9. KAPITEL

“Eric, Liebling! Was für eine wunderbare Überraschung!” Camilla rannte über den Hof auf den schlanken Mann im Nadelstreifenanzug zu und fiel ihm stürmisch um den Hals. Sie fühlte sich unendlich erleichtert, denn mit einem Mal schien in ihrer in Chaos geratenen Welt wieder Ordnung zu herrschen.

Eric erwiderte die Umarmung liebevoll. “Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Darling, weil ich nicht wusste, wo du warst. Die Nachricht, die ich von meiner Sekretärin erhalten habe, war völlig unverständlich. Hoffentlich stört es dich nicht, dass ich unangemeldet aufgetaucht bin.”

“Natürlich nicht! Ich freue mich, dich zu sehen.” Camilla klammerte sich an seinen Arm wie an einen Rettungsanker. “Wir mussten auf die Insel Mhoire fahren, um den verschwundenen Goldnebel zu suchen.” Sie sah Erics verständnislose Miene und lächelte. “Keine Angst, ich erkläre dir alles, wenn wir im Hotel sind.” Ungeduldig zerrte Camilla an seinem Ärmel. “Komm, fahren wir. Ich kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen.”

Doch Eric blieb stehen und tadelte sie lächelnd: “Einen Moment, Liebling. Wäre es nicht höflicher, wenn du mich zuerst diesem Herrn vorstellen würdest?” Er deutete auf Greg, der mit verschränkten Armen vor dem Land Rover stand. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Camilla Angst machte. Jetzt kam Greg auf Eric zu.

“Mein Name ist Greg McKeown. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Eric.”

Sie hielt den Atem an, während die beiden Männer sich begrüßten. Auf einmal war ihr bewusst geworden, wie verletzlich Gregs Gegenwart sie machte. Wenn er Eric gegenüber nun aus lauter Bosheit eine Andeutung über das fallen ließ, was am Tag zuvor geschehen war?

“Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Ihre Verlobte auf eine Hebrideninsel entführt habe”, sagte Greg in diesem Augenblick. Ein sarkastisches Lächeln umspielte seine Lippen. “Wie Sie sehen, habe ich sie heil zurückgebracht. Sie wird Ihnen sicher berichten, was wir gemacht haben. Es ist eine spannende Geschichte.”

Erst als er sich abgewandt hatte, wagte Camilla wieder zu atmen. “Komm, fahren wir endlich zum Hotel.”

Auf halbem Weg zum Auto hörte sie Greg plötzlich rufen: “Moment! Vermisst du nichts?”

Nervös drehte sie sich um. Was trieb er jetzt für ein Spiel?

Sein Lächeln war aufreizend. “Hier, das hast du vergessen.”

Er hielt ihre Kameratasche in der Hand. Daran hatte Camilla überhaupt nicht mehr gedacht. Widerstrebend ließ sie Erics Arm los und kehrte um. Greg stand noch am selben Fleck. Offenbar hatte er nicht die Absicht, Camilla auch nur einen Schritt entgegenzukommen.

“Danke”, sagte sie steif, ohne ihn anzusehen, und griff nach der Tasche. Plötzlich streckte er die Hand aus, als wolle er Camilla behilflich sein, und berührte ihren Arm. Ihr wurde heiß, und unwillkürlich blickte sie auf. In Gregs Augen glomm ein eigenartiges Feuer.

“Das ist also Eric”, meinte er lässig. “Genauso habe ich ihn mir vorgestellt. Er scheint ein ausnehmend netter Kerl zu sein, aber zu dir passt er nicht.”

“Du irrst dich”, erwiderte sie gepresst. “Wir passen sogar sehr gut zusammen. Wag es also ja nicht, dich einzumischen, sonst wird es dir leidtun.”

