Kapitel Zwei
Die Zeitalter enthüllten die Heilige Wüste.
Einst war die Raraku ein ockergelbes Meer.
Stolz wie ein Turm stand sie im Wind
und sah uralte Flotten -
Schiffe aus Knochen, Segel aus gebleichtem Haar,
jagten über die Wogenkämme
dorthin, wo das Wasser
unter den Sand der Wüste schlüpfte,
die dort eines Tages sein würde.
Die Heilige Wüste
Anonym
Eine Gruppe wilder weißer Ziegen stand am Rande des Tels, der als Salmon bekannt war; deutlich hoben sie sich vor einem erstaunlich blauen Himmel ab. Aus Marmor gehauenen Tiergöttern gleich schauten sie zu, wie sich der von einer gewaltigen Staubwolke umgebene riesige Treck durch das Tal wand. Dass es genau sieben waren, war ein Omen, das Duiker sehr wohl auffiel, während er mit einer Patrouille aus Wickanern vom Tollhund-Clan an der südlichen Flanke des Trecks entlangritt.
Neunhundert Schritt hinter dem Historiker marschierten fünf Kompanien der Siebten – etwas weniger als eintausend Soldaten –, während in noch einmal der gleichen Entfernung dahinter eine weitere Patrouille aus zweihundertfünfzig Wickanern ritt. Die drei Einheiten bildeten die südliche Flankendeckung der nun beinahe fünfzigtausend Flüchtlinge – und des Viehs –, aus denen der größte Teil des Trecks bestand. Die nördliche Flanke wurde durch ähnliche Truppen gesichert. Ein innerer Ring aus loyalen Hissari-Fußsoldaten und Lulls Seesoldaten zog sich an den Rändern der Kolonne entlang – sie schritten Seite an Seite mit den unglücklichen Zivilisten dahin.
Eine Nachhut aus tausend Wickanern aller drei Clans ritt in der Staubfahne des Trecks mehr als eine Zweidrittel-Länge östlich von Duikers Position. Obwohl sie in kleinste Einheiten von einem Dutzend Reitern oder weniger aufgeteilt waren, konnten sie ihre Aufgabe unmöglich erfüllen. Wieder und wieder zwickten Tithansi-Reiter den arg malträtierten Schwanz des Flüchtlings-Trecks und verwickelten die Wickaner pausenlos in Scharmützel. Das Ende von Coltaines Zug war eine blutende Wunde, die niemals dazu kam, zu heilen.
Die Vorhut der Flüchtlinge bestand aus den überlebenden Einheiten der zur Siebten gehörenden mittelschweren Kavallerie – alles in allem etwas mehr als zweihundert Reiter. Davor befanden sich die malazanischen Adligen in ihren Kutschen und Wagen, auf beiden Seiten von jeweils zehn Kompanien Infanterie der Siebten flankiert. Nahezu tausend weitere Soldaten der Siebten – die Verwundeten, die gehen konnten – bildeten noch einmal eine Vorhut für die Adligen. Vor ihnen rollten die Wagen mit den Feldschern und den schwerer verwundeten Soldaten. Coltaine und tausend Reiter seines Krähen-Clans bildeten die Speerspitze des gesamten Trecks.
Doch es waren einfach zu viele Flüchtlinge und zu wenig einsatzfähige Kämpfer. Trotz aller Bemühungen der Malazaner schlugen die Stoßtrupps Kamist Reloes immer wieder blitzschnell wie Vipern zu und richteten großes Unheil an. Ein neuer Kommandeur war zu Reloes Armee der Apokalypse gestoßen, ein namenloser Kriegshäuptling der Tithansi, der die Aufgabe hatte, dem Treck, der sich mühsam westwärts wand wie eine blutende, zerschlagene Schlange, die sich zu sterben weigerte, Tag und Nacht zuzusetzen; dieser Kommandeur stellte mittlerweile die größte Bedrohung für Coltaine dar.
Ein langsames, genau bemessenes Gemetzel. Sie spielen mit uns. Der allgegenwärtige Staub hatte Duikers Kehle trocken und rau werden lassen, sodass jedes Schlucken zur Qual wurde. Wasser war inzwischen gefährlich knapp, die Erinnerung an den Sekala nur noch eine verdorrte Sehnsucht. Die nächtlichen Schlachtungen von Rindern, Schafen, Schweinen und Ziegen hatten zugenommen; die Tiere wurden von ihrem Leiden erlöst und geschlachtet, um dem Würze und Geschmack zu geben, was in den großen Kesseln brodelte und für alle zur Hauptverpflegung geworden war: Blut-Eintopf, Knochenmark und Hafer. Jede Nacht wurde das Lager zu einem Schlachthaus voller schreiender Tiere, und die Luft wimmelte von Rhizan und Kapmotten, die von den Schlachtplätzen wie magisch angezogen wurden. Die Kakophonie des Gebrülls und das Chaos, das mit jeder Abenddämmerung einsetzte, hatten Duikers Nerven blank gescheuert – und es ging nicht nur ihm so. Wahnsinn überschattete ihre Tage, und er hockte ihnen genauso unbarmherzig im Nacken wie Kamist Reloe und seine gewaltige Armee.
