EIN HÖCHST UNERFREULICHES SPIEL

Herausgerissen aus ihrer fröhlichen Stimmung, plötzlich bedrückt, sah die kleine Gruppe Traversham-Beechers einen Moment lang ausdruckslos an und wandte sich dann wieder dem Essen zu.

Er begab sich ohne Umschweife zur Anrichte, wählte unter den Karaffen einen sehr dunklen Rotwein und stellte frische Gläser zusammen. Sie klirrten auf dem dämpfenden Tuch leise gegeneinander, während er so hastig einschenkte, dass Tropfen über den Rand der Gläser schwappten, rosig daran herabrannen und das damastene Tuch befleckten.

»Zum Wohlsein und so weiter«, rief er aufgekratzt, verteilte die Getränke und stellte die Karaffe auf den Tisch. Als er jedem der Anwesenden ein Glas vorsetzte, löste ihre Kameraderie sich in Luft auf. Was eine freundliche Gruppe gewesen war, verwandelte sich in einen Tisch voller vereinzelter, isolierter Seelen. Traversham-Beechers setzte sich neben Emerald und trank gierig.

»Haben wir es nicht gemütlich? Na, was ist? Sollen wir uns alle betrinken?«, fragte er.

Der Vorschlag traf auf schockiertes Schweigen.

»Ich glaube, ich kann die Frage mit einem klaren ›Nein‹ beantworten«, sagte John Buchanan. »Aber gegen ein Glas hätte ich nichts einzuwenden.«

»Ein Glas, vielleicht auch zwei. So ist’s recht«, sagte Traversham-Beechers und schenkte alle Gläser randvoll nach. »Ein Trinkspruch auf unsere Gastgeberin, die bildschöne Miss – tut mir leid, Mrs Torring… Oh, ich muss mich nochmals entschuldigen: Mrs Swift. Auf Mrs Swift!« Und er hob sein Glas, trank und erkundigte sich leutselig: »Wo ist sie überhaupt?«

»Sie – sie hat sich vor einer Weile zurückgezogen«, sagte Clovis und fügte, an Emerald gewandt, hinzu: »Meinst du, wir sollten unserer geliebten Mutter einen Teil der kläglichen Reste anbieten?«

»Gehst du dann bitte und holst sie, Clovis?«, antwortete Emerald, die im Augenblick keine große Lust auf eine Begegnung mit ihrer Mutter hatte.

Clovis verließ das unordentliche Speisezimmer, in dem die Gäste in ihren ziemlich mitgenommenen Kleidern ohne jede Sitzordnung Platz genommen hatten und der ganze Tisch mit Essensresten übersät war, und betrat die kühle Leere von Fluren und Halle.

Der Kater Lloyd saß reglos auf einem Treppenpfosten und folgte ihm mit den Blicken.

Clovis schlich zum Studierzimmer, aus dem gedämpftes Gemurmel drang, und lauschte einen Augenblick, bevor er weiterging. Obwohl er wusste, dass die Passagiere für den Augenblick zufriedengestellt waren, traute er der offenkundigen Leere des Hauses nicht so recht und hatte beim Gehen ständig das Gefühl, sie aus den Augenwinkeln herumhuschen zu sehen.

Oben wirkte alles so hell erleuchtet und heimelig wie zuvor. Er klopfte an die Tür des Schlafzimmers seiner Mutter, des größten, genau in der Mitte des Hauses.

»Wer ist da?«

Ihre Stimme klang verängstigt; anscheinend hatte er sie erschreckt.

»Ich bin es nur«, sagte er und trat ein.

Charlotte hatte sich auf einen Ellbogen aufgerichtet. Das große Erkerfenster befand sich genau hinter ihr, die seidenen Vorhänge halb zugezogen, gerüscht und mit Fransen versehen wie in den Boudoirszenen in La Bohème in Covent Garden, wo Clovis, Emerald, Charlotte und Horace einen unvergessenen Abend in einer der Logen verbracht hatten, eingetaucht in Schönheit, durchtränkt von Schönheit.

»Alles in Ordnung, Mutter?«, fragte er.

Sie hatte sich mit einem Seufzer auf das Bett zurücksinken lassen, und seine Frage kam von Herzen.

»Setz dich, mein Junge«, sagte sie und nahm, als er ihrer Aufforderung Folge geleistet hatte, seine Hand.

»Die Gäste, das heißt die Leute vom Unfall, sind abgefüttert. Und jetzt sitzen wir anderen im Speisezimmer und essen auch eine Kleinigkeit. Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?« Er fühlte sich an die schrecklichen Tage nach dem Tod seines Vaters erinnert, als er unzählige Male versucht hatte, sie zu überreden, ihr Zimmer zu verlassen. Clovis war siebzehn gewesen, als Horace Torrington starb; er hatte sich, so gut er konnte, um seine Mutter gekümmert und seine Sache durchaus gut gemacht – bis sie sich einen neuen Ehemann nahm. Jetzt hielt er ihre Hand. »Ma?«

Sie sah ihn nicht an. »Ist er immer noch da?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Wer?«

»Traversham-Beechers.« Sie sprach den Namen tonlos aus, völlig ohne Modulation. Aber anscheinend hatte sie keine Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern.

»Wo sollte er denn sonst sein, Mutter? Magst du ihn nicht? Ich weiß, er redet zu viel, aber ich glaube, ich mag ihn. Sehr sogar.«

Sie antwortete nicht. »Wie spät ist es?«, fragte sie dann, setzte sich langsam auf und betastete ihre Frisur.

»Ich bin mir nicht sicher. So gegen zehn, denke ich. Hast du es eigentlich warm genug?«

Das Feuer in ihrem Kamin war fast ausgegangen. Clovis durchquerte das Zimmer, stocherte in der Glut herum, nahm dann den Kohleneimer und schüttete unter viel Geklapper und aufsteigenden Staubwolken Kohlen auf die Glut.

»Nicht so laut. Mein Kopf.«

»Tut mir leid«, sagte er gut gelaunt und trat ans Fenster. »Was für ein furchtbares Wetter. Morgen ist sicher alles dicht vor Nebel. Und? Was ist jetzt? Kommst du mit nach unten?«

Sie gab seiner unbeholfenen Zärtlichkeit nach und hielt ihm beide Hände hin. Er ergriff sie und zog sie vom Bett. Einen Augenblick schmiegte sie die Wange an den glatten Aufschlag seines Jacketts. Ungefähr seit dem Tag, an dem sein Vater beerdigt wurde, war er groß genug, dass sie das tun konnte, ohne sich verrenken zu müssen.

»Mein lieber Junge«, sagte sie, »könntest du deine alte Mutter je hassen?«

Clovis tätschelte sie. »Was für eine alberne Frage, Ma. Was ist bloß los mit dir?«

»Antworte mir. Ich muss es wissen. Egal was passiert? Könntet ihr, Emerald und du, mich je hassen?«

Clovis gab jede Zurückhaltung auf und senkte in grenzenloser Liebe den Kopf. Seine glatt rasierte Wange berührte leicht ihre Haare.

»Nein, Mutter, niemals. Wir könnten dich nie hassen. Du bist uns das Allerliebste, und das solltest du eigentlich wissen.«

Sie war wieder vergnügt, das war seine Belohnung. »Dann komm jetzt, du Dummchen, lass uns nach unten gehen. Wieso sollte ich hier oben bleiben, wenn wir doch Gäste im Haus haben?«

»Auftrag wie befohlen ausgeführt«, verkündete Clovis bei seiner Rückkehr, und Sekunden später stieß Charlotte, einen Arm bühnenreif in die Luft gereckt, die Tür weit auf.

»O mein Gott!«, rief sie, entsetzt über den Zustand des Zimmers. Der Tisch war ein einziges Chaos; eine an Caravaggio gemahnende Albtraumwelt; eine überquellende Abraumhalde. »Was ist denn hier passiert?«

»So sieht es nun einmal aus, wenn eine Affenhorde einfällt«, sagte Clovis.

Die Herren sprangen hastig auf.

Auch Florence war aufgestanden; sie hatte nur an ihrem Essen herumgepickt. Überhaupt aß sie seit Jahren kaum noch etwas. Essen bedeutete ihr einfach nichts mehr.

