hat die Eisenbahn Sie allein losgeschickt? Sind Sie verletzt?«
Keiner von ihnen antwortete.
»Sie kommen doch von der Unfallstelle?«, fragte Clovis. »Man hat uns gesagt, wir sollen Sie erwarten.«
Sie hoben gleichzeitig die Köpfe, so wie eine Herde Kühe auf der Weide die Köpfe dreht, um einen im Vorbeigehen zu beobachten. Der Schock hatte sie in eine einheitliche Masse verwandelt, als hätte das Erlebnis, das hinter ihnen lag, sie in einer seltsamen, blutlosen Betäubung verschmolzen.
»Willkommen auf Sterne«, versuchte Emerald es noch einmal mit munterer Stimme. »Ich bin Emerald Torrington. Sie müssen Furchtbares durchgemacht haben.«
Clovis, der neben ihr stand, sah auf sie hinab. Sie begegnete kurz seinem Blick und wandte sich, bestärkt durch seine Nähe, erneut den Passagieren zu, die sich unruhig bewegten und sie benommen und wie geblendet anstarrten.
Jetzt, da sie direkt vor ihnen stand, sah sie, dass die Passagiere, anders als sie zuerst gedacht hatte, keineswegs alle ähnlich gekleidet waren, sondern nur durch ihre Mäntel, Schals, Hüte und die anderen monochromen Bestandteile ihrer Reisebekleidung zur Uniformität verschmolzen wurden. Bei genauerem Hinsehen nahm sie hier ein Stückchen Rot wahr, das zu einem Kleid gehörte, dort das Efeugrün einer Männerweste, und auch andere Farben hoben sich allmählich hervor.
Dann ergriff eine von ihnen leise das Wort. Es war eine blasse junge Frau mit aschblondem Haar, das, straff nach hinten gekämmt, ein unscheinbares Gesicht umrahmte, dessen Haut ebenso fahl wirkte wie die Haare. Ein dicker, löchriger schwarzer Wollschal war fest um ihren Hals geschlungen, wie um ihren Kopf auf den Schultern festzuhalten.
»Man hat uns fürs Erste hierhergeschickt«, sagte sie. »Wir sind Ihnen so dankbar, dass Sie uns aufnehmen – Sie nehmen uns doch auf?«
Ihre Augen sahen Emerald bittend an, sodass Emerald ganz plötzlich verlegen wurde – einfach weil sie Emerald war, die in all ihrer Vitalität vor diesem bedauernswerten Wesen stand.
»Natürlich«, sagte sie und fügte lahm hinzu: »Sie Ärmste. Bitte, folgen Sie uns.« Und sie drehte sich entschlossen um, ergriff Clovis’ warme Hand und führte die kleine Prozession zurück zum Haus.
Die geschwächten Passagiere trotteten hinter ihnen her, und die ganze Gruppe bewegte sich langsam auf Florence und Smudge zu, die in der Haustür standen.
Und so wurden die Überlebenden unter vielen Bekundungen des Willkommens und des Trostes ins Haus geleitet.
Clovis wurde auf Levi losgeschickt, um Robert und Stanley zurückzuholen, während sich die Damen des Hauses rund um den Arbeitstisch der Vorratskammer versammelten, die ihnen der geeignetste Ort für eine ungestörte Unterhaltung schien.
»Sicher wurden die Verletzten mit Krankenwagen weggebracht«, meinte Emerald.
Wässriges, rosiges Blut tropfte von der Arbeitsplatte zwischen den Frauen. Ringsum standen auf allen vier Seiten Regale voller Einmachgläser, Fleischkonserven, beschrifteter Dosen, abgedeckter Krüge und Terrinen, und dazu alle möglichen köstlich duftenden Lebensmittel.
»Es ist schon fast sechs. Hat irgendjemand gesagt, wann die Angestellten von der Eisenbahn kommen und uns diese Leute wieder abnehmen wollen?«, fragte Charlotte.
»Ich fürchte, nein.«
»Wird man sie zu einem anderen Zug bringen?«
»Ich weiß es nicht, Mutter. Frag Clovis, wenn er zurückkommt. Er war schließlich derjenige, der mit dem Dienstmann gesprochen hat.«
»Ich dachte, es war ein Schaffner?«
»Was immer er war, er hat sie alle hergeschickt«, sagte Emerald bestimmt. »Und es ist anzunehmen, dass er auch irgendeinen Plan hatte, wie sie wieder von hier wegkommen. Jedenfalls können wir sie nicht ewig im Frühstückszimmer lassen.«
Die Passagiere waren ins Frühstückszimmer geführt worden, und Myrtle hatte den Auftrag erhalten, dort ein Feuer für sie anzuzünden – eine beträchtliche Unannehmlichkeit, da das Frühstückszimmer das einzige war, in dem das Feuer noch nicht vorbereitet worden war: Schließlich war es erst Nachmittag.
(»Ausgerechnet ins Frühstückszimmer«, hatte sie gebrummt. »Wieso können wir sie nicht in die Scheune stecken, bis die Eisenbahn das Problem gelöst hat? Ich sehe wirklich nicht ein, wieso die Familie sich damit belasten soll, wo sie alle so durcheinander und konfus sind; es ist einfach nicht fair. Und noch dazu, wo ich ganz allein bin. Am Montag drehe ich dieser Pearl Meadows den Hals um.«)
Trotzdem hatte sie, unter den Augen der bedrückten Passagiere, die in ihren Mänteln im Halbkreis um sie herumstanden und sich flüsternd miteinander unterhielten, die Asche weggebracht und die Kohlen angeschleppt und das Anmachholz angezündet.
»Haben die etwa noch nie ein Hausmädchen gesehen? Ist eine Tapete ein Schock für sie?«, schimpfte Myrtle beim Arbeiten innerlich vor sich hin. Aber ihr Zorn legte sich, sobald sie das Zimmer verlassen hatte. Und während sie ihren üblichen, überaus dringenden normalen Arbeiten nachging, verschwanden die ungeladenen Gäste im Frühstückszimmer völlig aus ihrem Gedächtnis.
Die Suttons waren auf die andere Seite des Hauses komplimentiert worden – das heißt, sobald es gelungen war, Ernest davon abzubringen, jeden einzelnen der Passagiere auf Verletzungen zu untersuchen. Er, der bislang zu niemandem aus der Familie mehr als ein oder zwei Worte gesagt hatte, entpuppte sich als wahrer Quell der Beredsamkeit, als sich ihm die Gelegenheit einer medizinischen Vor-Ort-Studie bot. Allerdings hatte er sich, von Charlotte ins Schlepptau genommen, damit begnügen müssen, sich im Vorbeigehen zu erkundigen: »Fühlen Sie sich schwach? Haben Sie Schmerzen? Sir? Madam? Schwindelgefühle?«, bevor er seiner Schwester endlich in die Bibliothek folgte. An diesem Punkt angelangt, hatten Emerald und Charlotte sich entschuldigt und sich in die Vorratskammer geflüchtet, um mit Florence über Notwendigkeiten zu reden.
»Wenn wir zumindest einen Anschein von Normalität wahren können, bis die Leute von der Eisenbahn kommen«, jammerte Charlotte, an ihrem Taschentuch herumzerrend.
»Ich wäre nur froh, es wäre nicht ausgerechnet an Ihrem Geburtstag passiert«, sagte Florence zu Emerald.
»Unsinn.« Emerald griff nach einem kleinen Porzellankrug und schnupperte daran.
»Zitronencreme«, erklärte Florence voller Stolz.
Emerald hob das Tüchlein an, mit dem der Krug abgedeckt war, tunkte den kleinen Finger hinein und leckte ihn ab. »Ein Gedicht«, lobte sie.
Florence war sichtlich erfreut. »Es liegt an den Nelken. Nur die wenigsten Leute denken daran, Nelken an Zitronencreme zu tun.«
»Könnten wir vielleicht beim Thema bleiben, Mrs Trieves«, giftete Charlotte, deren gewöhnliche Vagheit völlig aus ihrem Verhalten verschwunden war. »Ich würde den nicht gerade revolutionären Vorschlag machen, allen Tee anzubieten, den Suttons, den Passagieren, einfach allen. Wir haben doch wohl genügend Tassen?« Dann fiel ihr wieder ein, wer sie war – die Hausherrin! »Aber das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Ich überlasse das alles Ihnen, Mrs Trieves. Wenn wir mit der Eisenbahn gesprochen haben, werden wir eine klarere Vorstellung davon haben, wie sehr und vor allem für wie lange wir derart beeinträchtigt sein werden. Einverstanden?«
»Tee?«, sagte Florence mit müder Stimme, denn für sie war Tee die arbeitsintensivste und ineffektivste Form der Nahrungsaufnahme überhaupt. Man musste Wasser aufsetzen, die Kanne anwärmen, den Tee ziehen lassen. Porzellan, Milch, Zucker, alles musste hin und her geschleppt werden, und wofür? Für ein dünnes Getränk, das sich auf seinem Weg durch den Körper praktisch überhaupt nicht veränderte. Sie konnte sich daran erinnern, Tee einst geliebt zu haben, inzwischen aber bedeutete er ihr nicht mehr als Wasser. »Ja, wahrscheinlich«, sagte sie.
»Ja, einverstanden, Mutter.«
»Und wir müssen alle ein wachsames Auge auf die Wertsachen und den Zierrat haben. Ich möchte auf keinen Fall, dass wir mit diesem jämmerlichen Haufen gleich auch dem halben Silber Auf Wiedersehen sagen. Also gebt das bitte an die Gäste weiter. Außerdem müssen wir versuchen, ein Mindestmaß an Würde zu bewahren. Wenn doch nur Edward hier wäre!«
Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hätte auch Emerald es fast geschätzt, wenn ihr Stiefvater anwesend gewesen wäre – zumindest in der Vorstellung.
Die drei Frauen verließen die Vorratskammer, um zu versuchen, den Anschein von Normalität zu wahren. Charlotte hüllte sich in ihre Stola, Emerald lupfte ihre alte Freundin, das rostrote Nachmittagskleid, vom fettigen Küchenboden, und Florence raschelte in ihrem düsteren Schwarz hinter ihnen her, um in der Küche das Wasser für den von ihr so ungeliebten Tee aufzusetzen.
Charlotte erschauderte, als sie und Emerald an der fest geschlossenen Tür des Frühstückszimmers vorbeikamen.
»Wir müssen auf der Stelle die Eisenbahn anrufen«, sagte sie. »Oh, aber zuallererst … die Suttons!«
Sie sprach den Namen in einem derart abfälligen Ton aus, dass Emerald sich gezwungen sah zu bemerken: »Du könntest ruhig etwas netter zu Patience sein, Mutter. Oder meinst du, sie merkt nicht, wie sehr du sie verabscheust?«
»Sie verabscheuen? Wie kommst du denn darauf? Ich hege die allergrößte Bewunderung für moderne Akademikerinnen. Zwar bin ich mir nicht ganz sicher, ob die kleine Patience meinem vorgefassten Bild entspricht, aber möglicherweise ist ihr Verstand so scharf wie ein Rasiermesser – falls sie je aufhören sollte, so affektiert zu tun.«
»Ach, Mutter!«
Sie wurden von lautem Gelächter hinter der geschlossenen Tür unterbrochen, das die beiden Frauen wie aufgeschreckte Ponys einen Satz zur Seite machen ließ.
»Was um alles in der Welt …« Charlotte war blass geworden.
»Wagen wir es, nachzusehen?«
»Wahrscheinlich werden sie jetzt, da sie sich aufgewärmt und erkannt haben, wie glücklich sie sich schätzen können, absolut ungebärdig und überhaupt nicht mehr zu handhaben sein.«
»Musst du immer so abfällig über alle reden? Diese Menschen haben ein schreckliches Erlebnis hinter sich«, fuhr Emerald auf und öffnete, sich von ihrer Mutter distanzierend, trotzig und mitfühlend die Tür zum Frühstückszimmer.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, erkundigte sie sich freundlich, aber wer immer eben gelacht hatte, war jetzt mit Stummheit geschlagen.
Sie wichen sogar vor ihr zurück, als hätte sie die Absicht, sie zu tadeln. Es war schwer vorstellbar, dass das ungebärdige Gelächter aus dieser stillen und starrenden Masse gekommen sein sollte. Sie schienen kaum der Sprache fähig.
Emerald blickte hilfesuchend über ihre Schulter, aber wie nicht anders zu erwarten, war Charlotte verschwunden; Emerald sah nur noch ihren verräterischen Rücken, der soeben um die Ecke huschte.
Sie blickte in die ihr zugewandten Gesichter. Vorhin, auf der Auffahrt, waren sie ihr weniger zahlreich vorgekommen. Da waren es vielleicht zehn gewesen; jetzt schienen es eher zwölf oder vierzehn zu sein – aber sie konnte nicht gleichzeitig zählen und sprechen und wollte auf keinen Fall unhöflich erscheinen.
»Myrtle wird Ihnen gleich Tee bringen«, verkündete sie.
»Vielen Dank«, sagte ein Mann, der mit ausgestreckten Händen vor dem Kamin stand. Eine Frau neben ihm, vielleicht seine Frau, sprach als Nächste.
»Haben Sie schon etwas von der Eisenbahn gehört?«, fragte sie, und ein anderer warf ein: »Haben sie gesagt, wie lange es noch dauern wird?« Und noch jemand anderes flüsterte drängend: »Wir müssen wirklich weiter«, worauf mehrere andere zustimmend nickten und brummten.
»Ich werde sofort anrufen und Ihnen dann Bescheid geben. Ich entschuldige mich für – für die Verzögerung.« Sie kam sich vor wie eine Eisenbahnangestellte, als sie das sagte, wusste aber nicht, was sie sonst hätte sagen können. Sie machte einen Schritt zurück und zog die Tür mit fester Hand hinter sich zu.
Ohne zu hart urteilen zu wollen – diese Leute waren irgendwie unheimlich! Emerald hoffte nur, dass sie sich nicht aus dem Frühstückszimmer herauswagen würden.
Sie erreichte die Halle, wo ihre feige Mutter wartend auf der Treppe stand.
»Ich gehe jetzt auf mein Zimmer.«
»Und was ist mit den Suttons?«, zischte Emerald und deutete auf die Tür der Bibliothek.
