1. KAPITEL

Paris kippte drei Fingerbreit Glenlivet hinunter und winkte dem Barmann. Er wollte noch einmal das Doppelte, und er würde es kriegen, was auch immer er dafür tun müsste. Bloß dass er kurz nach dem Eingießen realisierte, dass auch das Doppelte nicht reichen würde. Wut und Frustration waren wie lebende Kreaturen in ihm, schäumend und rasend trotz der gerade erst gewonnenen Schlacht.

„Lass die Flasche hier“, befahl er, als der Barmann sich einem anderen Gast zuwenden wollte. Verdammt, plötzlich bezweifelte Paris, dass sämtlicher Alkohol in einem Umkreis von zehn Meilen reichen würde, aber hey. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen.

„Klar, sicher. Wie du meinst.“ Der Wunderknabe mit dem nackten Oberkörper stellte die Flasche ab und verzog sich.

Was? Sah er so gefährlich aus? Also bitte. Das Blut hatte er schließlich abgewaschen, oder? Moment. Wirklich? Er blickte an sich herab. Scheiße. Hatte er nicht. Er war von Kopf bis Fuß rot besudelt.

Egal. Er war nicht in einer menschlichen Bar, also würden ihm auch keine „Offiziellen“ blöd kommen. Er war auf dem Olymp, wobei das himmlische Königreich kürzlich in Titania umbenannt worden war. Einst war es nur Göttern und Göttinnen erlaubt gewesen, sich hier aufzuhalten, doch als Cronus das Reich zurückerobert hatte, war einiges geändert worden – und jetzt durften Vampire, gefallene Engel und andere Kreaturen der Dunkelheit auch zum Spielen kommen. Ein nettes kleines „Fick dich“ an den vorherigen König Zeus.

Ruf den Barmann zurück, forderte Promiskuität. Ich will ihn.

Promiskuität – der Dämon, der in seinem Inneren gefangen war und ihn ständig antrieb. Ihn nervte. Weißt du noch, als ich Treue wollte? Monogamie? erwiderte Paris im Geist. Tja, man kriegt nicht immer, was man will, stimmt’s?

In seinem Kopf ertönte ein vertrautes Knurren.

Wäh, wäh, schmoll, schmoll. Mit einem Schluck vernichtete er die zweite Ladung Alkohol und kippte gleich eine dritte hinterher. Beide brannten so gut, dass er sich eine vierte gönnte. Der starke Scotch schnitt durch seine Brust, brannte Löcher in seinen Bauch und strömte durch seine Adern. Sehr schön.

Und trotzdem blieb seine Stimmung so düster wie eh und je, sein tief verwurzelter Zorn unbesänftigt. Seine Unfähigkeit, eine nicht ganz so unschuldige Frau zu retten, die er hassen sollte – hasste, wenigstens ein bisschen – und nach der er sich gleichzeitig mit Leib und Seele sehnte, ließ ihn nicht ruhen, peitschte ihn ständig voran.

„Wenn ich dich bäte zu gehen, würdest du es tun?“, erklang eine monotone Stimme neben ihm. Eine Stimme, die von einem Schwall arktischer Luft begleitet wurde.

Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sich soeben Zacharel, Kriegerengel extraordinaire und berüchtigter Dämonenmörder, zu ihm gesellt hatte. Sie hatten sich vor gar nicht allzu langer Zeit kennengelernt, als der gefiederte Henker nach Buda gekommen war, um Paris’ Freund Amun abzumurksen. Hätte der gute Zach Erfolg gehabt, würden sich in exakt diesem Moment zwei kristallene Klingen in sein Rückgrat bohren.

Ich will ihn, sagte der Dämon.

Fick dich.

Endlich verstehen wir uns.

Ich hasse dich, ehrlich.

Früher hatte der Dämon nervtötend oft mit Paris gesprochen. Dann hatte der dämliche Sexbesessene damit aufgehört und Paris nur noch dazu gedrängt, diese oder jene Person flachzulegen, ganz egal, welchen Geschlechts und was Paris davon hielt. Neuerdings ging das Gerede wieder los, und zwar schlimmer als zuvor. Jetzt wollte er jeden, vor allem diejenigen, die Paris nicht im Geringsten begehrte.

„Nun?“, hakte der Engel nach.