Er schüttelte lachend den Kopf. “Tapfere Worte, meine Liebe. Aber eine weitere Einmischung meinerseits ist gar nicht mehr nötig. Dir ist es vielleicht noch nicht bewusst, aber von jetzt an wirst du dich jedes Mal, wenn Eric dich küsst, an meine Küsse erinnern. Du wirst dich bei jeder Liebkosung von ihm nach meinen Zärtlichkeiten sehnen.”

Solche Eitelkeit war einfach nicht zu fassen!

“Glaubst du das im Ernst?”, fragte Camilla spöttisch.

“Ich glaube es nicht, ich weiß es.” Sein Blick war wie eine körperliche Berührung. “Trotz Erics vieler guter Eigenschaften wird die Frau in dir in einer Ehe mit ihm niemals Befriedigung finden. Die kann dir – wie du gestern selbst entdeckt hast – nur ein Mann verschaffen.”

Camilla war das Blut in die Wangen geschossen.

“Das Leben besteht nicht bloß aus Sex!”, fauchte sie. Nahm er wirklich an, sie würde für ein gelegentliches Schäferstündchen mit ihm alles aufgeben?

“Bloß Sex? War es wirklich nur das?”

Sie schaute rasch weg, damit er nicht in ihren Augen lesen konnte. Niemand außer ihr sollte je wissen, dass es sehr viel mehr für sie gewesen war. In diesen unvergesslichen leidenschaftlichen Augenblicken hatte Greg nicht nur ihren Körper in Besitz genommen, sondern auch ihre Seele.

“Danke für die Tasche”, sagte Camilla tonlos. “Ich gehe jetzt besser. Eric wartet.”

“Natürlich.” Gregs Blick war hart. “Den darfst du natürlich nicht warten lassen.”

Einen Moment standen sie sich gegenüber wie Todfeinde. Dann drehte Camilla sich um und ging über den Hof zu Eric.

Eric entschloss sich, in Glen Crannach zu bleiben, bis Camillas Auftrag abgeschlossen war.

“Dann können wir zusammen nach London zurückfliegen”, erklärte Eric. “Es war mir sowieso nicht ganz geheuer bei dem Gedanken, dass du hier allein bist.”

Sie lächelte bitter. Jetzt wusste sie genau, dass es besser gewesen wäre, wenn sie die Reise nach Schottland nie unternommen hätte. Ihre schlimmsten Vorahnungen hatten sich bewahrheitet, und obwohl sie sich bemühte, das Geschehene zu vergessen, war ihr klar, dass sie nie wieder dieselbe sein würde. Der Tag auf Mhoire und sein bitteres Nachspiel hatten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingegraben.

Nachdem Greg und sie sich geliebt hatten, hatten sie eng umschlungen nebeneinander gelegen, und da spürte sie es bereits: Etwas hatte sich verändert. Die Erkenntnis traf sie dann wie ein Schock. Wider jede Vernunft hatte sie sich in Greg McKeown verliebt!

In jenem Moment dachte sie allerdings gar nicht an die Komplikationen, die das alles mit sich bringen konnte. In jenem Moment war sie damit zufrieden gewesen, einfach nur Gregs Arme um sich zu spüren.

Er hatte dann den Bann gebrochen.

“Du bleibst doch jetzt?”, hatte Greg gesagt. “Ich meine, du fährst nicht mehr nach London zurück?”

Ihr Herz hatte einen Schlag lang ausgesetzt. Nichts auf der Welt wünschte sie sich mehr. Doch die Vorsicht trieb sie dazu, leichthin zu erwidern: “Nenn mir einen Grund, warum ich nicht zurückfahren sollte.”

Greg küsste Camillas Halsgrube. “Weil ich dich bei mir haben will. Wie kann ich mit dir schlafen, wenn du fast tausend Kilometer entfernt bist?”

Camilla fror plötzlich. Sie schwieg, presste nur das Gesicht an seine Schulter.