»Habt ihr alle den Verstand verloren?«, fragte Charlotte verwundert, während ihr Blick über das nicht zueinanderpassende Geschirr auf dem schmutzigen Tisch wanderte und über alle, die in den unterschiedlichsten Stadien der Auflösung um ihn herumsaßen.

Emerald war nicht in der Stimmung, sich kritisieren zu lassen. »Wenn du hier gewesen wärst, Mutter, wüsstest du, was wir alle hinter uns haben«, wehrte sie sich. »Mrs Trieves war einfach wundervoll, und Patience – einfach alle. Ich schlage vor, du nimmst es einfach so hin, wie es ist. So wie wir anderen auch.«

Alle Anwesenden starrten zu Boden, aber Charlotte lachte, als hätte ihre Tochter die bezauberndste Ansprache aller Zeiten gehalten. Um ein Haar hätte sie sogar in die Hände geklatscht.

»Ihr Ärmsten!«, trillerte sie. »Und eure schreckliche Mutter versteckt sich in ihrem Zimmer. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es gewesen sein muss. Was für ein absolut merkwürdiger Abend. Wo setze ich mich denn am besten hin?« Und wie ein aufgeregtes Kind suchte sie sich einen Platz und sah sich um. »Bei welchem Gang sind wir angelangt?«

Florence, immer noch unsicher, konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Beim zweiten, Mrs Swift, oder beim dritten, wenn Sie die Suppe mitrechnen, die es nicht gab. Aber ich fürchte, viel hat es sowieso nicht gegeben. Die Passagiere haben zugeschlagen wie die Scheunendrescher.«

»Das ist nicht zu übersehen. Wie es scheint, ist wirklich nicht mehr besonders viel übrig«, sagte Charlotte fröhlich. »Haben unsere Eisenbahngäste auch den ganzen Nachtisch weggeputzt?«

Plötzlich redeten alle durcheinander, schilderten ihre gemeinsamen Anstrengungen und den unglaublichen Appetit der gestrandeten Hausgäste.

»Sie haben den ganzen Schweinebraten aufgegessen …«

»Und Unmengen des Kaninchenfrikassees!«

»Einigen von ihnen mussten wir sogar das Zinngeschirr vorsetzen …«

»Und das Besteck hat nicht für alle gereicht.«

»Von den Servietten ganz zu schweigen.«

»Servietten!«

»Was für ein Spaß«, sagte Charlotte. »Und was ist mit Robert und Stanley? Sind sie noch nicht zurück? Und gibt es Neuankömmlinge?«

»Keine Spur von den beiden, Ma. Und keine weiteren Gäste.«

»Was kann bloß aus ihnen geworden sein?«

Während alle redeten und rätselten, wo Robert und Stanley stecken mochten, und darüber spekulierten, ob das Unwetter bald nachlassen würde, blieb Traversham-Beechers als Einziger stumm. Er saß an seinem neuen Platz am Kopf des Tischs, Charlotte genau gegenüber, und sah sie an. Sie dagegen verhielt sich, als nähme sie ihn nicht einmal wahr. »Und nun, Mrs Trieves? Was kommt als Nächstes?«

»Der Kuchen, Ma’am«, sagte Florence mit grimmig entschlossener Stimme. »Aber davon bekommen die anderen nichts ab.« Und sie erhob sich, um ihn zu holen.

»Oh, der Kuchen!«, quietschte Patience, und alle fingen an, Teller von hier nach da zu räumen.

»Jemand muss Smudge Bescheid geben«, sagte Emerald.

»Ich kümmere mich darum.« Mit einem kurzen Nicken verließ Florence das Zimmer.

Die Anwesenden hatten den Tisch teilweise abgeräumt. Myrtle war losgelaufen, um Teller für den Kuchen zu holen, und das Gaslicht war so weit heruntergedreht worden, dass nur noch ganz schwach flackernde Flammen den Raum in eine behagliche Höhle verwandelten. Die Kerzen in den Leuchtern brannten noch, wenn auch inzwischen schmelzend, rauchend, tropfend und spuckend, und in Erwartung von Florences Rückkehr dämpften die Gäste ihre Stimmen zu einem leisen Gemurmel.

Charlottes Blick wanderte zu Traversham-Beechers. Dass er sie so gebannt beobachtete, erwies sich zu guter Letzt doch als unwiderstehlich.

»Marguerite Gautier s’est levée de son lit«, sagte er leise, und obwohl er am anderen Ende des Tisches saß, hörte sie ihn ganz deutlich. Gleichzeitig hatte sie den eigenartigen Eindruck, dass keiner der anderen seine Bemerkung mitbekam.

In der Vorratskammer hob Florence den grünen Kuchen vom obersten Regal. Die Platte auf ihrem hohen, schlanken, geriffelten Fuß schwankte gefährlich, als sie die Trittleiter hinunterstieg.

Myrtle tauchte atemlos in der Tür auf.

»Geh und hol Miss Imogen, Myrtle, falls sie noch wach ist, damit es hinterher kein Gezeter gibt.«

Myrtle lief die Küchentreppe hinauf und kam sehr kurz darauf mit der schier unglaublichen Information zurück, Miss Imogen wolle ihren Kuchen »erst später« essen.

»Sie hat ihre Tür schon wieder abgeschlossen«, fügte sie finster hinzu.

»Bei dem ganzen Hin und Her heute Abend kann ich es ihr ausnahmsweise nicht einmal verdenken. Und jetzt hilf mir«, sagte Florence.

Die Kerzen waren kleine, schnell brennende Geburtstagslichter. Florence hatte den Kuchen mit Emerald beschriftet. Die Zuckerkörner in der Schrift und in den grünen Rosen blitzten wie Diamantenstaub.

»Fang bloß nicht mit den Kerzen an, die dir am nächsten sind«, flüsterte Florence. »Sonst kommst du nicht mehr an die hinteren.«

Wie Verschwörer über den Kuchen gebeugt, mussten sie sich sehr beeilen, denn die Kerzen brannten zwar wunderschön, aber auch schnell herunter.

»Jetzt aus dem Weg«, befahl Florence, als die letzte Kerze brannte, und griff sich den Kuchen.

Myrtle huschte zum Speisezimmer, Florence dichtauf. Die Flammen neigten sich im Zugwind nach hinten wie Kometenschweife. Dann stieß Myrtle die Tür auf, und sie wurden von bewundernden Ausrufen und von Applaus begrüßt.

»Bravo!«, rief Charlotte.

Nur Ernest blickte nicht auf den hereinschwebenden Kuchen, sondern am dunklen Tisch entlang zu Emerald, um ihre Reaktion zu sehen. Er wurde belohnt durch ihr kindliches Entzücken. Die Kerzen brannten noch, als der Kuchen bei ihr anlangte, und die kollektiven Seufzer der Bewunderung zauberten ein wenig Farbe auf Florences blasse Wangen. Sie stellte ihr schimmerndes Kunstwerk vor Emerald ab, deren Gesicht – ihr Geburtstagsgesicht – vor Freude strahlte, so wie es beim Anblick der neunzehn anderen Geburtstagskuchen, die ihr präsentiert worden waren, jedes Mal gestrahlt hatte.

Patience stimmte ein »Happy Birthday to You« an, die anderen fielen immer schneller werdend ein, erst schlug Traversham-Beechers mit dem Fuß den Takt dazu, dann auch Clovis, bis das Ganze in fröhlichem Gelächter endete.

»Schnell, blasen Sie die Kerzen aus, sonst ruinieren sie den Kuchen«, sagte Florence, das Messer schon gezückt.

»Das Grün ist einfach wundervoll, Mrs Trieves«, lobte Charlotte.

»Schnell. Ausblasen.«

Emerald beugte sich vor, holte tief Luft und blies, brauchte aber Hilfe von Clovis und Patience, da die Flammen ungehorsam aufloderten. Gemeinsam schafften sie es, die Zuckerglasur im letzten Augenblick zu retten.

Das Geburtstagskind, dessen Kleid jetzt, im gedämpften Licht und im Schein der Kerzen, nicht mehr allzu mitgenommen aussah, stand am Kopf des Tischs und zupfte die ausgeblasenen Kerzen aus dem Kuchen. Ein spitzbübisches Grübchen erschien auf ihrer Wange.