„Ich soll gehen, obwohl ich Lucien anbetteln musste, mich überhaupt herzubringen, und weiß, dass er nächstes Mal nicht so hilfsbereit sein wird? Vergiss es. Aber mich interessiert echt brennend, warum du dich darum scherst, wo ich mich aufhalte.“

„Dein Aufenthaltsort ist mir egal.“

Stimmte sogar. Zacharel war alles egal – eine Tatsache, die man im Umgang mit ihm sehr schnell begriff. „Genau das meinte ich, also verschwinde.“

Tief über seinen fünften Whisky gebeugt, studierte Paris den schmutzigen Spiegel hinter der Theke und checkte unauffällig das Etablissement in seinem Rücken. Juwelenbehängte Kronleuchter schwebten unter der Decke. Die Wände waren aus rosenrotem Marmor, durchzogen von glitzerndem Ebenholzschwarz, der Boden ein Meer von zerstoßenen Diamanten.

Im ganzen Raum redeten und lachten Männer und Frauen. Von niederen Göttern bis hin zu gefallenen Engeln, die versuchten, sich in ihre heilige Bruderschaft zurückzukämpfen. Na klar, in einer Bar. Idioten. Na ja. Wahrscheinlich war auch der eine oder andere Dämon unter den Besuchern, aber mit Sicherheit konnte Paris das nicht sagen.

Dämonen waren genauso raffiniert, wie sie böse waren. Entweder sie schlichen in ihren eigenen Schuppen durch die Gegend, präsentierten stolz ihre Hörner, Klauen, Flügel und Schwänze – und wurden von Kriegerengeln wie Zach geköpft. Oder sie ergriffen Besitz vom Körper eines anderen und schlichen in dessen Haut herum.

Mit Letzterem hatte Paris jahrhundertelange Erfahrung.

„Ich werde gehen, wie du so kurz und bündig vorgeschlagen hast“, sagte Zacharel, „nachdem du mir eine weitere Frage beantwortet hast.“

„Also gut.“ Noch etwas, das Paris aus Erfahrung wusste: Engel waren abartig stur. Es war definitiv klüger, den Kerl anzuhören – sonst hätte er bald einen neuen Schatten. Er wandte sich um, traf den jadefarbenen Blick des dunkelhaarigen Kriegers, der aussah wie ein männliches Supermodel, und holte überrascht Luft. Daran würde er sich niemals gewöhnen. Egal, welches Geschlecht sie hatten – oder wie sterbenslangweilig ihre Persönlichkeit war –, die himmlischen Boten zogen die Aufmerksamkeit auf sich und fesselten sie jedes verdammte Mal. Aus irgendeinem Grund tat Zacharel das noch intensiver als die meisten anderen.

Doch die Anziehungskraft war es nicht, die diesmal Paris’ Aufmerksamkeit weckte. Über den breiten Schultern des Kriegers reckten sich majestätische, golddurchwirkte Flügel wie Wolken an einem Winterhimmel, von denen Eiskristalle herabrieselten wie Glitter in einer Schneekugel.

„Du schneist.“ Puh, geht’s noch offensichtlicher?

„Ja.“

„Warum?“

„Ich kann dir antworten oder meine Frage stellen und gehen.“ In dem langen weißen Gewand, das seine Art für gewöhnlich trug, hätte Zacharel unschuldig und brav aussehen sollen. Stattdessen wirkte er wie der böse Zwillingsbruder von Gevatter Tod: emotionslos, kalt wie der Schnee, den er verstreute, und bereit zu töten. „Deine Entscheidung.“

Kein Überlegen erforderlich. „Frag.“

„Willst du sterben?“ Die Worte kamen ganz schlicht aus Zacharels Mund und bildeten kleine Wolken vor seinem Gesicht, einen traumähnlichen Nebel, der Paris an den Atem des Lebens erinnerte. Oder den des Todes.

Der Kerl ist definitiv bereit zu töten, stellte Paris am Rande fest. „Was denkst du?“, fragte er zurück, denn – ganz ehrlich? Er kannte die Antwort selbst nicht mehr.

Über Jahrhunderte hatte er um sein Leben gekämpft, doch jetzt … Jetzt warf er sich wieder und wieder ins Feuer und wartete darauf, sich zu verbrennen. Hoffte darauf, sich zu verbrennen. Was für ein krankes Arschloch war er bloß geworden?

Unbeeindruckt erwiderte der Engel seinen Blick. „Ich denke, du willst eine spezielle Frau mehr als jeden – und alles – sonst. Mehr als selbst den Tod … mehr als das Leben.“

Stumm presste Paris die Zunge an den Gaumen. Eine spezielle Frau: die nicht ganz so Unschuldige.

