7. KAPITEL

Die kleine Fähre mit ihrer Ladung von drei Autos und etwa zwanzig Passagieren lief kurz nach zwölf aus. Camilla lehnte sich an die Reling und beobachtete die kreischenden Möwen, die die Fähre begleiteten. Schließlich seufzte sie leise und schaute auf die rasch kleiner werdenden Häuser an der Küste zurück, die in der Herbstsonne leuchteten. Hinter den Häusern und sanften Hügeln ragten die Gipfel des Hochlands auf.

Nach einer Weile schloss Camilla die Augen und hielt das Gesicht in den Wind. Die sanfte Westbrise erfasste einzelne Strähnen ihres Haars und ließ sie wie Goldfäden im Sonnenlicht tanzen.

Unerklärlicherweise fühlte sie sich gut. Der Norden des Landes, der ihr noch vor wenigen Tagen so fremd vorgekommen war, wuchs ihr mehr und mehr ans Herz. Tief atmete sie die salzige Luft ein. Es war alles so anders als das, was sie gewohnt war, aber im Augenblick hätte sie nirgendwo anders sein mögen.

Armer Eric, dachte sie. Du sitzt jetzt im Hexenkessel London, bist umgeben von Verkehrslärm und stinkenden Auspuffgasen, wenn du in der Mittagspause in ein überfülltes Restaurant eilst.

Gleich darauf lächelte sie über ihr Mitleid mit ihm. Eric gefiel das Großstadtleben doch, und er würde sie wegen ihrer plötzlichen Begeisterung für das Landleben auslachen. Schließlich hatte sie bis vor Kurzem seine Vorliebe für die Großstadt noch geteilt.

Jäh wurde Camilla aus ihrer friedlichen Stimmung gerissen.

“Was sagt Ihr Freund Eric denn dazu, dass Sie mit mir verreisen?”, fragte Greg, der plötzlich neben Camilla aufgetaucht war und ihre Gedanken lesen zu können schien.

Sie wandte sich ihm zu und sah ihn verdrossen an. Bis jetzt war er in ein Gespräch mit dem Fährmann vertieft gewesen, und sie hatte gehofft, dass er sie auch für den Rest der Überfahrt in Ruhe lassen würde.

“Ich weiß nicht, was Sie meinen”, erklärte sie steif.

Er betrachtete sie amüsiert. “Sie haben sich doch bei Eric abgemeldet, oder?”

“Selbstverständlich.” Er sprach inzwischen von Eric, als sei ihm dieser sehr vertraut, und sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Um zu zeigen, dass das Thema für sie beendet sei, drehte sie Greg den Rücken zu.

“Haben Sie Hunger?”

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass schon fünf Stunden vergangen waren, seit sie gefrühstückt hatte. Wie auf Kommando begann ihr Magen zu knurren. Sie drehte sich wieder um. “Ein bisschen.”

“Dann würde ich vorschlagen, wir essen.” Greg deutete auf die große Papiertüte, die er in der Hand hielt.

Während sie am Hafen auf die Fähre gewartet hatten, war er plötzlich verschwunden gewesen und erst nach einer Viertelstunde mit dieser Tüte zurückgekehrt. Was sich darin befand, hatte er nicht verraten, und Camilla hatte ihn nicht danach gefragt. Jetzt wusste sie es: etwas Essbares.

Gottlob, dachte sie und sagte: “Okay.”

Greg führte Camilla in eine windgeschützte Ecke und setzte sich auf eine Holzbank. Er wartete, bis auch Camilla Platz genommen hatte – natürlich tat sie das in sicherer Entfernung –, und begann dann, köstlich aussehende Dinge auf einer großen karierten Serviette auszubreiten: belegte Brötchenhälften, Käsesandwiches, diverse Pastetchen und blank polierte rote Äpfel. Zum Schluss stellte er eine Thermoskanne Kaffee dazu. Als er Camillas Miene sah, schmunzelte er zufrieden wie ein Zauberer, der eben ein Kaninchen aus dem Hut gezogen hat.

“Voilà, Madame. Bedienen Sie sich.”