»Und was soll ich mir wünschen?«, fragte sie, von einem Gesicht zum anderen blickend. »Was?«

»Ein umgänglicheres Naturell«, sagte ihre Mutter ungnädig.

»Unsinn«, sagte Traversham-Beechers. »Schmuck und Pelze, Kleider, eine große Auslandsreise … Automobile, Pferde, Fahrräder!«

»Alles, was dein Herz begehrt«, riet Patience (was von Charlotte mit einem Aufstöhnen quittiert wurde).

John suchte verzweifelt nach etwas Witzigem. »Eine neue Polsterbank für den Salon«, wagte er sich nach einer Weile, begleitet von einem pantomimischen Reiben seiner angeschlagenen Kehrseite, vor und wurde vom hellen Gelächter der Familie belohnt.

Er könnte es sich leisten, mir hundert Polsterbänke zu kaufen, dachte Emerald erbittert, bevor sie sich daran hindern konnte. Und die passenden Kissen noch dazu.

»Mrs Trieves?«, fragte sie und löste den Blick von John. »Einen weiteren Kuchen, ebenso schön wie dieser hier?«

»Könnte sein, dass der da mein Meisterwerk war«, sagte Florence. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch so einen hinbekommen würde. Aber wie wäre es damit: dass wir dieses verflixte Gesindel spätestens am Sonntag los sind?«

»Nein«, sagte Charlotte mit drängender Stimme. »Das auf keinen Fall. Diese Leute können uns doch egal sein. Das Haus, mein Liebes. Sterne!«

»Ja, genau. Wünsch dir das Haus. Wünsch dir, dass wir Sterne behalten können!« Das kam von Clovis.

Emeralds Grübchen war verschwunden. Genau das hatte sie die ganze Zeit als ihren wahren Wunsch äußern wollen. Sie senkte den Blick auf den Kuchen mit seinem grünen Zuckerguss.

Er ist absolut rund, genau wie das Land, auf dem wir stehen, aber es ist kein Haus darauf, sondern nur mein alberner Name. Ob das ein schlechtes Omen ist? So dachte sie, sagte es aber nicht. Kein Vater mehr, und bald vielleicht auch kein Haus.

Die zuckerblitzenden Rosen und die glitzernden Buchstaben des Emerald fingen an zu verschwimmen, als Tränen ihre Augen füllten. Ihre Zukunft war eine Wüste, ihr einziger Wunsch war, da zu bleiben, wo sie war. Wieso eigentlich? Sie war nicht einmal glücklich.

»All diese Wünsche«, sagte sie hoffnungslos. »All diese Wünsche nach Dingen, die sowieso niemals wahr werden.«

»Wenn du dir wünschst, was das Beste ist, kannst du nicht verlieren.«

Emerald hob den Kopf. Es war Ernest, der das gesagt hatte. Sein Anblick war so belebend wie ein Aufwärmtrunk an einem frostigen Morgen und wärmte fast so sehr. Ach, du lieber Himmel, dachte sie.

Sie nahm das ihr dargebotene Messer, stieß es in den Kuchen und schloss die Augen, als erst die Glasur mit einem leisen Knirschen und dann der weiche Teig unter dem Messer nachgaben.

»Ich wünsche mir, was das Beste ist«, sagte sie inbrünstig.

Die Klinge stieß klirrend gegen den gläsernen Boden. Im gleichen Moment – bevor sie auch nur die Augen wieder öffnen konnte – stieß Traversham-Beechers ein wildes Heulen aus, so erschreckend wie eine herabsausende Axt, zur absoluten Verwunderung aller.

Es war so laut, so hündisch, so wölfisch, dass die ganze Gesellschaft zusammenzuckte und den Mann schockiert anstarrte.

Er heulte weiter, unmöglich hoch und lang. Es hörte sich an wie der verzweifelte, einsame Ruf eines Tiers in fernen, eisigen Gegenden; das traurigste, schrecklichste Geräusch, das eine menschliche Kehle von sich geben konnte. Es hielt unnatürlich lange an, bewirkte, dass sich die Härchen auf den nackten Unterarmen der Damen sträubten und Schauer über die Rücken aller Anwesenden liefen, und immer noch dauerte es an und verklang erst, als alles, was sich im Raum bewegte, längst erstarrt war.

Dann – endlich – war es vorbei. Traversham-Beechers senkte das Kinn, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte leichthin, ohne auch nur im Geringsten außer Atem zu sein: »Das war, um den Teufel auszutreiben.« Und dagegen konnte niemand etwas sagen. Jeder Teufel wäre längst schreiend aus dem Raum gerannt.

Florence nahm Emerald das Messer aus der Hand und schnitt für jeden ein Stück des Kuchens ab, und alle griffen nach den winzigen silbernen Gabeln und ließen es sich schmecken. Da ihr Abendessen größtenteils von Fremden verspeist worden war, waren sie nicht so übersättigt, dass sie den Kuchen nicht mehr zu schätzen wussten, und das war zumindest ein Vorteil.

»Es gibt eben immer einen Silberstreifen am Horizont«, sagte Patience fröhlich. Neben ihr senkte Traversham-Beechers die Lider und musterte sie, als würde er am liebsten die Zunge hervorschnellen lassen und sich jede einzelne der Saatperlen schnappen, die ihre aufgetürmten blonden Haare zierten.

Während sie den Kuchen aßen, hob im Studierzimmer, gerade noch zu hören, ein Lied an. Raue, leise Stimmen sangen:

I likes me half a pint of ale … I likes a little bit of meat …

little bit of fish … and half a pint of ale …

Die Reisenden, satt, aber immer noch unzufrieden, hatten angefangen, ihre Stimmen aufs Neue zu erheben.

Traversham-Beechers trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum, während er sich gleichzeitig den Kuchen gierig in den Mund schaufelte und den Frauen am Tisch immer wieder heimliche Blicke zuwarf.

»Ausgezeichnet«, tat er kund.

Die Gespräche umfluteten ihn zusammen mit den Gesangsfetzen.

»Sie haben das alles wirklich wundervoll gemeistert«, sagte John noch einmal zu Emerald, die ihm gegenübersaß.

Katy smiled with a twinkle in her eye,

K-K-K-Katy, beautiful Katy …

»Es ist interessant, auch einmal etwas Unerwartetes zu erleben.«

»Oh doch, Salmonellen können einen Menschen schneller umbringen, als man denkt, auch wenn es Sie vielleicht überrascht, das zu hören.«

But I gets much pleasure when I’m playing with me uke –

Keep your ukelele in your ’and …

»Ich glaube, ich habe noch nie einen besseren Zuckerguss gegessen. Er schmeckt überhaupt nicht grün.« (Das kam von Patience.)

Traversham-Beechers griff nach dem Wein und entschied sich, zwischen Weiß und Rot hin- und hergerissen, für beides. Mit einer Vulgarität, die keiner der anderen je erlebt hatte, kippte er den Wein aus beiden Flaschen zweihändig in sein Glas.

»Wie bitte soll ›grün‹ denn schmecken?«, sagte er barsch zu Patience und sprang, bevor sie antworten konnte, das Glas schwenkend, auf.

Einen Moment starrte er auf den Wandteppich, der ihm gegenüberhing, und sagte dann plötzlich: »Wie wäre es mit einer Runde Treibjagd?«

Alle hörten auf zu reden und sahen ihn an.

»Treibjagd?«, fragte Clovis.

Leise drangen die Stimmen aus dem Studierzimmer zu ihnen:

I’m walking down the prom last night as peaceful as can be …

»Es ist ein Spiel, das ich selbst erfunden habe«, sagte er.

»Erzählen Sie.« Auf den Ellbogen gestützt, beugte Clovis sich interessiert vor.

»Nun, wir brauchen ein Reh, und wir brauchen Hunde, zwei Sorten. Wer will das Reh sein?«

Sie sahen von einem zum anderen. Charlies Blick verharrte bei den Frauen, blieb aber schließlich an Ernest hängen.

»Sie!«

Es wurde gelacht – Ernest war derjenige von ihnen allen, der am wenigsten einem Reh ähnelte. Er war mindestens so groß und breitschultrig wie John.

»Ernest?«, fragte Patience. »Wieso ausgerechnet Ernest?«

»Müssen wir dazu im Haus herumrennen?«, wollte Charlotte skeptisch wissen.

