Kapitel Zehn
Dieser Pfad ist ein schrecklich Ding;
das Tor, zu dem er führt
ist wie ein Körper
um den sich zehntausend Albträume streiten,
um ihre fruchtlosen Ansprüche zu erheben.
Der Pfad
Traut Sen’al’ Bhok’arala
Möwen segelten über sie hinweg, die ersten, die sie seit langer Zeit zu Gesicht bekamen. Sie hielten Kurs Südsüdost, und in genau dieser Richtung zeigte sich am Horizont ein ungleichmäßiger Fleck, der selbst im sanften Licht der Dämmerung stetig größer wurde.
Keine einzige Wolke verunzierte den Himmel, und der Wind war lebhaft und gleichmäßig.
Salk Elan gesellte sich zu Kalam, der sich auf dem Vorderdeck aufhielt. Beide hatten sich zum Schutz vor der Gischt, die jedes Mal aufschäumte, wenn die Lumpenpfropf in ein Wellental tauchte, in ihre Umhänge gehüllt. Von hinten sah es so aus, als stünden ein Paar Großer Raben am Bug – ein Anblick, der in den Seeleuten, die auf dem Hauptdeck und dem Achterdeck auf ihren Posten waren, düstere Vorahnungen aufkeimen ließ.
Kalam war all dem gegenüber blind. Seine Aufmerksamkeit galt der Insel, die sie erwartete.
»Um Mitternacht werden wir ihn endlich erreichen«, sagte Salk Elan mit einem lauten Seufzen. »Den uralten Geburtsort des malazanischen Imperiums …«
Der Assassine stieß ein Schnauben aus. »Uralt? Für wie alt haltet Ihr denn das Imperium? Beim Atem des Vermummten!«
»Schon gut, schon gut, das war viel zu romantisch. Ich habe nur versucht, ein Stimmungsbild zu – «
»Warum?«, bellte Kalam.
Elan zuckte die Schultern. »Ohne besonderen Grund – das heißt, diese brütende Atmosphäre der Erwartung, der Ungeduld sogar könnte vielleicht eine Rolle gespielt haben.«
»Worüber gilt es denn hier zu brüten?«
»Das müsst Ihr mir sagen, mein Freund.«
Kalam zog eine Grimasse, sagte jedoch nichts.
»Was habe ich in Malaz eigentlich zu erwarten?«, nahm Salk Elan das Gespräch wieder auf.
»Stellt Euch einen am Meer gelegenen Schweinestall vor, das trifft es schon ziemlich gut … einen elenden, schwärenden, verwanzten Sumpf, in dem – «
»Schon gut, schon gut! Tut mir Leid, dass ich gefragt habe.«
»Was ist mit dem Kapitän?«
»Sein Zustand ist leider unverändert.«
Warum überrascht mich das kein bisschen? Verdammte Zauberei – oh, ihr Götter, wie ich Zauberei hasse!
Salk Elan legte seine langfingrigen Hände auf die Reling; einmal mehr war seine Vorliebe für protzige Ringe mit grünen Edelsteinen nicht zu übersehen. »Ein schnelles Schiff könnte uns binnen eineinhalb Tagen nach Unta bringen …«
»Und woher wollt Ihr das wissen?«
»Ich habe einen Matrosen gefragt, Kalam; woher sollte ich es sonst wissen? Ich habe Euren salzüberkrusteten Freund gefragt, der von sich behauptet, jetzt hier das Kommando zu haben – wie war noch mal sein Name?«
»Ich kann mich nicht erinnern, ihn danach gefragt zu haben.«
»Das ist wirklich ein bewundernswertes Talent.«
»Was?«
»Eure Fähigkeit, Eure Neugier zu unterdrücken, Kalam. Das ist in gewisser Hinsicht überaus praktisch, in anderer jedoch höchst gefährlich. Ihr seid ein Mann, der nicht leicht zu verstehen ist, und es ist noch viel schwerer, Eure Handlungen vorauszusagen – «
»Das ist richtig, Elan.«
»Aber Ihr mögt mich.«
»Tue ich das?«
»Ja, das tut Ihr. Und ich bin froh darüber, denn es bedeutet mir viel – «
»Geht und sucht Euch einen Matrosen, wenn Ihr andersrum seid, Elan.«
Der Angesprochene lächelte. »Das habe ich nicht gemeint, aber natürlich wisst Ihr das ganz genau. Ihr könnt bloß nicht anders, als immer wieder Spitzen auszuteilen. Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich mich darüber freue, wenn mich jemand mag, den ich bewundere–«
Kalam wirbelte herum. »Was findet Ihr denn so bewundernswert an mir, Salk Elan? Bei all Euren vagen Mutmaßungen, habt Ihr da jemals Grund zu der Annahme gefunden, ich wäre empfänglich für Schmeicheleien? Warum seid Ihr so wild darauf, mein Partner zu werden?«
»Die Imperatrix zu töten wird nicht leicht werden«, antwortete Elan. »Aber stellt Euch nur vor, es würde gelingen! Wir würden das schaffen, was alle für unmöglich gehalten hatten! Oh ja, ich will dabei sein, Kalam Mekhar! Ich möchte an Eurer Seite sein, und dann werden wir unsere Klingen in das Herz des mächtigsten Imperiums der Welt stoßen!«
»Ihr habt den Verstand verloren.« Kalam sprach so leise, dass seine Stimme bei dem Seegang kaum zu verstehen war. »Die Imperatrix töten? Und ich soll mich an diesem Wahnsinn beteiligen? Nie und nimmer, Salk Elan.«
»Erspart mir Eure Heuchelei«, erwiderte sein Gegenüber höhnisch.
»Was für eine Magie hält das Schiff gefangen?«
Salk Elans Augen weiteten sich unwillkürlich. Dann schüttelte er den Kopf. »Das herauszufinden übersteigt meine Fähigkeiten, Kalam, und beim Vermummten, ich hab’s versucht. Ich habe jeden Zoll von Pormquals Diebesbeute untersucht – und nichts gefunden.«
»Was ist mit dem Schiff selbst?«
»Nichts; zumindest konnte ich nichts feststellen. Seht, Kalam, wir werden von jemandem verfolgt, der sich eines Gewirrs bedient. Das vermute ich zumindest. Jemand, der sicherstellen will, dass unsere Fracht ihr Ziel erreicht. Es ist nur eine Theorie, aber mehr habe ich nicht. Und somit, mein Freund, sind nun alle meine Geheimnisse enthüllt.«
Kalam schwieg längere Zeit. Schließlich schüttelte er sich. »Ich habe Kontakte in Malaz – eine unerwartete Zusammenkunft, die weit früher stattfinden wird als geplant. So sieht’s aus.«
»Kontakte? Hervorragend, wir werden sie brauchen. Und wo trefft Ihr Euch mit Euren Kontakten?«
»In Malaz gibt es ein schwarzes, ein tiefschwarzes Herz. Ein Ding, das kein Bewohner der Stadt absichtlich erwähnen würde, sondern das er stattdessen bewusst nicht beachtet – wenn alles gut geht, werden wir dort auf unsere Verbündeten warten.«
»Lasst mich raten: Es handelt sich um die berüchtigte Schänke namens Smileys, die einst einem Mann gehört hat, der dann eines Tages Imperator geworden ist – die Matrosen haben mir erzählt, das Essen wäre dort ziemlich schrecklich.«
Kalam starrte den Mann verwundert an. Nur der Vermummte allein weiß, ob dieser Kerl atemberaubend boshaft ist oder – oder was, beim Abgrund? »Nein, es handelt sich um einen Ort, der den Namen Totenhaus trägt. Und wir werden uns auch nicht in seinem Innern treffen, sondern am Tor – wobei Ihr, wenn Ihr wollt, herzlich dazu eingeladen seid, den Hof zu erkunden.«
Elan legte beide Hände auf die Reling und starrte blinzelnd zu den trüben Lichtern von Malaz hinüber. »Da ich annehme, dass wir ziemlich lange auf Eure Freunde warten werden, sollte ich das vielleicht tun … vielleicht sollte ich es wirklich tun.«
Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er Kalams bissiges Grinsen bemerkte.
Iskaral Pustl packte den Riegel mit beiden Händen, stemmte die Füße gegen die Tür und zerrte wild, wobei er vor Entsetzen pausenlos vor sich hin schnatterte. Doch auch seine Bemühungen blieben fruchtlos. Brummend trat Mappo über Icarium hinweg, der am Fuß von Tremorlors Eingang lag, und zog den Priester von der unnachgiebigen Barriere fort.
Fiedler hörte, wie der Trell an dem Riegel zerrte, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Schwärm Blutfliegen. Tremorlor widersetzte sich den Insekten, dennoch kamen sie unerbittlich näher. Blind stand an der Seite des Sappeurs, den Kopf erhoben, die Nackenhaare gesträubt. Die vier übrigen Hunde waren inzwischen wieder auf dem Pfad aufgetaucht und rasten jetzt auf das von Reben umrankte Tor zu. Der Schatten des Vielwandlers floss wie schwarzes Wasser über sie hinweg.
»Die Tür öffnet sich entweder auf eine Berührung hin, oder überhaupt nicht«, sagte Apsalar mit überraschend ruhiger Stimme. »Also tretet zur Seite, damit wir es alle einmal versuchen können.«
»Icarium bewegt sich!«, schrie Crokus.
»Es ist die Bedrohung«, antwortete der Trell. »Oh, ihr Götter hienieden, bitte nicht hier, nicht jetzt!«
»Einen besseren Zeitpunkt könnte es gar nicht geben!«, kreischte Iskaral Pustl.
Apsalar meldete sich erneut zu Wort. »Crokus, du bist – außer Fiedler – der Einzige, der es noch nicht versucht hat. Komm her, schnell!«
Die Stille, die auf ihre Worte folgte, sagte Fiedler alles, was er wissen musste. Er riskierte einen schnellen Blick über die Schulter, dorthin, wo Mappo über Icarium kauerte. »Weckt ihn auf«, sagte er, »oder es ist alles vorbei.«
Der Trell hob den Kopf, und Fiedler sah den Ausdruck qualvoller Unschlüssigkeit in seinem Gesicht. »So nahe bei Tremorlor … das Risiko, Fiedler …«
»Was – «
Doch er kam nicht weiter.
Der Körper des Jhag zuckte in die Höhe, als ob ihn der Blitz getroffen hätte. Ein hohes Heulen ging von ihm aus, das die anderen ins Taumeln geraten ließ. Icariums Kopfwunde begann wieder zu bluten, und noch während er sich bemühte, die Augen zu öffnen, sprang er auch schon auf. Das uralte, einschneidige Langschwert glitt aus der Scheide – so schnell, dass es nur ein schimmernder, verschwommener Fleck war.
Die Hunde und der Insektenschwarm, der eigentlich ein Vielwandler war, erreichten gleichzeitig den Hof. Der Boden brach auf, die knorrigen Bäume barsten, und wirre Netze aus Wurzeln und Zweigen griffen wie schwarze Segel zum Himmel hinauf, blähten sich auf und breiteten sich immer weiter aus. Andere Wurzeln griffen zuckend nach den Hunden, die um sich schnappten und jaulten. Blind war schon längst nicht mehr an Fiedlers Seite, sondern bei ihren Artgenossen.
Trotz des Chaos’ um ihn herum musste Fiedler innerlich grinsen. Nicht nur Schattenthron versteht sich darauf, Abmachungen zu brechen – wie sollte ein Azath auch den Schattenhunden widerstehen können?
Eine Hand packte ihn an der Schulter.
»Der Riegel!«, zischte Apsalar. »Versuch, ob du die Tür aufbekommst, Fiedler!«
Der Vielwandler warf sich gegen Tremorlors letzte, verzweifelt aufrechterhaltene Verteidigungslinie. Holz barst.
Der Sappeur wurde von einem Paar Händen auf die Tür zugeschoben, dabei erhaschte er einen Blick auf Mappo. Der Trell hatte die Arme um Icarium geschlungen, der noch immer nicht richtig bei Bewusstsein war, und versuchte den Jhag zurückzuhalten, selbst als das Heulen immer lauter wurde und etwas Überwältigendes, unerbittlich Mächtiges zu sprießen begann. Diese Macht schleuderte Fiedler gegen das dunkle, feuchte Holz der Tür und hielt ihn dort mühelos fest, flüsterte ihm ein Versprechen zu, sie alle zu vernichten. Fiedler versuchte, seine Arme nach dem Riegel auszustrecken, setzte jeden Muskel ein, um diese einfache Aufgabe zu vollbringen.
In der hintersten Ecke des Hofes heulten die Hunde; es war ein triumphierendes, empörtes Geheul, in das sich Furcht mischte, als Icariums Wut alles andere verschluckte. Fiedler spürte, wie das Holz zitterte, und er spürte auch, dass sich dieses Zittern im ganzen Haus ausbreitete.
Sein eigener Schweiß vermischte sich mit den Absonderungen Tremorlors, als der Sappeur noch einmal all seine Kraft einsetzte – er wollte den Erfolg, wollte es schaffen, seinen Arm zu bewegen, eine Hand um den Riegel zu legen.
Er scheiterte.
Hinter ihm war ein anderer grauenhafter Laut zu hören – das Geräusch der Blutfliegen, die durch die hölzernen Netze brachen; sie kamen immer näher, waren nur noch Augenblicke davor, auf Icariums tödliche Wut zu prallen – und dann wird der Jhag erwachen. Es gibt keine andere Möglichkeit – und unser Tod wir noch das Harmloseste an der ganzen Sache sein. Der Azath, das Labyrinth und all seine Gefangenen … oh, sei überaus gründlich in deiner Raserei, Icarium, um dieser Welt willen – und um aller anderen …
Ein stechender Schmerz fuhr durch Fiedlers Handrücken – Blutfliegen! –, doch er spürte auch ein Gewicht. Es waren keine Stiche, sondern das Kratzen kleiner Krallen. Der Sappeur hob den Kopf und starrte in Mobys fangzahniges Grinsen.
Der Hausdämon kletterte an Fiedlers Arm hinunter, und seine Krallen bohrten sich in die Haut des Sappeurs. Die Kreatur schien immer wieder für kurze Zeit vor Fiedlers Augen zu verschwimmen, und jedes Mal, wenn das geschah, hatte er das Gefühl, das Gewicht auf seinem Arm wäre plötzlich gewaltig. Er bemerkte, dass er schrie.
Moby kletterte über Fiedlers Hand hinaus auf die Tür, streckte eine winzige, runzlige Hand nach dem Riegel aus und berührte ihn.