»Ich weiß nicht, Emerald. Kümmere du dich um sie.«
Emerald war eine intuitive junge Frau. Sie durchschaute die ausgefeilten Manöver ihrer Mutter und gab sich alle Mühe, ihre eigene Verzweiflung darüber, von ihr im Stich gelassen zu werden, beiseitezuwischen und allen Widrigkeiten zum Trotz freundlich zu bleiben. »Es ist gut, Mutter«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle.«
»Was meinst du denn damit?«, antwortete Charlotte gereizt.
»All diese Leute! Ehrlich, Mutter, die Suttons stören sich nicht daran.«
Charlotte blieb stehen, die Hand noch auf dem Geländer. »Emerald«, sagte sie eisig. »Wenn du denkst, es interessiert mich auch nur einen Deut, was die unsägliche Patience Sutton oder ihre Brillenschlange von Bruder denken …«
»Pst …« Emerald sah schuldbewusst zur geschlossenen Tür der Bibliothek hinüber. »Komm mit – nach oben.«
Sie huschten die Treppe hinauf, und Emerald führte ihre Mutter entschlossen bis zur Sicherheit ihrer Schlafzimmertür, wo sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Ich denke schon, dass es dich einen Deut interessiert. Ich denke, es interessiert dich mehr als nur einen Deut. Camilla Sutton war Teil deiner wundervoll konventionellen Kindheit, wie du selbst immer so liebevoll gesagt hast …« Sie unterbrach sich. »Wieso ist sie eigentlich nicht mitgekommen?«
»Ach, sie hat ein verlogenes Telegramm geschickt. Angeblich hat sie eine Erkältung. Aber das glaube ich keine Minute!«
»Das hättest du mir ruhig sagen können. Übrigens sieht Ernest ihr überhaupt nicht ähnlich. Aber wieso sollte sie lügen?«
Charlotte hatte ihr Taschentuch neuerlich zusammengeknüllt und zupfte nun zerstreut daran herum wie ein Kind, das eigentlich nur wegwill und schmollt, weil es gezwungen ist, Rede und Antwort zu stehen.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht verabscheut sie mich. Weil ich kein Geld habe. Weil ich Edward geheiratet habe.«
Emerald wand sich unter dem Gewicht dieser Eingeständnisse. Sie musste sich um die Suttons kümmern, sie musste die Eisenbahn anrufen – aber nein, schon wieder war sie gezwungen, ihrer kraftlosen, schwächelnden, sonnenhungrigen Kletterpflanze von Mutter eine Stütze zu sein. Sie atmete tief ein, um Kraft zu schöpfen.
»Ma, Edward ist ein ausgezeichneter Anwalt. Und ich würde meinen, dass er ein durchaus akzeptabler Ehemann ist.« Jetzt war es schon so weit gekommen, dass sie ihren Stiefvater verteidigte! Seine Abwesenheit während dieser Krise schien dem Bild, das sie von ihm hatte, unendlich gutzutun.
»Ja, aber – na ja, du weißt schon – sein Arm – und niemand kennt ihn. Und Camilla gehört zu den Leuten, die Bridge spielen und Besuchskärtchen hinterlassen und in den vornehmsten Kreisen verkehren. Während ich – nun ja, während ich das alles eben nicht tue.«
»Aber das war doch nie anders, Mutter. Ich bin überrascht, dass es dir plötzlich etwas auszumachen scheint.«
»Es macht mir etwas aus, dass sie mich fallen lässt und dazu auch noch ihre lästigen kleinen Spione ausschickt, um zu erkunden, was wir so treiben, und dann haben wir ausgerechnet diese – diese Leute am Hals. Es ist demütigend!«
»Diese lästigen kleinen Spione, wie du sie nennst«, brauste Emerald auf, »sind zufälligerweise meine Freundin Patience, die vielleicht ein bisschen konventionell sein mag, aber auch absolut lieb ist, und ihr Bruder, der …« Sie suchte nach Worten. »Der ebenfalls ein absolut feiner Mensch ist.«
Charlotte gab sich wieder vage.
»Wie du meinst, Emerald. Dann sind sie eben absolut hinreißend. Ich lege mich jetzt trotzdem ein Weilchen hin und überlege, was zu tun ist.«
»In Ordnung, Mutter, geh nur. Aber mach dir bitte keine Sorgen. Ich werde die Eisenbahn anrufen, diese Leute werden bald weg sein, und wir werden das erlesenste Abendessen aller Zeiten haben. Und vergiss nicht, John Buchanan wird ebenfalls kommen!«
Sie hätte sich selbst einen Tritt versetzen können, weil sie die Hoffnungen ihrer Mutter in Hinsicht auf John Buchanan schürte, aber Charlotte bedachte sie mit ihrem liebreizendsten Lächeln.
»Richtig«, sagte sie und verschwand getröstet in ihrem Zimmer. »Lass das Silber nicht aus den Augen«, lautete ihre letzte, durch die geschlossene Tür gedämpfte Anweisung.
Emerald hastete nach unten, um sich um die Suttons zu kümmern. Aus den Augen, aus dem Sinn, tröstete sie sich im Hinblick auf ihre Mutter, aber sie hätte genauso gut die armen, unter Schock stehenden Passagiere meinen können, denn in ihrer Hast, ihren Pflichten nachzukommen, hatte sie sie, genau wie Myrtle, völlig vergessen. Auch der längst überfällige Anruf bei der Eisenbahn war in Vergessenheit geraten.
Ebenso dachte sie mit keinem Gedanken daran, dass das Frühstückszimmer nicht sehr groß war oder das Feuer vielleicht niedergebrannt sein konnte.
Während Charlotte in ihrem Zimmer ihren Träumen von Etikette nachhing, sorgte Emerald unerschütterlich dafür, dass diese Etikette gewahrt wurde, und leistete Ernest und Patience in der Bibliothek Gesellschaft, ungeachtet aller ungewöhnlichen Ereignisse, ungeachtet der unerwarteten Passagiere und Clovis’ schlechter Laune. Denn nachdem er sich nützlich gemacht und Robert und Stanley zurückgeholt hatte, glaubte er, nun jedes Recht zu haben, sich in einer seiner schwarzen Stimmungen zu suhlen.
»Man kann nicht einmal sagen, ob es schon dunkel ist oder ob es nur am Wetter liegt«, sagte er, warf sich auf einen der Fenstersitze und schielte in den stürmischen Nachmittag hinaus.
Das Feuer, um das sich niemand gekümmert hatte, war in sich zusammengesunken. Ernest fütterte es mit Apfelholzscheiten und mühte sich mit dem Kohleneimer ab, während Emerald den Tee einschenkte (den Myrtle gebracht hatte, die, nachdem sie sich um das Feuer im Frühstückszimmer gekümmert hatte, eine neue Schürze nötig gehabt hätte, allerdings noch nicht dazu gekommen war, sie zu wechseln).
Smudge hatte es immer noch nicht fertiggebracht, sich von Patience loszureißen und sich endlich anzuziehen, sondern kniete hingerissen zu ihren Füßen und sah bewundernd zu ihr auf. Patience blickte in die Flammen, gab der Erschöpfung nach, die ihren zierlichen Körper vereinnahmte, und erlaubte sich, den Ausdruck eifriger Begeisterung, der ihr praktisch zur Gewohnheit geworden war, zumindest für einen Augenblick abzulegen.
»Ich muss sagen, ich bin sehr erleichtert, dass wir nicht bei einem Zugunglück gestorben sind«, sagte sie.
Emerald lächelte sie an. »Ich auch, Patience. Es hätte meine Party völlig ruiniert«, sagte sie und reichte ihr eine Tasse Tee.
»Danke. Ich wüsste gern, ob tatsächlich jemand gestorben ist«, fuhr Patience bedrückt fort, die zarte Stirn in Falten gelegt. Die Tasse klirrte gegen die Untertasse.
Vom Fenster war ein Grollen zu hören.
»Sagtest du etwas, Bruder?«, fragte Emerald und fixierte Clovis mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er eisig war.
Clovis schüttelte sich wie ein nasser Hund und setzte sich auf. »Ich habe mich nur gefragt«, sagte er zu Patience, »ob dir dieser Gedanke tatsächlich gerade erst jetzt gekommen ist? Ob jemand gestorben ist, meine ich.«
Patience und Emerald tauschten einen Blick. »Wir hatten schließlich noch nicht viel Gelegenheit, darüber zu reden«, sagte Patience und wandte betont die schmalen Schultern von ihm ab.
»Brrrr«, machte Clovis und schüttelte sich so dramatisch, dass alle zusammenzuckten.
»Ich würde meinen«, begann Ernest in gemessenem Ton, »dass der Eisenbahnbedienstete, als er von einem ›schrecklichen Unfall‹ sprach, durchaus meinte, dass es Tote gab. Oder zumindest Verletzte.«
»Ja«, sagte Patience. »Der Dienstmann sagte ›schrecklich‹. Da muss man sich wohl das Schlimmste vorstellen.«
Ohne auf Ernest einzugehen, fuhr Clovis damit fort, auf Patience herumzuhacken.
»Allerdings hat der Schaffner keine näheren Einzelheiten genannt, oder? Daher ist das alles reine Vermutung.«
Patience war ziemlich pikiert, aber nur für einen Augenblick. Da sie zwei Jahre älter war als Clovis, hatte sie entschieden, dass er für eine potenzielle Verbindung nicht infrage kam. Zu Hause in Berkshire und auch in Cambridge, wo sie seit Kurzem Geschichte studierte, gab es jede Menge älterer, ernsthafterer Männer, die ein Auge auf sie geworfen hatten, dachte sie, und sie hegte keinerlei Absichten in Bezug auf dieses Kind, diesen Clovis Torrington. Trotzdem irritierte es sie, wie oft ihre Gedanken unsicher um sein jugendlich-romantisches Aussehen kreisten – selbst in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Bei ihrer letzten Begegnung war sie unbekümmerte siebzehn gewesen und er ein ungestümer Fünfzehnjähriger. Die Beerdigung seines Vaters zählte sie nicht als Besuch, doch selbst bei dieser traurigen Gelegenheit hatte sie das beunruhigende Bedürfnis verspürt, ihn in die Arme zu nehmen und ihm über die Haare zu streichen. Damals hatte sie sich diesen Wunsch mit schwesterlicher Anteilnahme erklärt, aber nun entlarvte ihr flatternder Puls diese Erklärung als Lüge.
Ungeachtet ihrer gemeinsamen Vergangenheit und ihres pochenden Herzens schlug die Waagschale der Macht, entschied Patience in diesem Augenblick, zweifellos zu ihren Gunsten aus. Schließlich konnte er ihre Gedanken nicht lesen und würde folglich nie erfahren, wie faszinierend sie es fand, ihn anzusehen.
Sie wandte den Blick ab und sagte herzlich: »Gut gemacht, Ernest«, denn das Feuer im geräumigen Kamin loderte wieder hell auf. Ernest setzte sich.
»Eigentlich hättest du dich um das Feuer kümmern müssen, Clovis«, sagte Emerald vorwurfsvoll. Er setzte sich aufgebracht zur Wehr.
»Wozu zum Teufel haben wir Dienstboten?«
Emerald widerstand der Versuchung, ihm die Nase abzubeißen. Sie hatte sich selbst das Versprechen gegeben, vor den Gästen nicht mit ihrem Bruder zu streiten, aber er verhielt sich so unmöglich, dass sie nicht wusste, ob sie ihr Versprechen würde halten können.
»Es war sehr nett von dir, dich um das Feuer zu kümmern«, sagte sie liebenswürdig zu Ernest.
»Nicht der Rede wert«, antwortete er und klopfte sich die Knie ab. Ihr fiel auf, dass er etwas zu groß für den Sessel war, ein Möbelstück mit Knopfpolsterung und kurzen Dackelbeinen aus Mahagoni.
Als sie ihn unauffällig unter gesenkten Lidern hervor betrachtete, stellte sie fest, dass sie entgegen ihrem ersten Eindruck von vorhin den Jungen von früher doch mit Leichtigkeit wiedererkennen konnte. Die Adlernase und das kantige Kinn, die das schmale Kindergesicht beherrscht hatten, fügten sich nun perfekt in die nicht unattraktiven, asymmetrischen Züge. Die grellroten Haare waren zu einem rötlichen Braun nachgedunkelt, aber die Augen, die, es ließ sich nicht leugnen, vor dem erzwungenen Tragen einer Augenklappe befremdlich im Widerspruch zueinander gestanden hatten, waren immer noch – sie riskierte einen weiteren Blick – auf frustrierende Weise unergründlich. Verborgen hinter Brillengläsern, waren sie für sie ein Rätsel gewesen, solange sie Ernest kannte, aber bis zu diesem Moment hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht.
Ernest tat so, als bemerkte er ihre Musterung nicht, innerlich jedoch wand er sich unter ihrem Blick, einem Blick, der trotz der sanften Wimpern und obwohl er immer nur kurz bei ihm verweilte, geradezu durchdringend war. »O mein Gott«, dachte er hilflos, aus der Fassung gebracht. »Sie lacht über mich.«
»In diesem Zimmer gibt es doch ein Geheimversteck, oder?«, fragte Patience überraschend.
»Das weißt du noch?«, lächelte Emerald, und die Erinnerung an kindliche Versteckspiele milderte die erwachsenen Anspannungen, die inzwischen vorherrschten.
»War es nicht …« Patience sah sich um, betrachtete die Wände und die Regale.
Die Bibliothek mit ihrer schimmernden Holzverkleidung war ein überaus angenehmer Raum. Als Charlotte und Horace das Haus bezogen hatten (zu einer Zeit, als Charlotte mit nichts anderem beschäftigt war, als das ungebärdige, in Spitzen gekleidete Baby Emerald durch die Gegend zu tragen, zu schieben oder sonst wie zu transportieren), wurde die Bibliothek als Billardzimmer benutzt, und die Regale enthielten eine abscheuliche Majolikasammlung oder wurden auf andere Weise zweckentfremdet. Die Torringtons gaben den Viktorianern die Schuld und machten sich daran, dem Raum seine ursprüngliche Bestimmung zurückzugeben, erst mit gut hundert Lieblingsbüchern aus ihrem bisherigen Domizil, einem (unspektakulären) Vororthaus, dann durch gelegentliche, hoch geschätzte Neuerwerbungen anlässlich aufregender Besuche in Auktionshäusern. In späteren, finanziell knapperen Jahren sorgten gleichermaßen befriedigende Ausflüge in staubige Antiquariate dafür, dass sich die schimmernden Regale bis zum Bersten füllten.