»O ja, wie wilde Tiere durch Gestrüpp und Unterholz«, sagte Traversham-Beechers, und Clovis schlug lachend mit der Hand auf den Tisch.

Die Lampen brannten immer noch auf niedriger Flamme. Traversham-Beechers legte beide Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. Die Kerzen ließen sein Gesicht bizarr anmuten, veränderten die Form seiner Züge auf eine irgendwie unheimliche Art. Seine Nase schien zu zucken, seine Augenbrauen hüpften auf und ab, seine Zähne schimmerten gelb im Kerzenlicht.

»Sie werden von der Herde getrennt«, erklärte er. »Sie sind ganz allein und werden gnadenlos gejagt. Die Hunde werden Sie aufspüren … und hetzen … und dann wird man Sie erschießen.«

»Wieso Ernest?«, wiederholte Patience, wurde aber nicht beachtet.

»Und wie genau soll das gehen?«, fragte Emerald, trotz ihres Misstrauens dem Mann gegenüber interessiert und fasziniert von der Idee.

»Folgendermaßen. Als Erstes brauchen wir ein Glas …«

Er huschte zur Anrichte und griff sich ein frisches Glas. Dann wählte er sorgfältig eine Karaffe aus, eine mit Portwein, öffnete sie und schenkte die dunkle Flüssigkeit ein, bis sie sich fast über den Rand wölbte. Die Anwesenden beobachteten ihn gebannt. Das Geräusch des Gesangs drang unter der Tür hindurch und ringelte sich, während sie den Mann beobachteten, wie Rauch um sie herum.

Er nahm das im Kerzenlicht schimmernde Glas, trug es, ohne einen Tropfen zu verschütten, zum Tisch und stellte es vor Clovis.

»Als Erstes der Herr des Hauses«, sagte er. »Das Reh muss durch die Spürhunde von der Herde getrennt werden. Jeder der Spürhunde – also wir«, erklärte er ihnen, untermalt von einem bewundernswerten Zwinkern, »muss eine Möglichkeit finden, das Reh zu isolieren, bevor der Rest der Meute – wiederum wir, da wir zahlenmäßig nicht genug sind – die Jagd aufnehmen kann. Finden Sie diese Möglichkeit, trinken Sie aus dem Glas und geben Sie es dann weiter.«

Clovis runzelte verwirrt die Stirn. »Aber wie? Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen …«

»Nun machen Sie schon!«, bellte Traversham-Beechers. »Ich kann Ihnen doch nicht alles vorkauen. Das hier ist ein Spiel für Erwachsene – nicht für Kinder! Wenn Ihnen nichts einfällt, geben Sie das Glas eben weiter, ohne daraus getrunken zu haben.«

Die anderen wollten nicht, dass er das tat. Sie hatten zwar keine Ahnung, wie das Spiel funktionierte oder was sie selbst sagen würden, aber die Vorstellung, das Glas einfach so weiterzureichen, ohne daraus getrunken zu haben, schien eine schreckliche Schmach zu sein.

Nur Ernest wirkte vollkommen ungerührt. Mit sanftem Blick sah er von einem zum anderen, als betrachtete er dieses törichte Treiben mit Nachsicht, während er gleichzeitig an andere Dinge dachte. (Ähnlich wie er es auch auf dem Schulhof getan hatte, wann immer die anderen anfingen, ihn Karottenkopf zu rufen.)

In der Stille, die unter den Geburtstagsgästen herrschte, war wieder der Gesang der Reisenden zu hören:

But every time that I go out the people stare at me …

Traversham-Beechers sah Clovis an. Der Portwein stand unberührt vor ihm, schimmernd und dunkel. »Clovis, trennen Sie das Reh von der Herde!«

Clovis sah Ernest an und überlegte, wie er das bewerkstelligen sollte. »Er trägt eine Brille«, sagte er schließlich.

Erleichterung. Es stimmte. Die Brille unterschied ihn unleugbar vom Rest der Gruppe.

»Ich möchte lieber nicht …«, fing Patience an, aber Ernest unterbrach sie.

»Schuldig«, sagte er und hob mit einem leisen Lächeln die Hand, während er für sich dachte: Aha. Es geht also wieder los.

»Großartig. Trinken Sie, Clovis. Und geben Sie das Glas weiter.«

Clovis musste sich über den Tisch beugen, um an dem Glas zu nippen, und reichte es anschließend nach links weiter, an Florence.

»Vorsicht«, sagte er, den süßen Geschmack des Portweins auf den Lippen.

Florence hatte ihr Misstrauen und ihre Abneigung gegen Traversham-Beechers völlig vergessen. Es war lange her, seit sie sich zum Essen an einen Tisch gesetzt hatte, und noch länger, seit sie es in einem Speisezimmer getan hatte. Sie hatte auch ihr steifes schwarzes Seidenkleid vergessen und fast das Gefühl, wie die anderen Frauen herausgeputzt zu sein und gemeinsam mit ihnen einen geselligen Abend zu verbringen. Ihre Dankbarkeit war tief und bedürftig.

»Er interessiert sich für Medizin, und das ist ein langweiliger Beruf«, sagte sie schnell, in der Hoffnung, nicht aufzufallen, und auch sie beugte sich vor, um von dem Portwein zu nippen, der süß und klebrig war und leise auf ihrer Zunge brannte. Dann reichte sie das Glas weiter

Ernest brachte es nicht über sich, in Bezug auf seinen geliebten Beruf mit »Schuldig« zu antworten. Daher nickte er bloß und begann, an andere Dinge zu denken (wie stark die seidenen Fäden von Spinnennetzen waren, was Penicillin alles bewirken konnte). Neben ihm rutschte Patience vor lauter Besorgnis auf ihrem Stuhl hin und her. »O nein«, sagte sie. Und: »Ich sehe nicht ein, wieso!«

Als Nächster war John an der Reihe. Er hatte sich nicht auf dem falschen Fuß erwischen lassen wollen, hatte sich nicht als Emporkömmling der Lächerlichkeit preisgeben wollen und sich bereits im Vorhinein etwas ausgedacht. Er nahm das Glas, hielt es und sagte mit fester Stimme: »Mr Sutton ist nicht beliebt. Er hatte keine Dame, die er zum Essen führen konnte.«

Er musste zugeben, dass es ihn freute, diese Feststellung treffen zu können. Emerald hatte seinen Arm genommen, was bewies, dass er Ernest als Rivalen nicht ernst zu nehmen brauchte.

Ein leises Auflachen und das ein oder andere »Oh« waren die Antwort auf seine Bemerkung. Er war froh, Eindruck gemacht zu haben, trank und reichte das Glas an Emerald weiter.

»Kein Liebestrunk, sondern ein entzweiender«, sagte sie. Sie hatte das Spiel bis zu diesem Augenblick nicht gemocht, obwohl sie sich gleichzeitig auch hingezogen fühlte. Noch klammerte sie sich an irgendeiner moralischen Überzeugung in ihr fest, die ihr quengelnd ans Herz legte, nicht an einem solchen Spiel teilzunehmen. Doch nun, als sie das Glas in der Hand hielt und die Augen der anderen auf sich spürte, während die leisen, anrüchigen Lieder der ungehobelten Besucher zu ihr getragen wurden, dachte sie: Ernest macht sich nichts daraus, es ist schließlich nur ein Spiel.

»Nun mach schon, Em«, sagte Clovis so ungeduldig, dass sie zusammenschrak.

Aber ihr wollte um nichts auf der Welt einfallen, was sie sagen konnte. Ernest selbst schien sich nur für irgendetwas an der Wand hinter ihrem Kopf zu interessieren.

Sie betrachtete ihn, zermarterte sich den Kopf. Charlie Traversham-Beechers fing an, rhythmisch auf dem Tisch herumzutrommeln – tap tap tap-tap-tap, tap tap tap-tap-tap –, kurz darauf fiel Clovis ein, dann auch John …

»Na los«, flüsterten sie, »na los …«

Emerald wollte Ernest nicht zu lange ansehen, weil es sie zum Erröten brachte. So beiläufig sie konnte, registrierte sie seine markante Wangenlinie, seine kühne Stirn. Sprachlos nahm sie die aufrichtige Stille wahr, die ihn umgab; seine Hände; wie gerade seine Schultern waren. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Kind Ernest ins Lächerliche zu ziehen (nicht dass sie das je gewollt hätte), aber dieser Erwachsene war in jeder körperlichen Hinsicht unnahbar. Rund um sie herum wurde das Trommeln lauter.