Camilla nahm sich eine mit Schinken und Tomaten belegte Semmel und biss mit Appetit hinein. Es schmeckte köstlich.

“In Ordnung?”, erkundigte sich Greg und füllte zwei Becher mit Kaffee.

“Wunderbar!”

“Nicht ganz die Art Mittagessen, die Sie mit Eric einnehmen, aber es wird Ihnen nicht schaden, zur Abwechslung einmal zu speisen wie das einfache Volk.”

Camilla erwiderte seinen herablassenden Blick. “Sie schätzen mich falsch ein.”

“Tatsächlich?” Greg griff nach einem Käsesandwich. “In welcher Hinsicht denn?”

“In so ziemlich jeder.” Sie zögerte, unsicher, ob sie weiterreden sollte oder nicht. Über ihre Herkunft sprach sie sonst nie, und im Grunde ging die Greg McKeown auch nichts an. Trotzdem drängte es sie, seinen Irrtum richtigzustellen. “Sie scheinen mich für ein verwöhntes Mädchen aus reichem Haus zu halten. Für eine Frau, der im Leben alles zugefallen ist. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall.”

Greg sah sie aufmerksam an, sagte jedoch nichts.

Steif fuhr Camilla fort: “Meine Mutter starb, als ich gerade sechs Jahre alt war. Meinen Vater habe ich überhaupt nicht gekannt. Ich bin in verschiedenen Kinderheimen und bei Pflegeeltern in einem ärmlichen Stadtteil Londons aufgewachsen – weit weg von Knightsbridge, wo ich Ihrer Meinung nach wohl hingehöre. Glauben Sie mir, was das einfache Leben angeht, können Sie mir nichts mehr beibringen.” Als sie endete, schlug ihr das Herz bis zum Hals, so wie stets, wenn sie an ihre Kindheit und Jugend dachte. Um zu verbergen, wie ihr zumute war, senkte sie den Kopf.

Es dauerte lange, bis Greg reagierte.

“Es tut mir leid”, sagte er. “Jetzt verstehe ich einiges besser, was Sie angeht.”

“So? Was denn?”

“Ach, verschiedene Dinge. Dinge, die einfach nicht zusammenpassten.”

“Und das tun sie jetzt?”

“Zumindest fange ich allmählich an, manche Ihrer Beweggründe zu begreifen.”

Camilla wandte sich ab, beunruhigt von seinem forschenden Blick und gleichzeitig erleichtert, dass sie sich Greg anvertraut hatte.

Seine nächste Frage brachte sie allerdings wieder in Harnisch.

“Wie passt also Eric in das Bild?”, wollte er wissen und blickte Camilla erwartungsvoll an.

“Mein Gott noch mal, ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er der Mann ist, den ich heiraten werde. Weshalb sind Sie eigentlich so von Eric besessen? Warum erwähnen Sie ihn dauernd?”

“Vermutlich aus Neugier.” Greg biss in sein Sandwich und lehnte sich bequem zurück. “Ich weiß, dass ich Sie bereits darauf angesprochen habe, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was eine Frau wie Sie mit einem Mann wie ihm anfangen will.”

Seine Worte bewiesen ihr, dass er überhaupt nichts verstanden hatte. Das ärgerte Camilla.

“Aber ich kann es mir vorstellen”, antwortete sie kalt. “Also machen Sie sich meinetwegen bitte keine Sorgen.”

“Sorgen mache ich mir ja gar nicht”, sagte er und streckte die langen Beine aus. “Ich frage mich nur, was Sie an ihm finden.”

Jetzt redete er schon wieder so, als kenne er Eric persönlich! Vielleicht lag es an der ungewöhnlichen Situation, dass Camilla ihm eine Erklärung gab, anstatt ihm zu sagen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

“Eric und ich haben zufällig sehr viel gemeinsam”, erwiderte Camilla. “Wir mögen dieselbe Musik und tun in unserer Freizeit gern das Gleiche.” Sie sah Greg nicht an, denn angesichts seiner spöttischen Miene hätte sie bestimmt den Faden verloren. “Darüber hinaus sind wir über die meisten Dinge einer Meinung. Unsere Ansichten decken sich weitgehend, und wir haben einen sehr ähnlichen Geschmack.” Camilla hielt inne und schaute nun doch zu Greg. “Ich finde, dass Eric und ich sehr gut zusammenpassen.”