Korporal List ritt in betäubtem Schweigen an der Seite des Historikers; der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, seine Schultern hingen herab. Er schien vor Duikers Augen zu altern.
Die Welt war zusammengeschrumpft. Wir taumeln an sichtbaren und unsichtbaren Graten entlang. Wir sind geschwächt, aber immer noch trotzig. Wir haben das Gefühl für Zeit verloren. Unablässige Bewegung, nur unterbrochen von ihrer dumpfen Abwesenheit – der Schock der Ruhe, des Klangs der Hörner, deren Ruf vom Ende der Plackerei des Tages kündet. In jenem Augenblick wirbelt der Staub zwar weiter, aber kein Mensch bewegt sich. Alle stehen wir ungläubig da, dass ein weiterer Tag vergangen ist und wir immer noch am Leben sind.
Nachts wanderte er durch das Lager der Flüchtlinge, schritt zwischen den Reihen zerrissener Zelte, behelfsmäßiger Vorzelte und überdachter Wagen hindurch, und seine Augen sogen alles, was er sah, mit perverser Objektivität auf. Der Historiker, der jetzt ein Zeuge ist, und der in dem Glauben dahintorkelt, er würde überleben. Zumindest lange genug, um die Einzelheiten auf Pergament niederzuschreiben, in dem zerbrechlichen Glauben, dass die Wahrheit eine lohnenswerte Sache ist. Dass die Geschichte dieses Trecks eine Lektion wird, die beachtet wird. Ein zerbrechlicher Glaube? Eine glatte Lüge, ein Irrglaube der schlimmsten Sorte. Die Lektion, die uns die Geschichte erteilt, ist, dass niemand aus ihr lernt.
Kinder starben. Er hatte dagekauert, eine Hand auf der Schulter der Mutter, und hatte mit angesehen, wie das Leben in dem Säugling in ihrem Arm verebbte. Wie das Licht einer Öllampe, die schwächer und schwächer wird, bis sie schließlich erlischt. Und dann der Augenblick, wenn der Kampf bereits verloren ist und das kleine Herz langsamer wird, weil es die Niederlage begreift, und schließlich in stummer Verwunderung stehen bleibt. Und niemals wieder schlägt. Das war der Augenblick, da die große Leere in den Lebenden von einem Schmerz erfüllt wurde, der mit seinem Zorn auf diese Ungerechtigkeit alles zerstörte, was er berührte.
Er hatte die Tränen der Mutter nicht ertragen können und war weitergegangen. Unablässig umherwandernd, bedeckt mit Dreck, Schweiß und Blut, wurde er zu einer gespenstischen Erscheinung, einem selbst ernannten Paria. Er ging nicht mehr zu den nächtlichen Besprechungen in Coltaines Kommandozelt, obwohl es ihm ausdrücklich befohlen worden war. Nur von List begleitet ritt er mit den Wickanern an den Flanken und in der Nachhut; er marschierte mit der Siebten, mit den loyalen Hissari-Truppen, Lulls Seesoldaten, den Sappeuren, den Adligen und den Schmutz-Blutigen, wie die nichtadligen Flüchtlinge sich seit einiger Zeit nannten.
Er sprach wenig, und allmählich wurde er für alle zu einer gewohnten Erscheinung, sodass sie sich in seiner Gegenwart entspannten. Doch wie groß die Entbehrungen auch sein mochten, es schien immer noch genügend Kraft zu geben, um Meinungen auszutauschen.
Coltaine ist in Wirklichkeit ein Dämon, er ist ein böser Witz, den Laseen sich auf unsere Kosten erlaubt. Er steckt mit Kamist Reloe und Sha’ik unter einer Decke – dieser ganze Aufstand ist nichts weiter als eine raffinierte Scharade, denn in Wirklichkeit ist der Vermummte gekommen, um das Reich der Menschen in seine Arme zu schließen. Wir haben uns unserem Patron mit dem Totenschädel unterworfen, und als Gegenleistung für all das Blut, das vergossen wurde, werden Coltaine, Sha’ik und Laseen aufsteigen und an der Seite des Verhüllten stehen.
Der Vermummte offenbart sich im Flug der Kapmotten – er zeigt wieder und wieder sein Gesicht, grüßt jede Abenddämmerung mit einem hungrigen Grinsen am dunkler werdenden Himmel.
Die Wickaner haben einen Pakt mit den Erdgeistern geschlossen. Wir sind hier, um den Boden zu düngen …
Da bist du auf dem Holzweg, mein Freund. Wir sind ein Spielball für die Göttin des Wirbelwinds, sonst nichts. Wir sind eine Lektion, die beim Erzählen immer länger wird.