Ihr Name war Sienna Blackstone. Ehemalige Jägerin und auf immer seine Feindin, denn die Jäger waren eine lästige Armee von Menschen, die versuchten, die Welt von Pandoras Dämonen zu befreien. Einmal war sie viel zu kurz seine Liebhaberin gewesen. Und dann tot, fort. Irgendwann war sie aus dem Grab zurückgeholt worden, um ihre Seele mit der des Dämons Zorn zu verbinden. Jetzt war sie da draußen. Irgendwo. Und sie litt. Cronus hatte sie zu seiner Sklavin gemacht, wollte ihren Dämon benutzen, um seine Gegner zu bestrafen. Und jetzt, nachdem er die Kontrolle über sie verloren hatte, plante er, sie zu foltern, bis sie sich seinem Willen ergab.

Paris mochten die Dinge missfallen, die Sienna ihm angetan hatte. Und ja, wie er sich bereits eingestanden hatte, ein Teil von ihm hasste die Frau an sich. Aber selbst sie hatte die grausame, bösartige – ewige – Strafe nicht verdient, die sie jetzt ertragen musste.

Ich werde sie finden, und ich werde sie retten. Vor Cronus … und vor ihm selbst. Im Moment kam Paris einfach nicht über die Gewissheit hinweg, dass sie litt. Wenn er das erst einmal in Ordnung gebracht hatte, würde er aufhören, an sie zu denken. Er musste aufhören, an sie zu denken.

„Dann will ich sie eben“, sagte er schließlich zu dem Engel. Sienna stand nicht zur Diskussion. „Und? Was dagegen?“

Zacharel schüttelte die Flügel aus und ließ noch mehr von diesem reinen, schimmernden Schnee herabrieseln. „Was dich angeht, denke ich, dass dein Dämon trotz deiner eigenen Bedürfnisse alles will, was einen Puls hat.“

„Manchmal braucht’s nicht mal einen Puls“, murmelte Paris vor sich hin, und das war die unschöne Wahrheit. Sex, wie er seinen dunklen Gefährten meist nannte, wollte alle und jeden – aber immer nur ein einziges Mal. Mit Ausnahme von Sienna ließ Sex nicht zu, dass Paris für eine Person ein zweites Mal hart wurde.

Warum hatte er Sienna noch einmal haben können? Keinen verdammten Schimmer. „Aber trotzdem: Na und?“

„Ich denke, obwohl du nach dieser speziellen Frau hungerst, hast du mit der zukünftigen Ehefrau deines Freundes Strider geschlafen. Er ist der Dämon der Niederlage, und deine Taten haben ihm das Werben um die Harpyie sehr erschwert.“

„Hey. Du betrittst gerade gefährliches Gebiet.“ Nicht, dass Paris sich für irgendetwas hätte entschuldigen müssen.

Der One-Night-Stand war Wochen vor Kaia und Strider gewesen. Bevor die beiden überhaupt daran gedacht hatten, etwas miteinander anzufangen. Also hatte Paris nichts falsch gemacht. Technisch gesehen. Und trotzdem – jetzt wusste er, wie Kaia nackt aussah, und Strider wusste, dass er es wusste, und das bedeutete, sie alle drei wussten, dass Sex ständig Nacktbilder von ihr ausspuckte, sobald sie aufeinandertrafen. Eine Konsequenz, die Paris verabscheute, gegen die er aber machtlos war.

Zacharel neigte den Kopf zur Seite, ganz die Denkerpose, die umso mysteriöser wirkte, weil sein Atem ihn immer noch in Nebel hüllte. „Ich wollte nur darauf hinweisen, dass du dich offensichtlich anderen Eroberungen zugewandt hast, und dass du nicht sehr wählerisch bist, weshalb ich mich frage, warum du deiner Sienna immer noch nachjagst.“

Weil Sienna für Paris die eine und einzige Chance auf Monogamie gewesen war. Weil er unabsichtlich ihren Tod herbeigeführt hatte. Weil er bei ihrem Tod das Gefühl gehabt hatte, alles verloren zu haben.