“Ich will mit dir schlafen”, bekräftigte er. “Tag für Tag, Nacht für Nacht.” Er schob sie ein Stückchen zurück. “Weißt du eigentlich, wie verrückt ich nach dir bin? Ich möchte mit dir auf Schloss Crannach leben, damit ich nie wieder ohne dich aufzuwachen brauche. Willst du nicht auch, dass wir weiterhin miteinander schlafen?” Forschend sah er sie an.

Ja, das wünschte sie sich auch. Nur … was bot er ihr eigentlich an?

“Das schon”, gestand sie. “Aber, Greg, ich …”

“Kein Aber.” Er küsste ihr Gesicht und legte besitzergreifend die Hand auf ihre Brust. “Erinnerst du dich an das, was ich dir gesagt habe?”

“Wann und wo?”

“Auf der Fähre.” Greg sah ihr unverwandt in die Augen. “Das kannst du doch nicht vergessen haben.”

Natürlich erinnerte sie sich. Greg hatte ihr von der großen Liebe erzählt, nach der er suchte. Und dass er nicht bereit sei, sich mit weniger zufriedenzugeben. Doch das meinte er, was sie, Camilla, betraf, bestimmt nicht. Vermutlich wollte er mit ihr lediglich eine der Affären, die er “gelegentliche Zerstreuungen” nannte und die er ihr zur Nachahmung empfohlen hatte.

“Ich erinnere mich”, antwortete Camilla steif.

“Dann wirst du also bleiben?”

Sie atmete tief durch. “Damit wir uns richtig verstehen – du möchtest, dass ich zu dir auf Schloss Crannach ziehe?”

Er nickte.

“Und?” Ein Wort würde genügen, dachte sie. Ein Wort, das mir zeigt, dass er mich nicht nur als Spielzeug betrachtet.

“Und? Nichts und. Ich will dich einfach bei mir haben”, sagte er. “Damit ich dich besitzen kann – morgens, mittags und nachts.”

“Du musst verrückt sein!” Vor Enttäuschung klang ihre Stimme schrill. “Zu so etwas bin ich keinesfalls bereit. Ich dachte, ich hätte dir klar und deutlich auseinandergesetzt, dass ich praktisch mit Eric verlobt bin.” Camilla war aufgestanden und hatte sich nach ihren Sachen gebückt. Beinahe hätte sie Eric aufgegeben, der sie liebte und der sie heiraten wollte – für einen Mann, der ihr lediglich eine Affäre bot.

Greg hatte nicht versucht, sie umzustimmen.

“Ich verstehe”, hatte er verächtlich gesagt. “Dir ging es nur um ein Abenteuer für eine Nacht. Bitte verzeih, dass ich das nicht sofort begriffen habe. Ich muss mich noch daran gewöhnen, wie ihr Großstädter so etwas handhabt.”

“Den Eindruck habe ich auch”, hatte sie gefaucht, um zu verbergen, wie sehr seine Worte sie getroffen hatten. Nie sollte er erfahren, was sie für ihn empfand. Diese Gefühle würde sie in sich verschließen.

Camilla und Eric waren noch keine halbe Stunde im Hotel, als Greg anrief.

“Ich wollte dir nur mitteilen, dass das Rätsel um das Verschwinden des Goldnebels gelöst ist. Wie ich schon vermutet hatte, hat Maggie den Schmuck genommen. Offenbar glaubt sie ebenso wie du an den Fluch. Sie hat zugegeben, ihren Sohn veranlasst zu haben, den Goldnebel auf die Insel zu bringen.”

Maggie hätte Camilla als Letzte verdächtigt. Obwohl die mürrische Haushälterin ihr nicht besonders sympathisch war, empfand sie Mitleid mit ihr. “Wirst du Anzeige erstatten?”

Er antwortete erst nach einigen Sekunden. “Angesichts der besonderen Umstände werde ich darauf verzichten. Maggies Motive waren wenigstens ehrlich. Allerdings habe ich sie ausdrücklich verwarnt, dass sie nicht noch einmal so leicht davonkommen wird, wenn sie es wieder tun sollte. Das wär’s”, schloss er. “Es sei denn, du hast mir etwas zu sagen.”