Der Rat der Adligen isst Kinder.
Wo hast du denn das gehört?
Jemand ist letzte Nacht zufällig in ein grässliches Fest geraten. Der Rat hat dunkle Alte Götter angefleht, weil seine Mitglieder fett bleiben - Weil sie was?
Weil sie fett bleiben wollen, habe ich gesagt. Und jetzt wandern nachts bestialische Geister durch das Lager und sammeln tote Kinder ein – oder solche, die dem Tod schon so nah sind, dass es praktisch keinen Unterschied macht, außer dass sie noch ein bisschen saftiger sind.
Du bist ja wahnsinnig geworden -
Er könnte aber auch Recht haben, mein Freund! Ich selbst habe heute Morgen einen ganzen Haufen abgenagter Knochen gesehen – keine Schädel, nur Knochen, aber die sahen fast wie die von Menschen aus, nur sehr klein. Was würdest du jetzt nicht alles für einen gerösteten Säugling geben, hä? Anstatt dem halben Becher mit braunem Matsch, den wir heutzutage bekommen?
Ich habe gehört, dass die Armee aus Aren nur noch wenige Tagemärsche entfernt ist; Pormqual selbst kommandiert sie. Und er hat auch noch eine ganze Legion Dämonen dabei …
Sha’ik ist tot. Ihr habt die Semk doch auch die ganze Nacht lang jammern und klagen gehört, oder? Und jetzt haben sie sich mit Fett und Asche eingeschmiert, tragen diese Schicht wie eine zweite Haut. Einer aus der Siebten hat mir erzählt, dass er bei dem Hinterhalt letzte Nacht – bei diesem Kampf an der ausgetrockneten Wasserstelle – einem Semk direkt gegenübergestanden hat. Und die Augen von diesem Semk sollen schwarze Löcher gewesen sein, so teilnahmslos wie staubige Steine. Selbst als der Soldat dem Burschen aufs Schwert gespuckt hat, sollen seine Augen völlig ausdruckslos geblieben sein. Ich sage euch, Sha’ik ist tot.
Ubaryd ist befreit worden. Wir werden in den nächsten Tagen nach Süden abbiegen, ihr werdet schon sehen. Das ist das einzig Sinnvolle. Westlich von hier ist nichts … überhaupt nichts …
Überhaupt nichts …
»Historiker!«
Der Schrei stammte von einem staubbedeckten Reiter, der sein Pferd auf Duiker zulenkte und sich an seine Seite schob. Der Historiker hatte den rauen falarischen Akzent sofort erkannt – es war Hauptmann Lull vom Cartheron-Flügel; die langen, roten Haare quollen in fettigen Strähnen unter dem Helm hervor. Der Historiker blinzelte ihn an.
Der bärtige Soldat grinste. »Man erzählt sich, dass Ihr Euch verlaufen habt, alter Mann.«
Duiker schüttelte den Kopf. »Ich folge dem Treck«, sagte er dumpf und rieb sich die Augen, die vom Staub brannten.
»Da draußen gibt es einen Kriegshäuptling der Tithansi, den wir finden und zur Strecke bringen müssen«, sagte Lull, während er den Historiker aus zusammengekniffenen Augen anstarrte. »Sormo und Bult haben eine Liste von Freiwilligen zusammengestellt, die sich darum kümmern sollen.«
»Ich werde sie pflichtbewusst in meiner Liste der Gefallenen aufführen.«
Der Hauptmann stieß zischend die Luft aus. »Beim Abgrund unter unseren Füßen, alter Mann, noch sind sie nicht tot – noch sind wir nicht tot, verdammt! Ach, was soll’s. Ich bin hier, um Euch mitzuteilen, dass Ihr Euch freiwillig gemeldet habt. Wir brechen heute Nacht zur zehnten Stunde auf. Sammeln uns zur neunten bei Nils Feuer.«
»Ich lehne das Angebot ab«, sagte Duiker.
Lull begann wieder zu grinsen. »Ersuchen abgelehnt. Ich soll an Eurer Seite bleiben, damit Ihr Euch nicht einfach davonmachen könnt.«
»Der Vermummte soll Euch holen, verdammter Bastard!«
»Na klar, das wird er auch in allernächster Zeit tun.«
Neun Tage bis zum P’atha. Wir gehen bis zum Äußersten, um jedes kleine Ziel zu erreichen. Dahinter steckt ein wahres Genie. Coltaine bietet uns das gerade noch Mögliche an, damit wir in unserer Verblendung versuchen, das Unmögliche zu erreichen. Den ganzen Weg nach Aren. Doch trotz all seines Ehrgeizes – wir werden scheitern. Wir werden auf der ganzen Linie scheitern. »Wenn wir diesen Kriegshäuptling töten, wird ein anderer seinen Platz einnehmen«, sagte Duiker nach einiger Zeit.