Er hatte sie unverwandt betrachtet, während sie ihre Argumente vorbrachte. Jetzt schien er darauf zu warten, dass sie weitersprach. Als sie es nicht tat, fragte er: “Ist das alles?”

“Was wollen Sie denn noch? Eric ist ein verlässlicher, grundanständiger Mensch. Er wird mir ein guter Ehemann sein.”

Greg kniff nachdenklich seine Augen zusammen. “Sie scheinen den Quatsch, den Sie mir da eben aufgetischt haben, tatsächlich zu glauben.”

“Quatsch?”, wiederholte sie entrüstet.

“Quatsch”, bestätigte er.

Mit einer Geste, als sei das Thema damit für ihn abgeschlossen, drehte er sich um und warf ein Stück Brotrinde über Bord. Es war noch nicht auf dem Wasser aufgeschlagen, da schoss eine Möwe heran und fing es auf, ehe ihre Artgenossen ihr zuvorkommen konnten.

Greg schaute ihr nach.

“Möwen sind die Müllabfuhr des Meeres”, erklärte er. “Sie schlingen alles hinunter, was essbar ist.”

Camilla musterte sein Profil. Eine Lektion in Meeresbiologie war das Letzte, woran sie jetzt interessiert war. Gepresst fragte sie: “Würden Sie mir wohl freundlicherweise erklären, was Sie unter Quatsch verstehen?”

“Unsinn, Geschwafel, Gewäsch.” Langsam wandte er sich ihr zu. “All die Gründe, die Sie für eine Ehe mit Eric angeführt haben, sind purer Quatsch.” Bevor sie widersprechen konnte, redete er weiter. “Beispielsweise ist die Welt voll von netten und anständigen Menschen, die die gleiche Musik mögen. Aber deswegen brauchen sie doch nicht zu heiraten!”

Der Logik seines Arguments hatte Camilla nichts entgegenzusetzen. Als er plötzlich näher an sie heranrückte, machte sie sich ganz steif.

“Zu einer Lebensgemeinschaft gehört mehr”, fuhr er fort. “Sehr viel mehr, würde ich sagen.” Ehe sie seine Absicht erriet, hatte er sie am Arm ergriffen. “Wird Ihnen heiß, wenn er Ihnen nahe ist? Empfinden Sie ihn als Teil Ihrer Seele?”

Sie schreckte unwillkürlich zurück, weil etwas wie ein Stromstoß sie durchfuhr.

Worauf will er denn nun wieder hinaus?, fragte sie sich. Wenn Greg wissen wollte, ob Eric die gleichen sinnlichen Reaktionen in ihr auslöste wie er … Nein, solche Empfindungen hatte sie bei Eric nicht. Doch das lag vermutlich daran, dass er ihren Wunsch respektierte, die Beziehung vorerst auf platonischer Ebene zu halten – eine ritterliche Geste, die jemand wie Greg McKeown nie verstehen würde!

Camilla funkelte ihn zornig an und ging zum Gegenangriff über: “Jetzt reden Sie Unsinn! Machen Sie sich ruhig über mich lustig, aber ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass gleiche Ansichten eine wichtige Grundlage für zwei Menschen sind, die ihr Leben zusammen verbringen wollen. Wie können Sie erwarten, in Harmonie zu leben, wenn Sie sich nicht einmal über die wesentlichen Fragen einig sind?”

“Keine Angst, ich bin ebenfalls sehr für Harmonie.” Gregs Lächeln war diabolisch, als er die Hand von ihrem Arm nahm und sich wieder zurücklehnte. “Ich glaube allerdings nicht, dass man Harmonie mithilfe so oberflächlicher Dinge erreichen kann, wie Sie sie eben aufgezählt haben. Was macht es denn schon aus, wenn ihr Partner gern Strawinsky hört und Sie lieber Bruce Springsteen oder wenn der eine gern Fußball spielt, während der andere Freude daran hat, zu Hause zu bleiben und zu malen? Eine Beziehung, die es wert ist, dass man sich um sie bemüht, müsste solche Unterschiede verkraften können.”