Fiedler stürzte auf warme, weiche Bodenfliesen. Hinter sich hörte er Schreie und Fußgetrappel, während das Haus überall um ihn herum ächzte. Er rollte sich auf den Rücken und kam dabei auf etwas zu liegen, das knackend unter seinem Gewicht zerbrach; ein bitterer, staubiger Geruch stieg ihm in die Nase.
Dann war Icariums tödliches Heulen um sie herum.
Tremorlor schüttelte sich.
Fiedler setzte sich auf.
Sie waren in einer Art Vorraum; rings um sie herum verströmten Kalksteinwände ein mattgelbes, pulsierendes Licht. Mappo hielt Icarium noch immer fest, und der Sappeur sah, wie der Trell sich abmühte, seine Arme noch enger um den Jhag zu schließen. Einen Augenblick später gab dieser auf, hing wieder schlaff in den Armen des Trell. Das goldene Licht wurde gleichmäßiger, die Wände beruhigten sich. Icariums Wut war verschwunden.
Mappo ließ sich auf den Fußboden sinken, den Kopf über den leblosen Körper seines Freundes geneigt.
Fiedler sah sich vorsichtig um. Er wollte wissen, ob sie Verluste zu beklagen hatten. Apsalar hockte neben ihrem Vater, beide mit dem Rücken zur jetzt wieder geschlossenen Tür. Crokus hatte einen zusammengekrümmten Iskaral Pustl mit ins Innere gezerrt, und der Hohepriester hob jetzt den Kopf, schaute sich ungläubig blinzelnd um.
»Was ist mit den Hunden, Iskaral Pustl?« Fiedlers Stimme klang krächzend.
»Sie sind entkommen! Und obwohl sie betrogen wurden, haben sie ihre Macht gegen den Vielwandler eingesetzt!« Er machte eine Pause, schnüffelte in der abgestandenen Luft herum. »Könnt ihr es riechen? Tremorlor ist überaus zufrieden – der Vielwandler ist verschlungen worden.«
»Der Verrat könnte rein instinktiv begangen worden sein, Hohepriester«, sagte Apsalar. »Fünf Aufgestiegene im Hof des Hauses – das große Risiko für Tremorlor selbst, wenn man bedenkt, dass Schatten selbst einen Hang zum Verrat hat – «
»Das ist eine Lüge! Wir haben ehrlich gespielt!«
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, murmelte Crokus. Er schaute zu Fiedler hinüber. »Bin ich froh, dass die Tür sich für dich geöffnet hat, Fiedler.«
Der Sappeur zuckte zusammen, blickte sich suchend im Raum um. »Hat sie nicht, mein Junge. Moby hat die Tür geöffnet und mir nebenbei den Arm zerkratzt – wo ist der verdammte Zwerg bloß? Er muss hier irgendwo sein – «
»Du sitzt auf einer Leiche«, bemerkte Apsalars Vater.
Fiedler schaute nach unten und stellte fest, dass er in einem Haufen Knochen und verrotteter Kleidung saß. Er fluchte und rutschte ein Stück zur Seite.
»Ich kann ihn nirgends entdecken«, sagte Crokus. »Bist du sicher, dass er mit reingekommen ist, Fiedler?«
»Ja, ganz sicher.«
»Dann muss er tiefer ins Haus vorgedrungen sein – «
»Er sucht das Tor!«, kreischte Iskaral Pustl. »Den Pfad der Hände!«
»Moby ist ein Hausdä – «
»Noch mehr Lügen! Der widerliche Bhok’aral ist ein Wechselgänger, du verdammter Narr!«
»Immer mit der Ruhe. Es gibt hier kein Tor, das einem Gestaltwandler irgendetwas bieten könnte«, sagte Apsalar. Sie stand langsam auf, den Blick auf den vertrockneten Leichnam hinter Fiedler gerichtet. »Das muss der Hüter gewesen sein; jedes Azath-Haus hat einen Wächter. Ich habe immer geglaubt, sie wären unsterblich …« Sie machte einen Schritt, trat gegen die Knochen und gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Das war kein Mensch. Die Gliedmaßen sind zu lang – und schaut euch diese Gelenke an. Und wie viele es sind. Dieses Ding konnte sich in jede Richtung bücken.«
Mappo hob den Kopf. »Ein Forkrul Assail.«
»Also ein Mitglied der Älteren Rasse, über die wir am wenigsten wissen. Ich habe gehört, in den Legenden im Reich der Sieben Städte werden sie noch nicht einmal erwähnt …« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Raum, in dem sie sich befanden.
Am hinteren Ende gab es einen Durchgang zu einer T-förmigen Kreuzung; genau gegenüber dem Durchgang war eine Doppeltür.
»Die Einteilung ist beinahe identisch«, flüsterte Apsalar.
»Womit?«, wollte Crokus wissen.
»Mit dem Totenhaus in Malaz.«
Das Geräusch von nackten Füßen, die auf Steinfliesen patschten, näherte sich der Kreuzung, und einen Augenblick später hüpfte Moby in ihr Blickfeld. Die Kreatur flatterte auf und sprang in die Arme des jungen Daru.
»Er zittert«, sagte Crokus und umarmte den Hausdämon.
»Oh, großartig«, murmelte Fiedler.
»Der Jhag«, zischte Iskaral Pustl, der ein paar Schritte von Mappo und Icarium entfernt am Boden kniete. »Ich habe gesehen, wie Ihr ihn in Euren Armen zermalmt habt – ist er tot?«
Der Trell schüttelte den Kopf. »Nur bewusstlos. Ich glaube, dass er so schnell nicht aufwachen wird – «
»Dann soll der Azath ihn sich holen! Jetzt sofort! Wir sind im Innern von Tremorlor. Wir brauchen ihn nicht mehr!«
»Nein.«
»Narr!«
Irgendwo draußen erklang eine Glocke. Alle starrten einander ungläubig an.
»Haben wir das wirklich gerade eben gehört?«, wunderte sich Fiedler. »Die Glocke eines Kaufmanns?«
»Wieso Kaufmann?«, fragte Pustl brummig, während seine Blicke misstrauisch hierhin und dorthin huschten.
Crokus jedoch nickte. »Die Glocke eines Kaufmanns. Bei uns in Darujhistan klingt es genauso …«
Der Sappeur ging zur Tür. Von innen ließ sich der Riegel leicht bewegen, und er machte die Tür auf.
Dünne Streifen ineinander verschlungener Wurzeln wuchsen jetzt auf dem Hof, ragten in einem Durcheinander von Winkeln und Ebenen weit über das Haus hinaus. Überall dampfte aufgeworfene Erde. Direkt vor dem Torbogen warteten drei riesige, verzierte Kutschen, die von jeweils neun weißen Pferden gezogen wurden. Eine rundliche, in Seidengewänder gehüllte Gestalt stand unter dem Torbogen. Sie streckte Fiedler eine Hand entgegen und rief auf Daru: »Ich kann leider nicht weitergehen! Doch ich versichere Euch, dass hier draußen alles ruhig ist. Ich suche den Mann namens Fiedler.«
»Warum?«, bellte der Sappeur.
»Weil ich ihm ein Geschenk überbringen soll. Das in größter Eile und unter hohen Kosten zusammengestellt wurde, wie ich hinzufügen möchte. Ich würde vorschlagen, dass wir in Anbetracht der Umstände die Übergabe so schnell wie möglich durchführen sollten.«
Crokus war an Fiedlers Seite getreten. Der Daru starrte die Kutschen stirnrunzelnd an. »Ich weiß, wer solche Kutschen baut«, sagte er leise. »Bernuk. Seine Werkstatt ist gleich hinter dem Seeuferviertel. Aber ich habe noch nie welche gesehen, die so groß waren … Bei den Göttern, ich bin schon viel zu lange von zu Hause weg.«
Fiedler seufzte. »Sie kommen also aus Darujhistan.«
»Ich bin mir ganz sicher«, sagte Crokus und schüttelte den Kopf.
Fiedler trat nach draußen und musterte die Umgebung. Wie der Kaufmann gesagt hatte, war alles ruhig. Und still. Obwohl er sich immer noch unbehaglich fühlte, schritt der Sappeur langsam den Pfad entlang. Zwei Schritte vor dem Torbogen blieb er stehen und musterte den Kaufmann argwöhnisch.
»Mein Name ist Karpolan Demesand, mein Herr, von der Trygalle-Handelsgilde, und diesen Abstecher werden ich und meine Anteilseigner zwar niemals bereuen, aber wir hoffen, ihn auch niemals wiederholen zu müssen.« Die Erschöpfung des Mannes war mehr als offensichtlich, und seine Seidengewänder waren schweißnass. Er winkte, und eine gerüstete Frau mit totenblassem Gesicht trat an ihm vorbei; sie trug eine kleine Kiste. »Mit den besten Empfehlungen von einem gewissen Magier bei den Brückenverbrennern«, fuhr Karpolan fort, »der gerade noch rechtzeitig ganz allgemein über Euer Schicksal informiert wurde, und zwar von einem Korporal, den ihr beide kennt.«
Fiedler nahm die Kiste entgegen. Mittlerweile grinste er. »Die Anstrengungen, die notwendig gewesen sein müssen, um mir diese Lieferung auszuhändigen, übersteigen mein Vorstellungsvermögen«, sagte er.
»Auch das meinige, das versichere ich Euch. Und jetzt müssen wir fliehen – oh, welch rüde, schonungslose Offenheit –, ich meine natürlich aufbrechen. Wir müssen aufbrechen.« Karpolan Demesand seufzte, blickte sich um. »Vergebt mir. Ich bin müde. So müde, dass ich mich noch nicht einmal der Höflichkeit befleißige, die zivilisierte Menschen im Umgang miteinander erwarten dürfen.«
»Ihr habt keinen Grund, Euch zu entschuldigen«, sagte Fiedler. »Wenn ich auch nicht die geringste Ahnung habe, wie Ihr hierher gelangt seid, und wie Ihr wieder nach Darujhistan zurückkehren wollt, so wünsche ich Euch doch eine sichere, angenehme Reise. Nur eine letzte Frage hätte ich noch: Hat der Magier irgendetwas gesagt, woher der Inhalt dieser Kiste gekommen ist?«
»Oh, das hat er in der Tat, mein Herr. Von den Straßen der Blauen Stadt. Eine unklare Quellenangabe, doch wie ich sehe, seid Ihr in der glücklichen Lage, sie sofort zu verstehen.«
»Hat der Magier Euch irgendwie gewarnt oder Euch Verhaltensmaßregeln gegeben, wie Ihr mit dieser Kiste umgehen sollt, Karpolan?«
Der Händler verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Er hat gesagt, wir sollten ihr nicht zu viele Stöße versetzen. Allerdings war der letzte Teil unserer Reise ein wenig … holprig. Ich muss bedauerlicherweise sagen, dass vielleicht das eine oder andere Stück in der Kiste zerbrochen sein könnte.«
Fiedler lächelte. »Und ich bin erfreut, Euch mitteilen zu können, dass alles heil geblieben ist.«
Karpolan Demesand runzelte die Stirn. »Wie könnt Ihr das sagen -Ihr habt doch noch gar nicht in die Kiste hineingesehen?«
»Was das betrifft, solltet Ihr einfach auf meine Aussage vertrauen, mein Herr.«
Crokus schloss die Tür, nachdem Fiedler die Kiste ins Innere des Azath-Hauses getragen hatte. Der Sappeur setzte den Behälter behutsam ab und öffnete den Deckel. »Ach, Schneller Ben«, flüsterte er, während seine Blicke über die Gegenstände glitten, die in der Kiste lagen. »Eines Tages werde ich dir einen Tempel errichten.« Er zählte sieben Sprengkörper, dreizehn Mauerbrecher und vier Brandbomben. »Aber wie ist dieser Händler bloß hierher gekommen?«, fragte Crokus. »Von Darujhistan! Beim Atem des Vermummten, Fiedler!«
»Ich weiß es nicht.« Der Sappeur streckte sich, musterte die anderen. »Ich fühle mich gut, Kameraden. Wirklich sehr gut.«
»Optimismus«, schnarrte Pustl in einem Ton, der allergrößte Empörung verriet. Der Hohepriester zerrte an seinen schütteren Haarsträhnen. »Während der verdorbene Affe vor Entsetzen in den Schoß des jungen Burschen pisst. Optimismus!«
Crokus hielt den Hausdämon auf Armeslänge Abstand von sich und starrte ungläubig auf den Strahl, der auf die Bodenfliesen spritzte. »Moby?« Die Kreatur grinste einfältig.
»Wechselgänger, meinst du wohl!«
»Eine vorübergehende Entgleisung«, sagte Apsalar und betrachtete die sich windende Kreatur. »Jetzt, wo er begriffen hat, was geschehen ist. Entweder das – oder er hat einen merkwürdigen Sinn für Humor.«
»Was brabbelst du da?«, wollte Pustl wissen. Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Er hat gedacht, er hätte den Pfad gefunden, hat gedacht, dass ihn das alte Versprechen aufzusteigen hierher gelockt hätte – und in gewisser Weise hat Moby sogar Recht. Der Bhok’aral, den du da in deinen Händen hältst, Crokus, ist eigentlich ein echter Dämon. Wenn er seine wahre Form annehmen würde, könnte er dich so halten, wie du jetzt ihn hältst.«
Mappo grunzte. »Ah, jetzt begreife ich.«
»Und warum erleuchtet Ihr uns dann nicht?«, schnappte Crokus.
Apsalar tippte die Leiche, die vor ihr auf dem Boden lag, mit dem Fuß an. »Tremorlor brauchte einen neuen Wächter. Muss ich noch deutlicher werden?«
Crokus blinzelte. Er betrachtete erneut Moby, das zitternde, kleine Wesen in seinen Händen. »Der Hausdämon meines Onkels?«
»Ein echter Dämon, der im Moment angesichts dessen, was ihn erwartet, allerdings ein wenig eingeschüchtert ist. Das können wir, glaube ich, annehmen. Doch ich bin mir sicher, er wird an seiner Aufgabe wachsen.«
Inzwischen hatte Fiedler die Moranth-Munition in seinen Lederbeutel umgepackt. Jetzt stand er auf und hängte sich den Beutel vorsichtig über eine Schulter. »Der Schnelle Ben hat geglaubt, wir würden hier drin ein Portal finden, das Tor eines Gewirrs – «
»Das die Häuser verbindet!«, krähte Iskaral Pustl. »Welch ungeheuerliche Kühnheit! Dein Freund, dieser verschlagene Magier hat mich entzückt, Soldat. Er sollte eigentlich ein Diener des Schattens sein!«
Er war es, aber mach dir nichts draus. Wenn deinem Gott danach ist, wird er’s dir eines Tages erzählen – obwohl ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen würde … »Es wird Zeit, dass wir dieses Portal finden – «
»Zur T-Kreuzung, dann nach links bis zu den beiden Türen. Die linke bringt uns in den Turm. Dort ins oberste Stockwerk.« Apsalar lächelte.