»Der aber möglicherweise nicht ganz so talentiert oder tapfer ist, wie er eigentlich sein müsste. Irgendwo tief in seinem Inneren wird er wissen: Wenn er allenfalls Mittelmaß ist, werden wir ihn wahrscheinlich am Leben lassen. Wenn er sich jedoch als überdurchschnittlich gut erweisen sollte, werden wir ihn töten.«
Ah, das klingt nach Coltaine. Seine genau gezielten Pfeile aus Furcht und Ungewissheit. Er hat noch nie sein Ziel verfehlt. Solange er nicht scheitert, kann er auch gar nicht scheitern. Der Tag, an dem er stolpert, an dem er die kleinste Schwäche zeigt, wird der Tag sein, an dem unsere Köpfe rollen. Noch neun Tage, dann gibt es wieder frisches Wasser. Tötet den Tithansi-Kriegshäuptling, und wir werden es dorthin schaffen. Lass sie tanzen, wenn sie siegen, lass sie Luft holen, wenn es Verluste gegeben hat – Coltaine dressiert sie, als ob sie Tiere wären, und sie merken es noch nicht einmal.
Hauptmann Lull beugte sich über sein Sattelhorn. »Korporal List, bist du wach?«
Der Kopf des jungen Mannes kam langsam hoch; wandte sich nach links und rechts.
»Verdammt sollt Ihr sein, Historiker«, grollte Lull. »Der Bursche hat Fieber vom Wassermangel.«
Duiker schaute den Korporal an; er konnte die hochrote Farbe unter den Staubstreifen auf Lists eingefallenen Wangen sehen, die viel zu blanken Augen. »Heute Morgen war er noch nicht so – «
»Das war vor elf Stunden!«
Elf Stunden?
Der Hauptmann lenkte sein Pferd zur Seite; seine Rufe nach einem Heiler zerrissen den Geräuschteppich, den Hufe, Wagenräder und unzählige Füße unaufhörlich woben – das Gemurmel des Trecks, das niemals endete.
Elf Stunden?
Tiere wechselten in den Staubwolken ihre Positionen. Lull kehrte zurück; an seiner Seite war Neder. Das Mädchen sah auf ihrem riesigen Rotschimmel beinahe winzig aus. Der Hauptmann griff nach den Zügeln von Lists Pferd und reichte sie Neder. Duiker blickte der kindlichen Wickanerin nach, als sie den Korporal davonführte.
»Am liebsten würde ich vorschlagen, dass sie sich hinterher um Euch kümmern soll«, sagte Lull. »Beim Atem des Vermummten, Mann – wann habt Ihr das letzte Mal einen Schluck Wasser getrunken?«
»Was für Wasser?«
»Wir haben immer noch ein paar Fässer für die Soldaten. Ihr könnt Euch jeden Morgen einen Schlauch holen, Historiker – dort, wo die Wagen mit den Verwundeten sind. Abends bringt Ihr den Schlauch dann zurück.«
»Aber in dem Eintopf ist doch Wasser, oder?«
»Nur Milch und Blut.«
»Aber wenn es noch Fässer für die Soldaten gibt, was ist dann mit all den anderen?«
»Die haben das, was sie vom Sekala mitnehmen konnten«, antwortete Lull. »Wir beschützen sie, klar, aber wir bemuttern sie nicht. Ich habe gehört, dass Wasser mittlerweile die gängige Währung ist, und der Handel ist ziemlich schwunghaft.«
»Kinder sterben.«
Lull nickte. »Das ist eine prägnante Zusammenfassung dessen, was das Menschengeschlecht ausmacht. Wer braucht schon mehrbändige Geschichtswerke? Kinder sterben. Alle Ungerechtigkeit der Welt liegt in diesen zwei Worten. Zitiert mich, Duiker, und Eure Arbeit ist getan.«
Der Bastard hat Recht. Volkswirtschaftslehre, Moral, die Spiele der Götter – all das steckt in dieser einen, traurigen Aussage. Ich werde dich zitieren, Soldat, da kannst du sicher sein. Ein altes Schwert, schartig und stumpf, das bis zum Herzen schneidet. »Ihr beschämt mich, Hauptmann.«
Lull grunzte, reichte Duiker einen Wasserschlauch. »Nur ein paar Schlucke! Trinkt nicht zu schnell, sonst kotzt Ihr alles wieder aus.«
Duikers Lächeln glich eher einer Grimasse.
»Ich vertraue darauf«, fuhr der Hauptmann fort, »dass Ihr diese Liste der Gefallenen, die Ihr erwähnt habt, immer auf dem neuesten Stand haltet.«
»Nein … ich fürchte, ich bin in letzter Zeit ins Stocken gekommen.«
Lull nickte knapp.