“Vielleicht”, gab Camilla widerstrebend zu. Es beunruhigte sie, dass sie seinen Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte. Um von sich abzulenken, forderte sie: “Wenn Sie ein solcher Experte sind, dann sagen Sie mir doch, was eine ideale Beziehung ausmacht.”

Mit seinem Lächeln schien er sich selbst zu verspotten. “Ich bin keineswegs ein Experte”, widersprach er und strich sich das Haar aus dem Gesicht. “Bisher ist mir noch keine Frau begegnet, mit der eine ideale Beziehung möglich gewesen wäre.” Er wurde ernst. “Aber ich weiß ganz sicher, dass übereinstimmende musikalische Vorlieben keine Rolle spielen werden, wenn ich diese Frau finde.”

“Sondern?”, fragte Camilla sarkastisch.

Er zuckte die Schultern. “Leicht lässt es sich nicht beschreiben, aber ich bin überzeugt, dass ich die Frau erkennen werde, die für mich bestimmt ist, selbst wenn ich sonst überhaupt nichts von ihr weiß. Ein Blick in ihre Augen wird genügen, um ein unauflösliches Band zu knüpfen, ein instinktives Einvernehmen herzustellen, das weit über menschliche Berechnung hinausreicht. Wenn wir einander berühren – und selbst, wenn wir es nicht tun –, werde ich das Gefühl haben, dass sie Teil meiner Seele ist.”

Camilla blickte rasch weg, denn seine Worte hatten ein Echo in ihr gefunden. Obwohl sie es ungern zugab, verstand sie genau, was er ausdrücken wollte.

“Sie suchen nach einem romantischen Ideal, das nur wenigen Glücklichen beschieden ist”, sagte sie. “Ich bin sicher, dass Sie sich letzten Endes wie die meisten mit weniger zufrieden geben werden.”

“Wie Sie, meinen Sie?”

Das hatte sie zwar nicht zum Ausdruck bringen wollen, aber es stimmte. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

“Ich bin eben Realistin”, verteidigte sie sich. “Ich vergeude meine Zeit nicht mit unerfüllbaren Träumen.”

“Und ich bin ein unheilbarer Romantiker, der sich weigert, sein Ideal aufzugeben.”

Er lächelte, als ihre Blicke sich begegneten, doch sie spürte, dass es ihm ernst war. Ja, Greg würde sich bestimmt seinen Traum erfüllen oder auf eine Partnerschaft verzichten. Fast beneidete Camilla ihn um seine Entschlossenheit.

“Was wird denn geschehen, wenn Sie Ihre Traumfrau nie treffen? Wollen Sie dann Ihr Leben allein verbringen?”

“Wenn es sein muss”, bestätigte er. “Allerdings habe ich durchaus die Absicht, mir hin und wieder eine kleine Zerstreuung zu gönnen.”

Das entsprach dem Bild, das Camilla sich von ihm gemacht hatte. In seinem Idealismus mischte sich ein gesunder Sinn fürs Praktische. “Das heißt, Sie sind einer gelegentlichen Affäre nicht abgeneigt.”

Ihre Offenheit erheiterte ihn. “Soll ich etwa wie ein Mönch leben?”

Das erwartete sie nicht. Einem Mann wie ihm wäre das vermutlich auch gar nicht möglich gewesen. Wie der alte Lord gesagt hatte, war Greg ein Mensch, der das Leben in vollen Zügen auskostete.

“Vielleicht sollten Sie einmal darüber nachdenken, es genauso zu machen.” In seinen Augen lag ein schwer zu deutender Ausdruck, als er ihr den Vorschlag unterbreitete. “Anstatt sich in eine Ehe mit einem Mann zweiter Wahl zu stürzen, könnten Sie sich doch ein wenig vergnügen, bis der Richtige kommt.”

Irre ich mich, oder hatte dieser Vorschlag einen persönlichen Unterton?, fragte Camilla sich.