Fiedler starrte sie einen Augenblick an, dann nickte er. Deine geliehenen Erinnerungen …
Moby ging voraus, als wolle er ihnen den Weg zeigen, was bewies, dass sein Mut zurückgekehrt war – und er außerdem so etwas wie Besitzerstolz besaß. Kurz nach der Kreuzung war im linken Gang ein Alkoven in eine Wand eingelassen, in dem ein glänzender Schuppenpanzer hing, der für einen Träger gedacht war, der mehr als zehn Fuß groß und von gewaltigem Umfang war. Zwei Doppeläxte lehnten an den Wänden der Nische, eine an jeder Seite. Moby blieb kurz stehen, um in einer beinahe zärtlichen Geste einen der eisenbeschlagenen Stiefel mit der winzigen Hand zu berühren; dann ging er nachdenklich weiter. Crokus stolperte im Vorbeigehen, als er der Rüstung kurz seine ganze Aufmerksamkeit zuwandte.
Sie öffneten die Tür und betraten das Erdgeschosszimmer des Turms. In seiner Mitte wand sich eine steinerne Wendeltreppe nach oben. Am Fuß der sattelförmigen Stufen lag ein weiterer Leichnam, eine junge, dunkelhäutige Frau, die aussah, als hätte man sie keine Stunde zuvor dort hingelegt. Sie trug leichte Unterkleidung, doch die Rüstung, die sie einst darüber getragen haben musste, war nirgends zu sehen. Ihr schlanker Körper war von unzähligen üblen Wunden übersät.
Apsalar trat nahe an das Mädchen heran, kauerte sich hin und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich kenne sie«, flüsterte sie.
»Häh?«, grummelte Rellock.
»Aus den Erinnerungen desjenigen, der sich meiner bemächtigt hatte, Vater«, sagte sie. »Den Erinnerungen an die Zeit, als er noch ein Sterblicher war …«
»Tanzer«, sagte Fiedler.
Sie nickte. »Das hier ist Dassem Ultors Tochter. Wie es aussieht, hat das Erste Schwert sie zurückgeholt, nachdem der Vermummte mit ihr fertig war, und sie hierher gebracht.«
»Bevor er den Eid gebrochen hat, den er dem Vermummten geschworen hatte – «
»Ja, bevor Dassem den Gott verflucht hat, dem er einst gedient hatte.«
»Das ist etliche Jahre her, Apsalar«, sagte Fiedler.
»Ich weiß.«
Sie schwiegen, musterten die zerbrechliche junge Frau, die am Fuß der Wendeltreppe lag. Mappo verlagerte Icariums Gewicht in seinen Armen, als wäre ihm die Ähnlichkeit der Situation unbehaglich, obwohl jedem klar war, dass er mit seiner Last nicht das Gleiche tun würde, was Dassem Ultor getan hatte.
Apsalar richtete sich auf und ließ den Blick die Wendeltreppe hinaufschweifen. »Wenn Tanzers Erinnerungen wahr sind, dann wartet dort oben das Portal auf uns.«
Fiedler drehte sich zu den anderen um. »Was ist, Mappo? Werdet Ihr uns begleiten?«
»Ja, wenn auch vielleicht nicht den ganzen Weg – ich nehme an, es gibt eine Möglichkeit, das Gewirr zu verlassen, wenn man will …«
»Das ist eine ziemlich kühne Annahme«, sagte der Sappeur.
Der Trell zuckte lediglich die Schultern.
»Und Ihr, Iskaral Pustl?«
»Oh ja, natürlich, natürlich! Warum nicht, warum auch nicht? Soll ich wieder durch das Labyrinth hinausgehen? Das wäre Wahnsinn! Und Iskaral Pustl ist alles andere als wahnsinnig, wie ihr alle nur zu gut wisst. Ja, ich werde euch begleiten … und füge im Stillen nur für mich hinzu: Vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, Verrat zu üben!
Wen verraten? Spielt das denn eine Rolle? Es ist nicht das Ziel, das den Genuss bringt, sondern der Weg, auf den man sich begeben muss, um es zu erreichen!«
Fiedler fing einen scharfen Blick von Crokus auf. »Behalt ihn im Auge«, sagte der Sappeur.
»Mach ich.«
Dann warf der Sappeur Moby einen Blick zu. Der Hausdämon hockte beim Eingang und spielte stumm mit seinem Schwanz. »Wie sagt man einem Bhok’aral auf Wiedersehen?«
»Mit einem Tritt in den Hintern, wie sonst?«, schlug Pustl vor.
»Habt Ihr Lust, es bei dem da zu versuchen?«, fragte Fiedler.
Der Hohepriester zog ein finsteres Gesicht, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
»Er war mit da draußen, als wir durch das Labyrinth gegangen sind, stimmt’s?«, sagte Crokus, während er langsam auf die kleine, verhutzelte Kreatur zuging. »Erinnert ihr euch an die Kämpfe, die wir nicht sehen konnten? Er hat uns beschützt – die ganze Zeit!«
»Ja«, sagte der Sappeur.
»Er hatte Hintergedanken!«, zischte Pustl.
»Und wenn schon.«
»Oh, ihr Götter, er wird furchtbar einsam sein!« Crokus nahm den Bhok’aral in die Arme. Der junge Bursche schämte sich der Tränen nicht, die ihm in die Augen traten.
Blinzelnd wandte Fiedler sich ab. Er musterte die Wendeltreppe und zog eine Grimasse. »Es wird nicht besser, wenn du es in die Länge ziehst, Crokus«, sagte er.
»Ich finde eine Möglichkeit, dich zu besuchen«, flüsterte der Daru.
»Schau ihn dir doch mal genau an, Crokus«, sagte Apsalar. »Er sieht richtig zufrieden aus. Und was das Alleinsein betrifft – woher willst du das wissen? Es gibt noch andere Häuser, andere Wächter …«
Der junge Daru nickte. Langsam setzte er den Hausdämon wieder auf den Boden. »Wenn du Glück hast, steht hier kein Geschirr herum«, sagte er.
»Was?«
Crokus lächelte. »Moby hatte immer Pech mit Geschirr – oder sollte ich es andersrum sagen?« Er legte der Kreatur noch einmal die Hand auf den kahlen Schädel und stand dann auf. »Gehen wir.«
Der Bhok’aral blicke der Gruppe nach, wie sie die Wendeltreppe hinaufstiegen. Einen Augenblick später zuckte von oben ein Mitternachtsblitz herab – dann waren sie verschwunden. Die Kreatur lauschte aufmerksam, legte den kleinen Kopf schief, doch es war kein Geräusch mehr von oben zu vernehmen.
Moby saß ein paar Minuten unbeweglich da und zupfte müßig an seinem Schwanz herum; dann drehte er sich um und hüpfte in den Korridor, wo er vor der Rüstung Halt machte.
Der schwere, geschlossene Helm neigte sich mit einem Knirschen nach vorn, und eine raue Stimme erklang aus seinem Innern. »Ich bin hocherfreut, dass meine Einsamkeit ein Ende hat, mein Kleiner. Tremorlor heißt dich von ganzem Herzen willkommen – auch wenn du da im Vorraum eine kleine Sauerei gemacht hast.«
Staub und Steinchen wirbelten auf, prasselten gegen Duikers Schild, als der wickanische Reiterkrieger auf den Boden prallte und ein Stück weiterrollte. Direkt vor den Füßen des Historikers blieb er liegen. Der Krähen-Krieger – er war kaum dem Knabenalter entwachsen – wirkte beinahe friedlich, die Augen geschlossen, als würde er sanft schlummern. Doch für ihn hatten alle Träume ein Ende.
Duiker trat über den Leichnam hinweg und stand einen Augenblick lang in der Staubwolke, die der Tote verursacht hatte. Das kurze Schwert in seiner rechten Hand war dort mit Blut festgeklebt; immer wenn er seinen Griff verlagerte, gab es ein dumpfes, schmatzendes Geräusch.
Reiter rasten über das von unzähligen Hufen aufgewühlte Gelände vor dem Historiker. Pfeile kamen herangezischt, summten wie Tigerfliegen durch die Luft. Er wirbelte seinen Schild herum, um einen aufzufangen, der genau auf sein Gesicht zukam, und ächzte, als er den heftigen Aufprall spürte, der ihm den lederbespannten Rand gegen Mund und Kinn knallte und an beiden Stellen die Haut aufplatzen ließ.
Die tarxianische Kavallerie war durchgebrochen und kurz davor gewesen, das Dutzend noch verbliebener Trupps vom Rest der Kompanie abzuschneiden. Der Gegenangriff des Krähen-Clans war wütend und brutal gewesen, doch er hatte auch hohe Verluste gefordert. Und was das Schlimmste war – er war möglicherweise fehlgeschlagen, wie Duiker feststellen musste, als er sich müde vorwärts schob.
Die Infanterie-Trupps hatten sich aufgelöst und zu vier Gruppen zusammengetan – nur eine davon bestand aus einer nennenswerten Anzahl von Soldaten –, die jetzt darum kämpften, sich wieder zu vereinigen. Kaum mehr zwanzig Krähen-Krieger saßen noch aufrecht im Sattel, und alle waren von Tarxianern umzingelt, die mit ihren breitklingigen Tulwars auf sie einschlugen. Überall wanden sich Pferde zuckend und schreiend am Boden, traten vor Schmerzen um sich.
Beinahe hätte ihn die Hinterhand eines Kavalleriepferdes erwischt. Duiker trat einen Schritt zur Seite, dann an das Pferd heran und stieß dem Reiter die Schwertspitze gegen den lederumhüllten Oberschenkel. Die leichte Rüstung leistete einen Moment lang Widerstand, dann warf sich der Historiker mit seinem ganzen Gewicht in den Stoß und spürte, wie sich das Schwert in Fleisch bohrte, tiefer einsank und am Knochen entlangschabte. Er drehte die Klinge.
Ein Tulwar zuckte herab, grub sich tief in Duikers Schild. Der Historiker duckte sich zur Seite und nach unten weg, zog die festgeklemmte Waffe dabei mit. Frisches Blut rann über seine Schwerthand, als er seine Klinge freibekam. Duiker hackte und schlug auf die Hüfte des Mannes ein, bis das Pferd einen Satz zur Seite machte und den Reiter aus seiner Reichweite trug.
Er schob die Helmkante hoch, damit er wieder besser sehen konnte, blinzelte Schmutz und Schweiß weg und begann sich dann wieder vorwärts zu schieben, dem größten Haufen Fußsoldaten entgegen.
Drei Tage waren inzwischen seit der Schlacht am Sanimon-Tal und der blutigen Gnadenfrist, die ihnen von den Khundryl gewährt worden war, vergangen. Ihre unerwarteten Verbündeten hatten die Schlacht damit beendet, dass sie die Überreste der rivalisierenden Stämme bis in die Abendstunden hinein verfolgt hatten, ehe sie sich aufgemacht hatten, um – wahrscheinlich – wieder in ihre Stammesgebiete zurückzukehren. Seither waren sie nicht mehr gesehen worden.
Die Vorfälle am Sanimon-Tal hatten Korbolo Dom zu einer Art Raserei getrieben, so viel war ganz eindeutig klar. Die Attacken erfolgten jetzt pausenlos, ein Dauerkampf während des Marschs, der sich mittlerweile seit mehr als vierzig Stunden hinzog, und es gab keinerlei Anzeichen, dass er in nächster Zeit beendet sein würde.
Die von Feinden umgebene Kette der Hunde wurde wieder und wieder angegriffen – von den Flanken, von hinten, und gelegentlich auch von zwei oder drei Seiten gleichzeitig. Was Schwerter, Lanzen und Pfeile nicht schafften, vollendete die Erschöpfung. Soldaten, deren Rüstung in Fetzen hing, stürzten einfach zu Boden, wenn unzählige kleine Wunden ihnen die letzte Kraft geraubt hatten. Herzen versagten, große Blutgefäße unter der Haut platzten und erblühten zu tiefschwarzen Flecken, als ob unter den Soldaten jetzt auch noch eine schreckliche Seuche grassierte.
Die Szenen, die Duiker mitangesehen hatte, hatten ihn weit über jenen Punkt hinausgetrieben, an dem er noch hätte Entsetzen empfinden können oder die Möglichkeit gehabt hätte, wirklich zu begreifen, was da geschah.
Er erreichte die Infanterie zum gleichen Zeitpunkt, als die anderen Gruppen sich dem stärksten Trupp anschließen konnten und alle Soldaten herumwirbelten und eine Kreisformation bildeten, an die sich kein Pferd herantrauen würde, mochte es auch noch so gut ausgebildet sein.
Im Innern des Rings begann ein Soldat, mit seinem Schwert auf den Schild zu schlagen und im Rhythmus seiner Schläge ein heiseres Gebrüll auszustoßen. Das Rad drehte sich, alle Soldaten schritten gleichzeitig aus, es drehte sich weiter, überquerte das Gelände, drehte sich und kehrte allmählich dorthin zurück, wo der Rest der Kompanie noch immer jene Linie verteidigte, die die westliche Flanke der Kette bildete.
Duiker bewegte sich mit ihnen. Er war ein Teil des äußeren Rings, und er gab jedem verwundeten Feind den Todesstoß, über den das Rad hinwegtrampelte. Fünf berittene Krieger des Krähen-Clans hielten mit den Fußsoldaten Schritt. Sie waren die einzigen Überlebenden des Gegenangriffs, und zwei von ihnen würden nie wieder kämpfen.
Wenige Augenblicke später erreichte das Rad die Linie und verschmolz mit ihr. Die Wickaner gaben ihren schweißgebadeten Pferden die Sporen, um gen Süden davonzurasen. Duiker drängte sich durch die Reihen der Soldaten, bis er auf eine freie Fläche stolperte. Er senkte die zitternden Arme, spuckte Blut auf den Boden und hob dann langsam den Kopf.
Vor ihm marschierte die Masse der Flüchtlinge, eine endlose Prozession, die sich an der Stelle, an der er stand, vorbeiquälte. Hunderte von staubbedeckten Gesichtern waren in seine Richtung gewandt; sie beobachteten die dünne Kette aus Fußsoldaten hinter ihm – die alles war, was zwischen ihnen und einem Blutbad lag –, wie sie schwankte, sich einbeulte und von Minute zu Minute dünner wurde. Die Gesichter waren ausdruckslos, an einen Ort jenseits allen Denkens und jeglichen Gefühls getrieben. Sie waren Teil einer Gezeitenwoge, bei der keine Ebbe möglich war, wo es tödlich war, zu weit zurückzufallen, und ebenfalls stolperten sie weiter und umklammerten dabei ihre letzten und gleichzeitig kostbarsten Besitztümer: ihre Kinder.