»Na los, na los«, sagte Charlie. »Oder geben Sie das Glas weiter, ohne zu trinken. Geben Sie es weiter, geben Sie es weiter …«

Hitzig sah Emerald zu Ernest hinüber, der absolut kühl wirkte und sie überhaupt nicht beachtete. Ihr Herz raste, hämmerte in ihrem Inneren. Die Intensität, mit der sie sich zu ihm hingezogen fühlte, mischte sich mit der Angst, sich lächerlich zu machen, und schwächte sie. Ihre Verlegenheitsröte schien jeden Teil von ihr zu erfassen; ihr Zustand musste für jeden sichtbar sein – bei diesem Gedanken zuckte sie innerlich zusammen. Wieso bloß sah er sie nicht an? Wieso saß er so feierlich da, so zurückhaltend, so still? Sie sehnte sich danach, eine Reaktion aus ihm herauszuschütteln. Sie dachte an sein unnatürliches Interesse an Krankheiten und Verletzungen – welcher Mann würde sich schon mit gequältem Fleisch und kranken Organen umgeben wollen?

»Er ist sonderbar – er ist einfach sonderbar!«, stieß sie heftig und mit brennenden Wangen hervor und empfand einen Stich grausamer Befriedigung.

»Emerald!«, rief Patience vorwurfsvoll; sie fühlte sich von ihrer Freundin verraten.

Ernest fuhr zusammen und sah sie endlich an. Er war er selbst, der Junge, den sie gekannt hatte, der Mann, den sie nun begehrte. Sie sah, dass sie ihn verletzt hatte. Und wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

Die anderen lachten laut auf. Ihr Pfeil hatte gesessen. Alle sahen Ernest an, warteten gespannt auf seine Reaktion.

»Nun, was sagen Sie dazu? Was sagen Sie dazu?«, rief Charlie. »Sonderbar!«

Es kostete Ernest unsägliche Mühe, nach außen hin gleichmütig zu bleiben. Sonderbar. Empfand sie ihn wirklich als sonderbar? Er bekämpfte den Drang, den Blick zu senken, dachte zurück an kindliche Ängste, um sich zu rüsten und zu wappnen. Schließlich war er jetzt ein Mann!

Als Kind hatte sie ihn akzeptiert, dachte er. Aber vielleicht hatte sie ihn auch damals schon für sonderbar gehalten, schon als sie gemeinsam auf Schmetterlingsjagd gingen, schon als sie kleine Frösche sezierten? Als die anderen sich endlich von ihm abwandten, schloss er einen Augenblick lang resigniert die Augen. Sonderbar.

»Jetzt Sie, Patience«, sagte Charlie. »Geben Sie ihr das Glas.«

Außer sich vor Empörung konnte Patience sich nicht länger beherrschen. Sie hatte gespürt, wie ihr besseres Ich in dieser gehässigen Atmosphäre in sich zusammenschrumpfte. Jetzt gewann es wieder an Kraft, verlangte, gehört zu werden. Sie hob die Hand und schlug so heftig gegen das Glas, dass es quer über den Tisch flog und der dicke, rubinrote Portwein nur so spritzte. Eine Pfütze bildete sich auf dem Tischtuch und sickerte langsam in den Stoff ein. Das Glas prallte mit einem lauten Scheppern gegen den schweren silbernen Kerzenleuchter. Dann war es still.

»Warum haben Sie das gemacht?«, wollte Traversham-Beechers wissen.

Er war ehrlich schockiert und zutiefst bestürzt, er war absolut fassungslos.

Die anderen starrten Patience an.

»Ihr seid allesamt Scheusale«, rief Patience. »Ihr seid absolut abscheulich! Mein Bruder ist ein besserer Mensch als ihr alle!«

»Bravo«, sagte Clovis mit aufgesetzter Nonchalance, um Charlie Traversham-Beechers zu beeindrucken.

»Jedenfalls ein besserer als du!« Aufgebracht deutete sie mit dem Finger auf ihn. Clovis zog die Augenbrauen hoch und lächelte (obwohl er innerlich zusammenzuckte).

Ein weiteres kurzes Schweigen. Traversham-Beechers und Patience, zwei magnetische Pole, kämpften über den Tisch hinweg stumm darum, die anderen auf ihre Seite zu ziehen. Wie Treibgut im Wasser konnten sie entweder an den Strand gespült oder aber aufs Meer hinausgerissen werden – die Stimmung stand auf der Kippe, noch schwamm das Treibgut hoch oben auf der Welle.

»Muss Ihre Schwester immer Ihre Kämpfe für Sie austragen?«, sagte Traversham-Beechers mit blasierter Stimme zu Ernest.

»Ach, er war doch seit jeher ein Schwächling«, kam es von Charlotte, die sich wie immer auf die Seite des Stärkeren schlug.

Damit wendete sich das Blatt. Nun bestand die Gefahr, dass alle mitgerissen wurden.

Emerald war völlig durcheinander. Eine seltsame Begeisterung, Scham, Schock – sie alle kämpften in ihr miteinander. Zusammen mit Florence tupfte sie an dem Portweinfleck herum, mit dem Ergebnis, dass sämtliche verbliebenen sauberen Servietten ebenfalls voller Flecken waren, ohne dass das Tischtuch auch nur einen Deut besser aussah. Ernest, in erster Linie um seine Schwester besorgt, schien von ihnen allen am wenigsten aufgewühlt.

»Patience?«, sagte er mit ruhiger Stimme. Und noch einmal: »Patience? Es hat nichts zu bedeuten. Es ist nur ein albernes Spiel.«

Patience sah ihn mit großen Augen an, schockiert über sich selbst und über die anderen. Sie hätte gern Frieden mit Clovis geschlossen; sie gab ihm nicht wirklich die Schuld, aber sein Gesichtsausdruck war alles andere als angenehm. Ernest wandte sich an den ganzen Tisch.

»Falls meine Gastgeberin nichts dagegen hat, würde ich mich gerne für ein Weilchen in die Bibliothek zurückziehen. Ich bitte, mich zu entschuldigen.«

Charlotte starrte ihn an. Mit einer steifen Verbeugung verließ er den Tisch.

Im gleichen Moment stand Charlie Traversham-Beechers, der von der rebellierenden Patience auf dem falschen Fuß erwischt worden war, hastig auf.

»Wollen Sie das wirklich?«, sagte er mit seltsam herrischer Stimme. »Dann verpassen Sie doch die nächste Jagd.«

Ernest zögerte. Der Gesang aus dem Studierzimmer, der sich vorübergehend gelegt hatte, war nun wieder lauter zu hören:

With all my might, I nearly balanced over,

But my old friend grasp’d my leg and pulled me back again

»Das Spiel soll tatsächlich fortgesetzt werden?«, fragte er und sah sich unter allen um.

Emerald betrachtete ihre Hände, Florence hantierte mit den feuchten Servietten herum, Clovis sah Traversham-Beechers auf eine Weise an, die an Bewunderung grenzte. Es war Charlotte, die seinen Blick unbeeindruckt erwiderte und sagte: »Für einen so jungen Mann kannst du ganz schön langweilig sein, Ernest. Bleib hier und amüsier dich mit uns.«

Ernest war hin- und hergerissen zwischen guten Manieren und dem Wunsch, nichts mit dieser verderbten Lustbarkeit zu tun zu haben.

»Das nächste Reh also«, sagte Charlie, als wäre alles beschlossene Sache. »Und das wird Miss Sutton sein.«

»Nein, Sie Flegel«, sagte Ernest, nun ebenso gebieterisch wie sein Gegenspieler. »Dabei wird sie auf keinen Fall mitmachen.«

»Wirklich nicht? Im Gegenteil, sie wird. Sie muss«, sagte Charlie glatt. »Der erste Spürhund, der aufgibt, wird in ein Reh verwandelt. Das weiß schließlich jeder! Sie hat das Glas weitergereicht, ohne daraus zu trinken. Ohne daraus zu trinken! So lauten die Regeln nun einmal!«

Ernest wandte sich an die ganze Tischrunde. »Mrs Swift? Bitte, Clovis? Grundgütiger!«

Keine Stimme erhob sich, um ihm zu helfen. Niemand schlug sich auf seine Seite. Alle waren völlig gebannt – Emerald geradezu verhext.