»Ich glaube … es ist irgendwo hier«, sagte Patience, stand auf und stellte ihre Teetasse ab (die irgendjemand nun wegtragen und abwaschen und abtrocknen und wegräumen musste). Sie trat ans Fenster mit der tiefen Einbuchtung der Sitznische und klopfte prüfend an die Vertäfelung auf der linken Seite.
»Falsch!«, rief Smudge vergnügt.
»Ich weiß noch, dass wir uns gemeinsam dort versteckt haben, Emerald. Du warst auch dabei, Ernest!«
Clovis drehte sich zur Seite, um Patience nicht ansehen zu müssen, und tat so, als wäre er unendlich erschöpft.
»Ich habe mich einmal einen ganzen Nachmittag drin versteckt, und niemand hat mich gefunden«, prahlte Smudge und vergaß zu erwähnen, dass sie niemandem gesagt hatte, dass sie sich verstecken wollte, und niemand sie vermisst hatte. »Ich bin eingeschlafen«, krähte sie.
Beim Anblick von Smudge, die immer noch barfuß und immer noch in ihrem schmuddeligen Nachthemd auf dem Boden saß, schossen Emerald all die vielen Dinge, die sie noch erledigen musste, bevor der Abend erfolgreich beginnen konnte, durch den Kopf. Sie erinnerte sich auch wieder an die erschreckende Tatsache, dass das Frühstückszimmer voller fremder Leute war, ihre Mutter sich irgendwo versteckte, ihr Bruder ein ichbezogenes Ekel war, in der Küche eine Hilfe fehlte und sie selbst immer noch die verflixte Eisenbahn anrufen musste (die übrigens höflicherweise Sterne hätte anrufen können, wo sie ihnen allen derartige Unannehmlichkeiten aufgebürdet hatte).
»Smudge, findest du nicht, du könntest dich endlich anziehen?«, sagte sie. »So kannst du nicht länger herumsitzen. Also sei ein braves Mädchen und lauf und zieh dich um. Wir anderen werden es auch gleich tun.«
»Ich werde strahlend schön aussehen«, sagte Smudge und stand auf. »Ihr werdet Augen machen.«
»Sehr schön. Und jetzt lauf.«
Mit einem letzten bedauernden Blick auf Patience verließ Smudge das Zimmer.
»Was für einen Eindruck ihr von uns haben müsst«, sagte Emerald, als sie weg war. »Ich habe euch noch nicht einmal eure Zimmer gezeigt, und ihr wollt euch doch sicherlich – sicherlich …« Sie deutete auf Ernests arg mitgenommene Kleidung. Er musste die Reise durchaus elegant angetreten haben, sah nun jedoch ziemlich beklagenswert aus; sein Jackett, das Clovis dazu benutzt hatte, Ferryman die Augen zu verhüllen, mochte Gott weiß wo in Wind und Wetter herumliegen. Aus diesem Grund war er immer noch in Hemdsärmeln, und ein fehlender Manschettenknopf ließ eine seiner Manschetten steif abstehen, doch die guten Manieren verboten ihm, den Ärmel einfach umzukrempeln. Seine braunen Schnürschuhe waren voller Matsch, und sowohl sein Hemd als auch eins seiner Hosenbeine wiesen lange Streifen grünlichen Schleims auf, die aussahen, als ließen sie sich nie wieder entfernen. (Ferryman hatte friedlich auf der Weide vor sich hin gegrast, als man von ihm verlangt hatte, sich vor das Fuhrwerk spannen zu lassen, und sein Geifer war von daher frühlingsgrün und würde bleibende Flecken hinterlassen.)
»Ich weiß nicht einmal, ob eure Sachen schon aus dem Brougham geholt wurden – alles war so chaotisch … Lasst uns nach oben gehen. Clovis kann derweil Robert ausfindig machen, damit er sich um eure Sachen kümmert – machst du das, Clo? Was haltet ihr davon?«
»Hervorragend«, sagte Patience. »Geh voran, Em. Und mach dir keine Gedanken. Wir werden trotz allem mächtig Spaß haben, da bin ich mir ganz sicher.«
Voller plötzlicher Dankbarkeit küsste Emerald ihre Freundin auf die Wange und nahm ihre Hand.
»Clovis!«, rief sie dann mit scharfer Stimme. »Würdest du bitte aufhören, faul in der Gegend herumzuliegen wie ein übergewichtiger Mops. Mach dich auf die Suche nach Robert und sorg dafür, dass das Gepäck ins Haus gebracht wird.«
Patience nahm den Arm ihres Bruders, und sie verließen als fröhliches Dreiergespann das Zimmer.
Sie begaben sich die Haupttreppe hinauf, wobei sie über die Schultern zu den Räumlichkeiten auf der anderen Seite der Halle hinübersahen. Kein Geräusch drang durch die Türen des Frühstückszimmers, dafür war Florence Trieves’ tragende Stimme, die Myrtle anblaffte, mehr heißes Wasser zu bringen, nicht zu überhören.
Vor ihrem inneren Auge sah Emerald, wie das schwarze Telefon auf dem Tisch unter der Treppe den Hals reckte und vorwurfsvoll zu ihr aufsah, aber im oberen Stockwerk war es, als hätte es keinen Unfall auf einer Nebenlinie gegeben. Alles war so, wie es sein sollte. Emerald zeigte Patience und Ernest, wo das Badezimmer lag (das sich seit ihrem letzten Besuch weder von der Stelle bewegt hatte noch mit irgendwelchen Neuerungen ausgestattet worden war), und Patience bekundete über alles helles Entzücken. Zu Emeralds Kummer blieb Charlottes Tür fest geschlossen.
»Ich bin so gespannt, ob das Geschenk, das ich dir mitgebracht habe, dir auch gefallen wird«, sagte Patience, die beim Gehen auf den Fußballen wippte. »Es ist so lange her, seit wir uns gesehen haben. Vielleicht hast du dich völlig verändert.«
»Ich glaube, ich habe mich überhaupt nicht verändert«, sagte Emerald, wohl wissend, dass das eine Lüge war, aber zwischen ihr und ihrem kindlichen Ich lag eine dichte Nebelwand des Kummers und zahlloser kleiner Entbehrungen, die sie nicht anrühren wollte.
»Dein Zimmer«, sagte sie zu Patience.
Es war das Zimmer gleich neben ihrem eigenen und hatte die gleiche Tapete: große Pfaue, die keck über die Schultern auf kleine Schüsseln blickten, die mit exotischen Früchten und Trauben gefüllt waren.
»Perfekt! Genau wie ich es in Erinnerung hatte!«, rief Patience und klatschte entzückt in die Hände.
»Eigentlich soll das Abendessen um acht Uhr stattfinden. Aber es ist schon halb sieben. Sollen wir zumindest acht sagen?«
»Ja, sagen wir acht.«
»Und wann soll ich Myrtle zu dir schicken? Wann möchtest du, dass sie kommt?«
»Ist sie schnell?«
»Wie der Blitz.«
»Und gut mit Haaren?«
»Ein Genie.«
»Ich möchte sie nicht völlig vereinnahmen.«
»Unsinn.«
»Um sieben?«
»Ist gut.«
»Bis dann!«, strahlte Patience und schloss ihre Tür. Ernest starrte die Decke an.
»Du bist ein kleines Stückchen weiter untergebracht«, sagte Emerald mit dem Gefühl, ihn bei irgendetwas zu unterbrechen.
Während sie zu seinem Zimmer gingen, machte er sich an seinem Ärmel zu schaffen, völlig darauf konzentriert, die beiden Enden der Manschette zusammenzufügen.
Emerald öffnete die Tür zum Zimmer mit der gestreiften Tapete. Unerklärlicherweise machte es sie verlegen, mit diesem veränderten, unerwarteten Ernest, der so viel größer war als sie und sich zu einem richtigen Mann gemausert hatte, auf der Schwelle zu stehen. Jahrelang hatte sie nicht an ihn gedacht, von einem obligatorischen »Wie geht es Ernest?« in ihren Briefen einmal abgesehen. Doch hätte jemand den Namen Ernest Sutton erwähnt, wären vor ihrem inneren Auge sofort leuchtende Bilder, wie Diapositive, aufgetaucht. Sie selbst und ein rothaariger Junge, damit beschäftigt, unter dem Mikroskop Grashüpfer, Würmer, Schimmel zu begutachten; Spiele mit Patience und Clovis; Verstecken, Blindekuh. Wie sie ein Tuch straff und fest über Ernests Augenklappe banden und juchzend um ihn herumrannten. Sterne war damals ein Haus der Kinder gewesen, mit problemlosen, vorhersehbaren, zweiarmigen Eltern. Jetzt waren aus den vier Kindern von damals Erwachsene geworden: Erwachsene mit ordentlich geschnürten Schuhen, hochgesteckten Haaren, zugeknöpften Westen. Erwachsene, die gefällig miteinander plauderten und Sätze wie »Ach wirklich, wie interessant!« von sich gaben. Und ihr Vater war tot. – Ihre jüngeren Ichs waren durch ihre Reserviertheit und seine überraschende Männlichkeit ersetzt worden.
Als sie auf der Schwelle des Schlafzimmers stand, kam Emerald der Gedanke, dass der Medizinstudent Ernest Sutton mit großer Wahrscheinlichkeit bereits – sie wusste nicht genau, wie sie es ausdrücken sollte, nicht einmal sich selbst gegenüber – nackte Frauenkörper gesehen hatte. Sicherlich hatte es sich um Leichen gehandelt, aber trotzdem. Ebenso sicherlich waren sie unbekleidet gewesen. Der Gedanke war beunruhigend, die Mahagonischnörkel des Bettes schienen sie lüstern anzugrinsen.
Ernest selbst nahm das Schlafzimmer augenscheinlich nicht einmal wahr, genauso wenig wie die Tatsache, dass er, nur durch ein paar Zentimeter dünne Luft und ein paar Schichten Kleiderstoff getrennt, neben Emerald Torringtons unbekleidetem Körper stand. Er betrat einfach das Zimmer und machte ohne ein weiteres Wort die Tür vor ihrer Nase zu.
Als sie ihn nicht mehr vor Augen hatte, löste sich der Bann, und sie war mit einem Ruck wieder sie selbst.
»Ein komischer Kauz«, sagte sie zu sich selbst. Und dann: »Aber das war er ja schon immer.«
Sie drehte sich in dem Augenblick um, als Robert und Stanley in Arbeitsstiefeln und Hemdsärmeln, nach Pferd und Feuer riechend, von der hinteren Treppe her in den Korridor kamen, beladen mit einer großen Kleidertruhe und mehreren darauf gestapelten Koffern.
»Sehr schön«, sagte Emerald und trat beiseite, um sie vorbeizulassen. »Ist Ferryman immer noch beleidigt, weil er vor das Fuhrwerk gespannt wurde, Robert?«
»Zumindest frisst er ganz zufrieden, Miss Em, danke der Nachfrage.«
»Freut mich, das zu hören.« Und sie hüpfte die Treppe hinunter.
Während sie sich entfernte, öffnete Ernest die Tür und suchte sein Gepäck unter dem seiner Schwester heraus.
»Vielen Dank, guter Mann. Wie heißen Sie noch mal?«, erkundigte er sich.
»Robert, Sir, und das ist mein Sohn Stanley.«
Im Großen und Ganzen war Robert ein gut aussehender, ordentlich rasierter Bursche. Allerdings hatte er ein enormes Furunkel am Hals. Die Haut ringsum war gerötet und sah glühend heiß aus, aber noch war das Furunkel nicht reif. Ernest hätte es nur allzu gern untersucht, hielt die Hände aber fest an die Seiten gepresst.
»Sie sollten das da behandeln lassen, Robert«, sagte er. »Es sieht übel aus.«
»Ich habe es schon mit Essigumschlägen und warmer Milch versucht, Sir«, lautete seine Antwort. »Aber es scheint nicht zu helfen. Ich muss gestehen, es puckert ziemlich heftig, Sir.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Ernest mit gerunzelter Stirn. »Sie müssen die Umschläge so heiß wie möglich machen, um den Eiter herauszuziehen. Falls es bis morgen Abend nicht aufgegangen ist, kommen Sie damit zu mir, ja?« Dabei vollführte er mit der rechten Hand eine zustechende Bewegung, seine Brille glitzerte. Robert sah mit Recht alarmiert aus. »Ich bin Arzt«, fügte Ernest erklärend hinzu.
Vater und Sohn, die Mützen in den Händen, waren bereits dabei gewesen, das Zimmer rückwärtsgehend zu verlassen. Jetzt blieben sie stehen. »Ah«, machte Robert.
»Zumindest werde ich bald einer sein; ich bin in meinem letzten Studienjahr.«
»Ich verstehe, Sir.«
»Aber Furunkel kommen schon im ersten Jahr vor«, fuhr Ernest fort, um ihn zu beruhigen.
»Es würde mir eine Fahrt ins Dorf an meinem freien Nachmittag ersparen«, sagte Robert zurückhaltend, denn er hatte Ernests heftige, bedrohliche Geste von eben noch nicht völlig überwunden.
»Sicher.«
»Vielen Dank, Sir. Komm jetzt, Stanley.« Beide hoben grüßend die Hand an die Stirn und verabschiedeten sich.
Ernest löste den Gurt um seinen Koffer und machte sich, vor sich hin murmelnd, ans Auspacken.
»Prachtvoller Bursche … bedauerlich, dass es keine Verletzten gab … nicht zu ändern … nur ganz normale häusliche Unpässlichkeiten …« Ein gefaltetes Hemd in jeder Hand, unterbrach er sich, rief sich ins Gedächtnis, dass er sich vorgenommen hatte, keine Selbstgespräche mehr zu führen, und trat ans Fenster.
Der Blick in die Abenddämmerung zeigte ihm den ordentlichen, halbkreisförmigen Rand des Rasens. Weiter konnte er nicht sehen, da ein Nebel sich wie ein schnell herabfallender Theatervorhang zwischen Sterne und den Rest der Landschaft gelegt hatte.