“Nein, danke”, erwiderte sie steif. “So etwas mag für Sie passend sein, aber nicht für mich. Außerdem vergessen Sie, dass ich den Richtigen schon gefunden habe.”

Greg nickte gleichmütig. “Ja, natürlich. Das war mir tatsächlich entfallen.”

Camilla stand auf und trat an die Reling. Sie dachte nicht daran, sich solche Reden weiterhin anzuhören. Der Weg, für den sie sich entschieden hatte, war vorgezeichnet, und sie würde sich nicht davon abbringen lassen. Eric war nicht der Seelenpartner, von dem Greg gesprochen hatte, und würde es auch nie sein, aber er war ein guter Mensch, und sie konnte sich glücklich schätzen, ihn zum Mann zu bekommen.

Versonnen schaute sie den Möwen zu, die der Fähre immer noch folgten. Sollte Greg doch seinem unmöglichen Traum nachhängen. Sie hatte in ihrem Leben schon genug Kampf und Unsicherheit erlebt. Jetzt brauchte sie Zuneigung und Sicherheit, und beides bot ihr Eric.

Eric stand für die beste Zukunft, die sie je haben konnte, und sie war entschlossen, an ihm festzuhalten.

Erst bei Sonnenuntergang erreichte die Fähre die Insel Mhoire. Camilla und Greg waren die einzigen verbliebenen Passagiere, denn alle anderen waren vorher ausgestiegen.

Als die beiden im Land Rover über die Rampe rollten, rief der Fährmann ihnen nach: “Nicht vergessen, wir fahren am Mittwoch um acht Uhr zum Festland zurück. Seien Sie pünktlich!”

Ganz bestimmt, dachte Camilla. Ich werde dafür sorgen, dass wir die Ersten an Bord sind. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie nach zwei Tagen auf der Insel bereit sein würde, zurück zu schwimmen, wenn es sein musste.

Sie lehnte sich zurück und betrachtete den breiten Sandstrand und die dahinterliegenden Berge, die von der untergehenden Sonne in flammend rotes Licht getaucht wurden.

Es ist so friedlich und unberührt hier, stellte Camilla fest. Das reinste Paradies – wenn ich nicht ausgerechnet mit Greg McKeown hier wäre.

“Wie weit ist es denn bis zu unserem Hotel?”, fragte sie. “Ich könnte allmählich wieder etwas zu essen vertragen.”

“Hotel?”, wiederholte Greg erheitert. “Ich fürchte, auf Mhoire muss das erste Hotel noch gebaut werden.”

Sie presste die Lippen zusammen. Es bereitete ihm solches Vergnügen, sie zu korrigieren! “Dann eben Gasthaus. Oder eine Pension. Wo auch immer wir die Nacht verbringen werden.”

“Auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen – es gibt hier auch keine Gasthäuser oder Pensionen. Dafür ist die Nachfrage nicht groß genug.”

“Wo werden wir denn schlafen? Auf Heidekraut unter den Sternen?”

“Wenn Sie das möchten, lässt es sich bestimmt einrichten.” Er hielt ihren Blick einen Moment fest. “Sagen Sie bloß, dass sich in Ihrer kalten, berechnenden Seele eine Spur Romantik verbirgt?”

Kalt und berechnend – dachte er das wirklich von ihr? Wenn es so war, bewies das, wie wenig er sie verstand. Sie fühlte sich verletzt. Ohne seine Frage zu beantworten, schaute sie wieder auf die Straße. Wohin auch immer er sie brachte, sie würde es bald sehen.

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, als Greg vor einem weiß getünchten Bauernhaus an einer malerischen Stelle des Tals anhielt.

“Wir sind da”, erklärte er. “Kommen Sie. Ich möchte Sie mit Davie und Katherine McLeod bekannt machen, unseren Gastgebern für heute Nacht.”

Sie stiegen aus und gingen zum Eingang. Greg klopfte, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Auf der Schwelle stand eine junge Frau, hinter deren Rock sich zwei kleine Kinder versteckten. Bei Gregs Anblick begann sie zu strahlen.