»Ist schon gut, Ernest«, sagte Patience unvermittelt. »Lass uns spielen. Es macht mir nichts aus.«

»Doch, es macht dir etwas aus. Und ich spiele nicht mit.«

»Setz dich, Ernest. Wirklich, es ist gut. Du hast es doch selbst gesagt. Es ist nur ein albernes Spiel.«

Er konnte es ihr nicht abschlagen, er konnte sie nicht allein lassen. Also setzte er sich, rückte seinen Stuhl aber dichter an sie heran, damit sie wenigstens Trost aus seiner Nähe schöpfen konnte.

»Es ist nichts Persönliches«, sagte der ungehobelte Gentleman. »Es ist einfach nur ein Spiel. Und Ihre Schwester ist an der Reihe. Also, fangen wir an.«

Er füllte ein frisches Glas mit Portwein aus der Karaffe.

»Ich bin der erste Spürhund«, sagte er. Alle warteten stumm.

Er hob das Glas, hielt es ganz still und sagte im hastigen, aufmunternden Ton eines Mannes, der einen Ball ins Rollen bringt: »Miss Sutton hat das Gefühl, dass sie nicht ganz so intelligent ist wie die anderen jungen Damen am Newnham College«, sagte er. »Richtig?«

»Genug«, rief Ernest. »Was wissen Sie denn schon von ihr?« Aber die anderen empfanden, obwohl sie, anders als vorhin, bei ihm nicht lachten, dieselbe zwanghafte Faszination des Augenblicks. Sie waren jetzt Jagdhunde, die Unbarmherzigkeit war ihnen angeboren.

Smudge war nach unten gekommen, um sich ihr Stück Kuchen nicht entgehen zu lassen und Tenterhooks zu holen, denn sie wollte das Kätzchen, das sicher leichter zu handhaben war als Lady, in ihre Kollektion kohlegezeichneter Tiere aufnehmen. Völlig überdreht vor Aufregung und Müdigkeit, schloss sie ihre Tür auf und schlich durch den Korridor. Sie konnte Myrtle in der Küche herumhantieren hören, wollte ihr aber nicht über den Weg laufen und nahm deshalb die Haupttreppe. Auf dem Weg zum Speisezimmer schlich sie auf Zehenspitzen an der Tür des Studierzimmers vorbei. Die ungeladenen Gäste hörten sich an, als hätten sie, wie Robert es ausgedrückt hätte, einen Heidenspaß – sie hatte ähnlich ausgelassene Geräusche durch die Türen von Gastwirtschaften gehört, aber natürlich noch nie zuvor in Sterne. Angst hatte sie keine – sie vertraute darauf, dass die Erwachsenen die Situation unter Kontrolle hatten –, aber exotisch war es schon.

»Sehr exotisch, würde ich sagen«, murmelte sie vor sich hin, als sie sich dem Speisezimmer näherte, um sich ihren Kuchen schmecken zu lassen und ihrer Schwester einen Geburtstagskuss zu geben.

In der Nähe der Tür fing sie an, auf Zehenspitzen an der Wand entlangzuschleichen, erst in instinktiver kindlicher Heimlichtuerei, dann aber hörte sie, dass drinnen ein Spiel im Gang war, und sie drückte sich an die Tür, um zu lauschen.

Während die Luft um sie herum von den derben Gesängen erfüllt war – hier noch lauter, da sie auch aus dem Frühstückszimmer drangen –, sah sie durch einen Spalt zwischen den Scharnieren, dass der fremde Gentleman ein Glas hochhielt, das zwar randvoll gefüllt war, aber dennoch gewichtslos wirkte. Die Flüssigkeit darin bewegte sich nicht, seine Hand war unnatürlich ruhig.

Gebannt von der seltsamen Atmosphäre des Zimmers, blieb Smudge ganz still stehen, während die singenden Stimmen aus den Räumen hinter ihr durch die Luft schwebten.

Nearly fainting with fright, I sank into his arms a sight,

Went into hysterics but I cried in vain …

Sie konnte die Gesichter rund um den Tisch nur undeutlich erkennen, spürte aber, wie Entsetzen sich ihrer bemächtigte, denn sie waren absolut leer und ausdruckslos, ganz anders als die Gesichter, die sie kannte. So wie das Haus, das sich plötzlich anfühlte, wie es sich noch nie zuvor angefühlt hatte. Nur der Fremde, Traversham-Beechers, war klar und deutlich zu sehen, und in ihren jungen, wachen Augen wirkte er, als wäre eine Linie um ihn herumgezogen, eine Linie der Dunkelheit, die fast genauso aussah wie die Kohlestriche, die sie erst so kürzlich auf ihre Wand aufgetragen hatte. Ihre Kohlestriche waren real, eine Mischung aus Staub, Fingerspuren, Verputz, sie waren Kunst. Das hier dagegen war unheimlich, gemacht aus nichts, was sie verstehen konnte oder verstehen wollte. Sie sah die Grausamkeit in seinem Gesicht, spürte die Atmosphäre. Er war wie ein Magnet, die Luft schien erfüllt von der Anziehungskraft, die von ihm ausstrahlte.

Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück und floh. Dieses Mal durch die grüne Tür in die Küche, denn das war der schnellste Weg nach oben, vorbei an Myrtle, die am Spülstein stand und sich nicht einmal umdrehte, als sie an ihr vorbeirannte.

Im Speisezimmer, nun wieder unbeobachtet von dem Kind, nur wahrgenommen von der Gruppe der anderen Spieler, ergriff Clovis das Wort.

»Jetzt ich«, sagte er und griff nach dem Glas.

Ein wenig Portwein schwappte über den Rand. Er leckte ihn ab – er leckte tatsächlich das Glas ab! Dann sah er Patience in die Augen und sagte: »Miss Suttons Gesprächsthemen sind extrem langweilig, und ihr Gesicht ist eher gewöhnlich. Es gibt eine Menge anderer Mädchen, die bedeutend hübscher sind.«

Patience schnappte nach Luft. Ernest nahm ihre Hand. Falls er je den Wunsch empfunden hätte, handgreiflich zu werden, dann jetzt, da Clovis so boshaft quer über den Tisch hinweg lächelte und seine Schwester totenblass geworden war. Er zuckte hoch, aber Patience hinderte ihn daran. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch Patience hielt sie mit ihren eigenen kleinen Händen fest umfangen – ihr Bedürfnis, sich an ihn zu klammern, erwies sich als stärker als sein Wunsch, Clovis die Nase einzuschlagen –, und er blieb an ihrer Seite sitzen. Die anderen sagten kein einziges Wort.

Clovis spürte fast körperlich, wie zufrieden Charlie mit ihm war, und empfand tief in seinem Inneren eine große Befriedigung. Er hatte ihr die Wahrheit gezeigt, hatte bewiesen, dass er selbst etwas Besseres war, doch ein Teil von ihm – zu klein, um sich durchzusetzen – stand entsetzt abseits. Die junge Dame saß ihm tief gekränkt gegenüber.

Charlotte nahm das Glas. Sie musste unbedingt auf der Seite der Hunde bleiben, durfte auf keinen Fall unter die staksigen Rehe geraten. Die Grausamkeit, die dieses Gefühl begleitete, war ein unerwarteter Bonus. Sie konnte sehen, dass ihr Sohn von diesem Mädchen eingenommen war, aber sie würde ihn nicht so einfach gehen lassen.

»Weißt du, wie wir – wir alle – dich nennen? Die unsägliche Patience Sutton«, sagte sie.

Wieder war der ganze Tisch schockiert; Patience erstarrte geradezu. Emerald stieß immerhin ein »Oh« aus, widersprach aber mit keinem Wort.

Florence nahm das Glas. Ihre Stimme war laut. »Als ihr Kinder wart …«

»Aufhören!«, rief Patience unvermittelt und sprang auf. »Aufhören!« Und sie drehte sich um und lief vom Tisch weg. Ernest sprang ebenfalls auf, aber …

»Ja!«, schrie Charlie. »Das Reh ist von der Herde getrennt! Meute, ihr nach!« Er gab einen durchdringenden Schrei von sich, und ohne einen Gedanken und ohne jeden Grund stießen alle in wilder Hast ihre Stühle zurück, fingen an, wie Hunde auf der Jagd zu heulen und zu kläffen, und setzten hinter Patience her.