Er hatte das Gefühl, durch und durch in der Gegenwart verhaftet zu sein: Der milchige Dunst; die dichten, dicken Mauern des Hauses; das gleichmäßig verteilte Gewicht der Hemden in seinen Händen; all das kristallisierte sich in diesem einen Augenblick, der in seiner Intensität für Ernest etwas Seltenes war.
»Sterne ist ein wirklich schönes Haus«, sagte er laut, mit tief empfundener Zufriedenheit. In den vergangenen Wochen hatte er fast ununterbrochen gearbeitet, war völlig aufgegangen in der alles durchdringenden Formaldehydluft der mit Ölfarbe gestrichenen Laboratorien, hatte kaum einen Augenblick zum Nachdenken gehabt, erst recht nicht, um sich den Aufenthalt von Samstag bis Montag auf Sterne anlässlich Emerald Torringtons Geburtstag vorzustellen, der ihm durch die (durchaus echte) Grippeerkrankung seiner Mutter zugefallen war.
Emerald Torrington. Als Kind hatte er sie als Ganzes gesehen, sie, als Emerald, als Selbstverständlichkeit genommen. Aber vorhin in der Bibliothek zu sitzen, vollgesabbert von einem Pferd, und ihren Blick auf sich zu spüren, war fast unerträglich gewesen. Sein Erwachsensein verlieh ihrer Schönheit eine neue Eindringlichkeit, überzog das Knochengerüst der Begierde mit cremehellem Fleisch. Während er einst zufrieden gewesen war, einfach nur in der Nähe ihres unverbildeten Zaubers zu sein, konnte er nun nicht anders, als sich zu wünschen, sie für sich allein zu haben – so ihrer unwürdig er sich auch fühlte. Er lächelte. Nein, Ernest Sutton, sie ist nicht für dich bestimmt, dachte er für sich. Ein Mädchen wie sie ist nicht für schielende Sterbliche gedacht. (Sein Schielen war zwar korrigiert worden, nicht jedoch das Bild, das er von sich selbst hatte.) Und er fuhr damit fort, seine Sachen auszupacken, ohne sich auch nur im Geringsten an der Ungewöhnlichkeit zu stören, mit der dieser Tag bisher verlaufen war. Vielmehr freute er sich auf den vor ihm liegenden Abend.
Unten in der Halle, endlich allein, griff Emerald nach dem Telefon und hob den Hörer ab. Hinter sich, ein Stück den Korridor entlang, konnte sie die Reisenden im Frühstückszimmer hören. Sie redeten und lachten, und die nicht näher bestimmbaren Geräusche wirkten in den Hallen und Fluren von Sterne, die nur an die Familie Torrington und die Hunde gewöhnt waren, irgendwie unpassend.
Sie drückte die kühle Muschel des Hörers an ihr Ohr, die geflochtene Schnur schmiegte sich an ihren Unterarm wie ein toter Wurm. Die Leitung war selbst im Idealfall voller Störungen, jetzt jedoch machte der Lärm der Tee trinkenden Passagiere es schwer, irgendetwas deutlich zu hören.
Mit der für ihn typischen Begeisterung für alles Neue und Teure hatte Horace Torrington das Telefon noch im letzten Jahr seines Lebens installieren lassen. Die meisten der Anrufe, die über das Gerät getätigt worden waren, hatten Dr. Tod gegolten. Für Emerald war das Telefon, schwarz, wie es war, seitdem so sehr mit Gefühlen der Trauer verbunden, dass sie es nur höchst ungern benutzte. Die Begeisterung und Verwunderung der Familie über die an Zauber grenzende Modernität des Apparats war schnell dem größeren, hässlichen Staunen gewichen, das mit dem Dahinsiechen des Fleisches und mit dem Tod einhergeht. Jetzt bemühte sich Emerald um eine Verbindung, ertrug die Traurigkeit, die das elektrische Klicken in ihrem Herzen auslöste, und wartete darauf, dass Elsie Goodwin im Dorf auf sie aufmerksam wurde und mit ihr sprach. Die Leitung blieb still, aber hinter ihr wurden die Geräusche der Passagiere lauter, ganz so, als hätte jemand eine Tür geöffnet. Sie lauschte gespannt, bis schließlich das vertraute Knacken ertönte, das normalerweise Elsies durchdringendes, hohes, laut geschrienes »Vermittlung!« ankündigte, aber dann – hörte sie nichts mehr.
Elsies Begrüßung aus dem Nebenraum des Postamts, ihr Zuhause und ihr Laden, wurde nicht durch die lose von Mast zu Mast geschlungenen Drahtmeilen bis an Emeralds Ohr geleitet. Sie hörte nur ein leises Rauschen wie Wind, der durch ein langes Rohr fegt.
»Verflixt«, sagte sie und hängte den Hörer ein, während die Geräusche der gestrandeten Passagiere hinter ihr wieder leiser wurden. Ein paar Minuten später hatte sie sie völlig vergessen.
Währenddessen fragten sich die Besucher im Frühstückszimmer, was aus ihnen werden sollte. Sie waren ohne genauere Erklärung hierhergeschickt worden, und obwohl sie dankbar waren für den Tee und das warme Feuer, war ihre Reise verhängnisvoll gewesen und gewaltsam unterbrochen worden, und sie wünschten sich nur, endlich weiterzukommen.
»Ich würde einfach gern weiterkommen«, sagte eine kleine Frau, die ein kränkliches Kleinkind an ihre Brust drückte.
»In einen Unfall verwickelt zu sein ist etwas Schreckliches«, äußerte ein hohlwangiger Mann, in dessen Augen sich der Feuerschein tanzend spiegelte.
Sie waren unzufrieden. Seit dem Unfall hatte sich ihrer ein Hunger bemächtigt, vielleicht hervorgerufen durch den Schock, eine Leere, die der Tee ein wenig abgemildert hatte, die sich jetzt jedoch mit Macht wieder in den Vordergrund drängte.
»Einer von uns sollte gehen und sich kundig machen«, sagte jemand, und die anderen stimmten ihm zu.
»Ja, einer von uns sollte gehen und sich kundig machen.«
Und die vielen Menschen im Frühstückszimmer mit dem nur noch kläglichen Feuer und den überall verstreuten Teetassen, die sich in den Ecken zusammengekauert und auf sämtlichen Sitzgelegenheiten verteilt hatten, nickten mit einem zustimmenden Murmeln.
»Hunger«, sagten sie, in Bewegung kommend, ihre Mäntel fester um sich ziehend.
»Wir haben Hunger.«
»Hunger.«
Es war Viertel vor sieben. Florence Trieves hatte die dicke schwarze Seide ihres Kleides unter den Armen und zwischen den Brüsten durchgeschwitzt. Ihre Oberschenkel fühlten sich heiß an, die feuchte Baumwolle ihres Schlüpfers scheuerte faltig zwischen ihnen, und ihre Füße in den fest geschnürten Stiefeln waren angeschwollen. Sie war zwischen Kessel und Hackbrett hin und her gelaufen, zwischen Küche und Vorratskammer; hatte geschnitten, gerührt und mit fliegenden Fingern hastig, aber umsichtig dies und das auf kostbaren Servierplatten angerichtet, bis sie glaubte, in Tränen ausbrechen zu müssen.
»Mrs Trieves?« Myrtle mit ihrem runden, glänzenden Gesicht wollte schon wieder etwas von ihr, wie schon den ganzen Nachmittag, wie schon den ganzen Tag, außer zwischendurch, wenn sie plötzlich für scheinbar endlos lange Zeiten verschwand, natürlich gerade dann, wenn sie am dringendsten gebraucht wurde.
»Ma’am?«
»Ja? Wo bist du nur gewesen, Myrtle?«
»Ich habe Mrs Swift die Haare gemacht, Ma’am.«
Florence war mit den Gedanken schon wieder woanders. »Ach so, ja.«
»Und wo Pearl Meadows nicht da ist, muss ich jetzt als Nächstes Wasser auf die Zimmer bringen, und Miss Em hat gefragt, ob ich auch Miss Sutton die Haare machen kann, und da wollte ich fragen, ob ich den Tisch vielleicht erst hinterher decken kann, bloß muss ich mich ja auch noch um die Feuer kümmern.«
Florence versuchte, tiefer zu atmen, als ihre Kleidung es zuließ.
»Ist gut, Myrtle. Bring das Wasser nach oben und kümmere dich um Miss Sutton, falls sie schon so weit ist. Ich mache so lange hier weiter. Wir …« Sie unterbrach sich und blickte mit leeren Augen auf die Wand neben Myrtles Kopf. »Wir …«
»Ma’am?«
»Die Passagiere …« Die drückende Schwere des Gedankens an das Frühstückszimmer, vollgepackt mit Fremden in Mänteln, ließ sie erstarren. »Ma’am?« Florence spürte, wie der Schweiß an der Innenseite eines ihrer dünnen Beine herablief. Sie riss sich zusammen, konzentrierte sich wieder auf die noch zu erledigenden Arbeiten und sagte in aller Hast: »Lass mich nachdenken: Der Tisch muss gedeckt werden, die Feuer nachgelegt, der Wein bereitgestellt. Heißes Wasser auf die Zimmer, Haare, ankleiden, Vorspeisen, das restliche Abendessen, und natürlich Mrs Swifts Toilette.«
»Ja, Ma’am.«
Ihre Stimme stieg zitternd an, als sie hinzufügte: »Und dann dieser Unfall …« Sie bekam sich wieder unter Kontrolle. Das tat sie immer. »Nun ja.« Stille. »Ich denke, wir beide zusammen schaffen das schon.«
Myrtle schluckte. »Ja, Ma’am. Mrs Swift ist übrigens so gut wie fertig.«
»Vielen Dank. Dann lauf los. Bring das heiße Wasser nach oben.«
Myrtle verschwand: in die Spülküche, um die Emaillekrüge mit heißem Wasser zu füllen, dann die Hintertreppe hinauf, die unter ihrem Gewicht und dem der Krüge ächzte.
Es gab zweierlei, wofür Smudge sich ankleiden musste: die Party und ihr Großes Unterfangen. Ein Blick durch das offene Fenster verriet ihr, dass es draußen nicht nur ziemlich dunkel war, immerhin war es schon nach sieben, sondern auch der Geruch von Donner in der Luft hing. Smudge hätte nicht genau sagen können, wie Donner roch – vielleicht wie aufgewirbelter Kohlenstaub –, wusste aber, dass sie seinen intensiven Geruch immer schon gekannt hatte. Auch den von Blitz, der beißender und für jeden wahrnehmbar war – wie Schießpulver und Zitronen. Ja, ein Gewitter zog auf, und als sie sich aus ihrem Fenster hoch über dem gekiesten Hof beugte und der Pfad, der am alten Haus entlang zum Küchengarten und zu den Ställen führte, winzig unter ihr lag, wie ein Band, konnte sie spüren, wie die Luft sich auflud. Sie stellte sich gern vor, dass die konzentrierte Elektrizität in den Telefondrähten und die dünne Elektrizität in der Luft sich gegenseitig zum Schwingen brachten.
Sie schnupperte die Dunkelheit, die mit der Nebelwand vor ihr verschmolz, die – ganz schwach – die Lichter des Hauses widerspiegelte. Die grobkörnigen Sterne über ihr wurden immer wieder von huschenden Wolken verdeckt, als der Wind an Kraft gewann.
»Ja«, hauchte sie. »Ich bin froh, dass ich meine Wollstrümpfe angezogen habe.«
Sie trug ein mitternachtsblaues Samtkleid, das Emerald gehört hatte und ihr viel zu weit war, und darunter zwei Schlüpfer, ein wollenes Leibchen, ein Unterhemd und einen Unterrock aus steifem Taft, der ein oder zwei versengte Stellen von einem zu heißen Bügeleisen aufwies. Da das Kleid auch zu lang war, band sie sich einen Seidenschal von Clovis als Gürtel um die Taille, zog das Kleid locker darüber und war sehr angetan von ihrer Aufmachung. Es war Zeit, nach unten zu gehen.
Als sie nach dem Türknauf griff, fing er an, sich langsam und wie von selbst zu bewegen.
Einen Augenblick lang glaubte sie, ihn mit ihrer bloßen Absicht bewegt zu haben, aber da kam ihre Mutter herein.
»Smudge, mein Liebling.«
Charlotte, die Myrtle rücksichtslos – es gab kein anderes Wort dafür – mit Beschlag belegt hatte, war elegant und opulent in moirierte Seide gekleidet und sah aus wie eine Meerjungfrau. Oben auf ihren hochgetürmten, dichten blonden Haaren thronte eine Tiara. Smudge hätte den Spitzenkragen und die Diamanten am schlanken Hals ihrer Mutter nur zu gern berührt, hütete sich aber wohlweislich und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Charlotte umschlang ihre Tochter mit ihren nackten, duftenden Armen, wobei die Stola von ihren glatten Schultern glitt, setzte sich dann aufs Bett und nahm ihre Hand.
»Hast du dich für Emeralds Party so fein gemacht?«
»Hm.« Entweder registrierte ihre Mutter nicht, wie ausweichend diese Antwort klang, oder sie war nicht neugierig.
»Du siehst großartig aus.«
Sie musterte das Zimmer mit der schäbigen gelben Tapete und den dicken, gekritzelten, sich teils überschneidenden Umrissen der Tiere, die in Richtung Fenster marschierten, verschmiert und verkompliziert durch nachträglich eingefügte Details und missglückte Anfänge. »Und deine wundervollen Wände – wie klug du bist! Willst du wissen, was ich für deine Schwester habe?«
»Als Geschenk? O ja! Was ist es?«
»Du musst aber versprechen, es nicht zu verraten.«
Smudge platzte fast vor Neugier. »Versprochen.«
Charlotte, ein seltener Gast in Smudges Zimmer, ein Engel der Billigung, eine Göttin der Zerstreuung und vieler wichtiger Dinge, die Smudge nicht oft betrafen, flüsterte ihr ins Ohr: »Ein Kätzchen.«
Smudge war begeistert.
»Welche Farbe hat es?«, flüsterte sie mit Mühe.