»Wie sieht es aus, Hauptmann?«
»Wir werden übel zugerichtet. Richtig übel. Jeden Tag haben wir ungefähr zwanzig Tote und doppelt so viel Verwundete. Sie sind wie Schlangen im Staub – sie tauchen plötzlich auf, Pfeile schwirren durch die Luft, ein Soldat stirbt. Wir schicken einen Trupp Wickaner los, die sich an die Verfolgung machen, und sie geraten in einen Hinterhalt. Wir schicken noch einen Trupp, und plötzlich haben wir ein richtig großes Durcheinander am Hals, und unsere Flanken sind zu beiden Seiten hin weit offen. Flüchtlinge werden niedergemäht, Viehtreiber werden aufgespießt, und wir verlieren noch ein paar Stück Vieh mehr – es sei denn, diese wickanischen Hunde sind in der Nähe; das sind üble Biester, das muss man sagen. Aber selbst die werden immer weniger.«
»Mit anderen Worten, es kann nicht mehr lange so weitergehen.«
Lull bleckte die Zähne; sie schimmerten weiß in seinem rotgrau gesprenkelten Bart. »Darum wollen wir uns diesen Kriegshäuptling schnappen. Wenn wir den P’atha erreichen, wird es wieder eine ausgewachsene Schlacht geben. Und er ist nicht dazu eingeladen.«
»Dann steht uns also noch eine Flussüberquerung bevor, bei der wir kämpfen müssen?«
»Nein. Der Fluss ist nur knöcheltief, und je weiter das Jahr voranschreitet, desto weniger Wasser führt er. Nein, eher schon auf der anderen Seite; der Weg führt durch ein raues Land, in dem uns mit Sicherheit Ärger erwartet. Wie auch immer, entweder wir können uns ein bisschen Luft verschaffen, oder wir sind nur noch Fleischfetzen in der Sonne und die ganze Geschichte spielt eh keine Rolle mehr.«
Die Hörner der Wickaner erklangen.
»Ah, wir haben’s geschafft«, sagte Lull. »Ruht Euch ein bisschen aus, alter Mann – wir suchen uns ein Fleckchen im Lager des Tollhund-Clans. Ich werde Euch in ein paar Stunden mit etwas zu essen aufwecken.«
»Dann zeigt mir, wo’s langgeht, Hauptmann.«
Die Meute wickanischer Hirtenhunde, die gerade noch um irgendetwas gestritten hatte, das man im hohen Gras nicht erkennen konnte, hielt inne und beäugte Duiker und Lull, die in einem Abstand von vielleicht zwanzig Schritt an ihnen vorbeigingen. Der Historiker blickte die drahtigen, scheckigen Tiere stirnrunzelnd an.
»Ihr solltet ihnen besser nicht in die Augen sehen«, sagte Lull. »Ihr seid kein Wickaner, und das wissen sie.«
»Ich habe mich gerade gefragt, was sie wohl fressen.«
»Nichts, worüber Ihr Genaueres herausfinden müsst.«
»Es hat Gerüchte gegeben … von Kindergräbern, die aufgegraben wurden …«
»Wie gesagt, Ihr wollt es bestimmt gar nicht wissen, Historiker.«
»Nun, ein paar von den mutigeren Schmutz-Blütigen haben sich angeboten, bei den Gräbern Wache zu stehen …«
»Wenn sie in ihrem Schmutz-Blut nicht auch ein paar Tropfen wickanisches Blut haben, dann könnten sie diese Entscheidung möglicherweise bereuen.«
Kaum waren die beiden Männer vorbei, begannen die Hunde, sich erneut zu streiten.
Im Lager vor ihnen flackerten Herdfeuer. Eine letzte Linie von Verteidigern patrouillierte an den runden Fellzelten entlang; es waren sehr alte und sehr junge Krieger, die eine schweigende, irgendwie unheilvolle Wachsamkeit an den Tag legten, die zu der der Hunde passte. Die beiden Männer schritten in die Enklave der Wickaner hinein.
»Ich habe so das Gefühl«, murmelte Duiker, »dass sich die Begeisterung dafür, die Flüchtlinge zu beschützen, bei diesen Leuten deutlich abgekühlt hat.«
Der Hauptmann schnitt eine Grimasse, sagte jedoch nichts.
Sie gingen weiter, folgten den gewundenen Gängen durch die Zeltreihen. Rauch hing schwer in der Luft, vermischte sich mit dem Geruch von Pferdepisse und gekochten Knochen; Letzterer war scharf, doch gleichzeitig auch merkwürdig süß. Duiker blieb stehen, als sie dicht an einer alten Frau vorbeikamen, die sich um so einen eisernen Topf voller Knochen kümmerte. Was auch immer in dem Topf kochte, es war nicht nur Wasser. Die Frau benutzte ein flaches Stück Holz, um das Fett und das Knochenmark abzuschöpfen, die sich auf der Oberfläche sammelten, und schabte es in ein Stück Darm, das später gedreht und zu Würsten abgebunden werden würde.