Camilla erriet, was er meinte. “Nein, das habe ich nicht”, erwiderte sie ausdruckslos. Glaubte er etwa, sie habe sich sein beleidigendes Angebot überlegt und sei nun doch bereit, seine Geliebte zu werden?

“Ich verstehe.” Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.

Am folgenden Tag nahm sie die Arbeit in und um Schloss Crannach wieder auf. Wenn Camilla den Raum betreten musste, in dem die keltische Sammlung aufbewahrt wurde, begleitete der alte Lord sie. Offenbar ging Greg ihr aus dem Weg, und das war vermutlich das Ritterlichste, was er tun konnte. Dennoch spürte sie seine Gegenwart wie einen dunklen Schatten.

Wenn Camilla mit Eric zusammen war, konnte sie das Gefühl verdrängen, war sie aber allein, gab es kein Entrinnen. In ihren Kummer mischten sich Schuldgefühle. Dass sie mit Greg geschlafen hatte, musste vor Eric ein Geheimnis bleiben, und der Gedanke, ihn zu täuschen, verursachte ihr Gewissensbisse. Obwohl Eric sie nie so tief anrühren konnte wie Greg, dieser ungezähmte Hochländer, würde sie alles tun, ihm Glück zu schenken. Das würde ihre Lebensaufgabe … und ihre Sühne sein.

“Ich wäre zwar lieber schon heute heimgeflogen”, sagte Eric zu Camilla. Sie waren auf dem Rückweg von einem Ausflug an die Küste, und Eric saß am Steuer. “Aber da du unbedingt an der Geburtstagsfeier des alten Lords teilnehmen willst …” Er verstummte und zuckte die Schultern.

“Wir müssen einfach daran teilnehmen. Ich mag den alten Herrn und möchte nicht, dass er mich für unhöflich hält.”

“Natürlich.” Eric nickte. “Er ist im Grunde recht nett, wenn auch ein wenig exzentrisch.”

Camilla sah lächelnd zu ihm hinüber. Für Eric waren alle Menschen, die nicht den strengen Maßstäben der Londoner City entsprachen, “exzentrisch”. Liebevoll griff sie nach seiner Hand, doch er schüttelte ihre ab, um den Wagen um eine besonders enge Kurve zu lenken.

“Diese mittelalterlichen Landstraßen sind bestenfalls für ein Eselsgespann geeignet”, brummte er. “Je eher wir zum Piccadilly und zur Oxford Street zurückkehren, desto glücklicher werde ich sein. Auf den schmalen Wegen hier gibt es zu viele Überraschungen für meinen Geschmack.”

Wie recht Eric hatte, zeigte sich Sekunden später, als die Weiterfahrt hinter der Kurve plötzlich durch eine Schafherde blockiert war. Er trat fluchend auf die Bremse. Camilla, die ahnte, was er tun würde, hielt seine Hand fest, ehe er auf die Hupe drücken konnte.

“Ja nicht hupen”, warnte sie. “Sonst erschreckst du die Tiere.”

“Wie zum Teufel soll ich sie denn sonst dazu bringen, zur Seite zu gehen?”

“Es ist bestimmt jemand bei ihnen.” Sie schaute sich suchend um, als rechnete sie damit, Greg McKeown aus dem Wald kommen zu sehen.

Bei dieser Vorstellung verspürte sie einen Stich, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte sie ungeduldig weg. Wenn sie Greg vergessen wollte, musste sie sich mehr Mühe geben.

“Nur eine Minute, gleich ist der Weg wieder frei!” Ein rotwangiger junger Mann mit einem Schäferstab und einem schwarz-weiß gefleckten Collie an der Seite tauchte plötzlich auf. Er lächelte Camilla und Eric fröhlich zu und pfiff. Sofort begann der Hund, die Herde von der Straße zu treiben.

Kaum war der Weg frei, fuhr Eric mit quietschenden Reifen los.