“Greg McKeown! So eine Überraschung! Komm rein. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen. Davie wird vielleicht Augen machen!”

In dem schmalen Flur stellte Greg Camilla vor. Katherine McLeod schüttelte ihr die Hand und betrachtete Camilla freundlich. “Schön, dass Sie da sind. Eine Freundin von Greg ist immer willkommen.”

Im Wohnzimmer saß Katherines Mann Davie vor dem Kamin. Um Davie scharten sich drei weitere Kinder verschiedenen Alters. Kaum waren Greg und die beiden Frauen eingetreten, legte er das Märchenbuch weg, aus dem er vorgelesen hatte, und stand auf. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht. “Greg, alter Junge, du kommst gerade rechtzeitig. Katherine hat das Abendessen auf dem Herd.”

Camilla war zugleich dankbar und beeindruckt, als sie und Greg sich zu Katherine, Davie und den Kindern an den üppig gedeckten Küchentisch setzten. Sie hatte Katherine und Davie erst vor einer halben Stunde kennengelernt, wurde aber bereits wie eine langjährige Freundin behandelt. Camilla fühlte sich hier sehr wohl.

Während sie das köstliche Eintopfgericht aus Lammfleisch, Kartoffeln und Gemüse verspeiste, sah Camilla immer wieder verstohlen zu Greg hinüber. Die McLeods hielten offenbar große Stücke auf ihn und freuten sich, ihn zu Gast zu haben. Noch erstaunlicher fand sie, dass “Onkel Greg”, wie die Kinder ihn nannten, sich so natürlich in dieses einfache Milieu einfügte. Ohne sich nach außen hin eine Spur zu verändern, war dieser ungezähmte und unberechenbare Mann plötzlich ein Teil dieser großen, warmherzigen Familie geworden.

Irgendwann kam das Gespräch auf den Grund, warum Greg und Camilla auf der Insel waren. Davie und Katherine tauschten einen Blick.

“Ich habe etwas läuten hören, dass kürzlich ein Fremder auf der Insel war”, berichtete Davie. “Ein junger Mann Anfang zwanzig, heißt es. Allerdings haben wir ihn nicht selbst gesehen.”

Greg machte ein nachdenkliches Gesicht, während er diese Information verdaute.

Katherine berührte Camilla am Arm. “In einer kleinen Gemeinde wie unserer spricht es sich sofort herum, wenn Fremde auftauchen. Das ist nicht böse gemeint. Die Leute sind nur neugierig, das ist alles.” Sie wandte sich an Greg. “Wenn dieser junge Mann irgendetwas mit dem Verschwinden des Goldnebels zu tun hatte, wirst du es sehr bald erfahren.”

Doch es war schon spät, und weitere Nachforschungen mussten bis zum Morgen warten. Nachdem die Kinder ins Bett gebracht worden waren, setzten sich die vier Erwachsenen mit einer Tasse Kaffee vor den Kamin und unterhielten sich über dieses und jenes. Schließlich stand Greg auf.

“Ich glaube, es ist Zeit, dass wir schlafen gehen”, meinte er. “Davie und Katherine sind bestimmt todmüde.” Er blinzelte Camilla zu. “Ich weiß zufällig, dass die beiden seit Sonnenaufgang bei der Arbeit waren und morgen wieder zeitig aufstehen müssen. Sie sind zu höflich, um es auszusprechen, aber ihnen fallen sicher schon die Augen zu.”

“Greg McKeown, du bist einfach unverbesserlich!”, schimpfte Katherine und drohte ihm mit dem Finger. “Wie kannst du bei Camilla den Eindruck erwecken, dass Davie und ich die Gastgeberrolle nur widerwillig spielen?”

Greg fasste sie liebevoll am Arm und zog sie hoch. “Niemals widerwillig. Aber ich merke, wie müde ihr seid.”