Die Alte bemerkte den Historiker und hielt den hölzernen Löffel in die Höhe – genauso, wie sie ihn einem Kleinkind hingehalten hätte, mit dem Angebot, ihn sauber zu lecken. In dem Fett waren Salbeistückchen zu erkennen; Duiker hatte dieses Kraut einst gemocht, mittlerweile hatte er es hassen gelernt, denn es war eines der wenigen, die auch in der Odhan wuchsen. Er lächelte und schüttelte den Kopf.
Als er Lull wieder eingeholt hatte, sagte der Hauptmann: »Ihr seid bekannt, alter Mann. Sie sagen, Ihr würdet in der Welt der Geister wandeln. Die alte Pferdefrau hätte nicht jedem etwas zu essen angeboten – zumindest mir nicht, das ist allemal sicher.«
Die Welt der Geister. Ja, ich bin dort gewandelt. Einmal. Aber ich will das nie wieder tun. »Ihr seht einen alten Mann in schmutzverkrusteten Lumpen vor Euch …«
»Ja, und er wurde von den Göttern berührt. Macht Euch nicht zu laut darüber lustig – es könnte eines Tages Eure Haut retten.«
Nils Feuer war – verglichen mit den anderen in Sichtweite – insofern einzigartig, als auf ihm kein Kochtopf stand, und es auch nicht von Gestellen voller getrockneter Fleischstreifen umgeben war. Der Dung, der in dem kleinen Kreis aus Steinen mit einer leicht bläulichen Flamme brannte, tat dies fast völlig rauchlos. Der junge Waerloga saß neben dem Feuer und war mit geschickten Händen dabei, Lederstreifen zu einer Art Peitsche zu flechten.
Vier von Lulls Seesoldaten hockten ganz in der Nähe; sie waren damit beschäftigt, ein letztes Mal ihre Waffen und ihre Rüstung zu überprüfen. Ihre Armbrüste waren frisch geschwärzt und dann mit fettigem Staub eingeschmiert worden, um jeden verräterischen Glanz zu verbergen.
Duiker erkannte mit einem Blick, dass er hart gesottene Soldaten -Veteranen – vor sich hatte; ihre Bewegungen waren sparsam, ihre Vorbereitungen verrieten langjährige Erfahrung. Keiner von ihnen – weder der Mann noch die drei Frauen – war unter dreißig, und niemand sagte etwas oder schaute auf, als sich ihr Hauptmann zu ihnen setzte.
Nil nickte Duiker zu, als der Historiker sich ihm gegenüber hinhockte. »Es verspricht eine kalte Nacht zu werden«, sagte der Junge.
»Hast du schon herausgefunden, wo sich dieser Kriegshäuptling aufhält?«
»Noch nicht ganz genau. Ich habe aber ein ungefähres Gebiet eingegrenzt. Möglicherweise verfügt er über ein paar einfache Schutzzauber, die ihn davor bewahren sollen, entdeckt zu werden – aber wenn wir erst näher an ihm dran sind, werden die ihm nichts mehr nützen.«
»Wie findest du jemanden, der sich nur durch seine oder ihre Fähigkeiten von seinen Stammesgenossen unterscheidet, Nil?«
Der junge Waerloga zuckte die Schultern. »Er hat … andere Zeichen hinterlassen. Wir werden ihn finden, das steht fest. Und dann sind die da an der Reihe …«Er nickte in Richtung der Seesoldaten. »Ich bin in den vergangenen Monaten hier auf dieser Ebene zu einer Erkenntnis gelangt, Historiker.«
»Und die wäre?«
»Der malazanische Berufssoldat ist die tödlichste Waffe, die ich kenne. Hätte Coltaine drei Armeen anstatt einer einzigen – die zudem nur über drei Fünftel ihrer Sollstärke verfügt –, dann würde er diese Rebellion niederschlagen, noch ehe das Jahr vorbei ist. Und zwar mit solcher Endgültigkeit, dass sich das Reich der Sieben Städte niemals mehr erheben würde. Selbst jetzt könnten wir Kamist Reloe zerschmettern – wenn nicht die Flüchtlinge wären, die zu schützen wir geschworen haben.«
Duiker nickte. Er wusste, dass die Worte des Waerloga den Tatsachen entsprachen.
Die Geräusche aus dem Lager erzeugten eine gedämpfte Illusion von Normalität; es war wie eine Umarmung von allen Seiten, die der Historiker beunruhigend fand. Allmählich verlor er die Fähigkeit, sich zu entspannen, wie er düster feststellte. Er nahm einen kleinen, dünnen Zweig und warf ihn ins Feuer.