“Schafe auf der Straße sollten verboten werden”, schimpfte er.

Ohne nachzudenken, ergriff Camilla die Partei des Schäfers. “Wir sind hier doch nicht in Knightsbridge. In diesem Teil der Welt haben Tiere das gleiche Recht, die Straße zu benützen, wie Menschen in ihren Autos …” Sie stockte, als ihr klar wurde, dass sie Greg beinahe wörtlich zitierte. Angst ergriff sie. Sogar ihr erstes Gespräch – genauer gesagt, ihr erster Streit – hatte sich in ihr Gedächtnis eingegraben! Würde sie denn nie wieder frei sein?

Impulsiv lehnte sie sich zu Eric hinüber und küsste ihn auf die Schläfe.

“Keine Sorge”, sagte sie und strich ihm übers Knie. “Morgen werden wir wieder in London sein, wo uns ganz bestimmt keine Schafe in die Quere kommen.” Und die Erinnerung an Greg McKeown mich nicht mehr auf Schritt und Tritt verfolgt, fügte sie im Stillen hinzu. Hoffentlich.

Doch obwohl sie ganz sicher wusste, dass sie es so wollte, brauchte sie den körperlichen Kontakt mit Eric, um das eigenartig beklemmende Gefühl niederzukämpfen, das bei dem Gedanken an den Abschied von Crannach in ihr aufstieg.

Der Abend würde schwierig werden. Camilla schaute nervös in den Spiegel. Wenn das Fest doch schon vorbei wäre!

Für die Feier zu Ehren von Lord Crannach trug sie das einzige elegante Kleid, das sie mitgebracht hatte – ein dunkelblaues Nicole-Farhi-Modell von raffiniert einfachem Schnitt. Das glänzende blonde Haar hatte sie zurückgebürstet und mit Kämmen befestigt. Goldene Tropfenohrringe und eine schmale Goldkette waren ihr einziger Schmuck.

“Du siehst wunderschön aus”, sagte Eric anerkennend, als sie in die Halle kam. Er küsste Camilla leicht auf den Mund und nahm ihren Arm. “Komm, machen wir uns auf den Weg. Ich werde fahren.”

Kurz nach zwanzig Uhr trafen sie auf Schloss Crannach ein. Maggie, die nicht ein bisschen zerknirscht wirkte und dieselbe mürrische Miene zur Schau trug wie immer, öffnete ihnen die Tür und führte sie in den Wohnraum, wo sich die anderen Gäste bereits versammelt hatten.

Camilla hielt Erics Arm fest umklammert, als sie das Zimmer betraten. Auf ihrem Gesicht lag ein gezwungenes Lächeln. Sofort fiel ihr Blick auf eine hochgewachsene Gestalt am Fenster, die sich bei ihrem Eintritt umgedreht hatte. Trotz ihres Vorsatzes, Greg gleichgültig zu behandeln, konnte sie die Augen nicht von ihm abwenden. Noch nie hatte sie einen so umwerfend aussehenden Mann erblickt.

Sie war daran gewöhnt, Eric im Anzug zu sehen, denn er trug kaum etwas anderes. Aber heute sah sie Greg zum ersten Mal nicht in Jeans. Die Verwandlung nahm ihr den Atem.

Auf den ersten Blick schien der maßgeschneiderte dunkelblaue Anzug seine kraftvolle männliche Ausstrahlung zu dämpfen. Das oft zerzauste dunkle Haar war zurückgebürstet, und das gestärkte weiße Hemd bildete einen auffallenden Kontrast zu seiner gebräunter Haut. Doch der elegante Anzug hob die ihm angeborene Autorität noch hervor. Wie stets beherrschte Greg McKeown den Raum mühelos.

Camilla tat das Herz weh, als sie sich zwang, woandershin zu schauen. Sie erlebte ihn heute von einer Seite, die sie noch nicht kannte, die jedoch ebenso echt und natürlich wirkte wie die andere.