Sie lief zur Tür, als wollte sie in die Halle flüchten, wo die gegrölten Lieder immer lauter und lauter erklangen, als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, aber Charlie versperrte ihr den Weg, während die anderen auf sie zustürzten. Sie durchbrach ihre Reihen und lief an der Längsseite des Raums entlang, hin zu Ernests schützenden Armen. Die Meute verfolgte sie in wilder Hatz. Charlie, die langen Arme vorgereckt wie die einer Marionette, mit hektisch fuchtelnden Händen, rannte auf der anderen Seite um den Tisch herum, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden, während hinter ihm die anderen Hunde ekstatisch bellten.

»Haltet sie auf. Haltet sie auf! Sie muss schon völlig erschöpft sein!«

Sie duckte sich hinter Ernest in die Ecke, und er hob abwehrend die Fäuste, während Charlie schrie: »Jetzt! Sie ist eingekesselt. Schnappt sie euch!«

»Deine Brille! Ernest, deine Brille!«, schrie Patience in Erwartung eines Handgemenges, während Emerald, Charlotte und Florence bellten und kläfften.

»Keinen Schritt näher! Ich schwöre, ich schlage zu!« Ernest meinte die Männer, war aber wütend genug, um auch Hand an die Frauen zu legen, wenn es nötig wäre.

Fassungslos stand er ihrer Hysterie gegenüber – ihrem Gejohle, ihrem Gelächter, ihren gebleckten Zähnen und den zu Klauen gekrümmten Händen –, während sich Patience, kreidebleich vor nacktem Entsetzen, immer schwächer werdend, in die Ecke hinter ihm drückte. Die Hunde geiferten und kläfften, schlugen mit den Krallen und heulten, bis Patience schließlich nicht mehr konnte und anfing, hysterisch zu lachen, wild, freudlos, bis sie keine Luft mehr bekam und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie schnappte nach Luft, halb weinend, halb lachend, die Augen weit aufgerissen, während das Kläffen in ihren Ohren gellte.

»Das hier ist mein Gewehr!«, rief Charlie und schwenkte einen langen, silbernen Kerzenlöscher, den er von der Anrichte gerissen hatte, hoch über seinem Kopf. Dann deutete er damit an Ernest vorbei auf Patiences Gesicht und machte »PENG!«, woraufhin Patience wie vom Blitz getroffen ohnmächtig zu Boden sackte.

Ernest, der als Einziger mit dem Rücken zu ihr stand, war der Letzte, der merkte, was geschehen war. Der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen verriet es ihm. Clovis trat besorgt einen Schritt vor, blieb aber sofort wieder stehen. Erschrocken drehte Ernest sich um. Patience lag zusammengesunken auf dem Boden, das Gesicht blutleer. Ihr Anblick machte dem Spiel ein Ende. Ihre Verfolger verstummten. Schweigend beobachteten sie, wie Ernest sich hinkniete und Patience hochhob.

»Ihr Scheusale«, sagte er, so wie sie es vorhin getan hatte, und trug sie zur Bank unter dem Fenster.

»Sie ist nur ohnmächtig geworden«, sagte Charlie, ging zurück zu seinem Platz, leerte das Portweinglas und strich sich glättend über die Haare. Die anderen, vor Schock verstummt, waren nach allem, was sie getan hatten, nicht in der Lage, Besorgnis zu zeigen, gleichzeitig aber auch so entsetzt über das, was passiert war, dass sie unfähig waren, irgendetwas anderes zu tun.

Es dauerte nicht lange, bis Patience wieder zu sich kam.

»Hallo«, sagte sie, wie Menschen es beim Aufwachen manchmal tun, so als seien sie weit fort gewesen und gerade erst zurückgekommen.

»Hallo«, antwortete ihr Bruder ernst, vergaß seine Empörung und empfand nur noch Erleichterung.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Niemand sagte etwas, da keiner von ihnen eine Antwort wusste.

»Ach ja, wir haben gespielt«, fiel es ihr selbst wieder ein. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah sich um, und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Beleidigungen und Beschimpfungen, und sie runzelte traurig und errötend die Stirn.

Emerald kniete sich neben sie und nahm ihre Hand. »Patience?«, flüsterte sie, aber Ernest, neben ihr, ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte er aufgebracht.

»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, flüsterte sie, aber weder Bruder noch Schwester sagten etwas darauf.

»Sollen wir jetzt weitermachen?«, fragte Charlie Traversham-Beechers völlig ungerührt.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, fuhr Charlotte ihn an und äußerte damit, was alle fühlten. »Das alles ist schon viel zu …«

»Viel zu weit gegangen?«, unterbrach er sie und tastete sein Jackett auf der Suche nach einer neuen Zigarre ab. »Das sagen die Leute immer. Und es stimmt nie. Wir sind gerade erst am Anfang, Mrs Swift. Als Nächstes sind Sie an der Reihe.«

»Ich?« Ihr Gesicht war aschfahl.

Gegen ihren Willen – schockiert und besorgt, wie sie es alle waren – sahen sie zwischen ihm und Charlotte hin und her, gezwungen, diesem empörenden Labyrinth bis zum Ende zu folgen.

»Ich?«, wiederholte sie.

Ernest stopfte Patience ein Kissen in den Rücken. Gemeinsam blieben sie auf der Bank sitzen, vereint, aber von niemandem beachtet, während Clovis, Emerald, Florence und John als widerstrebende Gruppe zu ihren Plätzen am Tisch zurückgingen. Immer noch fast krank vom üblen Geschmack ihrer eigenen Grausamkeit, waren sie noch nicht wieder sie selbst. Doch so wie ein Bild in einem Spiegel uns zwar die Wahrheit zeigt, aber nicht real ist, waren sie zugleich auch zutiefst und intensiv sie selbst. Sie mussten wissen, was zwischen diesem Mann und Charlotte war.

Charlotte selbst wich vom Tisch zurück, ohne den Blick von Traversham-Beechers’ Gesicht zu lösen.

»Wie kann man nur so grausam sein«, sagte sie.

»Das war ich schon immer«, lautete seine Entgegnung. »Hinsetzen.«

»Nein.«

»Gott verdamme dich, hinsetzen!«

Ob die Versammelten bei diesem neuerlichen Verstoß gegen sämtliche gute Sitten die Luft anhielten oder ob der Schock den Sauerstoff aus dem Zimmer saugte, bleibt ein Geheimnis, aber die Kerzenflammen duckten sich an ihre Dochte, und Charlotte Torrington Swift, geborene Thompson, setzte sich, wie er es ihr befohlen hatte.

»Nein«, sagte sie. »Er wird dich verdammen.«

»Ich entscheide, wer anfängt!«, sagte Traversham-Beechers unbeeindruckt. »Soll ich mit einem Spatz oder einem Adler anfangen? Mit hohem oder niedrigem Einsatz?«

»Mach, was du willst«, sagte sie.

»Also dann – Mrs Trieves – Sie zuerst. Wir sitzen in dieser Sache alle im selben Boot, wie es so schön heißt.«

Er reichte Florence das Glas. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie nahm es, schleuderte es aber nicht über den Tisch, wie Patience es getan hatte, sondern reichte es in stiller Rebellion einfach weiter.

»Sie passen also«, mokierte sich Traversham-Beechers.

Emerald nahm das Glas von Florence entgegen.

»Sie ist meine Mutter. Was soll ich sagen?«, sagte sie leise und reichte das Glas an Clovis weiter.

»Ganz richtig.« Clovis hatte furchtbare Angst und konnte sich nur hinter den Worten seiner Schwester verstecken.

Traversham-Beechers nahm ihm das Glas ungeduldig aus der Hand. »Sie ist eine Hure«!, sagte er mit kalter Stimme.