Zwei Gestalten näherten sich Duiker; sie kamen von der Nachhut her und schritten am Rand des Flüchtlingsstroms entlang. Der Historiker starrte sie mit leerem Blick an. Er spürte, dass er die beiden eigentlich erkennen müsste – doch alle Gesichter waren für ihn zu Zügen von Fremden geworden.
»Historiker!«
Die Stimme riss ihn aus seinen sich im Kreis drehenden Gedanken. Seine aufgeplatzte Lippe schmerzte, als er antwortete: »Hauptmann Lull.«
Ein umflochtener Krug wurde ihm entgegengestreckt. Duiker steckte sein kurzes Schwert in die Scheide und nahm ihn dankbar an.
Das kühle Wasser schmerzte in seinem Mund, doch er ignorierte den Schmerz, trank hastig.
»Wir haben die Ebene von Geleen erreicht«, sagte Lull.
Seine Begleiterin war Duikers namenlose Seesoldatin. Sie schwankte ein wenig, und der Historiker sah, dass sie eine schlimme Stichwunde in der linken Schulter hatte; eine Lanzenspitze musste sie oberhalb des Schildrands getroffen haben. In dem klaffenden Loch glänzten noch ein paar zerbrochene Kettenglieder ihrer Rüstung.
Ihre Blicke begegneten sich. Duiker konnte nicht einmal mehr einen Funken Lebendigkeit in den einst so schönen hellgrauen Augen erkennen – doch weit schlimmer als das, was er sah, war die Furcht erregende Tatsache, dass es ihn nicht im Geringsten erschreckte, dass er anscheinend zu keinerlei Gefühlen mehr fähig war; noch nicht einmal dazu, Entsetzen zu empfinden.
»Coltaine will Euch sehen«, sagte Lull.
»Dann atmet er also immer noch …«
»Ja.«
»Ich nehme an, dass er das hier haben will.« Duiker zog einen Lederriemen, an dem ein kleines Glasfläschchen befestigt war, unter seiner Rüstung hervor. »Hier – «
»Nein«, entgegnete Lull stirnrunzelnd. »Er will Euch, Historiker. Wir sind auf einen Stamm aus der Sanith-Odhan gestoßen – bis jetzt beobachten sie uns nur.«
»Sieht so aus, als ob die Rebellion hier unten im Süden nicht auf ganz so festen Füßen steht«, murmelte Duiker.
Die Kampfgeräusche entlang der flankierenden Linie wurden schwächer. Eine weitere Pause, ein paar Herzschläge, während dieser sie sich erholen, Waffen und Rüstungen reparieren und ihre Wunden versorgen konnten.
Der Hauptmann winkte ihm, und sie begannen neben den Flüchtlingen entlangzugehen.
»Um welchen Stamm handelt es sich eigentlich?«, fragte der Historiker nach einigen Schritten. »Und – was viel wichtiger ist – was hat das Ganze mit mir zu tun?«
»Die Faust ist zu einem Entschluss gekommen«, sagte Lull.
Etwas im Tonfall seiner Stimme ließ Duiker erschauern. Er überlegte kurz, ob er weiterbohren sollte, ließ es dann jedoch sein. Es lag an Coltaine, ihm die Einzelheiten mitzuteilen. Der Mann führt eine Armee an, die sich weigert zu sterben. Wir haben seit dreißig Stunden keinen einzigen Flüchtling mehr durch unsere Feinde verloren. Fünftausend Soldaten … die jedem Gott ins Gesicht spucken …
»Was wisst Ihr von den Stämmen, die so nahe bei der Stadt leben?«, fragte Lull, nachdem sie ein Weilchen weitergegangen waren.
»Sie mögen Aren nicht besonders«, antwortete Duiker.
»Ist es ihnen schlechter ergangen, seit das Imperium in Aren herrscht?«
Der Historiker grunzte, als er erkannte, worauf die Frage des Hauptmanns abzielte. »Nein, besser. Das malazanische Imperium versteht die Probleme der Grenzgebiete, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen, die im Hinterland leben. Schließlich gibt es überall im Imperium immer noch große Gebiete, in denen Nomaden leben, und der Tribut, der zu entrichten ist, ist nie besonders hoch. Mehr noch, die Bezahlung für die Durchreise durch Stammesgebiete ist immer großzügig und wird schnell erledigt. Das müsste Coltaine eigentlich selbst verdammt gut wissen, Hauptmann.«
»Ich gehe davon aus, dass er das tut – ich bin derjenige, der überzeugt werden muss.«
Duiker warf einen Blick zu den Flüchtlingen zu ihrer Linken hinüber; er musterte die Reihen um Reihen von Gesichtern, jungen und alten, mit ihrer allgegenwärtigen Staubkruste. Seine Gedanken trieben über den Rand der Erschöpfung hinaus, und Duiker spürte, dass er an einer Kante entlangtorkelte, hinter der – wie er jetzt klar erkennen konnte – Coltaines verzweifeltes Glücksspiel wartete.
Die Faust ist zu einem Entschluss gekommen.
Und die Offiziere sträuben sich, schrecken voller Unsicherheit davor zurück. Ist Coltaine angesichts der Hoffnungslosigkeit zusammengebrochen? Oder sieht er nur allzu klar?
Fünftausend Soldaten …
»Was soll ich Euch sagen, Lull?«, fragte Duiker.
»Dass wir keine Wahl mehr haben.«
»Diese Frage könnt Ihr Euch selbst beantworten.«
»Das wage ich nicht.« Der Hauptmann zog eine Grimasse; sein narbenübersätes Gesicht verzerrte sich, sein eines Auge versank in einem Nest aus kleinen Fältchen. »Es sind die Kinder, wie Ihr seht. Nur sie sind ihnen noch geblieben – sie sind alles, was ihnen noch geblieben ist. Duiker – «
Das abrupte Nicken des Historikers zeigte, dass es nicht notwendig war, noch mehr zu sagen; diese Art von Barmherzigkeit konnte Duiker rasch gewähren. Er hatte die Gesichter gesehen, war dicht an sie herangegangen, um sie genau zu studieren; damals hatte er gedacht, er würde die Jugend suchen, die dort eigentlich sein müsste, die Offenheit und Unschuld – doch das war es nicht gewesen, was er gesucht hatte, und er hatte es auch nicht gefunden. Lull hatte ihn zu dem Wort hingeführt. Schlicht, unveränderlich und bis jetzt immer noch sakrosankt.
Fünftausend Soldaten werden dafür ihr Leben opfern. Aber ist es eine Art romantischer Narretei – sehne ich mich nach der Anerkennung dieser einfachen Soldaten? Ist ein Soldat überhaupt wirklich einfach – einfach in dem Sinne, dass er die Welt und seinen Platz in ihr auf nüchterne, pragmatische Weise sieht? Und schließt eine solche Sichtweise das tiefe Bewusstsein aus, von dem ich mittlerweile glaube, dass diese mitgenommenen, fußwunden Männer und Frauen es besitzen?
Duiker sah die namenlose Seesoldatin an, und er begegnete dem Blick ihrer bemerkenswerten Augen, als ob sie nur darauf gewartet hätte, dass er sich mit all seinen Gedanken, seinen Zweifeln und seiner Furcht zu ihr umdrehen, nach ihr suchen würde.
Sie zuckte die Schultern. »Sind wir so blind, dass wir es nicht sehen können, Duiker? Wir verteidigen ihre Würde. So einfach ist das. Und es gibt uns Kraft. Hast du das hören wollen?«
Diese Kritik kann ich hinnehmen. Man sollte eben niemals einen Soldaten oder eine Soldatin unterschätzen.
Sanimon war ein wuchtiger Tel, ein flacher Hügel von dreißig Armspannen Höhe und einer halben Meile Durchmesser; die Kuppe war windzerzaust und kahl. In der Sanith-Odhan direkt südlich des Tel, wo sich die Kette der Hunde jetzt entlangquälte, erinnerten zwei alte erhöhte Straßen an die Zeit, da der Tel eine blühende Stadt gewesen war. Beide Straßen verliefen schnurgerade auf festen Fundamenten aus bearbeiteten Felsblöcken. Die eine erstreckte sich gen Osten – sie wurde heutzutage nicht mehr benutzt, da sie nur zu einem weiteren Tel inmitten einer knochentrockenen Hügelkette führte – und hieß Painesan’m. Die andere, Sanijhe’m, ging in Richtung Südosten und stellte noch immer eine Überlandverbindung zu dem Binnenmeer dar, das als Clatar-See bekannt war. Mit einer Höhe von fünfzehn Armspannen waren die Straßen zu Dämmen geworden.
Die Krieger aus Coltaines Krähen-Clan beherrschten Sanijhe’m; sie hatten die Straße bemannt, als wäre sie ein Wall. Das südliche Drittel von Sanimon selbst war jetzt ein wickanischer Stützpunkt, gespickt mit Kriegern und Bogenschützen des Tollhund- und des Wiesel-Clans. Als die Flüchtlinge am östlichen Rand von Sanimon entlanggeführt wurden, machten die hohen Felsenklippen auf der dem Tel zugewandten Seite eine Flankendeckung unnötig. Truppen wechselten die Position, um die Nachhut und die östliche Flanke zu verstärken. Korbolo Doms Streitkräfte, die sich mit beiden einen Kampf im Laufschritt geliefert hatten, holten sich einmal mehr eine blutige Nase. Die Siebte war noch immer eine Macht, die man nicht gering schätzen durfte – trotz ihrer stark geschrumpften Zahl, trotz Soldaten, die tot umfielen, ohne dass sie eine sichtbare Wunde gehabt hätten, und anderen, die jammerten und weinten, während sie ihre Gegner niedermachten. Die Ankunft berittener wickanischer Bogenschützen machte die Niederlage der Rebellenarmee perfekt, und einmal mehr war die Zeit für eine Ruhepause gekommen.
Faust Coltaine stand allein und wartete, den Blick auf die sich im Süden erstreckende Odhan gerichtet. Sein Federumhang flatterte im Wind, die zerzausten Ränder erzitterten im Atem der Luft. Auf einem Hügelkamm in jener Richtung, in vielleicht zweitausend Schritte Entfernung, saßen die Krieger eines anderen Stammes auf ihren Pferden; ihre barbarischen Kriegsstandarten hoben sich bewegungslos vor dem blassblauen Himmel ab.
Duiker ließ die Faust nicht aus den Augen, während sie näher traten. Er versuchte, sich in Coltaine hineinzuversetzen, versuchte, den Platz zu finden, an dem die Faust jetzt lebte – und zuckte innerlich zurück. Nein, es ist nicht so, dass mich meine Vorstellungskraft im Stich lässt. Es ist Widerwille. Ich kann nicht die Last eines anderen tragen – noch nicht einmal für einen kurzen Augenblick. Wir werden jetzt alle in unser Inneres gezogen, jeder für sich …
Coltaine sprach, ohne sich umzudrehen. »Die Kherahn Dhobri – so werden sie zumindest auf der Karte genannt.«
»Arens unfreiwillige Nachbarn«, sagte Duiker.
Bei diesen Worten drehte die Faust sich um. »Wir haben uns immer an unsere Verträge gehalten«, sagte Coltaine und blickte den Historiker scharf an.
»Ja, Faust, das haben wir – sehr zum Missfallen vieler Einheimischer in der Stadt.«
Erneut schaute Coltaine zu dem Stamm hinüber. Er schwieg wohl eine Minute lang.
Der Historiker warf der namenlosen Seesoldatin einen Blick zu. »Du solltest dir einen Feldscher suchen«, sagte er.
»Ich kann immer noch einen Schild halten – «
»Klar, aber du riskierst eine Infektion …«
Ihre Augen weiteten sich, und Duiker verstummte. Eine Woge von Kummer stieg in ihm auf. Er wandte den Blick ab. Du bist ein Narr, alter Mann.
Coltaine ergriff das Wort. »Hauptmann Lull.«
»Faust?«
»Sind die Wagen bereit?«
»Jawohl, Faust. Sie kommen gerade heran.«
Coltaine nickte. »Historiker.«
»Faust?«
Der Wickaner drehte sich langsam um und sah Duiker an. »Ich gebe Euch Nil und Neder mit, dazu eine Truppe aus Mitgliedern aller drei Clans. Hauptmann, hat Kommandant Bult den Verwundeten Bescheid gesagt?«
»Jawohl, Faust, und sie haben Euer Angebot abgelehnt.«
Für einen kurzen Augenblick spannte sich die Haut um Coltaines Augen an, dann nickte er langsam.
»Genau wie«, fuhr Lull fort und sah dabei Duiker an, »Korporal List.«
»Ich muss zugeben«, sagte die Faust seufzend, »dass diejenigen aus meinem Volk, die ich für diese Aufgabe ausgesucht habe, nicht besonders begeistert sind – aber sie werden ihrem Kriegshäuptling nicht den Gehorsam verweigern. Historiker, Ihr werdet das Kommando führen, wie Ihr es für angebracht haltet. Ihr habt nur eine einzige Aufgabe: Bringt die Flüchtlinge nach Aren.«
Und so ist es schließlich dazu gekommen. »Faust – «
»Ihr seid Malazaner«, unterbrach ihn Coltaine. »Haket Euch an die vorgeschriebenen Verhaltensmaßregeln.«
»Und wenn wir verraten werden?«
Der Wickaner lächelte. »Dann werden wir alle uns hier beim Vermummten versammeln. Wenn diese Geschichte ein Ende haben muss, dann sollte es angemessen sein.«
»Haltet aus, so lange Ihr könnt«, flüsterte Duiker. »Wenn es sein muss, ziehe ich Pormqual die Haut vom Gesicht und gebe den Befehl durch seine Lippen – «
»Überlasst die Hohefaust der Imperatrix – und ihrer Mandata.«
Der Historiker griff nach dem Glasfläschchen um seinen Hals.
Coltaine schüttelte den Kopf. »Dies ist Eure Geschichte, Historiker, und gerade jetzt ist niemand wichtiger als Ihr. Und wenn Ihr Dujek eines Tages begegnen solltet, dann sagt ihm dies: Es sind nicht die Soldaten des Imperiums, die zu verlieren die Imperatrix sich nicht erlauben kann, es ist die Erinnerung.«
Eine Truppe Wickaner kam auf sie zugeritten. Sie führten Ersatzpferde am Zügel – unter ihnen Duikers treue Stute. Hinter ihnen tauchten die ersten Wagen mit den Flüchtlingen aus dem Staub auf, und an einer Seite warteten drei zusätzliche Wagen, bewacht von Nil und Neder, wie Duiker sehen konnte.