Greg löste sich aus der Gruppe am Fenster und kam ohne Eile auf Camilla und Eric zu. “Willkommen auf Schloss Crannach.” Er sprach höflich, aber ohne jede Wärme. Einen Moment lang sah er Camilla mit seinen stahlgrauen Augen durchdringend an. “Hast du schon alles gepackt für die Heimreise? Ich nehme an, du kannst es kaum erwarten, ins Flugzeug zu steigen.”

Das war gleichzeitig wahr und falsch, und Camilla fragte sich, ob er ihr die zwiespältigen Gefühle ansehen konnte.

“Hier hält mich nichts mehr”, sagte sie leise. “Meine Arbeit ist abgeschlossen. Es ist Zeit, abzureisen.”

“Natürlich.” Greg verzog leicht den Mund. “Wir müssen alle unser Leben weiterführen.” Er wandte sich an Eric. “Kommt und gratuliert Großvater. Sein Geburtstag ist schließlich der Grund, warum wir uns heute hier versammelt haben.”

Wenigstens Angus McKeown scheint sich über unser Erscheinen zu freuen, dachte Camilla. Der alte Herr, der zugleich eindrucksvoll und jugendlich in Kilt und Kniestrümpfen wirkte, sah ihr strahlend entgegen, als sie und Eric auf ihn zugingen.

“Wie schön, dass Sie gekommen sind! Darf ich Sie mit meinen Freunden bekannt machen?”

Die Gäste des Lords – überwiegend Nachbarn und Bekannte aus der näheren Umgebung – waren eine so ausgelassene und fröhliche Schar, dass Camilla unwillkürlich von ihrer guten Laune angesteckt wurde.

Beim Kaffee nach dem Essen erhielt ihre Stimmung allerdings einen Dämpfer, als sich ein rothaariger Mann in der Tracht der Hochländer vorbeugte.

“Wie ist es also mit dem großen Rennen morgen?”, fragte er Greg. “Trittst du an? Du wirst als Champion gehandelt!”

Greg lächelte nur bescheiden, und Camillas Herz setzte einen Schlag aus. Der Rothaarige hatte von einem großen Rennen gesprochen. Das konnte nur eins bedeuten.

Ein anderer Gast bestätigte ihre Befürchtungen.

“Und ob!”, rief er. “Morgen um diese Zeit wird Greg der neue Meister in der Fünfhundert-Kubik-Klasse sein.”

Greg schmunzelte. “Keine Vorschusslorbeeren bitte. Aber falls ich tatsächlich gewinnen sollte, spendiere ich euch allen morgen Abend einen Drink im Stag Hotel.” Er suchte Camillas Blick. “Schade, dass du dann nicht mehr hier bist, um mitzufeiern – falls es dazu überhaupt einen Grund gibt.”

“Wirklich schade”, bestätigte sie ausdruckslos. “Wir werden an euch denken, wenn wir wieder in London sind, nicht wahr, Eric?”

Mit der Entschuldigung, dass sie am nächsten Morgen zeitig abreisen würden, brachen Camilla und Eric als Erste auf. Sie hatte auf einen kurzen und schmerzlosen Abschied gehofft, doch ihr tat das Herz weh, als sie dem alten Lord Auf Wiedersehen sagte. Obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten, hatte Camilla ihn lieb gewonnen, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt, als er ihr zeigte, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte.

“Ich werde Sie sehr vermissen, mein Kind. Wenn Sie wieder in diese Gegend kommen, müssen Sie mich unbedingt besuchen.”

“Das werde ich”, versprach sie, dabei wusste sie, dass sie nie wieder in die Nähe von Schloss Crannach kommen würde. Eine Entscheidung, die Greg – seinem kurzen Händedruck nach zu urteilen – voll und ganz zu billigen schien.