Katherine lachte, unterdrückte jedoch gleichzeitig ein Gähnen. “Da du schon davon sprichst – vielleicht ist es wirklich Zeit, ins Bett zu gehen.” Sie schaute zu Greg auf. “Macht es euch auch nichts aus, im Schuppen zu schlafen? Wie ihr wisst, haben wir keine Gästebetten hier. Dafür sind unsere Kinder zu zahlreich, fürchte ich.” Lächelnd betrachtete sie ihren Mann. “Das kommt davon, wenn man keinen Fernseher hat.”

Sie nahm eine Taschenlampe vom Haken und führte ihre Gäste über den Hof. “Wir haben den Schuppen vor einigen Jahren ausgebaut, um Erntehelfer unterzubringen. Greg, ich überlasse es dir, Camilla alles zu zeigen.” Zu Camilla gewandt, fügte Katherine hinzu: “Er hat nämlich schon oft hier übernachtet. So, ich gehe wieder. Schlaft gut, ihr zwei!”

Im Schuppen gab es zwei gemütliche Zimmer. Außerdem stellte Camilla fest, dass ein kleines Bad ans Schlafzimmer angrenzte.

“Sie können das Schlafzimmer haben”, erklärte Greg, der bemerkte, wie ängstlich Camilla nun die nebeneinanderstehenden Betten musterte. “Ich schlafe nebenan auf dem Feldbett.”

“Gut”, antwortete sie erleichtert.

“Es sei denn”, fuhr er fort, “Sie möchten lieber Gesellschaft haben.”

“Nein, nein”, wehrte sie hastig ab und blickte verstohlen zur Schlafzimmertür. Zum Glück steckte ein Schlüssel im Schloss.

Ausnahmsweise benahm Greg sich wie ein echter Gentleman. Er zog sich diskret zurück, während sie ihre Sachen auspackte. Offenbar wirkt die Nähe von Katherine und Davie dämpfend auf ihn, dachte Camilla zufrieden.

Nachdem Camilla geduscht hatte, zog sie einen blau-weiß gestreiften Baumwollpyjama und einen passenden Bademantel an, den sie an der Taille fest zusammenband. Danach sagte sie Greg Bescheid, dass das Bad frei sei, und während er duschte, setzte sie sich auf die Bettkante und lauschte dem Prasseln des Wasserstrahls.

Hoffentlich beeilt er sich, dachte Camilla und gähnte herzhaft. Ich würde gern schlafen.

Schließlich wurde das Wasser abgedreht, zwei, drei Minuten später glitt der Türriegel mit einem Klicken zurück, und im nächsten Augenblick kam Greg, lediglich mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet, aus dem Bad.

Den Raum zwischen Bad und Bett schien er völlig auszufüllen, eine ausgesprochen männliche Gestalt mit tief gebräunter Haut und muskulöser Brust. Ein Lächeln trat in seine Augen. “Würden Sie mir einen Gefallen tun?”

“Einen Gefallen?”, wiederholte Camilla nervös. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fiel ihr das Atmen plötzlich schwer. “Was für einen Gefallen denn?”

Greg drehte sich so, dass seine verletzte Schulter Camilla zugewandt war. “Ich fürchte, der Verband, den Dr. Fraser mir angelegt hat, ist beim Duschen feucht geworden und hat sich gelöst. Könnten Sie ihn wohl wieder befestigen?”

Camilla stand sofort auf. Ihre Nervosität war wie weggeblasen, als sie zu ihm ging.

“Sie hätten besser aufpassen sollen”, tadelte sie. Erleichtert stellte sie fest, dass die Kompresse nur an einer Ecke abgegangen war. Sanft drückte sie sie wieder an. “Hat Dr. Fraser Ihnen denn nicht gesagt, dass der Verband trocken bleiben muss?”

“Doch, Schwester.” Greg wandte sich ihr zu und lächelte – ein spitzbübisches, herausforderndes Lächeln, das sie erneut nervös werden ließ.

Irgendwie hatte sie es geschafft, sich in eine winzige Ecke zwischen der Tür und Gregs muskulösem Körper zu manövrieren. Er war Camilla so nah, dass sie seinen berauschenden männlichen Duft riechen und seine Wärme fühlen konnte. Ein Zittern durchlief ihre Beine, und sie vermochte sich plötzlich nicht mehr zu bewegen. Auch Luft bekam sie kaum noch, und ihr Herz schlug zum Zerspringen.