„Du nervst“, fuhr er Zacharel an. „Und ich hab dir nichts mehr zu sagen.“

Doch der Engel blieb hartnäckig. „Ich denke, du fühlst dich schuldig für jedes Herz, das du brichst, für jeden Traum vom Happy End, den du zerschmetterst, und für jedes bisschen Selbsthass, das du verursachst, wenn deine Partner erkennen, wie mühelos du ihre Vorbehalte überwunden hast. Ich denke ebenfalls, dass du viel zu nachsichtig mit dir selbst bist und keinerlei Recht hast, deine Probleme zu beweinen.“

„Hey! Ich hab noch nie geweint.“ Paris knallte seinen Tumbler so heftig auf die Theke, dass sich mit lautem Krachen ein Riss von oben bis unten im Holz auftat und das Glas splitterte. Aus den Schnitten in seiner Handfläche quoll Blut, aber der Schmerz war kaum zu spüren. „Und weißt du, was? Ich denke, du stehst wenige Sekunden davor, deinen Körper in Einzelteile zerpflückt in dieser Bar verstreut wiederzufinden.“

Und dann, wenn er am Boden ist, können wir ihn nehmen! Schnauze, Sex.

„Äh, hier, bitte“, murmelte der Barkeeper, der sofort mit einem sauberen Lappen zur Stelle war, den er mit zitternder Hand in Paris’ Richtung hielt. Der Junge hatte immer noch Angst vor Paris.

Ich will – Schnauze, hab ich gesagt! „Danke, Mann.“ Fest schloss Paris die Faust um den Stoff und drückte die Wunden ab, bevor jemand ihn und die ganz speziellen Pheromone roch, die sein Dämon absonderte.

Ein Hauch von dem betörenden Aroma, und jeder Einzelne in seiner Umgebung würde unbarmherzige Erregung verspüren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo er war und mit wem. Größtenteils würde sich ihre Begierde auf Paris fokussieren. Und auch wenn das – zog man den Zeitdruck in Betracht, unter dem er stand – ein außerordentlich beschissener Ausgang des heutigen Abends wäre, hätte er ein gewisses Vergnügen daran gehabt, die Männer mit seinen Fäusten abzuwehren.

Bloß dass … die Pheromone ihn nicht einhüllten. Er runzelte die Stirn. Sex wollte jeden, den er heute Abend gesehen hatte. Warum nutzte er dann nicht seine Fähigkeiten, um die Gäste zu zwingen, sein Verlangen zu erwidern?

Misstrauisch wandte Paris den Blick wieder Zacharel zu, wobei er sich fragte, ob der Engel auf irgendeine Art dafür verantwortlich war.

Dessen klare jadegrüne Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich denke, du hoffst, deine Sienna retten zu können, und das ist gut. Ich denke aber auch, du willst sie bei dir behalten, und das ist schlecht. Egal, wie sehr du dich nach ihr verzehrst, egal, dass sie deine einzige Chance auf ein Happy End sein könnte: Früher oder später wird dein Dämon sie zerstören, denn Menschen sind nicht dazu gemacht, gegen Dämonen zu bestehen. Und tief in ihrem Herzen ist sie immer noch ein Mensch.“

„Und was ist mit ihrem eigenen Dämon?“, entgegnete er.

„Wenn einer ihr schon schadet, sind zwei mit Sicherheit schlimmer.“

„Es reicht!“ Wenn sie diesen Gedankengang weiterverfolgten, würden seine Wut und Frustration ihn verschlingen. Und er würde das Ziel dieser Nacht aus den Augen verlieren. „Ich werde sie nicht bei mir behalten.“ Er würde. Und wie er das würde – wenn er die Gelegenheit dazu bekäme und natürlich nur, wenn sie ihn wollte. Aber zum Teufel, sie würde ihn nicht wollen.

„Gut. Denn diese spezielle Frau würde den Mann nicht mögen, zu dem du geworden bist.“

Schnaubend fuhr sich Paris mit der freien Hand durchs Haar. „Sie mochte mich auch vorher nicht.“ Und jetzt, nachdem er unwiderruflich die Grenze zwischen Richtig und Falsch überschritten hatte? Also bitte.

Er hatte gewusst, dass seine Taten verabscheuungswürdig waren, und hatte sie trotzdem begangen. Hatte herzlos getötet. Methodisch verführt. Gelogen und betrogen. Und er würde es wieder genauso machen.

„Und doch tust du alles, um sie zu retten“, beharrte Zacharel.

Tja. Er war genauso ein Idiot wie die gefallenen Engel, die in diesem Laden abhingen. Das wusste er. Doch es war ihm egal. „Hör mal, ich schulde dir gar nichts. Vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen. Und was sollen die ganzen Fragen? Du hast behauptet, du hättest nur noch eine.“

„Und nur die eine habe ich dir gestellt. Alles andere waren Beobachtungen, und davon habe ich noch eine weitere für dich.“ Zacharel beugte sich vor und flüsterte: „Ich denke, wenn du diesen zerstörerischen Weg weiterverfolgst, wirst du alles verlieren, was dir lieb geworden ist.“

„Ist das eine Drohung?“ Zornig packte Paris den Engel am Kragen. „Tu mir den Gefallen und versuch’s, Flattermann. Wirst schon sehen, was …“

Luft. Er schrie und prügelte auf Luft ein.