Camilla und Eric waren schon fast am Auto, da bemerkte sie, dass sie ihre Handtasche vergessen hatte. Verflixt! Am besten, sie fuhren trotzdem los. Ich werde dann vom Hotel aus anrufen. Auf die Weise riskierte sie nicht, Greg noch einmal zu begegnen, denn er würde zweifellos nicht selbst kommen, sondern einen Bediensteten schicken.

Doch Eric schüttelte den Kopf. “Wozu solche Umstände? Hol die Tasche. Wenn du willst, begleite ich dich.”

Camilla wehrte ab. “Nein, ich gehe lieber allein. Das erregt weniger Aufsehen.” Wenn sie Glück hatte, gelangte sie unbemerkt ins Schloss und wieder hinaus.

Eric zuckte nachsichtig die Schultern. “Na schön. Ich warte dann hier.”

Sie ging rasch über den mondbeschienenen Hof. Ihre Absätze klapperten, als sie die Stufen zum Schloss hinaufstieg. Je näher sie der Tür kam, desto nervöser wurde sie. Sie wusste, dass ihre Tasche immer noch im Esszimmer an dem Stuhl lehnte, auf dem sie gesessen hatte. Die Tischgesellschaft war schon vor einiger Zeit in den Salon umgezogen, also hielt sich vermutlich niemand im Esszimmer auf. Auf Zehenspitzen betrat Camilla das Zimmer.

Die Tasche lehnte nicht mehr am Stuhl. Langsam ging Camilla um den Tisch herum und blickte dabei auf und unter jeden Stuhl. Hatte sie sich geirrt?

“Suchst du vielleicht das hier?”

Sie wirbelte herum, als sie die tiefe Stimme hörte. Greg stand auf der Türschwelle, die Tasche in der Hand. “Maggie hat sie gefunden”, teilte er ihr kühl mit. “Ich habe mir gleich gedacht, dass sie dir gehört.” Er lächelte. “Ein raffinierter Trick. Endlich können wir einen Moment allein sein.”

Camilla schaute ihn verständnislos an. Die unverhoffte Begegnung mit ihm brachte sie ganz durcheinander.

“Ein Trick?”, wiederholte sie. “Wovon redest du? Ich bin nur zurückgekommen, um meine Tasche zu holen.”

“Natürlich!”, spottete er und trat näher. “Wenn ich die Frau, die sich hinter dem unschuldigen Äußeren verbirgt, nicht kennen würde, würde ich vielleicht auf den naiven Ausdruck in deinen blauen Augen hereinfallen.” Es klickte leise, als er die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Camilla versteifte sich. Greg hatte auf sie gewartet, und sie war ihm in die Falle gegangen.

“Gib mir die Tasche”, verlangte sie brüsk. “Du weißt sehr gut, dass ich nichts geplant habe. Dir macht es vielleicht Spaß, heimtückische Spielchen zu treiben, aber ich bin nicht in der Stimmung dazu.”

Langsam näherte er sich ihr. “Wofür bist du denn dann in Stimmung?” Er legte die Tasche auf den Tisch. “Nur nicht so schüchtern! Woran denkst du?”

Camilla hätte sich ihre Tasche schnappen und auf den Gang laufen können. Doch etwas hielt sie zurück – vielleicht war es der schwer zu deutende Ausdruck seiner Augen, vielleicht auch ihr stürmisch pochendes Herz. Sie konnte Greg nur stumm ansehen, als er fortfuhr: “Ich dachte, wir sollten die Gelegenheit für eine letzte Aussprache nutzen.”

“Was für eine Aussprache?”, fragte sie argwöhnisch. “Du und ich haben uns schon alles gesagt.”

“Meinst du?” Greg setzte sich auf die Tischkante. Seine lässige Haltung verringerte die Spannung zwischen ihnen ein wenig. “Es gibt vieles, was ich dir noch sagen möchte. Zum Beispiel, dass du heute Abend atemberaubend aussiehst.”