Der Historiker holte tief Luft. »Was Korporal List betrifft – «
»Er wird sich nicht umstimmen lassen«, unterbrach ihn Hauptmann Lull. »Er hat mich darum gebeten, Euch seine Abschiedsworte mitzuteilen, Duiker. Ich glaube, er hat irgendwas von einem Geist auf seiner Schulter gemurmelt – was auch immer das bedeuten mag –, und dann hat er gesagt: ›Sagt dem Historiker, dass ich meinen Krieg gefunden habe.‹«
Coltaine blickte zur Seite, als ob diese Worte zu ihm durchgedrungen wären – etwas, was alle anderen Worte bisher nicht vermocht hatten. »Hauptmann, gebt den Kompanien Bescheid: Wir greifen in einer Stunde an.«
Angreifen! Beim Atem des Vermummten! Duiker fühlte sich in seinem eigenen Körper unbeholfen, seine Hände hingen wie Bleiklumpen an seiner Seite, als hätte die Frage, was er mit seinem eigenen Fleisch und Blut tun sollte – was er im nächsten Augenblick tun sollte –, ihn in eine Krise gestürzt.
»Euer Pferd ist da, Historiker«, hörte er Lulls Stimme.
Bebend stieß Duiker die Luft aus. Er drehte sich zu dem Hauptmann um und schüttelte langsam den Kopf. »Historiker? Nein. Vielleicht werde ich in einer Woche wieder ein Historiker sein. Aber in diesem Augenblick und angesichts dessen, was geschehen wird …« Er schüttelte ein zweites Mal den Kopf. »Mir fällt nichts ein, wie ich jetzt genannt werden sollte.« Er lächelte. »Ich glaube, ›alter Mann‹ genügt vollauf – «
Duikers Lächeln schien Lull aus der Fassung zu bringen. Der Hauptmann wandte sich an Coltaine. »Faust, dieser Mann hier hat das Gefühl, er hat keinen Titel. Er hat für sich ›alter Mann‹ ausgewählt.«
»Eine armselige Wahl«, sagte der Wickaner grollend. »Alte Männer sind weise – keine Narren.« Er warf Duiker einen finsteren Blick zu. »Kein einziger der Menschen, die Euch kennen, hat ein Problem damit, wer oder was Ihr seid. Wir kennen Euch als Soldat. Ist diese Bezeichnung eine Beleidigung für Euch, mein Herr?«
Duiker kniff die Augen zusammen. »Nein. Zumindest glaube ich es nicht.«
»Bringt die Flüchtlinge in Sicherheit, Soldat.«
»Jawohl, Faust.«
Die namenlose Seesoldatin meldete sich zu Wort. »Ich habe etwas für dich, Duiker.«
Lull grunzte. »Was denn, hier?«
Sie gab ihm einen Fetzen Stoff. »Warte eine Weile, bevor du liest, was darauf steht. Bitte.«
Er konnte nur nicken, als er den Fetzen in seinen Gürtel stopfte. Er schaute die drei Menschen an, die ihm gegenüberstanden, und wünschte sich, auch Bult und List wären hier gewesen. Doch es würde keinen inszenierten Abschied geben, nicht den Trost, in eine Rolle zu schlüpfen. Wie alles andere war auch dieser Augenblick schmutzig, unangenehm und unvollkommen.
»Steigt auf Eure dürre Mähre«, sagte Lull. »Und bleibt aus dem Blickfeld des Vermummten, mein Freund.«
»Das wünsche ich Euch auch, euch allen.«
Coltaine zischte und drehte sich nach Norden um. Er bleckte die Zähne. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich, Duiker. Wir haben vor, uns einen blutigen Pfad zu bahnen … dem Bastard genau in den Rachen.«
Duiker ritt an der Spitze des Flüchtlingstrecks, flankiert von Nil und Neder; sie hielten auf den Stamm auf dem Hügelkamm zu. Die wickanischen Vorreiter und diejenigen, die die Wagen bewachten, die direkt vor ihnen rollten, waren alle noch sehr jung -Jungen und Mädchen, die noch ihre ersten Waffen trugen. Ihre gemeinsame Empörung darüber, von ihren Clans weggeschickt zu werden, zeigte sich in ihrem wütenden Schweigen.
Und doch, wenn sich Coltaine in diesem Spiel geirrt hat, werden sie diese Waffen noch einmal schwingen … ein letztes Mal.
»Da kommen zwei Reiter«, sagte Nil.
»Das ist ein gutes Zeichen«, grunzte Duiker, während er die beiden Reiter musterte, die sich im leichten Galopp näherten. Beide waren schon älter, ein Mann und eine Frau, schlank und wettergegerbt; ihre Hautfarbe unterschied sich kaum von ihrer Wildlederkleidung. Scharf gekrümmte Schwerter hingen jeweils unter dem linken Arm, und verzierte eiserne Helme bedeckten ihre Köpfe. Ihre Augen wurden von stabilen Wangenschützern eingerahmt.
»Bleib hier, Nil«, sagte Duiker. »Neder, komm bitte mit mir.« Er trieb sein Pferd vorwärts.
Sie trafen sich gleich jenseits der vordersten Wagen und zügelten die Pferde, als sie nur noch wenige Schritte voneinander entfernt waren.
Duiker sprach als Erster. »Dies sind die vertraglich anerkannten Gebiete der Kherahn Dhobri. Das malazanische Imperium hält sich an alle derartigen Verträge. Wir ersuchen darum, dieses Land durchqueren zu dürfen – «
Die Frau starrte die Wagen an. »Wie viel?«, schnappte sie in akzentfreiem Malazanisch.
»Eine Sammlung unter allen Soldaten der Siebten«, sagte Duiker. »In Imperialen Münzen hat sie einen Gesamtwert von einundvierzigtausend Silber-Jakatas – «
»Der Jahressold einer malazanischen Armee in Sollstärke«, sagte die Frau finster. »Das war keine ›Sammlung‹. Wissen Eure Soldaten, dass Ihr ihnen ihren Sold gestohlen habt, um Euch den Weg freizukaufen?«
Duiker blinzelte, dann sagte er sanft: »Die Soldaten haben darauf bestanden, Älteste. Dies war wirklich eine Sammlung.«
Neder meldete sich zu Wort. »Von den drei wickanischen Clans gibt es eine zusätzliche Bezahlung: Schmuck, Kochgeschirre, Felle, Filzballen, Hufe, Nägel und Leder, und eine Anzahl von Münzen, die wir auf unserer langen Reise von Hissar hierher erbeutet haben. Zusammen haben sie einen Wert von beinahe siebenunddreißigtausend Silber-Jakatas. Alles freiwillig gegeben.«
Die Frau schwieg längere Zeit, dann sagte ihr Begleiter etwas in seiner eigenen Sprache zu ihr. Sie schüttelte zur Antwort den Kopf, und der Blick aus ihren matten, graubraunen Augen suchte erneut den Historiker. »Und mit diesem Angebot wollt Ihr die Durchreise für diese Flüchtlinge, für die wickanischen Clans und für die Siebte erkaufen.«
»Nein, Älteste. Nur für die Flüchtlinge – und diese paar Wachen, die Ihr hier seht.«
»Wir lehnen das Angebot ab.«
Lull hatte Recht, sich vor diesem Augenblick zu fürchten. Verdammt - »Es ist zu viel«, sagte die Frau. »Der Vertrag mit der Imperatrix ist sehr eindeutig.«
Duiker wusste nicht recht, was er sagen sollte, und zuckte die Schultern. »Dann vielleicht einen Teil – «, begann er.
»Was bedeutet, dass ihr den Rest nach Aren bringen werdet, wo es nutzlos gehortet wird, bis Korbolo Dom die Tore zerschmettert, und so werdet ihr ihn am Ende für das Privileg, euch abschlachten zu dürfen, auch noch bezahlen.«
»Dann wollen wir euch mit dem Rest als Eskorte anheuern«, sagte Neder.
Duikers Herzschlag geriet ins Stolpern.
»Bis zu den Toren der Stadt? Das ist zu weit. Wir werden euch bis zu dem Dorf Baiahn geleiten, bis zum Anfang der Straße, die als Arenweg bekannt ist. Doch auch dann bleibt noch etwas übrig. Wir werden euch Lebensmittel verkaufen, und euch heilen, soweit es notwendig ist und die Fähigkeiten unserer Pferdefrauen dafür ausreichen.«
»Eurer Pferdefrauen?«, fragte Neder und zog die Brauen hoch.
Die Älteste nickte.
Neder lächelte. »Die Wickaner sind sehr erfreut, die Kherahn Dhobri kennen zu lernen.«
»Dann kommt mit euren Leuten her.« Die beiden ritten zurück zu ihren Stammesangehörigen. Duiker schaute ihnen einen Augenblick nach, dann wendete er sein Pferd und stellte sich in den Steigbügeln auf. Im Norden, über dem Sanimon, hing eine Staubwolke. »Neder, kannst du Coltaine eine Botschaft schicken?«
»Ich kann ihm Wissen übermitteln, ja.«
»Dann tu das. Sag ihm, er hatte Recht.«
Das Gefühl erwachte langsam, als würde die Erkenntnis von einem Körper aufsteigen, den alle schon für kalt, für einen Leichnam gehalten hatten, und allmählich die Luft erfüllen. Gesichter nahmen einen ungläubigen Ausdruck an, als die schützenden Barrieren der Betäubung nur zögernd preisgegeben wurden. Die Abenddämmerung brach herein und hüllte das Lager von dreißigtausend Flüchtlingen in zwei Arten von Stille – die Stille des Landes und des Nachthimmels mit seinen wie Glassplitter glitzernden Sternen, und die Stille der Menschen selbst. Mürrisch dreinblickende Kherahn Dhobri schritten zwischen ihnen einher, doch ihre Gaben und Gesten straften ihren Gesichtsausdruck und ihre Zurückhaltung Lügen. Und es war, als ob sie überall, wohin sie kamen, auch eine Art von Erlösung brachten.
Duiker saß im dichten Gras unter dem glitzernden Nachthimmel und lauschte den Schreien, die die Nacht zerschnitten und sein Herz schwer machten. Freude mischte sich mit dunkler, brennender Qual, wortlosem Kreischen und hemmungslosem Schluchzen. Ein Fremder hätte glauben können, dass irgendetwas Entsetzliches das Lager heimsuchte, ein Fremder hätte die Erlösung nicht verstanden, die der Historiker hörte, die Laute, auf die seine eigene Seele mit brennendem Schmerz antwortete, sodass er die Sterne anblinzelte, die vor seinen Augen am Himmel verschwammen.
Die Erlösung, die aus der Errettung geboren wurde, war dennoch schmerzhaft, und Duiker wusste nur zu gut, warum, wusste nur zu gut, was sich von Norden her näherte – eine Unmenge von Tatsachen, denen man nicht entfliehen konnte. Irgendwo dort draußen in der Dunkelheit stand eine Mauer aus menschlichen Leibern in zerfetzten Rüstungen, die Korbolo Dom noch immer trotzten, die diese schreckliche Rettung erkauft hatten und immer noch erkauften. Vor diesem Wissen konnte man nicht davonlaufen.
Nicht weit von ihm raschelte das Gras, und dann spürte er, wie eine vertraute Gestalt sich neben ihm hinhockte.
»Wie geht es Coltaine?«, fragte Duiker.
Neder seufzte. »Die Verbindung ist abgebrochen«, sagte sie.
Der Historiker versteifte sich. Es dauerte ein Weilchen, ehe er zitternd die Luft ausstieß. »Dann ist er tot?«
»Wir wissen es nicht. Nil versucht es weiter, aber ich fürchte, dass unsere Blutsbande nicht ausreichen, so erschöpft wie wir sind. Wir haben keinen Todesschrei gespürt, und das hätten wir ziemlich sicher getan, Duiker.«
»Vielleicht ist er gefangen genommen worden.«
»Vielleicht. Historiker, wenn Korbolo Dom morgen hier auftaucht, werden diese Kherahn für unsere Abmachung teuer bezahlen. Und sie sind vielleicht auch nicht genug, um … um – «
»Neder?«
Sie ließ den Kopf hängen. »Es tut mir Leid, ich kann mir nicht die Ohren zuhalten – sie machen sich vielleicht selbst etwas vor. Selbst wenn wir es bis Balahn, bis zum Arenweg schaffen, sind es von dort immer noch drei Längen bis zur Stadt.«
»Ich teile deine Befürchtungen. Aber das da drüben – nun, es sind die freundlichen Gesten, siehst du das nicht? Keiner von uns kann sich dagegen wehren.«
»Die Erlösung kommt zu früh, Duiker!«
»Möglicherweise, aber wir können verdammt noch mal nichts dagegen tun.«
Plötzlich hörten sie Stimmen hinter sich. Sie drehten sich um. Eine Gruppe von Gestalten näherte sich ihnen aus Richtung des Lagers. Ein gezischelter Streit war im Gange, der jedoch schnell beigelegt wurde, als die Gruppe herankam.
Duiker stand langsam auf, Neder tat es ihm nach.
»Ich will doch hoffen, dass wir nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen sind«, rief Nethpara mit öliger Stimme.
»Ich würde vorschlagen«, sagte der Historiker, »dass sich der Rat für die Nacht zurückzieht. Morgen wartet ein langer Tag auf uns alle – «
»Und genau das ist der Grund, warum wir hier sind«, warf Pullyk Alar hastig ein.
»Diejenigen von uns, die noch immer über ein gewisses Maß an Wohlstand verfügen«, erklärte Nethpara, »waren in der Lage, den Kherahn frische Pferde für unsere Kutschen abzukaufen.«
»Wir wollen jetzt gleich aufbrechen«, fügte Pullyk Alar hinzu. »Das heißt, unsere kleine Gruppe hier, und uns so schnell wie möglich nach Aren begeben – «
»Wo wir darauf bestehen werden, dass die Hohefaust Truppen losschickt, um Euch und den Rest zu beschützen«, ergänzte Nethpara.
Duiker starrte die beiden Männer an, ließ dann seine Blicke über das Dutzend Gestalten hinter ihnen wandern. »Wo ist Tumlit?«, fragte er.