»Es sieht ganz ähnlich aus wie du, Smudge: Es ist anthrazit.«
»Meinst du, Lloyd wird eifersüchtig sein?«
»Mit Sicherheit. Alle Katzen sind eifersüchtig. Aber das heißt nicht, dass wir uns von ihnen schikanieren lassen dürfen. Er hat seine Mäuse. Und er hat dich.«
»Stimmt, er hat mich. Er schläft oft hier, und er bringt mir seine Beute. Ich tue immer so, als würde ich sie aufessen, um höflich zu sein, aber dann werfe ich sie aus dem Fenster, sobald er …«
Charlotte wollte Smudges Geschichten nicht hören.
»Ja, Liebes, ist gut. Ich habe das Kätzchen von der Bowes-Farm. Was hältst du davon, wenn wir es Tenterhooks nennen?«
»Wegen der Krallen?«
»Möchtest du es Emerald beim Essen überreichen?«
»O ja! Darf ich es jetzt sehen? Bitte, Mutter.«
»Nein, nicht jetzt … Du weißt doch, dass ich dich nicht in meinem Schlafzimmer haben möchte.« Smudges Zeit war abgelaufen, Charlotte wurde wieder vage. »Ich dachte, ich tue es in eine Schachtel, das müsste eigentlich gehen, wenn es nicht für zu lange ist. Es ist noch sehr klein.«
Sie stand auf, gab Smudge einen weiteren Kuss und ging. Smudge schlang begeistert die Arme um ihren Oberkörper.
In ihren jadegrünen Seidenslippern trippelte Charlotte die Treppe zur Spülküche hinunter und öffnete, unten angekommen, die Tür. Der Blick, der sich ihr bot, war für sie ungewohnt – von der Rückseite der Spülküche, neben der Tür zum alten Haus. Vorbei an Türmen von abtropfendem, abgewaschenem Geschirr, noch unangetasteten Pfannen, in denen das Fett allmählich hart wurde, Stapeln von Tassen, Teekannen, Milchkännchen und Tabletts – ebenfalls unabgewaschen – fiel ihr Blick durch die breite Tür in die eigentliche Küche, wo Florence Trieves mit dem Rücken zu ihr konzentriert an irgendeinem unsichtbaren Gericht arbeitete, das ihr offenbar Schwierigkeiten bereitete, denn sie stieß ein lautes »Herrgott noch mal!« hervor und schüttelte frustriert den Kopf.
Emerald, ähnlich konzentriert, arrangierte Pâté auf einer ovalen Fischplatte, sorgfältig darauf bedacht, die Sülzeumhüllung nicht zu beschädigen, und rückte mit der Spitze ihres kleinen Fingers ein Lorbeerblatt zurecht. Sie war noch nicht zum Essen umgezogen, sah Charlotte, sondern trug noch ihr inzwischen ziemlich schlaffes Nachmittagskleid, das nicht so recht zu ihren perfekt frisierten Haaren passte.
»Braucht ihr Hilfe?«, bellte Charlotte, um die beiden zu erschrecken. Haushälterin und Tochter fuhren herum.
»Mutter!«
Florences Gesicht war puterrot. »Ach, Sie sind’s. Ja. Halten Sie das hier.«
Charlotte überquerte die Steinplatten, nahm im Vorbeigehen eine weiße Schürze von einem Haken an der Tür der Spülküche und streifte sie sich über den Kopf.
»Das hier« war ein knotiger Hautlappen, den Florence mit einer dicken Nadel zunähen wollte, damit die aromatische bröselige Farce nicht aus dem Vogel entweichen konnte, in den sie fest hineingestopft worden war.
»Grundgütiger, Florence«, sagte Charlotte. »Sie können doch nicht im Ernst glauben, dass dieser Vogel rechtzeitig fertig wird? Es ist doch sicher schon nach sieben.«
»Zehn nach«, presste Florence durch zusammengebissene Zähne, stieß die Nadel in den Hautlappen und zog den leicht blutigen Faden durch.
Charlotte erbarmte sich ihrer und verzichtete auf weitere Boshaftigkeiten. »Emerald, du solltest wirklich gehen und dich umziehen. Ich bin ja jetzt hier. Was kann ich noch tun, um Ihnen zu helfen, Florence?«
»Nichts, Mrs Swift. So weit käme es noch. Außerdem sind Sie schon für die Party umgezogen. Ihre Juwelen könnten in die Suppe fallen.«
»Was ist noch nicht erledigt?«
»Fragen Sie lieber, was erledigt ist.«
»Sind die kümmerlichen Kreaturen noch im Frühstückszimmer?«
»Sind sie.«
»Ich habe versucht, die Eisenbahn anzurufen«, sagte Emerald. »Wir haben immer noch nichts gehört.«
»Was für eine unglaubliche Ineffizienz. Wo ist Myrtle?«
»Macht Miss Sutton die Haare.«
Charlotte verzog abfällig die Lippen. »Miss Sutton …« Emerald gab ein ärgerliches Geräusch von sich, sagte aber nichts. »Und wenn sie mit ihr fertig ist?«
»Muss sie den Tisch decken.«
»Was? Der Tisch ist noch nicht gedeckt?« Charlotte war fassungslos.
»Nein.«
»Dann übernehme ich das.« Sie sah auf den zugenähten Vogel hinunter. »Kann ich dann gehen?«
Florence griff sich ein kurzes Messer und setzte es zu einem präzisen Schnitt an. »Ja«, sagte sie. »Danke.«
Emerald richtete sich auf und wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das von ihrer Taille hing. »Ja, danke, Mutter«, sagte sie gerührt.
In der Tür legte Charlotte die Schürze ab, betastete prüfend ihr Haar und flüsterte: »Denkt ihr manchmal auch, es wäre besser, aufzugeben?«
»Das Haus?«, fragte Florence.
»Diesen Kampf, ja«, antwortete Charlotte, ohne auf Emeralds verzweifeltes Gesicht zu achten.
Florence warf ihr einen Blick zu, in dem die Vertrautheit von Jahren lag. »Nein, Charlotte«, sagte sie. »Wir halten uns doch sehr gut.«
»Wenn Edward zurückkommt, wird die Frage sich wahrscheinlich sowieso erledigt haben; dann werden wir es wissen, so oder so.«
Charlotte, Emerald und Florence verharrten in einem kurzen, aber zutiefst bedrückten Schweigen. Dann sagte Florence: »Nun gehen Sie schon, Mrs Swift.«
»Danke, Mrs Trieves. Vorwärts!«, rief Charlotte gleichzeitig aufmunternd und geistesabwesend, und machte auf dem Absatz kehrt.
Florence zog die Backofentür mit dem Fuß auf, griff sich, umwabert von der hervorquellenden Hitze, den schweren eisernen Bräter mit dem Vogel und schob ihn hinein. »Und Sie gehen und ziehen sich um, Emerald«, sagte sie. »Sie sehen furchtbar aus.« Emerald ging.
Charlotte betrat das Esszimmer, schloss beide Türen und zog die Vorhänge vor. Als sie sicher war, unbeobachtet zu sein, huschte sie geschäftig durch den großen Raum und arrangierte Besteck, Geschirr und Gläser mit zielstrebiger Akkuratesse. Bald schon war der Tisch gedeckt. Silber und Porzellan schimmerten auf Damast, Kerzenhalter und Schalen mit fest geschlossenen seidenen Rosenknospen zierten die Mitte der Tafel.
»Perfekt«, hauchte sie in der Tür und glitt aus dem Zimmer.
Sie würde sich ein Weilchen an ihr offenes Fenster stellen, um sich abzukühlen, dann ihre Hände gründlich mit Laugenseife waschen und sie anschließend mit Lavendelwasser einreiben, um jeden Rest Silberpolitur zu vertreiben. Niemand würde wissen, dass sie sich zu niederer Arbeit herabgelassen hatte.
Nur sechs der ungefähr ein Dutzend Uhren, die es auf Sterne gab, funktionierten, und davon zeigten nur drei wenigstens ungefähr die korrekte Zeit an. Es war irgendwann nach sieben. Alle zogen sich um oder waren sonst wie beschäftigt. In den unteren Räumen des Hauses war es still, nur in der Küche und im wimmelnden Bienenstock des Frühstückszimmers herrschte Aktivität. Es war die kostbare Ruhestunde vor dem Dinner, in der alles vorstellbar ist.
Smudge schlich allein die Treppe hinunter, stolz darauf, dass sie für ihr Großes Unterfangen keinen Mantel oder Ähnliches brauchte, da sie in weiser Voraussicht so viele Unterkleider angezogen hatte. Sie würde es bei jedem Wetter warm haben, und falls es zu irgendwelchen Kalamitäten kommen sollte, war sie zudem gut gepolstert.
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und spähte in die Halle und die Zimmer, die sie durch teils geöffnete Türen sehen konnte.
Vorsichtig schlich sie weiter nach unten und bekam nicht nur einen fürchterlichen Schreck, sondern fühlte auch ihre Pläne durchkreuzt, als ein lautes Klopfen an der Tür die Stille zerriss. Sie flitzte wieder nach oben und wartete auf die herbeieilenden Schritte, die sich um den Besuch kümmern würden – aber keine Schritte näherten sich. Das Klopfen wurde wiederholt. Wer immer der Dummkopf war, der draußen stand, er kam anscheinend nicht auf die Idee, die Klingel zu benutzen. Es war wirklich zu ärgerlich. Sie vermutete, dass es sich um Farmer John Buchanan handelte, ein wahrer Meister, wenn es darum ging, im unpassendsten Augenblick aufzutauchen, und zudem – selbst in Smudges Augen – ein ziemlicher Langweiler.
Seufzend trabte sie nach unten, um die Tür selbst zu öffnen, aber schon wurde ein drittes Mal dagegengeklopft, laut und reichlich unverschämt, dachte sie mit kindlicher Kritik, allem Anschein nach mit dem metallenen Griff eines Stocks.
Sie legte die Hand auf den großen eisernen Knauf und zog die Tür Zoll für Zoll auf.
Auf der Veranda davor, den Stock erhoben, um erneut zu klopfen, einen Ausdruck eifriger Begeisterung auf dem Gesicht – ein breites Grinsen, um genau zu sein –, stand nicht etwa John Buchanan, sondern ein völlig Unbekannter.
Er war nur etwa mittelgroß und eher zierlich, trug elegant spitz zulaufende Schuhe, einen lebhaften, munteren Gesichtsausdruck und einen buschigen, energisch gezwirbelten Schnurrbart.
»Ich fürchte«, rief er, »ich komme ziemlich spät.«
Smudge wusste nicht, was sie tun sollte. Seine Zähne blitzten, als er an seiner Nase entlang auf sie herabblickte und sie musterte. »Ich nehme an, ich darf eintreten?«
Smudge trat stumm beiseite und hielt über die Schulter Ausschau nach einem Erwachsenen, der ihr beistehen würde, aber es kam niemand. Nur ein Schwall fremder Stimmen, sicher die der Überlebenden, drang durch die Halle.
»Es tut mir leid, Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber soviel ich weiß, wurde Bescheid gegeben?«
Smudge blieb immer noch stumm.
»Ich bin Charlie Traversham-Beechers. Ist die Dame des Hauses vielleicht zu sprechen? Würdest du sie vielleicht – holen?« Wieder entblößte er seine weißen Zähne.
»Imogen Torrington«, brachte Smudge endlich im Flüsterton hervor. Auf ihrem eigenen Terrain war sie ein durchaus selbstbewusstes Kind, aber das hier war alles andere als ihr Terrain.
Der Herr hielt ihr die Hand hin. »Wirklich? Sehr angenehm«, sagte er mit gewandtem, leicht näselndem Ton, umschloss ihre Finger mit seinen dick behandschuhten Händen und drückte zu.
In diesem Augenblick war ein Pfeifen zu hören, und Clovis, der noch an seiner Fliege herumzupfte, kam in makelloser Abendkleidung – im Frack – die Treppe herunter, die Haare geölt, die Bügelfalten seiner Hose messerscharf. Er war das absolut Willkommenste und Brüderlichste, was Smudge sich gewünscht haben könnte. Sie rannte zu ihm.
»Hallo, wen haben wir denn da?«, erkundigte sich Clovis.
Der Gentleman trat beflissen vor. »Charlie Traversham-Beechers. Ich glaube, Sie haben mich bereits erwartet.«
»Falls ja, weiß ich persönlich nichts davon«, gab Clovis liebenswürdig zurück, während Smudge sich hinter ihm versteckte und die Ohren spitzte.
»Meines Wissens hat die Eisenbahn Ihnen mitgeteilt, dass Sie mit Passagieren rechnen müssen«, erwiderte der Besucher.
»Passa… Oh! Sie gehören zu dem Unfall?«
»Richtig.«
»Wie außergewöhnlich.«
»Ja, es war ziemlich entsetzlich.«
Clovis ließ den Blick über Charlie Traversham-Beechers’ äußere Erscheinung wandern. »Wo hat dieser Unfall eigentlich stattgefunden?«
»Auf der Nebenlinie.«
»Nach?«
»In der Nähe von Whorley. Irgendwelche Probleme mit einer Weiche, glaube ich. Der absolute Horror. Eine richtige Entgleisung. Hat man Ihnen das nicht gesagt?«
»Nicht im Detail. Furchtbar.«
»Das war es. Aber die meisten wurden bereits versorgt.«
»Ja, wir haben schon eine ganze Gruppe von Ihnen irgendwo hier …« Clovis sah sich um, als erwartete er, die bisherigen Besucher in den Schatten lauern zu sehen. »Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass noch mehr kommen.«
»Haben Sie denn kein Telefon? Hat die Eisenbahn Sie nicht kontaktiert?«
»Da drüben steht es.« Clovis deutete auf das Gerät. »Aber wir haben nicht das Geringste gehört. Es tut mir leid, Sie müssen mich für entsetzlich unhöflich halten. Kommen Sie doch herein. Ich …« Er unterbrach sich, sah sich um und fragte sich plötzlich, was Emerald und seine Mutter jetzt wohl von ihm erwarteten. Was sollte er mit dem Fremden anfangen, ohne ihre ach so wichtigen Dinner-Arrangements durcheinanderzubringen? »Ich frage mich, wo die gute Mrs Trieves abgeblieben ist …« Plötzlich hatte er eine Idee. »Wissen Sie was, vermutlich sollte ich Sie erst einmal den anderen Überlebenden vorstellen.«
»Vermutlich. Vielen Dank«, sagte der Irrgänger, und die beiden begaben sich zum Frühstückszimmer und ließen Smudge allein.