Camilla lächelte verlegen. Obwohl sie wusste, dass es töricht war, freute sie sich über das Kompliment. Fast war sie versucht, es zurückzugeben. Doch sie tat es nicht. Er brauchte ihre Anerkennung nicht. “Hast du mir etwa aufgelauert, um mir das zu sagen?”

“Nein”, entgegnete er und hielt ihren Blick fest. “Ich habe mich nur gefragt, ob du dir meine Bitte, bei mir zu bleiben, noch einmal überlegt hast.”

Hatte da nicht ein bittender Unterton in seiner Stimme gelegen? Ach, das ist bestimmt reines Wunschdenken, dachte Camilla bitter.

“Und wenn ich bis ans Ende meiner Tage nachdenken würde”, erklärte sie, “würde meine Antwort Nein lauten.” Liebesaffären nur zur Zerstreuung mochten ihn reizen, sie war dafür nicht geschaffen. Camillas Augen funkelten. Es war eine Unverschämtheit, ihr so etwas vorzuschlagen!

Greg McKeown schien sich nicht im Geringsten zu schämen. “Weißt du nicht, dass du einen großen Fehler machst?”

“Nein, Greg. Den Fehler machst du.”

“Glaubst du?”, fragte er herausfordernd und stand auf. “Vielleicht hast du es schon vergessen, Camilla …”

“Vergessen?” Instinktiv trat sie einen Schritt zurück.

“Jawohl, vergessen.” Mit zwei Schritten war er bei ihr. “Offenbar brauchst du etwas, was dein Gedächtnis anregt.”

Sie wollte davonlaufen. Sie wollte bleiben. Denn sie wusste ganz genau, was jetzt geschehen würde. Wie ein Reh, das im Scheinwerferstrahl gefangen ist, stand sie reglos da. Ihr Verstand wehrte sich dagegen – dennoch sehnte sie sich nach Gregs Berührung.

Als er die Hand ausstreckte, schloss Camilla die Augen. Sanft strich er ihr übers Haar. Ihr Herz hämmerte nun zum Zerspringen. Zitternd lehnte sie sich an ihn, und im nächsten Augenblick drückte Greg sie besitzergreifend an seine Brust, und Camilla spürte seine Wärme, seine Kraft, seine Ungeduld.

Die Welt schien stillzustehen, als ihre Lippen sich trafen.

War das Gefühl, das Camilla durchzuckte, Lust oder Qual? Sie wusste es nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Ausgehungert nach Körperkontakt mit Greg, schlang sie die Arme um ihn und streichelte sein Haar, während sie sich leidenschaftlich küssten.

Irgendwann hob er den Kopf.

“Camilla, Camilla”, flüsterte er und tastete nach ihren Brüsten. Noch ehe er sein Ziel gefunden hatte, merkte sie, wie ihre Brustspitzen sich aufrichteten. Überwältigendes Verlangen breitete sich in ihr aus, als er die Hüften an ihr rieb und ihr so zeigte, wie groß seine Erregung war.

Wäre es wirklich so schlimm, wenn wir uns noch ein letztes Mal lieben würden, hier auf dem Teppich im Esszimmer?, dachte sie benommen.

Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Greg in diesem Moment nicht gesprochen hätte.

“Vergiss Eric”, forderte er. “Fahr nicht nach London zurück, sondern bleib hier bei mir.”

Seine Worte brachten sie zur Besinnung. Entsetzt löste sie sich von ihm.

“Niemals!”, rief sie. “Eric ist der Mann, den ich heiraten werde. Das habe ich dir von Anfang an gesagt!”

“Und ich versuche seitdem, dir klarzumachen, dass er nicht der Richtige für dich ist.”

Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, wurde sie von Panik erfasst. Wenn sie noch einen Augenblick länger blieb, bestand die Gefahr, dass sie etwas tat, was nie wieder gutzumachen war. Ehe er sie aufhalten konnte, griff sie nach ihrer Tasche und rannte blindlings hinaus. Sie blieb erst wieder stehen, als sie Eric erreicht hatte.