»Ach, er ist leider vor drei Tagen gestürzt und weilt nicht mehr unter den Lebenden. Wir alle bedauern sein Dahinscheiden zutiefst.«
Ganz bestimmt. »Euer Vorschlag hat einiges für sich, ist aber abgelehnt.«
»Aber – «
»Nethpara, wenn Ihr jetzt aufbrecht, löst Ihr eine Panik aus, und das können wir uns nicht erlauben. Nein, Ihr werdet mit dem Rest von uns reisen und Euch damit begnügen, dass Ihr der erste Flüchtling sein werdet, der an der Spitze des Trecks durch die Tore von Aren fährt.«
»Das ist eine Ungeheuerlichkeit!«
»Geht mir aus den Augen, Nethpara, sonst beende ich das, was ich an der Furt über den Vathar begonnen habe.«
»Oh, glaubt bloß nicht, dass ich das auch nur einen Moment vergessen hätte, Historiker!«
»Noch ein weiterer Grund, Euer Ersuchen abzulehnen. Kehrt zu euren Kutschen zurück, schlaft ein bisschen – wir haben morgen einen harten Tag vor uns.«
»Mit Sicherheit!«, zischte Pullyk Alar. »Korbolo Dom ist noch längst nicht fertig mit uns! Jetzt, wo Coltaine tot ist und seine Armee mit ihm, sollen wir unser Leben diesen stinkenden Nomaden anvertrauen? Und dann endet ihr Geleit auch noch drei Längen vor Aren! Ihr schickt uns alle in den Tod!«
»Ja«, grollte Duiker. »Alle, oder keinen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Geht!«
»Oho, haltet Ihr Euch jetzt schon für die Wiedergeburt dieses verfluchten wickanischen Hundes?« Er griff nach dem Rapier in seinem Gürtel. »Ich fordere Euch zu einem Duell – «
Das Schwert des Historikers war nur ein verschwommener Schemen, dann knallte die flache Seite der Klinge gegen Pullyk Alars Schläfe. Der Adlige stürzte zu Boden.
»Ich soll der wiedergeborene Coltaine sein?«, flüsterte Duiker. »Nein, ich bin nur ein Soldat.«
Neder betrachtete den schlaff daliegenden Körper. »Euer Rat wird teuer dafür bezahlen müssen, wenn Ihr wollt, dass er geheilt wird, Nethpara.«
»Ich denke, ich hätte fester zuschlagen und Euch das Geld sparen können«, murmelte Duiker. »Und jetzt geht mir aus den Augen. Alle!«
Die Adligen hoben ihren bewusstlosen Sprecher auf und zogen sich zurück.
»Neder, sorg dafür, dass die Wickaner sie im Auge behalten.«
»Ja, Historiker.«
Das Dorf Balahn war eine verwahrloste Ansammlung von niedrigen Lehmziegelhäusern. Es bot vielleicht vierzig Bewohnern eine Heimstatt, doch waren die schon vor Tagen geflohen. Das einzige Gebäude, das nicht mindestens ein Jahrhundert alt war, war der malazanische Torbogen, der den Beginn des Arenwegs kennzeichnete, einer breiten, erhöhten Militärstraße, die auf Dassem Ultors Befehl schon frühzeitig während der Eroberung des Reichs der Sieben Städte gebaut worden war.
Tiefe Gräben flankierten den Arenweg, und dahinter waren hohe Erdwälle mit flacher Kuppe, auf denen auf seiner ganzen Länge von zehn Meilen Zedern in zwei exakt ausgerichteten Reihen wuchsen, die man von Geleen am Ufer der Clatar-See hierher verpflanzt hatte. Auf dem großen freien Platz vor dem Torbogen gesellte sich die Sprecherin der Kherahn zu Duiker und den beiden Waerlogas. »Wir haben die Bezahlung erhalten, und alle Vereinbarungen zwischen uns sind eingehalten worden.«
»Wir danken Euch, Älteste«, sagte der Historiker.
Sie zuckte die Schultern. »Ein einfaches Geschäft, Soldat. Worte des Dankes sind unnötig.«
»Das stimmt. Sie sind nicht nötig, trotzdem wollen wir Euch unseren Dank ausdrücken.«
»Dann will ich ihn gern annehmen.«
»Die Imperatrix wird hiervon Kenntnis erhalten, Älteste, in ehrerbietigster Weise.«
Bei diesen Worten wandte sie den Blick ab. Sie zögerte kurz und sagte dann: »Soldat, eine große Streitmacht nähert sich von Norden – unsere Nachhut hat die Staubwolke gesehen. Sie kommen rasch näher.«
»Oh, ich verstehe.«
»Vielleicht schaffen es ein paar von euch.«
»Wir werden versuchen, dafür zu sorgen, dass es ein paar mehr werden.«
»Soldat?«
»Ja, Älteste?«
»Seid Ihr sicher, dass sich Arens Tore für euch öffnen werden?«
Duiker stieß ein raues Lachen aus. »Darüber mache ich mir erst Gedanken, wenn wir dort sind.«
»In Euren Worten liegt Weisheit.« Sie nickte, griff nach den Zügeln. »Lebt wohl, Soldat.«
»Lebt wohl.«
Kaum fünf Minuten später zogen die Kherahn Dhobri davon; in ihrer Mitte rollten unter schwerer Bewachung die Wagen. Duiker betrachtete das, was er von dem Flüchtlingstreck sehen konnte, der weit über die ausgefransten Ränder des Dorfes hinausreichte.
Er hatte ein beschwerliches, mörderisches Tempo vorgelegt, einen Tag und eine Nacht mit nur kurzen Ruhepausen, und die Flüchtlinge hatten samt und sonders verstanden, was das zu bedeuten hatte:
dass sie erst dann in Sicherheit sein würden, wenn sie sich innerhalb der befestigten Wälle Arens befänden.
Noch drei Längen – wir werden bis zur Morgendämmerung brauchen, um die Stadt zu erreichen. Jede Meile, die ich sie zu hart vorwärts treibe, macht die nächste langsamer. Doch habe ich eine Wahl? »Nil, gebt euren Wickanern Bescheid – ich will, dass der gesamte Treck vor Sonnenuntergang das Tor passiert hat. Eure Krieger sollen zu allen Mitteln greifen, um das zu erreichen, außer die Leute zu töten oder zu verkrüppeln. Die Flüchtlinge haben vielleicht vergessen, wie viel Angst sie vor euch haben – dann erinnert sie daran.«
»Es sind nur knapp dreißig«, erinnerte ihn Neder. »Und es sind alles nur jugendliche – «
»Zornige Jugendliche, wolltest du sagen. Nun gut, geben wir ihnen etwas, an dem sie ihren Zorn auslassen können.«
Der Arenweg machte es ihnen etwas leichter, denn das erste Drittel, das die Einheimischen als ›Die Rampe‹ bezeichneten, führte sanft abwärts der Ebene entgegen, in der Aren lag. Kegelförmige Hügel begleiteten sie im Osten, und das würde so bleiben, bis sie nur noch tausend Schritte von Arens Nordmauer entfernt waren. Die Hügel waren nicht natürlichen Ursprungs; es waren Massengräber, Dutzende von ihnen, die aus der Zeit Kellanveds stammten, von jenem Gemetzel, das die irregeleiteten T’lan Imass unter den Bewohnern der Stadt angerichtet hatten. Der Hügel, der Aren am nächsten lag, war einer der größten. Er beherbergte die Überreste der herrschenden Familien der Stadt, ihres Heiligen Beschützers und des Falah’d.
Duiker befahl Nil, die Vorhut anzuführen, und ließ sich ans hinterste Ende des Trecks zurückfallen, wo er, Neder und drei andere Wickaner sich die Lungen aus dem Hals brüllten, um den Schwächsten und Langsamsten der Flüchtlinge Beine zu machen. Es war eine herzzerreißende Aufgabe, und sie ließen mehr als einen Leichnam zurück, der der Anstrengung nicht mehr gewachsen gewesen war. Es war keine Zeit, die Leichen zu begraben, und niemand hatte die Kraft, sie mitzuschleppen.
Im Norden – leicht nach Osten versetzt – kamen die Staubwolken unaufhaltsam näher. »Sie nehmen nicht die Straße«, keuchte Neder, als sie ihr Pferd herumwarf und die Staubwolke anstarrte. »Sie kommen über Land – da sind sie langsamer, viel langsamer – «
»Auf der Karte sieht es aber kürzer aus«, bemerkte Duiker.
»Aber die Hügel sind dort nicht eingezeichnet, oder?«
»Nein. Karten, die nicht aus dem Imperium stammen, zeigen nur die Ebene. Ich nehme an, die Grabhügel sind zu neu.«
»Man sollte eigentlich annehmen, dass Korbolo Dom eine malazanische Karte hätte – «
»Es sieht aber nicht so aus – und das wird uns möglicherweise retten, Mädchen …«
Er konnte selbst hören, dass seine Worte falsch klangen. Der Feind war zu nahe – er schätzte, dass er kaum noch eine Meile entfernt war. Auch wenn man die Grabhügel in Betracht zog, konnten berittene Truppen eine solche Distanz in ein paar Dutzend Minuten zurücklegen.
Von der Vorhut hörte er schwache wickanische Schlachtrufe.
»Sie haben Aren gesichtet«, sagte Neder. »Nil hat es mir durch seine Augen gezeigt – «
»Und die Tore?«
Sie runzelte die Stirn. »Sind geschlossen.«
Duiker fluchte. Er lenkte sein Pferd zu den Nachzüglern hinüber. »Die Stadt ist in Sicht!«, brüllte er. »Es ist nicht mehr weit! Bewegt euch!«
Von irgendwoher, aus verborgenen, unsichtbaren Quellen, erwachten bei den Worten des Historikers neue Kräfte. Zunächst spürte er es nur, doch dann konnte er auch sehen, wie eine wellenförmige Bewegung durch die Massen lief, eine leichte Beschleunigung des Schritts, ein Gefühl der Erwartung – und der Furcht. Der Historiker drehte sich im Sattel um.
Die Staubwolke hing über den kegelförmigen Hügeln. Sie war näher gerückt, jedoch noch nicht so nah, wie sie es eigentlich hätte sein müssen.
»Neder! Sind Soldaten auf den Wällen von Aren?«
»Ja. Da ist kein Zoll mehr frei – «
»Und die Tore?«
»Nein.«
»Wie nah ist die Vorhut dran?«
»Vielleicht noch tausend Schritte – die Menschen fangen jetzt an zu rennen – «
»Was im Namen des Vermummten ist mit denen los?«
Er starrte erneut zu der Staubwolke zurück. »Bei Feners Huf! Neder, nimm eure Wickaner – reitet nach Aren!«
»Aber was ist mit dir?«
»Um mich kann sich der Vermummte kümmern, verdammt! Geh! Rettet die Kinder eures Volkes!«
Sie zögerte einen Augenblick und riss dann ihr Pferd herum. »Ihr drei!«, rief sie den wickanischen Jungen und Mädchen zu, »kommt mit!«
Er schaute ihnen nach, wie sie ihre müden Pferde am Straßenrand vorwärts trieben und an den stolpernden, taumelnden Flüchtlingen vorbeijagten.
Der Treck hatte sich in die Länge gezogen; die etwas Leichtfüßigeren rannten immer weiter vorneweg. Um den Historiker herum waren hauptsächlich ältere Flüchtlinge, für die jeder Schritt ein qualvoller Kampf war. Viele blieben einfach stehen und setzten sich auf die Straße, um das Unausweichliche zu erwarten. Duiker brüllte sie an, drohte ihnen, doch es hatte keinen Zweck. Er sah ein Kind, das kaum älter als achtzehn Monate sein konnte; es wanderte verloren durch die Menge, mit ausgestreckten Armen, trockenen Augen und beängstigend still.
Duiker ritt zu ihm hin, beugte sich aus dem Sattel und nahm das Kind auf den Arm. Winzige Händchen krallten sich in die Fetzen seines Hemds.
Eine letzte Reihe von Gräbern trennte ihn und das Ende des Flüchtlingszugs jetzt noch von der Armee der Verfolger.
Die Flucht war nicht langsamer geworden; das war für den Historiker der einzige Hinweis, dass die Tore schließlich doch noch geöffnet worden waren, um die Flüchtlinge einzulassen. Entweder das, oder sie verteilen sich in verzweifelten, hoffnungslosen Wogen entlang der Mauer – aber nein, das wäre ein Verrat, der dem Wahnsinn gleichkäme -
Und jetzt konnte er es selbst sehen, in tausend Schritte Entfernung: Aren. Das Nordtor, flankiert von gewaltigen Türmen, klaffte drei Viertel seiner Höhe weit offen – das letzte, unterste Viertel war eine brodelnde Masse aus Gestalten, die stießen und drängten und in ihrer Panik übereinander hinwegkletterten. Doch die Macht der Flutwelle war zu groß, zu unaufhaltsam, um den Durchgang zu verstopfen. Aren verschluckte die Flüchtlinge wie ein gigantischer Rachen. Die Wickaner ritten auf beiden Seiten, verzweifelt darum bemüht, den Strom aus Menschenleibern unter Kontrolle zu halten, und Duiker konnte jetzt erkennen, dass sich auch Soldaten in der Uniform der Stadtgarde von Aren unter sie gemischt hatten, um ihnen zu helfen.
Und die Armee? Was ist mit der Armee der Hohefaust?
Die Soldaten standen auf den Wällen. Sie schauten zu. Reihe um Reihe von Gesichtern; Gestalten, die entlang der gesamten Länge der Nordmauer um einen Aussichtspunkt rangelten. Einzelne, protzig gekleidete Personen standen auf den Plattformen der beiden Türme, die das Tor flankierten, blickten auf den ausgehungerten, verwahrlosten, schreienden Mob hinab, der sich durch das Stadttor drängte.
Plötzlich waren Angehörige der Stadtgarde unter den letzten Flüchtlingen, die noch vorwärts taumelten. Um sich herum sah Duiker Soldaten mit grimmigen Gesichtern, die Flüchtlinge auf den Rücken nahmen und mit ihnen auf das Tor zurannten. Duiker entdeckte einen Gardisten mit den Insignien eines Hauptmanns und lenkte sein Pferd zu dem Mann hinüber.
»Ihr da! Nehmt dieses Kind!«
Der Mann hob die Arme und nahm das stumme Kleinkind mit den großen Augen behutsam entgegen. »Seid Ihr Duiker?«, fragte der Hauptmann.
»Ja.«
»Ihr sollt Pormqual unverzüglich Bericht erstatten, mein Herr – die Hohefaust ist dort drüben, auf dem linken Turm.«
»Der Bastard wird warten müssen«, grollte Duiker. »Ich gehe erst, wenn auch der letzte verdammte Flüchtling durch dieses Tor da verschwunden ist! Und jetzt bewegt Euch, Hauptmann, aber sagt mir zuerst Euren Namen, denn es ist gut möglich, dass die Mutter oder der Vater dieses Kindes noch am Leben ist.«
»Ich heiße Keneb, Herr, und ich werde bis dahin auf den kleinen Schatz hier aufpassen, das schwöre ich.« Der Mann zögerte einen Augenblick und packte Duiker dann mit einer Hand am Handgelenk. »Herr …«
»Was ist?«
»Es … es tut mir Leid, Herr.«
»Eure Loyalität hat der Stadt zu gelten, die zu verteidigen Ihr geschworen habt, Hauptmann – «
»Das weiß ich, Herr, aber diese Soldaten da, auf den Wällen – sie sind so nah dran, wie sie dürfen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Und sie sind nicht glücklich darüber.«
»Das geht nicht nur ihnen so. Und jetzt macht, dass Ihr loskommt, Hauptmann.«
Duiker war der Letzte. Als sich der Torgang schließlich leerte, befand sich kein Flüchtling, der noch atmete, mehr außerhalb der Wälle, abgesehen von jenen, die er ein Stück entfernt auf der Straße sehen konnte; sie hockten noch immer auf den Pflastersteinen, unfähig, sich zu bewegen, und taten ihre letzten Atemzüge – sie waren zu weit weg, um sie zu retten, und es war ganz klar, dass die Soldaten der Stadtgarde eindeutige Befehle erhalten hatten, wie weit sie sich vom Tor entfernen durften.