Nil fing ihn mit einer Hand im Fluge ab. »Diesen nicht«, sagte er.
Ein anderer junger Waerloga tauchte auf; seine dünnen, knochigen Arme waren von den Handgelenken bis zu den Schultern von unzähligen Narben überzogen, die wie eine Schraffur wirkten. Er hockte sich neben Nil und spuckte einmal ins Feuer.
Es gab kein Zischen.
Nil richtete sich auf, legte die Lederriemen beiseite und warf Lull und seinen Soldaten einen Blick zu. Sie waren bereit.
»Ist es so weit?«, wollte Duiker wissen.
»Ja.«
Nil und der zweite Waerloga führten die Gruppe durch das Lager. Nur wenige Mitglieder ihres Clans blickten in ihre Richtung, und es dauerte ein paar Minuten, bis Duiker begriff, dass ihre anscheinend zufällige Gleichgültigkeit Absicht war; möglicherweise war es sogar eine Art, Respekt zu zeigen, die in ihrer Kultur vorgeschrieben war. Oder es ist was ganz anderes. Schauen heißt schließlich auch mit dem Geist berühren.
Sie erreichten den nördlichen Rand des Lagers. Nebel wallte jenseits der Weidenbarrieren über die Ebene. Duiker runzelte die Stirn. »Sie werden wissen, dass das nicht natürlich ist«, murmelte er.
Lull grunzte. »Wir haben natürlich ein Ablenkungsmanöver vorbereitet. Da draußen sind gerade drei Trupps Sappeure mit Säcken voller Scherzartikel …«
Er wurde von einer Detonation aus Richtung Nordosten unterbrochen, der ein Augenblick der Stille folgte, in dem schwache Schreie durch die verschleierte Dunkelheit tönten. Dann erschütterte eine rasche Abfolge von Explosionen die Nacht.
Der Nebel verschluckte die Blitze, doch Duiker erkannte das unverkennbare Geräusch von Splitterbomben und das mörderische Fauchen von Brandbomben. Noch mehr Schreie, und dann das Trommeln von Pferdehufen, die nach Nordosten strebten.
»Und jetzt warten wir, bis sich die Dinge wieder beruhigt haben«, sagte Lull.
Minuten vergingen, und die aus weiter Entfernung heranwehenden Schreie erstarben. »Hat Bult es eigentlich endlich geschafft, diesen Hauptmann der Sappeure aufzutreiben?«, fragte der Historiker schließlich.
»Ich habe sein Gesicht noch in keiner von den Quatschrunden gesehen, falls Ihr das wissen wolltet. Aber er ist hier. Irgendwo. Coltaine hat schließlich akzeptiert, dass der Mann schüchtern ist.«
»Schüchtern?«
Lull zuckte die Schultern. »Das sollte ein Witz sein, Historiker. Erinnert Ihr Euch noch daran, was Witze sind?«
Nil drehte sich zu ihnen um.
»Das war’s«, sagte der Hauptmann. »Kein Wort mehr.«
Ein halbes Dutzend wickanischer Wächter zogen die Pflöcke heraus, mit denen eine der Barrieren aus Weidenruten verankert worden war, und legten sie leise um. Ein dickes Fell wurde ausgerollt, um die unvermeidlichen Geräusche zu dämpfen, die sie machen würden, wenn sie darüber hinwegmarschierten.
Der Nebel jenseits der Barriere zerfiel in einzelne Schwaden. Eine dieser Wolken kam herangetrieben und ließ sich dann über der Gruppe nieder, hielt mit ihnen Schritt, als sie hinaus in die Ebene marschierten.
Duiker wünschte sich, er hätte vorher noch ein paar Fragen mehr gestellt. Wie weit war es zu den Außenposten des feindlichen Lagers? Wie wollten sie unentdeckt hindurchschleichen? Wie sah der Plan für den Rückzug aus, wenn irgendetwas schief gehen sollte? Er legte eine Hand an das Heft des kurzen Schwertes an seiner Hüfte und stellte erschrocken fest, wie fremd es sich anfühlte – es war verdammt lange her, seit er das letzte Mal eine Waffe benutzt hatte.