“Danke.” Greg rührte sich nicht, und sie schaffte es nicht, ihn zum Gehen aufzufordern. Mit einem ungewohnt weichen Ausdruck in den grauen Augen schaute er auf sie herunter. “Wissen Sie, wenn Sie vergessen, die knallharte Karrierefrau zu spielen, sind Sie eigentlich sehr nett. Sie sollten öfter aus der Rolle fallen.”

Camilla schluckte und versuchte, ihn empört anzufunkeln. “Ich habe lediglich Ihren Verband gerichtet”, antwortete sie gepresst. Unklugerweise fügte sie hinzu: “Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?”

Wie nicht anders zu erwarten, nickte er. “Da Sie schon danach fragen, Camilla, eine Bitte hätte ich noch.”

Um was für eine Bitte es sich handelte, fragte Camilla nicht, denn es war nicht nötig. Sie hatte es bereits erraten. Während er sie ganz intensiv ansah, spürte sie, wie ihr Körper sich anspannte. Erregung flackerte in ihr auf, als Greg sich vorbeugte.

Sanft legte er ihr die Hand um die Taille. Mit der anderen berührte er ihr Haar und ließ sie dann langsam zum Nacken hinuntergleiten.

Noch hätte sie sich von ihm lösen können. Zu ihrem Entsetzen schloss sie stattdessen die Augen und wartete – hilflos und atemlos – auf Gregs Kuss.

Als ihre Lippen sich berührten, schien Camillas Körper in Flammen aufzugehen. Ein Zittern durchlief sie, und sie stöhnte auf. Ohne zu wissen, was sie tat, klammerte sie sich an Greg, getrieben von einem unkontrollierbaren, heftigen Begehren.

Gregs Mund fühlte sich heiß und fordernd an. Mit der Zunge drängte er ihre Lippen sanft auseinander. Gleichzeitig tastete er nach Camillas Brüsten und streichelte sie.

Sie konnte kaum glauben, dass sie so etwas nicht nur zuließ, sondern bereitwillig mitmachte. Erneut stöhnte sie auf, als er ihren Bademantel auseinanderschob, das Pyjamaoberteil öffnete und ihre nackten Brüste berührte. Gleich darauf begann er, sie zärtlich zu liebkosen und die empfindlichen Spitzen zu erregen, bis sie hart wurden und sich aufrichteten. Camilla presste sich an ihn, verging fast vor Verlagen. Fieberhaft ließ sie die Finger über seine warmen, festen Schultern gleiten, bevor sie sie in das dichte Brusthaar krallte. Oh, wie sie ihn begehrte, wie sehr sie ihn wollte!

Plötzlich lockerte Greg die Umarmung, schob Camilla von sich und sah sie mit vor Leidenschaft dunklen Augen an. Benommen beobachtete sie, wie er zurücktrat.

Heiser stieß er hervor: “Ich sage jetzt besser Gute Nacht, Camilla, ehe die Situation vollends außer Kontrolle gerät.”

Bevor sie antworten konnte, hatte er das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugezogen.

Camilla ließ sich aufs Bett sinken und versuchte, sich zu fassen. Ihr Körper glühte noch, ihre Lippen zitterten, und es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Das, was gerade geschehen war, war schrecklich. Sie dachte an Eric und schloss die Augen. Wie hatte sie so etwas zulassen können?

Zusammengerollt lag sie auf dem Bett und kämpfte gegen die Tränen. Mit einem Trick hatte Greg sie dazu gebracht, so leidenschaftlich zu reagieren. Vermutlich hatte er sogar einen alten keltischen Zauber gebraucht, um sie willenlos zu machen!

An diesen Gedanken klammerte sie sich, während sie endlich die Decke über sich zog.

“Ich hasse dich, Greg McKeown”, flüsterte sie ein ums andere Mal. “Ich hasse dich. Ich hasse dich.”

Doch es half nichts, denn im tiefsten Winkel ihres Herzens wusste sie, dass sie etwas anderes als Hass für ihn empfand.