Dreißig Schritte vor dem Tor und einer Phalanx von Soldaten, die in der Öffnung standen und ihn beobachteten, zog Duiker sein Pferd ein letztes Mal herum. Er starrte nach Norden, zuerst zu der Staubwolke, die jetzt den letzten, größten Grabhügel herunterkam, und dann an ihr vorbei, auf den leuchtenden Speer, der den Wirbelwind symbolisierte. Sein geistiges Auge wanderte noch viel weiter, nach Norden und Osten, über Flüsse, über Ebenen und Steppen, zu einer Stadt an einer anderen Küste. Doch die Anstrengung half ihm wenig. Es war zu viel, um es zu begreifen, und das Ende dieser außergewöhnlichen Reise, die solche seelischen Narben zurückgelassen hatte, war zu rasch, zu plötzlich gekommen.
Eine Kette aus Leichnamen, die sich über Hunderte von Längen erstreckt. Nein, es liegt alles hinter mir, hinter uns allen, wie ich jetzt glaube …
Er wendete sein Pferd, musterte das weit offen stehende Tor und die dort versammelten Wachen. Sie wichen zurück, um ihm einen Pfad frei zu machen. Duiker drückte seiner Stute die Fersen in die Flanken.
Er beachtete die Soldaten auf den Wällen nicht – nicht einmal, als sie einen triumphierenden Schrei ausstießen, der an ein entfesseltes wildes Tier erinnert.
Schatten flossen in stummen Wogen über die kahlen Hügel. Apt hatte das glitzernde Auge dem Horizont zugewandt, ließ den Blick eine ganze Weile an der dünnen Linie entlangschweifen; dann senkte die Dämonin den länglichen Kopf und schaute auf den Jungen hinab, der neben ihrem Vorderbein hockte.
Auch er musterte die unheimliche Landschaft der Schatten-Sphäre; sein eines, aus unzähligen Facetten bestehendes Auge glänzte unter den vorstehenden Brauenwülsten.
Nach einem langen Augenblick hob er den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. »Mutter«, fragte er, »ist dies hier unser Zuhause?«
Aus einer Entfernung von einem Dutzend Schritten erklang eine Stimme. »Mein Kollege unterschätzt die natürlichen Einwohner dieser Sphäre immer wieder. Ah, da ist das Kind.«
Der Junge drehte sich um und sah zu, wie der große, schwarz gekleidete Mann näher kam. »Apt«, fuhr der Fremde fort, »dein großzügiges Formen dieses jungen Burschen – egal, wie gut es auch gemeint gewesen sein mag – wird ihm in den kommenden Jahren nichts, anderes bringen als innere Narben.«
Apt klickte und zischte eine Antwort.
»Ah, aber du hast das Gegenteil davon erreicht, meine Teure«, sagte der Mann. »Denn jetzt gehört er zu keiner von beiden.«
Die Dämonin sprach erneut.
Der Mann neigte den Kopf, musterte sie ein Weilchen und lächelte dann halbherzig. »Das ist ziemlich dreist von dir.« Er richtete den Blick auf den Jungen. »Nun gut.« Er hockte sich hin. »Hallo.«
Scheu erwiderte der Junge den Gruß.
Der Mann warf Apt einen letzten verärgerten Blick zu und streckte die Hand aus. »Ich bin … Onkel Cotillion – «
»Das kann nicht sein«, sagte der Junge.
»Oho. Und warum nicht?«
»Eure Augen – sie sind anders – so klein … zwei, die darum kämpfen, wie eines zu sehen. Ich glaube, sie sind ziemlich schwach. Als Ihr hergekommen seid, seid Ihr durch eine Steinmauer und dann durch die Bäume gelaufen, und Ihr habt die Geisterwelt gekräuselt, als wüsstet Ihr nicht, dass sie ein Recht hat, hier zu sein.«
Cotillions Augen weiteten sich. »Mauer? Bäume?« Er warf einen Blick auf Apt. »Hat er den Verstand verloren?«
Die Dämonin antwortete ihm ausführlich.
Cotillion erbleichte. »Beim Atem des Vermummten!«, murmelte er schließlich, und als er sich wieder dem Kind zuwandte, zeigte sein Gesicht einen Anflug von Ehrfurcht. »Wie heißt du, mein Junge?«
»Panek.«
»Dann hast du also einen Namen. Sag mir, woran du dich im Zusammenhang mit der anderen Welt erinnerst – außer an deinen Namen?«
»Ich erinnere mich, dass ich bestraft wurde. Sie hatten mir gesagt, ich sollte dicht bei Vater bleiben – «
»Und wie hat dein Vater ausgesehen?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich an kein einziges Gesicht erinnern. Wir haben gewartet und uns gefragt, was sie wohl mit uns machen würden. Aber dann sind wir – die Kinder – weggebracht worden. Soldaten haben meinen Vater geschlagen und ihn in die entgegengesetzte Richtung weggeführt. Ich hätte dicht bei ihm bleiben sollen, aber ich bin mit den Kindern gegangen. Sie haben mich bestraft – haben alle Kinder bestraft –, weil wir nicht getan haben, was man uns gesagt hatte.«
Cotillion kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, dein Vater hatte keine große Wahl, Panek.«
»Aber die Feinde waren auch Väter, versteht Ihr? Und Mütter und Großmütter – und sie waren alle so furchtbar wütend auf uns. Sie haben uns unsere Kleider weggenommen. Unsere Sandalen. Sie haben uns alles weggenommen … sie waren so wütend. Und dann haben sie uns bestraft.«
»Und wie haben sie das gemacht?«
»Sie haben uns an Kreuze genagelt.«
Cotillion schwieg längere Zeit. Als er schließlich wieder sprach, klang seine Stimme merkwürdig gepresst. »Du erinnerst dich also daran.«
»Ja. Und ich verspreche zu tun, was man mir sagt. Von jetzt an. Alles was Mutter sagt. Ich verspreche es.«
»Panek. Jetzt hör deinem Onkel einmal gut zu. Ihr seid nicht dafür bestraft worden, dass ihr nicht das getan habt, was man euch gesagt hatte. Hör zu – ich weiß, dass das jetzt ziemlich hart ist, aber versuch, es zu verstehen. Sie haben euch wehgetan, weil sie es tun konnten, weil niemand da war, der in der Lage gewesen wäre, sie daran zu hindern. Dein Vater hätte es versucht – ich bin sicher, dass er es versucht hat. Aber er war hilflos – genau wie du. Wir haben dich jetzt mit hierher genommen, weil wir – deine Mutter und Onkel Cotillion – dafür sorgen wollen, dass du nie wieder hilflos bist. Hast du das verstanden?«
Panek warf seiner Mutter einen Blick zu. Sie klickte sanft.
»In Ordnung«, sagte der Junge.
»Wir werden einander lehren, mein Junge.«
Panek runzelte die Stirn. »Was kann ich Euch denn lehren?«
Cotillion schnitt eine Grimasse. »Lehr mich, was du siehst … hier, in dieser Sphäre. Deine Geisterwelt, die Schatten-Veste, die es früher
hier gegeben hat, die alten Orte, die es noch gibt …«
»Das, wo du hindurchgehst, ohne es zu sehen.«
»Ja. Ich habe mich oft gefragt, warum die Hunde niemals geradeaus laufen.«
»Was für Hunde?«
»Du wirst ihnen früher oder später begegnen, Panek. Verschmuste Köter, alle miteinander.«
Panek lächelte, entblößte dabei scharfe Fänge. »Ich mag Hunde.«
Cotillion zuckte leicht zusammen. »Ich bin sicher, sie werden dich auch mögen«, sagte er. Er richtete sich auf, schaute Apt an. »Du hast Recht, das kannst du nicht allein. Ammanas und ich, wir werden darüber nachdenken.« Er wandte sich noch einmal dem Jungen zu. »Deine Mutter hat jetzt andere Aufgaben. Sie muss Schulden abtragen. Willst du mit ihr gehen oder lieber mit mir kommen?«
»Wo gehst du hin, Onkel?«
»Die anderen Kinder sind ganz in der Nähe von hier abgelegt worden. Hättest du Lust, mir dabei zu helfen, sie dorthin zu bringen, wo sie in Zukunft wohnen werden?«
Panek zögerte kurz, bevor er erwiderte: »Ich würde sie gern wiedersehen, aber nicht jetzt gleich. Ich werde mit Mutter gehen. Sie muss sich um den Mann kümmern, der sie darum gebeten hat, uns zu retten – das hat sie mir erklärt. Ich würde ihn gern kennen lernen. Mutter sagt, er träumt von mir, davon, wie er mich das erste Mal gesehen hat.«
»Ich bin mir sicher, dass er das tut«, murmelte Cotillion. »Hilflosigkeit quält ihn genauso wie mich. Nun gut, dann bis wir uns wieder sehen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit noch einmal der Dämonin zu, starrte lange in Apts Auge. »Als ich aufgestiegen bin, meine Teure, ging es auch darum, den Albträumen zu entfliehen, die Gefühle mit sich bringen …«Er zog eine Grimasse. »Stell dir vor, wie überrascht ich bin, dass ich dir jetzt für solche Ketten danken möchte.«
Panek mischte sich ein. »Onkel, hast du Kinder?«
Der Aufgestiegene zuckte zusammen, schaute weg. »Eine Tochter, in gewisser Weise.« Er seufzte, lächelte schief. »Ich fürchte, wir haben uns zerstritten.«
»Du musst ihr verzeihen.«
»Verdammter Klugscheißer!«
»Du hast gesagt, wir müssen einander lehren, Onkel.«
Cotillions Augen weiteten sich. Dann schüttelte er den Kopf. »Leider muss das mit dem Verzeihen andersrum laufen.«
»Dann muss ich sie kennen lernen.«
»Nun, es ist alles möglich – «
Apt meldete sich zu Wort.
Cotillion machte ein finsteres Gesicht. »Das, Teuerste, war völlig unangebracht.« Er drehte sich um, zog seinen Umhang um sich und schritt davon.
Nach einem halben Dutzend Schritten blieb er stehen und warf einen Blick zurück. »Grüßt Kalam von mir.« Einen Augenblick später wurde er von Schatten eingehüllt.
Panek starrte noch immer hinter ihm her. »Glaubt er etwa, dass man ihn jetzt nicht mehr sehen kann?«, fragte er seine Mutter.
Die eingefettete Ankerkette rasselte, glitt hinunter in das schwarze, ölige Wasser, und dann kam die Lumpenpfropf im Hafen von Malaz zur Ruhe, knapp hundert Schritte von den Docks entfernt. Ein paar trübgelbe Lichtflecken kennzeichneten die Hafenstraße der Unterstadt, wo alte Lagerhäuser, baufällige Schenken, Gasthäuser und Mietskasernen dem Pier gegenüberlagen. Im Norden lag die Anhöhe, auf der die Kaufleute und Adligen der Stadt wohnten – die größeren Herrenhäuser grenzten an die Klippe und die Treppen, die sich in Serpentinen zu Mocks Feste emporwanden. In der alten Festung brannten nur einige wenige Lichter, obwohl Kalam ein Banner schwer im Wind flattern sehen konnte; es war zu dunkel, um seine Farben zu erkennen.
Beim Anblick des Banners durchlief ihn der Schauer einer bösen Vorahnung. Jemand ist hier … jemand Wichtiges.
Hinter ihm war die Mannschaft an der Arbeit. Die Männer murmelten vor sich hin. Sie waren verärgert, dass sie erst so spät angekommen waren, weil sie um diese Zeit nicht mehr unverzüglich ins Hafenviertel gehen konnten, um etwas zu unternehmen. Der Hafenmeister würde bis zum morgigen Tag warten, ehe er herausgerudert käme, um das Schiff zu inspizieren und sich zu vergewissern, dass die Seeleute gesund waren – dass sie keine Infektionen oder Ähnliches einschleppen würden.
Nur wenige Minuten zuvor war der unmelodische Schlag der Mitternachtsglocke erklungen. Salk Elan hat richtig geschätzt, verdammt soll er sein. Dieser Halt in Malaz war niemals geplant gewesen. Kalam hatte ursprünglich vorgehabt, in Unta auf Fiedler zu warten, wo sie die letzten Einzelheiten ihres Plans ausarbeiten wollten. Der Schnelle Ben hatte darauf bestanden, dass der Sappeur die Verbindung benutzen sollte, die das Totenhaus ermöglichte, obwohl er sich wie üblich nur in vagen Andeutungen ergangen hatte. Kalam hatte begonnen, die Möglichkeit, die das Totenhaus bot, mehr als potenziellen Fluchtweg zu sehen, falls alles schief ging – und auch dann nur als wirklich allerletzten Ausweg. Er hatte die Azath niemals gemocht, hatte kein Vertrauen in etwas, das so gütig wirkte. Freundliche Fallen waren immer viel tödlicher als streitlustige.
Hinter ihm herrschte jetzt Stille, und der Assassine wunderte sich einen Augenblick darüber, wie schnell die Männer eingeschlafen waren, die überall auf dem Hauptdeck verstreut lagen. Die Lumpenpfropf lag still, bis auf die typischen Geräusche, die das Tauwerk und der Rumpf von sich gaben. Kalam lehnte an der Reling des Vorderdecks, den Blick auf die Stadt und auf die dunklen Umrisse der Schiffe an ihren Liegeplätzen gerichtet. Der Imperiale Pier lag zu seiner Rechten, wo die Klippe bis hinunter zum Meer reichte. Dort drüben war kein Schiff zu sehen.
Er erwog kurz, noch einmal zu dem Banner über der Feste hinaufzuschauen, doch der Aufwand erschien ihm zu groß – es war sowieso zu dunkel –, und seine Vorstellungskraft wurde ohnehin immer davon befeuert, dass er sich den ungünstigsten Fall ausmalte.