Immens erleichtert sah sie sich eine Weile in der leeren Halle um, bevor sie sich an ihren ursprünglichen Zeitplan erinnerte. Sie durfte sich auf keinen Fall von ihrem Großen Unterfangen abbringen lassen. Sie zuckte die Schultern, schüttelte sich und huschte in den hinteren Teil des Hauses.
Clovis führte den Neuankömmling mit schnellen Schritten durch den Korridor und öffnete die Tür zum Frühstückszimmer, in dem die Gäste – die Überlebenden vielmehr – das Feuer umlagerten. Sie drängten sich darum herum, als hofften sie, im Kamin irgendetwas zu entdecken. Bei seinem Eintreten drehten sie sich aufgebracht und bedrückt um, und mehrere Stimmen riefen:
»Es gibt keine Kohlen mehr!«
»Kein Feuerholz!«
»Überhaupt nichts Brennbares!«
Clovis war wie vor den Kopf gestoßen. Sie alle – es schienen fünfzehn, zwanzig oder sogar mehr zu sein – drängten ungehalten auf ihn zu, und die Beschwerden, die sich übereinanderlagerten, klangen fast wie ein Chor: »Uns ist kalt! Wir haben Hunger!«
Um die Sache noch schlimmer zu machen, wandte sich der Neuankömmling, Charlie Treverish-Beacon oder Haversham-Trevor – Clovis hatte sich den verflixten Namen nicht gemerkt –, mit beträchtlicher Verwunderung zu ihm um und rief vorwurfsvoll: »Soll das etwa heißen, dass diese armen Teufel seit dem Unfall hier drin zusammengepfercht sind?« Und mit diesem verblüffenden Seitenwechsel löste er sich von Clovis und verschmolz mit finsterem Blick mit der Masse der Passagiere.
Clovis war so verwirrt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Aber schon kam Haverish-Treechers wieder auf ihn zu. Er trug, wie Clovis jetzt erst sah, eine rote Weste von einer sehr intensiven Farbe, irgendetwas zwischen Pflaume und Rotwein; eine rubinrote, portweinfarbene Weste, befremdlicherweise aber keine Krawatte, deren Fehlen seinem Näherkommen etwas Wildes verlieh.
»Es sind Frauen und Kinder hier. Wollen Sie etwa, dass sie vor Schwäche zusammenbrechen?«
Nun, da die kleine Menge einen Vorkämpfer und Fürsprecher gefunden hatte, verstummte sie wieder und beobachtete in aller Stille die beiden Männer, um zu sehen, wie die Sache ausgehen würde.
»Haben Sie denn keinen Tee bekommen?«, erkundigte sich ein nervöser Clovis und sah sich endlich unter den blassen Gesichtern um. Widerstrebend räumten sie ein, dass man ihnen Tee gebracht hatte, ein Eingeständnis, das fast so etwas wie eine stillschweigende Entschuldigung war. Niemand, dem Tee serviert wurde, hat wirklichen Anlass für ernsthafte Beschwerden.
»Auf ein Wort.«
Der Sprecher trat energisch auf ihn zu und beugte sich vertraulich vor. Clovis, wieder auf dem falschen Fuß erwischt, konnte gerade noch verhindern, dass er zurückzuckte. Das alles war zu befremdlich. Aber der Fremde lächelte.
»Könnten wir uns einen Moment draußen unterhalten?«
»Natürlich.« Es gab nichts, was Clovis lieber war, als dieses Zimmer verlassen zu können, in dem es inzwischen roch wie in einem Bahnhofswartesaal – nach ausdünstenden Mänteln und glitschigen Regenhäuten, nach feuchter Wolle und alten Teppichen, nach nassem Hund! Am liebsten hätte er auch dem wetterwendischen Mr Wer-immer-er-auch-war die Tür vor der Nase zugeschlagen und ihn bei den anderen zurückgelassen, wagte es aber nicht und fürchtete, sie würden sich alle auf ihn stürzen, wenn er es versuchte.
»Hier entlang«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
Misstrauisch beäugt von den aufgebrachten Passagieren traten der junge Mann und der Besucher in die kühle Luft des Korridors, aber zu Clovis’ Überraschung brach der Gentleman, kaum dass die Tür hinter ihnen geschlossen war, in ein herzhaftes, ansteckendes Lachen aus.
Clovis merkte, dass auch er zu lächeln anfing, während er darauf wartete, über den Witz aufgeklärt zu werden, und Trevorish-Charlson tat ihm den Gefallen.
»Sollen die da drin ruhig denken, dass sich jemand für ihr Anliegen einsetzt.«
»Wie meinen?«
»Beschwichtigungstaktik. Sie werden jetzt stundenlang Ruhe vor ihnen haben!«
»Ah!«, machte Clovis. Der Gentleman lächelte erneut und tippte vielsagend mit dem Finger an seine Nase.
Clovis hatte den Mann völlig falsch eingeschätzt; er war wirklich ein überaus charmanter Bursche.
»Offensichtlich handelt es sich größtenteils um Passagiere der zweiten und dritten Klasse«, fuhr der Gentleman weltgewandt fort. »Sie denken oft nicht einmal daran, etwas zu verlangen, so wie unsereins es tun würde. Sie haben nicht dieselben Erwartungen. War es nicht lammfromm von ihnen, die ganze Zeit so geduldig zu warten?«
»Vermutlich …«, sagte Clovis, der sich eingestand, dass er selbst die ganze Zeit keinerlei Notiz von ihnen genommen hatte. Dann fragte er, nur um irgendetwas zu sagen: »Haben Sie vielleicht irgendeine Vorstellung, wann man Sie alle abholen wird?«
»Nicht die geringste«, erwiderte der andere unbekümmert.
»Soweit ich weiß, wollte meine Schwester telefonieren. Vielleicht möchten Sie fürs Erste in der Bibliothek warten? Kommen Sie mit. Kann ich Ihnen vielleicht eine kleine Stärkung anbieten?« (Kaum ausgesprochen, bedauerte er sein Angebot, denn ihm graute vor der Vorstellung, die überarbeitete Myrtle oder, noch schlimmer, Mrs Trieves mit ihrer unterschwelligen Hektik um ein Stück Teekuchen oder sonst etwas Nahrhaftes zu bitten.)
»Einfach nur hier zu sein, ist mir Stärkung genug, mein Guter«, lautete die beruhigende Erwiderung seines neuen Freundes, und Clovis merkte, dass er ihm immer sympathischer wurde.
Gefolgt von seinem lächelnden Gefährten, ging er durch den Korridor. Hinter der Tür des Frühstückszimmers war es wieder still. Die Passagiere warteten geduldig auf weitere Entwicklungen.
Nur unterstützt durch kurze Stippvisiten einer völlig abgehetzten Myrtle, hatte Emerald sich in ihr Abendkleid mit seinen diversen Stützen und seinem sonstigen Drumherum gekämpft. Das Kleid, in Frühlingsfarben – einem diesigen Grün, einem sanften Rosa –, wurde an der Schulter von zwei perlenbesetzten Schnallen gehalten; oberhalb der Büste war es kaum noch schicklich zu nennen, unterhalb schmiegte es sich eng an ihren Körper an und ging dann über in einen seidig fließenden, mit zahlreichen Blüten bestickten langen und sehr engen Rock, dessen untere Hälfte unter einem tulpenförmigen Überrock hervorlugte wie der Stiel einer Blume.
Ihre Füße steckten in Schnallenschuhen, die von Zigeunern passend zum Kleid eingefärbt worden waren. (Die Zigeuner schlugen oft ganz in der Nähe ihr Lager auf und waren Meister im Schleifen von Messern, im Flicken von Töpfen und im Umfärben aller möglichen Dinge.) Myrtle hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um die Knöpfe am Rücken des Kleids zu schließen. Es war bei Weitem das Schönste, aber leider auch das Umständlichste, womit Emerald je etwas zu tun gehabt hatte.
»Wenn ich es nicht so lieben würde, würde ich es verbrennen«, sagte sie. »Und ich muss wirklich aufhören, Selbstgespräche zu führen.« Und sie ging nach unten, um es noch einmal bei der Eisenbahn zu versuchen, bevor sich die Gäste im Salon versammelten.
Die Luft in der Halle war kalt. Als sie nach dem Hörer griff, überzog eine Gänsehaut ihre nackten Arme, sodass sich der Flaum auf ihnen in einer vergeblichen Verteidigungsbemühung aufrichtete.
Dieses Mal prasselte Elsie Goodwins Stimme aus dem Hörer wie eine Ladung Schrotkugeln aus einer Kanone.
»Vermittlung!«
»Hallo, Elsie. Hier spricht Emerald Torrington, auf Sterne.«
»Oh, auf Sterne!«, kreischte Elsie, für die Wiederholungen sowohl Gewohnheit als auch Vergnügen waren.
»Könnten Sie mich bitte mit der Eisenbahnzentrale verbinden?«
Plötzlich war die Leitung still. Sie war so still wie ein dunkler Teich in einer ruhigen Nacht, in der man auf das Wasser hinausblickt und sich fragt, was sich wohl unter seiner tintigen Schwärze verbirgt. Das heißt, Elsies Stimme war verschwunden, und auch keinerlei Knistern war mehr zu hören. Stattdessen ertönte das laute, tragende Lachen eines Gentleman, allerdings nicht aus dem Hörer, sondern aus der Bibliothek. Eines fremden Mannes? Den Hörer noch in der Hand, beugte sich Emerald unter der Treppe hervor und reckte sich in Richtung Tür der Bibliothek, die teilweise offen stand und ihr einen weiten Blick auf den Raum dahinter bot.
Clovis’ ausgestreckte Beine und Füße ragten in der Nähe des Kamins hervor. Immerhin hatte er schon seine Abendschuhe an, also würde sie ihm nicht den Kopf abreißen müssen. Da, schon wieder dieses Lachen, ein lautes, hohes ha-ha-HA-HA!
Sie beugte sich noch weiter vor, bis das Telefonkabel sich straffte, während sie gleichzeitig vergeblich versuchte, den Hörer ans Ohr gepresst zu halten, und sah nun auch das zweite Beinpaar im Raum, das dem Besitzer des Lachens gehörte. Dann standen beide Männer auf, wie um ihr zu Gefallen zu sein. Ihr Blick auf die beiden, quer durch die Halle und die teilweise geöffnete Tür des weitläufigen Raums, war nicht perfekt, dennoch ließ der Anblick des fremden Mannes sie alles andere vergessen – Elsie, die Eisenbahn und sogar ihren verflixten Geburtstag.
Sie sah ihn im Profil; größer als Clovis, das lange Kinn vor- und hochgereckt, um das Lachen auszustoßen. Der Schein des Feuers beleuchtete den unteren Teil seines Gesichts und ließ die tiefrote Seide seiner Weste aufschimmern.
Eine Weste aus roter Seide? Als Reisebekleidung?
Seine Haut wirkte in diesem Licht gelblich, seine Finger, die lang waren, besaßen dieselbe ölige Färbung. Verblüfft über die Aura der Hysterie und der Geheimnistuerei, die sowohl von dem geheimnisvollen Fremden als auch von Clovis ausging, zuckte Emerald innerlich zurück, während sie zugleich fasziniert war, sich fast sogar gezwungen fühlte, mehr in Erfahrung zu bringen.
Leise stellte sie das Telefon auf den Tisch, legte den Hörer daneben und merkte, dass sie sich auf Zehenspitzen auf die beiden zubewegte. Der Rest des Hauses war still, als sie sich der Tür näherte.
»Was ist so lustig?«, fragte sie auf der Schwelle.
Clovis sah sie an. Er hielt eine brennende Zigarre in der Hand. Wo hatte er die bloß her?
»Das ist meine Schwester Emerald«, sagte er mit einer lässig hingeworfenen Geste in ihre Richtung, ein Verhalten, das selbst für ihn ungewohnt unhöflich war. Er spielte sich vor dem Fremden auf, erkannte Emerald, und sie hätte es ihm am liebsten ins Gesicht gesagt.
Der Fremde sah über die Schulter zu ihr hin; Emerald fand seine Augen zutiefst beunruhigend.
»Es ist mir ein Vergnügen, Miss Torrington«, sagte er und kam mit einer halben Verbeugung auf sie zu, sein Name allerdings verlor sich im feuchten Stumpen der Zigarre, die er sich in den Mund steckte, um ihr die Hand zu reichen und zu schütteln.
Als er die Zigarre wieder aus dem Mund nahm, zog sich eine dichte Rauchwolke, immer dünner werdend, zwischen seinen Lippen und dem angeschnittenen Ende der Zigarre hin und senkte sich langsam auf sein Kinn herab. Emerald beobachtete es fasziniert. Schließlich riss sie den Blick verlegen von dem Mann los und sah Clovis fragend an.
»Zigarren? Schon vor dem Essen?«, sagte sie, und er stieß ein leises Jaulen aus, um sich über sie lustig zu machen. »Sind Sie einer der Passagiere?«, erkundigte sie sich, wieder an den Fremden gewandt, der sich mit der Zunge über die Unterlippe fuhr, wie um den entströmenden Rauch aufzufangen und zu verschlingen.
»Ja, Emerald, offensichtlich«, sagte Clovis und hätte sich dafür um ein Haar eine Ohrfeige eingefangen.
Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihren Bruder aus dem Zimmer zu zerren und zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte, und der Angst, dieser widerliche Besucher könne sich während ihrer Abwesenheit an den Wertsachen vergreifen. Schließlich tat sie gar nichts und sah ihren Bruder nur verwirrt an.
»Ich fürchte, unsere Bekanntschaft hat keinen sehr glücklichen Anfang genommen, Miss Torrington«, kam es von dem Fremden. »Ich muss mich entschuldigen und nehme alle Schuld auf mich. Wo habe ich bloß meine Manieren gelassen?«
Er warf seine Zigarre ins Feuer. Clovis tat es ihm nach und machte ein mannhaft ernstes Gesicht.
»Ihr Bruder und ich haben uns gerade über etwas sehr Albernes unterhalten, nicht wahr, Clovis? Etwas wirklich sehr Albernes.«
»Über alle Maßen albern.«
»Und Sie kamen genau in dem Augenblick herein, als einer von uns eine ganz und gar nicht stubenreine Bemerkung gemacht hatte.« Letzteres wurde in einem spöttischen Ton geäußert.