»Mein Gott!«, rief Charlotte. »Du bist derart abscheulich!«

»Nein, du bist abscheulich«, sagte er. »Wie abscheulich ist es denn, den eigenen Ehemann – zwei Ehemänner! – hinters Licht zu führen. Kinder in die Welt zu setzen und zu erwarten, dass sie ein anständiges Leben führen, wenn ihre Seelen mit deiner Lasterhaftigkeit befleckt sind. Die vornehmen Manieren einer Dame anzunehmen, wenn du weniger bist als ein Flittchen, weniger als das armseligste Ding von einem Mädchen, das an einer Straßenecke Blumen verkauft; weniger, in deiner Unmoral, als jede andere Frau hier in diesem Zimmer oder in deinem ganzen großartigen neuen Leben.« Die letzten Worte spie er betont langsam hervor, dann lehnte er sich unvermittelt, schwach vor Erleichterung, leise keuchend, zurück und schien zu schrumpfen.

Die anderen im Zimmer – Ernest und Patience auf der Bank, die anderen am Tisch – sagten kein Wort, und in diesem verwunderten, verzweifelten Schweigen fing Charlie Traversham-Beechers an zu lachen. Erst war es ein Kichern, ein seltsames, kitzelndes Geräusch, das sich über alle Anwesenden lustig machte. Dann stieg es in hingerissenen, boshaften Abstufungen immer höher an und hörte abrupt wieder auf. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Ich vermute, Sie möchten die ganze Geschichte hören?«, sagte er liebenswürdig zu Clovis.

Es war eine Frage, die keinem Sohn über seine Mutter gestellt werden sollte, und er wusste keine Antwort.

Charlotte rührte sich nicht. Ihre Augen waren starr auf den Feind gerichtet.

»Sprechen Sie«, sagte Emerald.

»Ich werde mich kurz fassen. Es ist eine abgedroschene Geschichte, und dazu eine ganz gewöhnliche. Wenn es nicht um Ihre Mutter ginge, würde sie Sie wahrscheinlich nicht interessieren. Sie würden sie für zu geschmacklos halten, um sich damit zu beschäftigen. Nun …« Er seufzte. »Wie auch immer. Vielleicht haben Sie von den sorglosen Tagen gehört, die Ihre Mutter in London verbracht hat, bevor sie Ihren Vater kennenlernte? Von ihrer konventionellen Kindheit in Richmond?«

Emerald warf Charlotte einen Blick zu. Diese privaten Informationen aus dem Mund eines Fremden? Welche Wahrheit steckte dahinter? Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken.

»Das mit der Kindheit entspricht durchaus der Wahrheit«, fuhr er fort, »zumindest der Wahrheit, die sie mir erzählt hat, aber die sorglosen Tage waren nicht wirklich sorglos, nicht wahr, Mrs Trieves? Florence?«

Florence hielt den Blick in die Ferne gerichtet und antwortete ihm nicht.

»Ganz und gar nicht sorglos. Das Geld für die Miete musste aufgebracht werden, man musste es sich von Gentlemen leihen – so haben Sie es doch manchmal genannt, nicht wahr? Leihen. Und viele der Gentlemen waren auch nicht wirklich Gentlemen, nicht wahr, Charlotte?«

»Du zum Beispiel warst keiner«, sagte sie, ohne dass er darauf einging.

»Künstler – diese grüblerischen, redenden, trinkenden Künstler. Ist Prostitution ehrbarer, wenn man sie unter Intellektuellen betreibt? Ich würde sagen – nein.«

»Wir waren Modelle«, platzte es aus Florence heraus.

»Still!«, rief Charlotte, die weitere Provokationen seinerseits fürchtete, aber es war zu spät.

»Ah, Modelle! Musen. Göttinnen, nicht wahr? Du zumindest, Charlotte, eine Göttin für die Männer, die du verführt hast. Wie sie sich mühten, deinen himmlischen Zauber einzufangen – bevor sie mit dir ins Bett gingen.«

Er war zu vulgär. Es war unerträglich. John Buchanan, bis zu diesem Augenblick stumm, überwältigt von grausamer Leidenschaft während des Spiels und dann, nach Patiences Zusammenbruch, von Verwirrung und Schock, sprang auf.

»Genug!«, rief er. »Verlassen Sie dieses Haus, auf der Stelle! Wie können Sie es wagen!«

Traversham-Beechers war so unbeeindruckt von diesem Ausbruch, dass Johns Entschlossenheit in sich zusammensackte wie ein Ballon, aus dem die Luft herausgelassen wird. Er setzte sich wieder.

»Ich werde dieses Haus nicht verlassen. Ich bin hier, um diese Sache zu Ende zu bringen, und das werde ich auch.« Er sprach immer hastiger, wie ein Ankläger vor Gericht. »Ganz kurz also: Charlotte Thompson, mittellos in Bloomsbury im Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – als jene Gegend noch nicht annähernd so empfehlenswert war wie heute, und das ist offen gestanden«, er lachte, »immer noch nicht sonderlich empfehlenswert –, war gezwungen, und ich benutze das Wort ironisch, gezwungen, auf ihren einzigen Aktivposten zurückzugreifen: ihre Schönheit. Tat sie es auf ehrbare Weise, so wie andere Frauen? Versuchte sie, einen Ehemann zu finden? Nein, das tat sie nicht. Sie legte ihre Kleider gegen Bezahlung ab und ließ sich in einer ganzen Reihe zweitklassiger Gemälde verewigen, hingeschmiert von liebeskranken oder zynischen Narren. (Ich selbst besitze eins oder zwei davon; und frage mich, ob Sie raten können, zu welcher Kategorie ich gehöre?) Als ich sie kennenlernte, ging sie – und Sie, Florence! Wir dürfen Sie nicht vergessen – gegen Geld mit Männern ins Bett. Eine Mätresse. Eine Muse. Ein Modell. Aber nur im seltensten Fall – nur im seltensten Fall, was, Lottie? – auf dem Straßenstrich zu finden.«

Er war so tief gesunken, wie er nur sinken konnte – beziehungsweise sie, und er hatte davon berichtet. Keiner im Raum konnte den anderen ins Gesicht sehen. Als Charlotte schließlich aufstand, wurde sie dabei von niemandem beobachtet, da alle Köpfe gesenkt waren.

Die Stimme, mit der sie ihm antwortete, war dumpf, und irgendetwas in ihrem Ton machte jedem Zweifel ein Ende, jeder verzweifelten Hoffnung, die ihre Kinder vielleicht bezüglich der Wahrhaftigkeit seiner Anschuldigungen gehabt hatten. Es war die Stimme einer Frau, die all das erlebt hatte, wovon er gesprochen hatte, und mehr. Es war die Stimme von Charlotte Thompson, wohnhaft in Bloomsbury, die mit dem aller Würde baren Mut der Erniedrigten sprach.

»Stimmt, Charlie, nur im seltensten Fall«, sagte sie und verließ das Zimmer.

Einer nach dem anderen standen sie auf. Der Raum leerte sich. Bei jedem Öffnen der Tür wurde das Singen lauter. Fetzen ausgelassener Gassenhauer begleiteten die Gäste bei ihrem Abgang vom verwüsteten Tisch. Verhöhnt von den munteren Klängen von »K-K-K-Katy«, zogen alle sich zurück. Ernest, den Arm um seine Schwester gelegt; Florence in ihre verwüstete, geplünderte Küche; Clovis – der nicht einmal seiner Schwester, geschweige denn den anderen, in die Augen sehen konnte – in irgendein Versteck in irgendeinem verborgenen Winkel des Hauses.

Schließlich waren nur noch Emerald und Charlie Traversham-Beechers übrig.

Vollkommen unbekümmert fischte er sich hier und da einen Bissen aus den Essensresten heraus und leckte sich die Finger ab. Emerald betrachtete ihn mit stetem Blick.

»Sie haben uns alle beschämt«, sagte sie.

»Sie haben sich selbst beschämt«, lautete seine lächelnde Antwort.

Wie wahr.

»Woher wussten Sie, wo wir zu finden sind?«

»Lange Zeit wusste ich es nicht. Aber in meiner Situation kommen sehr viele Dinge ans Licht.«

»Welche Situation wäre das?«

Er begegnete ihrem tapferen Blick, und gegen ihren Willen geriet sie ins Wanken. Seine Pupillen waren unmenschliche schwarze Splitter, und ihre zarte Seele zuckte davor zurück. Auch sie stand auf und verließ das Zimmer.