Aus seiner Kehle drang unwillkürlich ein dumpfes Grollen, während er die Arme sinken ließ. Der einzige Hinweis auf Zacharels kürzliche Anwesenheit war die Temperatur seiner Hände, die quasi Frostbeulen hatten.

„Äh, mit wem hast du geredet?“, fragte der Barmann gespielt beiläufig, während er den blitzsauberen Tresen abwischte.

Wenn ein Engel nicht gesehen werden wollte, wurde er auch nicht gesehen. Nicht einmal von seinen Brüdern, ob gefallen oder nicht. Also hatte diesmal nur Paris den Flattermann wahrgenommen. Toll. „Offenbar mit mir selbst, und wir mögen unsere Privatsphäre.“

War Zacharel noch hier? Oder hatte er sich an einem anderen Ort materialisiert? Und was sollte dieses ganze Gerede davon, Paris müsste Sienna fernbleiben? Dem Engel sollte das völlig egal sein.

Paris ließ den Lappen fallen und drehte sich zu den anderen Gästen um. Mehrere Krieger starrten wütend in seine Richtung – warum? – und liefen Gefahr, die Eleganz des Raums mit dem Blut zu ruinieren, das Paris zu vergießen versucht war. Verbissen massierte er sich den Nacken und drängte die Gedanken an Zacharel und seine Drohung in den Hintergrund. Er hatte Wichtigeres und Gefährlicheres zu tun. Er war wegen Viola hier, der niederen Göttin des Lebens nach dem Tod und Wächterin des Dämons Narzissmus. Sie hätte inzwischen schon längst hier sein sollen.

Vielleicht hatte sie gehört, dass er sie suchte, und war abgehauen – woraus er ihr keinen Vorwurf machen konnte. Zusammen mit seinen Freunden hatte er einst die Büchse der Pandora gestohlen und geöffnet und damit das Böse in ihrem Inneren freigelassen. Zur Strafe waren sie dazu verflucht worden, die entkommenen Dämonen in sich zu tragen. Unglücklicherweise hatte es mehr Dämonen als unartige Jungen und Mädchen gegeben, die sie aufnehmen konnten, und nachdem die Büchse in dem allgemeinen Chaos verschwunden war, hatten sie alle ein neues Heim gebraucht. Wer wäre in den Augen der griechischen Götter besser als Empfänger der bösen Geister geeignet gewesen als die unglücklichen Gefangenen im Tartarus, dem Gefängnis der Unsterblichen im Olymp – nein, in Titania?

Also: Ja, Paris war zum Teil verantwortlich für Violas dunkle Seite. Sie war eine dieser unglücklichen Gefangenen gewesen. Aber allein war er ganz sicher nicht verantwortlich. Schließlich war das Mädchen als kriminell genug eingestuft worden, dass man sie von selbst jenen Göttern fernhalten wollte, die in den Mythen und Sagen für ihre grausamen Taten gerühmt wurden.

Welches Verbrechen Viola begangen hatte, wusste er nicht, und es war ihm auch egal. Wenn es nach ihm ginge, könnte sie ihn in Fetzen reißen, solange sie ihm nur die Informationen gab, nach denen er hungerte. Das letzte Puzzlestück, um Sienna endlich zu retten.

Laut den Jägern, die er am selben Morgen abgeschlachtet hatte, kam Viola jeden Freitag hierher, um beim Poolbillard Unsterbliche abzuschleppen und über ein paar Bierchen von ihrer allgemeinen Großartigkeit zu schwärmen. Anscheinend hatten die Jäger sie verfolgt, um sie sich zu schnappen und zu „überzeugen“, sich ihnen anzuschließen. Also schuldete sie ihm quasi was.

Wo zum Teufel bleibt sie? fragte er sich wieder, während er nach dem unverkennbaren langen blonden Haar Ausschau hielt, nach Augen in der Farbe von Zimt und einem umwerfenden Körper, der …

… in der Lage war, mit einem kleinen weißen Rauchwölkchen aus dem Nichts aufzutauchen.

Dort am einzigen Eingang zur Bar stand eine sinnliche Frau mit langem blondem Haar und Augen in der Farbe von Zimt. Paris setzte sich auf, die Nerven erwartungsvoll gespannt. So einfach ging das. Beute gesichtet. Ziel erreicht.