»Natürlich nicht über eine Dame«, warf Clovis ein. Die beiden klangen wie ein eingeübtes Music-Hall-Duo.
»O mein Gott, nein, nichts dergleichen. Verflixt, Clo, mit jedem Wort graben wir unsere Grube nur noch tiefer.«
Clo?
»Verstehe«, sagte Emerald. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber so leid es mir tut, das alles interessiert mich nicht im Geringsten. Ich wollte gerade die Eisenbahngesellschaft anrufen, um zu hören, ob bereits etwas in die Wege geleitet wurde, um Sie alle abzuholen, damit Sie endlich weiterkommen.«
»Auch ich hoffe«, murmelte er, plötzlich ernst, »in Ihrem Interesse, dass etwas in die Wege geleitet wurde, um uns alle abzuholen, Miss Torrington.« Dann milderte er ab, was wie eine Drohung hätte klingen können – offen gestanden wie eine Drohung klang –, und fügte hinzu: »Wie schrecklich, dass so etwas ausgerechnet am Geburtstag einer jungen Dame passieren muss.«
Das alles kam so glatt über seine Lippen, dass das Wort Geburtstag eine ganze Welt unerwünschter Intimität zu enthalten schien. Emerald war erneut zutiefst bestürzt.
»Ach, komm schon, Em. Hab dich nicht so.« Clovis klang entschlossen. »Ich habe unseren Freund bereits zum Essen eingeladen, also wird er heute Abend sowieso nicht in einem Eisenbahnwaggon abreisen. Nicht heute Abend, Em. Er bleibt zum Essen.« Dann fügte er mit einem winzigen Schimmer seines normalen Selbst liebenswürdig hinzu: »Falls es dir recht ist, Geburtstagskind?«
Es war ihr natürlich alles andere als recht, aber er hatte sie in die Ecke gedrängt, und sie sah nicht den geringsten Ausweg. Getrennt von Clovis war sie einfach verloren. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie zusammengehörten, selbst wenn sie miteinander stritten, und sie fühlte sich ohne ihn schwach und hilflos.
Clovis’ neuer Freund neigte sich ihr entgegen, plötzlich verletzlich, während er auf ihre Antwort wartete. Er wippte auf seinen schimmernden, schmal geschnittenen Schuhen vor – obwohl er schockierenderweise keine Krawatte trug, war er recht elegant gekleidet, fast so, als wäre er auf dem Weg zu einem festlichen Abendessen gewesen –, und sein Gesicht war ohne das Feixen, das ihr so missfiel, durchaus charmant und offen wie das eines Kindes. Sie sah zwischen den beiden hin und her.
»Du siehst übrigens wundervoll aus«, sagte Clovis. »Hübsches Kleid.«
»Ja«, nickte der Gentleman. »Absolut wundervoll.«
»In Ordnung«, hörte sie sich mit schwacher Stimme sagen. »Ich meine, natürlich würden wir uns freuen, Sie als Gast bei uns zu haben.« Damit verließ sie das Zimmer.
»Famos. Großartig!«, rief einer der beiden hinter ihr her, aber sie hätte um nichts auf der Welt sagen können, wer von ihnen.
Sie ging zurück zum Telefon, obwohl sie keine große Hoffnung hatte, an diesem Abend noch einmal den Kontakt zu Elsie Goodwin herstellen zu können, und tippte mehrmals auf die bewegliche Höreraufhängung.
»Miss Torrington! Sterne!« Das misstönende Kreischen ließ sie zusammenfahren.
»Ja, hier ist Emerald Torrington.«
»Miss Torrington, ich habe einen Mr William Flockhart von der Eisenbahngesellschaft für Sie. Wenn Sie bitte einen Augenblick warten würden?«
»Ja, danke …«
»Danke Ihnen!«
Clovis und sein neuer Freund waren in die Halle geschlendert gekommen, während sich Elsie Goodwin, unsichtbar in ihrem Wohnzimmer, umständlich daranmachte, die notwendigen Verbindungen herzustellen. Und Emerald hörte den fremden Gentleman hinter sich fragen: »Torrington? Sagten Sie Torrington?«
»Ja«, bestätigte Emerald stirnrunzelnd.
»Ich weiß nicht, wo ich die ganze Zeit mit meinen Gedanken war. Das ist ja unglaublich!« Ihr Gast lachte entzückt auf. »Gerade eben noch hatte ich das Gefühl – aber dann dachte ich – nein, es kann nicht sein!«, rief er, und noch einmal: »Nein, es ist unmöglich. Aber andererseits sehen Sie beide ihr so ähnlich! Sie sind natürlich dunkler als sie, aber die Kinnpartie, die Wangenlinie, die Stirn, die … Bitte, sagen Sie: Sind Sie Tochter und Sohn von Charlotte Thompson, inzwischen Torrington?«
»Inzwischen Swift«, antwortete Clovis mit gepresster Stimme.
»Ja, sind wir. Sie kennen unsere Mutter?«, versuchte Emerald, die das Telefon für einen Moment völlig vergaß, Genaueres zu erfahren.
»Was für ein Zufall, nicht wahr?«, sagte er und schien ihr Gesicht minutiös in Augenschein zu nehmen, die Lippen halb geöffnet, als wollte er ihr Bild in sich hineintrinken.
In diesem Augenblick drang ein lautes Geräusch aus dem runden Hörer in ihrer Hand, und sie hielt ihn aufs Neue an ihr Ohr. »Hallo?«, sagte sie in die Sprechmuschel, die sie bisher an ihre Brust gedrückt hatte. »Hallo?« Sie tippte erneut auf die Gabel, allerdings ohne Erfolg. »Verflixt«, rief sie dann. «Ich glaube, wir sind getrennt worden. Und ich habe so lange gebraucht, um durchzukommen.«
Der Besucher legte die Stirn in kunstvolle Falten.
»Die Eisenbahn?«, fragte er, und als Emerald enttäuscht nickte, beugte er sich ein Stück näher zu ihr. »Es ist wirklich nicht leicht, sie zu fassen zu bekommen«, sagte er mit einem Zwinkern.
Smudge war immer ein bisschen nervös, wenn sie abends über den Hof zu den Ställen gehen musste. Sie hasste die Dunkelheit nach dem hellen Schein der Fenster des Hauses, bevor der erste Lichtschimmer der Ställe sie erreichte.
Sorgfältig gesicherte Lampen blieben in der Sattelkammer und unterhalb des Uhrenturms brennen, bis die abendlichen Stallarbeiten erledigt waren. Robert löschte sie, bevor er sich in seine Wohnung über der Sattelkammer zurückzog. Von da an herrschte pechschwarze Dunkelheit. (Smudge hatte einmal gesehen, wie zähflüssiges heißes Pech aus einem Eimer in die Ritzen hölzerner Futterkisten und Futtereimer gekippt wurde, und getreu seinem Ruf war Pech tatsächlich die absolut schwärzeste, dunkelste Substanz, die ihr je begegnet war: schwarz, heiß, mit einem durchdringenden, bitteren Geruch.)
Ein kalter Wind schlug ihr die Röcke um die Beine, als sie den Hof betrat. Die Kopfsteine unter den dünnen Sohlen ihrer Stiefel fühlten sich unebener an denn je. So schnell sie konnte huschte sie über den Hof und gelangte – nachdem sie einmal gestolpert war und sich das Knie angeschlagen hatte – zur Tür des Stalls. Die Pferde waren natürlich längst für die Nacht hereingebracht worden.
Die Luft im Stall war wärmer und erfüllt vom süßen Duft des Heus vom letzten Jahr, das nach Leben und sonnenbeschienenen Wiesen roch und, in Netze gefüllt, den Pferden als Futter diente. Sie hörte das rhythmische Mahlen ihrer Zähne, als sie sich daran gütlich taten, und dazwischen das lautere Knirschen verirrter Haferkörner oder das gelegentliche Klappern eines Hufeisens auf dem fischgrätgepflasterten Boden. Ihre Angst verflog, und sie griff vertrauensvoll über sich nach dem Haken, an dem die Halfter hingen. Sie störte sich nicht einmal daran, als eine dicke Spinne auf ihren Handrücken purzelte, sondern schüttelte sie einfach ab und ging an der Reihe der Boxen vorbei zur letzten und kleinsten, die Lady gehörte.
Die Pferde beobachteten sie neugierig. Von oben, auf der anderen Seite des Hofs, über der Sattelkammer, hörte sie Robert lachen und dann Stanleys höhere Stimme, die in das Lachen einfiel.
Sie blieb stocksteif stehen und spitzte die Ohren, registrierte all die anderen Geräusche draußen: das Rauschen des Windes in den Bäumen, das wie an den Strand schlagendes Wasser klang, den Todesschrei irgendeines kleinen Tiers.
»Komm her, Lady«, sagte sie zu dem Pony, als sie in die Box glitt. Lady bewegte sich, reckte den Hals und schnupperte an Smudges Kleidern herum. »Braves Mädchen, du kommst jetzt mit mir«, sagte Smudge so leise wie möglich, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Stimme ganz ruhig und selbstsicher klingen zu lassen.
Sie führte Lady an den Boxen entlang. Levi hatte sich hingelegt. Sein schwarzer Schweif lag ausgebreitet auf dem Stroh. Nun hob er den Kopf von den angewinkelten Beinen, um sie zu beobachten. Ferryman dagegen machte den Hals lang, verdrehte die Augen und versuchte, ein Stück aus Ladys Rumpf herauszubeißen, aber Smudge schob seinen Kopf mit dem Ellbogen beiseite, wobei sie nur knapp den gelben Zähnen entging.
»Zurück, du gemeines Biest!«, zischte sie.
Im Inneren des Stalls hatten sich Ladys Hufe nicht besonders laut angehört, aber draußen auf dem offenen Hof machten sie einen schier entsetzlichen Lärm. Sie polterten geradezu auf den Kopfsteinen. (Smudge fragte sich, ob Mr Darwin je aufgefallen war, dass seine geliebte Evolution den Pferden ziemlich übel mitgespielt hatte, indem sie ihnen nicht erlaubte, außer Schritt, Trab und Galopp auch das Gehen auf Zehenspitzen zu erlernen. Dann hätten die ängstlichen, grasfressenden Tiere die Möglichkeit gehabt, sich an Raubtieren vorbeizuschleichen, statt ständig nur weglaufen zu müssen.) Smudge selbst ging auf Zehenspitzen, was allerdings rein gar nichts nützte: Ein Streifen gelben Lichts erschien über ihr und zerteilte die Luft wie ein Breitschwert, als Robert die Tür aufstieß und rief: »He! Wer da?« Seine Stimme klang so laut und herrisch, dass Smudge anfing, wie Espenlaub zu zittern. Weh dem armen Einbrecher, der Robert über den Weg lief, dachte sie.
»Ich bin’s nur, Smudge«, antwortete sie kleinlaut.
»Sie – und Lady? Was hat das alles zu bedeuten, Miss Imogen?«
Smudge duckte sich unter Ladys Hals hindurch und sah zu Robert auf, der sich als Silhouette über ihr abzeichnete. Dann tauchte Stanley neben ihm auf, und sie sahen zu zweit auf sie herab. Smudge hatte das Gefühl, auf einem schwarzen Meer zu treiben, auf dem die beiden sie vom Ausguck eines Schiffs aus entdeckt hatten. Bloß dass sie nicht gerettet werden wollte.
»Nun?«
»Die Gäste wollen Lady sehen«, rief Smudge mit selbstsicher klingender Stimme. Allmählich fand sie Gefallen an der Aufregung der Täuschung.
»Jetzt? Wozu denn das?«
»Sie wollen sie sich ansehen, vorne vor dem Haus, weil ich ihnen so viel von ihr erzählt habe und sie …« Ihre Stimme versagte, aber sie fasste sich wieder. »Ich glaube, sie wollen einfach nur nett zu mir sein.«
Das hörte sich großartig an, sie war begeistert von sich selbst. Am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt. Das würde Robert auf jeden Fall glauben.
»Verstehe … Aber wieso hat man mich nicht gerufen?«
»Weil Sie doch jetzt zu Abend essen. Und – und – weil ich so gebettelt habe, Lady selbst holen zu dürfen.«
Eine Pause trat ein, in der die ahnungslose Lady ein Schnauben ausstieß.
»Also gut. Und wie lange soll das Ganze dauern, Miss?«
Smudge gab sich ahnungslos. »Ach, ich weiß nicht. Bis sie genug davon haben. Sie wissen doch, wie Erwachsene sind.«
»Allerdings«, sagte er knapp. »Passen Sie jedenfalls auf Ihre Zehen auf, Sie haben ja nicht mal die richtigen Stiefel an. Und wenn ich Sie nicht bald wieder hier sehe, komme ich selbst zum Haus.«
»Ist gut, Robert. Danke.«
Smudge zog am Halfter und setzte ihren Weg durch die Dunkelheit fort. Jetzt, wo sie Roberts Autorität im Rücken und Lady an ihrer Seite wusste, hatte sie überhaupt keine Angst mehr, aber sie wartete, bis Robert die Tür zu seiner Wohnung wieder geschlossen hatte, und zählte bis zehn, bevor sie Lady über den Rasen führte.
Lady war es gewohnt, die Auffahrt zu benutzen, und Smudge musste ihr gut zureden, bevor sie die Hufe auf das Gras setzte. Aber sobald sie es getan hatte, senkte sie den Kopf, um zu fressen und mit ihren stumpfen Zähnen an den Halmen herumzurupfen. Rasen, gestutzt und verboten, war für das Pony wie eine Droge, und Smudge war gezwungen, Lady einen klatschenden Schlag auf den Bauch zu versetzen, damit sie mit der Völlerei aufhörte.
»Komm endlich«, sagte Smudge. Gemeinsam gingen sie aufs Haus zu.
Als sie es erreichten, blieben das Pony und das kleine Mädchen einen Moment abwartend unter der Magnolie stehen, deren weiße Blütenkerzen kein Licht warfen.
Smudge fühlte Ladys stoßweisen Atem warm auf ihrer Handfläche, als sie durch die Fenster spähte.
Niemand zu sehen.