Jetzt drangen von weiter draußen in der Bucht Geräusche an sein Ohr. Ein anderes Schiff, das sich in der Dunkelheit seinen Weg suchte, eine weitere Ankunft zu später Stunde.
Der Assassine schaute auf seine Hände hinab, die auf der Reling ruhten. Sie fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem, die glatte, dunkelbraune Haut, die etwas helleren Narben, die hier und da zu sehen waren – als wären sie nicht seine eigenen, sondern die Opfer eines anderen Willens.
Er schüttelte das Gefühl ab.
Die Gerüche der Inselstadt trieben zu ihm heran. Der übliche Gestank eines Hafens: Abwasser und moderndes, brackiges Seewasser, vermischt mit dem stechenden Hauch von dem träge dahinfließenden Fluss, der in die Bucht mündete. Kalams Blicke konzentrierten sich erneut auf das dunkle, zahnstumpfige Grinsen der Gebäude entlang des Hafens. Ein paar Blocks weiter landeinwärts stand, wie er wusste, in einer verwahrlosten Ecke inmitten von Mietskasernen und Fischständen das Totenhaus. Von allen Bewohnern der Stadt totgeschwiegen und gemieden, und dem äußeren Anschein nach völlig verlassen, mit seinem überwucherten Hof und seinen von Weinreben umrankten schwarzen, grob behauenen Steinen. Aus den weit offen stehenden Fenstern der Zwillingstürme fiel niemals Licht.
Wenn jemand es schaffen kann, dann Fiedler. Der Bastard war schon immer was Besonderes. Sein ganzes Lehen lang Sappeur, wie’s aussieht, mit dem sechsten Sinn eines Sappeurs. Was würde er sagen, wenn er jetzt neben mir stehen würde? ›Das gefällt mir nicht. Kal. Irgendwas stimmt hier nicht. Nimm die Hände von der Reling …‹
Kalam runzelte die Stirn, blickte hinunter auf seine Hände, wollte sie hochheben.
Nichts geschah.
Er versuchte, einen Schritt zurückzutreten, doch seine Muskeln weigerten sich zu gehorchen, waren seinen Befehlen gegenüber taub. Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus; auf seinen Handrücken bildeten sich kleine Tröpfchen.
Neben ihm erklang eine sanfte Stimme. »Was für eine Ironie, mein Freund. Denn du solltest wissen, dass es dein Verstand ist, der dich betrügt. Der Furcht erregende, tödliche Verstand des Assassinen Kalam Mekhar.« Salk Elan lehnte sich neben Kalam an die Reling, musterte die Stadt. »Du solltest wissen, dass ich dich lange Zeit bewundert habe. Du bist eine verdammte Legende, der beste Attentäter, den die Klaue je gehabt hat – und den sie verloren hat. Ah, und es ist die Tatsache, dass sie dich verloren hat, die am meisten an uns nagt. Wenn du gewollt hättest, Kalam, dann hättest du jetzt die ganze Organisation befehligen können – oh, Topper dürfte anderer Meinung sein, und er ist dir in vielerlei Hinsicht auch überlegen, das versichere ich dir. Er hätte mich schon am ersten Tag getötet, egal, wie unsicher er sich darüber gewesen wäre, was für ein Risiko ich vielleicht darstelle. Doch auch wenn dem so ist«, fuhr Salk Elan nach einer kurzen Pause fort, »Messer gegen Messer bist du der Bessere, mein Freund.
Ich habe hier noch eine weitere Ironie des Schicksals für dich, Kalam. Ich war nicht im Reich der Sieben Städte, weil ich dich gesucht habe – um die Wahrheit zu sagen, wir haben gar nicht gewusst, dass du dort bist. Das habe ich erst erfahren, als ich einer gewissen Roten Klinge begegnet bin. Sie war dir schon seit Ehrlitan gefolgt, lange bevor du Sha’ik das Buch übergeben hast – hast du eigentlich gewusst, dass du die Roten Klingen geradewegs zu der Hexe geführt hast? Hast du gewusst, dass es ihnen gelungen ist, sie zu töten? Tatsächlich wäre die Rote Klinge noch immer an meiner Seite, wenn es in Aren nicht einen unglücklichen Zwischenfall gegeben hätte. Außerdem ziehe ich es vor, allein zu arbeiten.
Salk Elan ist ein Name, auf den ich zugegebenermaßen stolz bin. Doch hier und jetzt gebietet meine Eitelkeit natürlich, dass du meinen richtigen Namen erfahren sollst. Er lautet Perl.« Er machte eine Pause, blickte sich um und seufzte. »Einmal hast du mich tatsächlich aus der Fassung gebracht, mit diesem hinterhältigen Hinweis, dass sich in deinem Gepäck möglicherweise der Schnelle Ben versteckt. Da wäre ich beinahe in Panik geraten, bis mir klar geworden ist, dass ich schon lange tot gewesen wäre, wenn der Schnelle Ben wirklich an Bord gewesen wäre. Er hätte mich längst durchschaut und den Haien zum Fraß vorgeworfen.
Du hättest die Klaue niemals verlassen dürfen, Kalam. Wir können mit Zurückweisung nicht besonders gut umgehen. Du solltest wissen, dass die Imperatrix dich sehen will, dass sie tatsächlich mit dir sprechen will – bevor sie dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen lassen wird, wie ich annehme. Doch leider sind die Dinge nicht immer so einfach, wie du sicher weißt.
Und deshalb …«
Kalam konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass der Mann einen Dolch zog. »Du weißt doch von diesen unabänderlichen Gesetzen innerhalb der Klaue. Da gibt es eines, das du sehr gut kennst, da bin ich ganz sicher …«
Die Klinge grub sich tief in Kalams Seite. Der Schmerz war gedämpft, schien von weither zu kommen. »Oh, dieser Stich war nicht tödlich; du wirst nur eine Menge Blut verlieren. Es geht darum, dich zu schwächen, wenn du es so sehen willst. Hast du nicht auch das Gefühl, dass es in Malaz heute Nacht sehr ruhig ist? Nun, das ist nicht überraschend – es liegt etwas in der Luft –, jeder Taschendieb, jedes Gassenkind, jeder Schläger kann es spüren, und sie haben alle die Köpfe eingezogen. Drei Hände warten auf dich, Kalam, und sie sind ganz wild darauf, die Jagd zu beginnen. Das unabänderliche Gesetz, Kalam … die Klaue kümmert sich selbst um ihresgleichen.«
Hände packten den Assassinen. »Du wirst dich wieder bewegen können, sowie du die Wasseroberfläche berührst, mein Freund. Zugegeben, es ist ein ganz schönes Stück zu schwimmen, vor allem, wenn man wie du eine Rüstung trägt. Und das Blut macht die Sache auch nicht einfacher – diese Bucht ist für ihre Haie berüchtigt, stimmt’s? Aber ich habe großes Vertrauen zu dir, Kalam. Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Zumindest bis ans Ufer. Danach allerdings …«
Kalam spürte, wie er hochgehoben und über die Reling geschoben wurde. Er starrte auf das schwarze Wasser hinab.
»Es ist schon verdammt schade um den Kapitän und seine Mannschaft«, keuchte Perl dicht an seinem Ohr. »Aber du wirst sicher verstehen, dass ich keine andere Wahl habe. Und jetzt – leb wohl, Kalam Mekhar.«
Der Assassine tauchte mit einem leisen Platschen ins Wasser. Perl starrte hinunter, während sich das Wasser wieder beruhigte. Sein Vertrauen in Kalam geriet ins Wanken. Schließlich trug der Assassine ein Kettenhemd. Dann zuckte er die Schultern, zog ein Paar kurzer, scharfer Dolche und drehte sich zu den reglosen Gestalten auf dem Hauptdeck um. »Leider gibt es für einen guten Mann immer etwas zu tun«, sagte er zu sich selbst und machte ein paar Schritte vorwärts.
Der schemenhafte Umriss, der genau vor ihm aus den Schatten auftauchte, war groß, knochig und hatte schwarze Gliedmaßen. Ein einzelnes Auge glomm in dem langschnäuzigen Schädel, und hinter diesem Auge war schwach ein Reiter zu erkennen, dessen Gesicht aussah wie die Parodie des Angesichts seines Reittiers.
Perl trat einen Schritt zurück, lächelte. »Oh, eine Gelegenheit, euch für eure Bemühungen gegen die Semk zu danken. Ich weiß nicht, woher ihr damals gekommen seid, noch kann ich mir vorstellen, wie ihr jetzt hierher gekommen seid, oder warum, doch nehmt bitte meinen aufrichtigen Dank – «
»Kalam«, flüsterte der Reiter. »Eben war er noch hier.«
Perl kniff die Augen zusammen. »Ah, jetzt verstehe ich. Ihr seid gar nicht mir gefolgt, stimmt’s? Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir! Nun, um deine Frage zu beantworten, mein Kind, Kalam ist in die Stadt gegangen – «
Der Sprung des Dämons schnitt ihm die weiteren Worte ab. Perl duckte sich unter den zuschnappenden Kiefern weg und wurde dafür von dem herumschwingenden Vorderbein erwischt. Die Wucht des Hiebes schleuderte die Klaue zwanzig Fuß durch die Luft und gegen ein Beiboot. Ein stechender Schmerz durchzuckte Perl – er hatte sich bei dem Aufprall die Schulter ausgerenkt. Er rollte sich ab, zwang sich in eine sitzende Position und starrte der Dämonin entgegen, die auf ihn zukam.
»Wie ich sehe, habe ich meinen Meister gefunden«, flüsterte Perl.
»Nun gut.« Er griff unter sein Hemd. »Versucht’s doch mal mit dem da.«
Das kleine Fläschchen zerbrach zwischen ihnen auf den Decksplanken. Rauchschwaden blähten sich auf, begannen zu verschmelzen.
»Der Kenryl Pah sieht so aus, als brenne er auf einen Kampf, meint ihr nicht auch? Nun – «, er mühte sich auf die Beine, »ich denke, ich überlasse euch das Feld. Es gibt da eine ganz bestimmte Taverne in Malaz, die ich schon immer für mein Leben gern mal sehen wollte.«
Er gestikulierte, und ein Gewirr öffnete sich, wogte über ihn hinweg – und als es sich wieder schloss, war Perl fort.
Apt sah zu, wie der Imperiale Dämon langsam Gestalt annahm; die Kreatur war doppelt so groß wie sie, ungeschlacht und tierisch.
Das Kind beugte sich nach vorn und stupste Apts Schulterblatt an. »Wir sollten sehen, dass wir mit dem da schnell fertig werden, ja?«
Eine Serie von Erschütterungen und das Geräusch von berstendem Holz weckten den Kapitän. Er blinzelte in die Dunkelheit, während die Lumpenpfropf’ wild schwankte. Von Deck ertönten Schreie. Ächzend kämpfte sich der Kapitän aus der Koje; er verspürte eine Klarheit in seinen Gedanken, wie er sie seit Monaten nicht mehr gekannt hatte – eine Freiheit, zu tun und zu denken, was er wollte, die ihm unzweideutig sagte, dass Perls Bann verschwunden war.
Mühsam schwankte er zur Kajütentür. Seine Beine waren schwach, weil er sie so lange nicht benutzt hatte, doch er tappte weiter in den Gang hinaus.
Als er auf das Deck stieg, fand er sich inmitten einer Gruppe hingekauerter Seeleute wieder. Direkt vor ihnen kämpften zwei schreckliche Kreaturen gegeneinander; die größere der beiden war eine einzige Masse aus zerfetztem Fleisch, die keine Chance gegen die blitzschnellen Bewegungen ihres Gegners hatte. Ihre wilden Attacken mit einer gewaltigen Doppelaxt hatten das Deck und die Reling zu Brei geschlagen. Ein Hieb hatte den Mast durchtrennt, und wenn er auch stehen blieb, weil er sich irgendwo weiter oben in Tauwerk verheddert hatte, neigte er sich doch gefährlich zur Seite, und sein Gewicht ließ das Schiff zu dieser Seite krängen.
»Kapitän!«
»Lass die Jungs die Beiboote klarmachen, die noch zu gebrauchen sind, Palet, und zieht euch nach achtern zurück – wir werden sie von dort zu Wasser lassen.«
»Jawohl, Kapitän!« Der amtierende Erste Offizier stieß ein paar Befehle aus, dann drehte er sich wieder um und grinste den Kapitän an. »Ich bin froh, dass Ihr wieder Ihr selbst seid, Carther – «
»Halt’s Maul, Palet – das da draußen ist Malaz, und ich bin schon Vorjahren ertrunken, wie du dich vielleicht erinnerst …«Er blinzelte zu den beiden kämpfenden Dämonen hinüber. »Die Lumpenpfropf wird diesen Kampf nicht überstehen – «
»Aber die Ladung – «
»Zum Vermummten damit! Wir können sie später immer noch heben – dafür müssen wir allerdings am Leben bleiben. Komm, lass uns bei den Beibooten selbst mit anpacken – wir machen Wasser und fangen schon an zu sinken.«
»Beru hilf! Die See wimmelt von Haien!«
Fünfzig Schritte weiter draußen standen der Kapitän des schnellen Handelsschiffs und sein Erster Offizier an Deck und versuchten auszumachen, wo der Lärm herkam, der auf einen gewaltigen Tumult hindeutete.
»Ruder volle Kraft zurück«, befahl der Kapitän. »Bringt das Schiff zum Stillstand.«
»Jawohl, Kapitän.«
»Das Schiff da vorn geht unter. Stellt Rettungsmannschaften zusammen, lasst die Beiboote zu Wasser – «
Pferdehufe dröhnten auf dem Hauptdeck hinter ihnen. Beide Männer drehten sich um. Der Erste Offizier machte einen Schritt vorwärts. »He, du da! Im Namen Maels, was glaubst du eigentlich, was du da tust? Wie hast du das verdammte Pferd überhaupt an Deck bekommen?«
Die Frau zog den Sattelgurt noch ein Loch enger und schwang sich dann in den Sattel. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »aber ich kann nicht warten.«
Matrosen und Seesoldaten stoben fluchtartig zur Seite, als sie das Pferd vorwärts trieb. Das Tier setzte über die Reling und verschwand in der Dunkelheit. Einen Augenblick später war ein lautes Platschen zu hören.
Der Erste Offizier drehte sich mit offenem Mund zu seinem Kapitän um.
»Holt den Schiffsmagier und eine Ziege«, schnappte der Kapitän.
»Kapitän?«
»Jemand, der tapfer und dumm genug ist, so etwas zu tun, was diese Frau gerade getan hat, verdient all unsere Unterstützung. Der Schiffsmagier soll ihr einen Weg durch die Haie und alles andere bahnen, was sie sonst noch erwarten mag. Und jetzt beeilt Euch!«