Sie wartete, bis ihr wild hämmerndes Herz sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann – und erst als sie überzeugt war, dass niemand sie beobachtete – näherte sie sich der Hintertür. Das Ende der Leine in der einen Hand, griff sie mit der anderen nach dem schweren Ring, drehte ihn und drückte die Tür auf. Lady zuckte beim Anblick des hellen Lichts ein wenig zusammen. »Nur keine Bange, Lady«, sagte Smudge und führte sie entschlossen weiter.
Der Schirmständer versetzte Lady einen kurzen Moment lang in Angst und Schrecken, aber Smudge duldete jetzt, wo sie ihrem Ziel so nahe waren, keine Unbotmäßigkeiten. »Brav, brav, schön weitergehen«, befahl sie.
Ihr Großes Unterfangen war in greifbare Nähe gerückt. An diesem Samstag, dem Vorabend des Ersten Mai, würde das Pony namens Lady in Kohlestrichen verewigt werden. Sie musste Lady nur dazu bringen, ihr brav Modell zu sitzen, und schon wäre es erledigt. Beim Gedanken an die Modell sitzende Lady musste Smudge die Hand vor den Mund schlagen, um ein Kichern zu unterdrücken. Natürlich würde Lady nicht wirklich sitzen, nur Zirkusponys setzten sich hin, auf Fässer oder auf Clowns und dergleichen, und dafür war Lady viel zu würdevoll und viel zu gewichtig.
»Pst, Lady«, flüsterte sie. »Komm mit. Wir gehen jetzt rein.«
Das Pony tat den ersten Schritt ins Innere des Hauses.
So also verteilten sich die Bewohner von Sterne zwischen sieben und acht Uhr abends auf das Haus (die Mehrheit der Tiere nicht mitgerechnet, die, sofern nicht anderweitig vermerkt, entweder schliefen oder den Menschen zwischen den Beinen herumliefen): Robert und Stanley waren bei ihrem Abendessen, bestehend aus Brot, Käse und Mixed Pickles; das Pony Lady und Smudge hatten gerade die hintere Halle betreten; die schwitzende Florence Trieves hackte in der Küche auf Myrtle herum; Emerald war in ihrem Zimmer und beruhigte ihre Nerven nach ihrer verwirrenden Begegnung mit dem neuen Gast in der Halle; Charlotte, die Puderquaste in der Hand, ging in ihrem Zimmer umher und betupfte verdrossen ihren blassen Hals, ohne sich des neuen Gastes bewusst zu sein (allerdings war ihr charakteristischerweise die Anwesenheit der ihr bereits bekannten Gäste ein Dorn im Auge, ebenso charakteristischerweise war ihr das erbarmungswürdige Scharren des Kätzchens Tenterhooks in seinem kleinen Gefängnis unter ihrem Bett absolut gleichgültig). Und die Überlebenden im Frühstückszimmer waren dabei, ihre feuchten Mäntel auszuziehen und begierig der Dinge zu harren, die da kommen sollten.
Patience, perfekt frisiert und voller Vorfreude, hüpfte aus ihrem Zimmer zu dem ihres Bruders und klopfte.
»Ernest?«
»Müssen wir?« Er öffnete die Tür.
»Ich denke schon. Bist du fertig? Nein, wie ich sehe, noch nicht. Ich kann ja verstehen, dass die Fliege dir Probleme bereitet, Ernest, aber ein Kamm? Jeder kann mit einem Kamm umgehen!«
»Ich habe – nein, nicht …«
Sie hatte seine Hand genommen und zog ihn vor den Spiegel des Frisiertischs, wo sie ihn auf den Stuhl drückte, seine Fliege neu band und ihm mit dem Kamm durch die dichten Haare fuhr, die sie anschließend mit etwas Pomade bändigte. Patience lebte in der ständigen Angst, andere könnten sich über Ernest lustig machen, obwohl das seit seiner Kindheit nie wieder geschehen war. Es gab nichts, was sie mehr fürchtete, als ihn gedemütigt zu sehen; es war für sie ein unerträglicher Schmerz. Einmal hatte sie einem Jungen, der drei Jahre älter war als sie, die Nase blutig geschlagen, weil er Ernest »Karottenkopf« und »Schielauge« gerufen hatte.
Nachdem sie eine Weile mit Fliege und Kamm herumhantiert hatte, gab sie ihn frei, und sie verließen gemeinsam das Zimmer, überaus elegant und passend für die abendliche Feier ausstaffiert. Als sie Arm in Arm die Treppe hinuntergingen, verkündete Patience: »Es wird ein wundervoller Abend werden, nicht wahr, Ernest?«
Die Stimme, die ihr antwortete, war jedoch nicht die ihres Bruders, sondern eine, die rauer und schärfer klang als seine. Sie gehörte dem Gentleman mit dem Schnurrbart, dem neuen Gast, dem Eindringling, der ihre Schritte auf den hölzernen Stufen gehört hatte, aus seinem Sessel in der Bibliothek aufgesprungen war und die Tür aufgerissen hatte, um zu rufen: »Ein überaus wundervoller Abend!«
Bruder und Schwester blieben stehen und musterten ihn verwundert – den maulwurfschwarzen Serge seines Jacketts, die schneeweiße Hemdbrust, das Hemd selbst, das am Hals schockierenderweise offen stand, und die kirschrot aufblitzende Weste.
Clovis kam in seinem Gefolge in die Halle geschlendert, lachend, umgeben von einer Wolke Zigarrenrauch.
»Charlie Burbisham-Tr… – darf ich Ihnen Miss Patience Sutton und ihren Bruder Ernest vorstellen. Sie sind …«
»Sehr erfreut«, sagte der Herr und blickte mit seinen sehr schwarzen Augen in ihre glockenblumenblauen. »Überaus erfreut.«
»Ganz meinerseits«, kam es weltläufig von Patience, der es gelang, sich ihren Schock sowohl über das Aussehen dieses Neuankömmlings als auch über Clovis’ reichlich ungebührliches Verhalten nicht anmerken zu lassen – von den skandalösen Rauchwolken, die aus der Bibliothek drangen, ganz zu schweigen.
Der gleichermaßen verblüffte wie beherrschte Ernest streckte dem anderen die Hand hin, und die weißen Handschuhe der beiden trafen sich zu einem festen Griff.
Patience, winzig im Vergleich zu den Männern um sie herum, klappte anmutig ihren Fächer auf und wieder zu. Alle vier standen einen Augenblick beisammen, ohne zu ahnen, dass soeben ein Pony durch die Hintertür ins Haus gebracht worden war. Irgendwo schlug eine Uhr.
»Hat es gerade acht geschlagen?«, erkundigte sich Patience. (Nein, hatte es nicht.) »Ist es wirklich schon so spät?«
»Keine Ahnung«, sagte Clovis. »Sollen wir hineingehen?« Und er führte den Weg an, ohne eine Erklärung zur Anwesenheit des neuen Herrn abzugeben.
»Wer um alles in der Welt ist das?«, flüsterte Patience ihrem Bruder ins Ohr.
»Anscheinend ein Freund von Clovis«, antwortete Ernest, wobei er nur den Mundwinkel bewegte.
Patience verdrehte die Augen auf eine Weise, die »Alles sehr ungewöhnlich« bedeutete, und erhielt ein lautloses »Bizarr!« ihres Bruders als Antwort.
Sie hatten den Salon erreicht. Clovis stieß die Tür auf, und die kleine Gruppe trat ein. Die einzige Ausnahme bildete der neue Gast, der lautlos durch den Korridor davonhuschte. Ohne aus dem Schritt zu kommen, öffnete er geräuschlos die Tür des Frühstückszimmers, beugte sich hinein und flüsterte: »Ich tue mein Bestes.« Er tippte sich bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger an die Nase, wie er es vorhin Clovis gegenüber getan hatte, machte die Tür wieder zu und trabte zurück, um sich den anderen anzuschließen.
Keine Geräusche gestelzter Fröhlichkeit drangen bis zu Smudge, die Lady die Treppe hinaufführte.
Es hatte einen kniffligen Augenblick gegeben, als das Pony das hohle Dröhnen seiner eigenen Hufe auf dem Holz gehört und erschrocken einen Satz nach hinten gemacht hatte, aber Smudge, der Verzweiflung nahe, hatte ihm gut zugeredet.
»Komm schon«, drängte sie. »Es ist überhaupt nicht weit!« Lady war nach wie vor skeptisch. »Na komm, geh schön die Treppe rauf, Lady. So ist’s brav.«
Und Lady war die Treppe hinaufgegangen, deren Holz, anders als das der Vordertreppe, nicht gewachst und poliert war. Die Vorderhufe fanden die Stufen mit Leichtigkeit, das Hinterteil bewältigte den Anstieg ohne Probleme, das Poltern allerdings war furchtbar. Trotzdem – niemand kam.
Der Treppenabsatz stellte eine neue Herausforderung dar. Die Tür musste offen gehalten werden, damit das Pony durchgehen konnte, und dann mussten sie durch den ganzen langen Flur, vorbei an Zimmer um Zimmer. Wenn die Küchentreppe doch bloß breiter gewesen wäre! Von dort hätten sie es viel näher gehabt bis zu Smudges Zimmer. Sie war inzwischen ganz hibbelig vor Aufregung. Ihre Finger zögerten lange, angstvolle, hassenswerte Sekunden über dem Türknauf. Dann ergriff sie ihn. Ihre Hände waren schweißnass, ihr Mund trocken. Mit einem überlauten Klicken drehte sie den Knauf.
Dahinter war es warm, Lampen brannten den ganzen Korridor entlang und machten ihn so behaglich und heimelig, wie sie ihn noch kaum je gesehen hatte.
Sie wollte die Tür gerade weiter aufmachen, als sie hörte, wie die Tür ihrer Mutter – ihrer Mutter! – geöffnet wurde. Hastig zog sie sie wieder zu.
Sie hörte Charlottes schnelle Schritte, eine weitere Tür – noch näher – und dann, so unverkennbar wie der Hufschlag eines Pferdes, das Geräusch der Toilettenspülung. Hysterie wallte in Smudges Brust auf. Gleich würde sie anfangen zu lachen, würde sich krümmen vor Lachen, würde sterben vor Lachen. Und als sei auch Lady mit dem Geräusch einer gezogenen Kette vertraut, hob sie den Schweif und ließ einen feuchten Haufen grasiger, dampfender Pferdeäpfel genau am Kopf der Treppe auf den Absatz fallen.
»O Lady«, hauchte Smudge, der das Kichern vergangen war. »Das war nicht sehr nett.«
Lady, die ihren Status als Hauspony inzwischen als selbstverständlich hinnahm, bewegte nur gleichgültig die Ohren, während zu hören war, wie Charlotte in ihr Zimmer zurückging. Alles war wieder still.
Smudge machte die Tür weit auf.
»Jetzt oder nie«, flüsterte sie und führte das Pony in den breiten Korridor.
Aus den anderen Zimmern waren keine Geräusche zu hören, keine Stimmen. Es gab nur das gleichmäßige, gedämpfte Poltern der Pferdehufe auf dem Boden. Der süßliche Dunggeruch, der um sie herum in der Luft hing, verlor sich allmählich. Smudge widerstand dem Bedürfnis, Lady zum Trab anzutreiben, da sie fürchtete, die Pferdehufe könnten dann durch die Decke brechen und Putz und Mörtel auf die verängstigten und aufgebrachten Menschen darunter herabrieseln lassen. Wie wütend sie sein würden! Sie stellte sich vor, wie sie erschrocken nach oben blickten und ihr mit der Faust drohten.
Ladys sorgfältig eingeölte Hufe wirkten hier drinnen nicht ganz so sauber wie draußen, aber sie bewegte sich über die Teppiche, als wäre sie seit jeher daran gewöhnt. Smudge führte sie an den Lampen vorbei, vorbei an den düsteren alten Gemälden, am Gästezimmer, am Zimmer ihrer Mutter … sie führte das Pony am Zimmer ihrer Mutter vorbei! Die Aufregung brauste über sie hinweg wie ein Windstoß, riss sie fast von den Füßen. Vor Begeisterung hätte sie zu gern laut geschrien, wäre am liebsten juchzend den Korridor hinauf- und hinuntergerannt, wollte jubeln und Rad schlagen, dass ihre Unterwäsche hervorblitzte, so lange, bis ihr schwindlig wurde. Das Ankleidezimmer ihrer Mutter, das gestreifte Zimmer, das von Clovis … Sie hatten es geschafft, sie waren an der Ecke, umrundeten sie. Ihre Hand legte sich auf den Türknauf, drehte ihn, die Tür war offen. Ihr Zimmer – wie winzig es aussah! – lag vor ihr, und dann, dann war das Pony drinnen.
Smudge hatte einige Mühe sich umzudrehen, weil Ladys Hinterteil gegen das Bett stieß, aber sie schaffte es, machte die Tür wieder zu und schloss sie ab.
Plötzlich fühlte sie sich so schwach, dass sie sich gegen die verschlossene Tür lehnen musste. Ihr Puls und jeder fühlende Teil von ihr sackten nach unten. Sie schien in einen Abgrund zu stürzen, kam sich vor wie eine zum Zerreißen gespannte Geigensaite, die von einem Moment auf den anderen durchschnitten wurde und nun schlaff und haltlos herunterhing. Beim Gedanken an das, was sie getan hatte, wurde ihr ganz schwindlig, sie fühlte sich schwach und außer Atem. Vernunft und fiebrige Verwunderung tobten in ihr.
Lady dagegen schien nicht die geringste Ahnung zu haben, in welch ungewöhnlicher Situation sie sich befand. Gedankenvoll beschnupperte sie die Bettdecke, aber Smudge sah, dass ihre Gedanken nicht sehr tiefgründig waren.
Sie richtete sich wieder auf, knotete Clovis’ Tuch fester um ihre Taille und fand allmählich ihr Gleichgewicht wieder. Sie hatte sich den perfekten Abend ausgesucht, niemand würde das Pony bemerken, während die Party im Gang war – Erwachsene konnten sich immer nur auf eine Sache konzentrieren. Sie war dabei, ihr Großes Unterfangen in die Tat umzusetzen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Ich glaube, ich besorge dir lieber etwas zu essen«, sagte sie zu dem Pony. »Nicht dass du anfängst, dich zu langweilen, und die anderen durch dein Wiehern auf uns aufmerksam machst.«