Aus den vordersten Linien herausgezogen zu werden war vor all den Jahren die Belohnung, die der Imperator mir gewährt hat. Das und die verschiedenen alchemistischen Mittelchen, die dafür sorgen, dass es mir immer noch gut geht, obwohl ich meine Jugend schon lange hinter mir habe. Ihr Götter, selbst die Narben von jenem letzten entsetzlichen Kampf sind verschwunden! »Niemand, der zwischen Schriftrollen und Büchern aufgewachsen ist, kann über die Welt schreiben«, hatte Kellanved einst zu ihm gesagt. »Und genau aus diesem Grund mache ich dich zum Imperialen Historiker, Soldat.«
»Aber ich kann weder lesen noch schreiben, Imperator.«
»Ein unbefleckter Geist. Sehr gut. Toc der Ältere wird dich in den nächsten sechs Monaten unterrichten – auch er ist ein Soldat mit Verstand. Aber merk dir, sechs Monate. Und nicht einen einzigen Tag mehr.«
»Imperator, mir scheint, dass er für diese Aufgabe viel besser geeignet wäre als ich …«
»Mit ihm habe ich etwas anderes vor. Tu was ich dir sage, oder ich lasse dich draußen auf der Stadtmauer aufspießen.«
Kellanveds Sinn für Humor war selbst in seinen besten Zeiten seltsam gewesen. Duiker erinnerte sich an die Unterrichtsstunden: er, ein Soldat von etwas über dreißig Jahren, der mehr als die Hälfte seines Lebens im Feld verbracht hatte, hatte neben Tocs eigenem Sohn gesessen, einem Zwerg von einem Knaben, der ständig erkältet zu sein schien – die Ärmel seines Hemdes waren mit einer Kruste aus getrocknetem Rotz überzogen. Es hatte länger als sechs Monate gedauert, doch da hatte ihn schon Toc der Jüngere unterrichtet.
Der Imperator hat es genossen, Lektionen in Sachen Bescheidenheit zu erteilen. So lange sie nicht auf ihn zurückgefallen sind. Ich frage mich, was wohl mit Toc dem Älteren geschehen ist? Er ist nach den Morden verschwunden – ich habe immer geglaubt, dass Laseen daran schuld wäre … und Toc der Jüngere – er hat es abgelehnt, sein Leben zwischen Schriftrollen und Büchern zu verbringen … und jetzt ist er auf dem Genabackis-Feldzug verschollen …
Eine behandschuhte Hand legte sich auf die Schulter des Historikers und drückte fest zu. Duiker schaute in Lulls ramponiertes Gesicht, nickte. Tut mir Leid. Es scheint, als ob mein Verstand noch immer abschweift.
Sie hatten Halt gemacht. Ein Stück voraus erhob sich ein vor spitzen Pfählen starrender Wall aus fest gestampfter Erde, der im Nebel nur verschwommen zu erkennen war. Feuerschein ließ den Nebel jenseits der Barrikaden orangerot leuchten.
Und was jetzt?
Die beiden Waerlogas knieten fünf Schritt vor ihm im Gras. Beide verhielten sich vollkommen reglos.
Sie warteten. Duiker hörte gedämpfte Stimmen von der anderen Seite des Walls; sie wanderten langsam von links nach rechts und verloren sich in der Ferne, als die Tithansi-Patrouille weiterging. Nil drehte sich um und winkte.
Mit gespannten Armbrüsten glitten die Soldaten vorwärts. Einen Augenblick später folgte der Historiker ihnen.
Ein Tunnel hatte sich im Boden vor den beiden Waerlogas geöffnet. Die Erde dampfte, Felsbrocken und Kieselsteine knackten vor Hitze. Der Tunnel sah aus, als wäre er von gewaltigen, krallenbewehrten Händen aufgerissen worden – und zwar von unten.
Duiker machte ein finsteres Gesicht. Er hasste Tunnel. Nein, sie jagten ihm eine Heidenangst ein. Es gab keinen rationalen Grund dafür – wieder falsch. Tunnel stürzen ein. Menschen werden lebendig begraben. Alles absolut vernünftig, möglich, wahrscheinlich, unausweichlich.
Nil ging als Erster; er rutschte in das Loch hinunter und verschwand außer Sicht. Der andere Waerloga folgte ihm rasch. Lull drehte sich zu dem Historiker um und winkte ihn vorwärts.
Duiker schüttelte den Kopf.
Der Hauptmann zeigte auf ihn, deutete dann auf das Loch im Boden und formte mit den Lippen das Wort sofort.
Einen Fluch vor sich hinzischend, kroch der Historiker vorwärts. Sobald er in Reichweite war, zuckte Lulls Hand vor, packte eine Hand voll staubiger Telaba und zerrte Duiker in die Tunnelöffnung.
Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht aufzukreischen, als der Hauptmann ihn ohne weitere Umstände in die Tunnelöffnung stopfte. Er zappelte, tastete panisch um sich und spürte, wie seine blindlings austretende Ferse irgendetwas in der Luft hinter ihm traf. Ich wette, das war Lulls Kinn. Geschieht dir recht, du elender Bastard! Das Gefühl der Genugtuung half. Er kroch an den Sandschichten vorbei, die irgendein Hochwasser abgelagert hatte, und fühlte sich bald in warmem Fels geborgen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass dieser Fels zusammenbrach, sagte er sich selbst, und beinahe hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen. Der Tunnel neigte sich auch weiterhin abwärts, und der warme Fels wurde zuerst schlüpfrig und dann richtig nass. Die Bilder einstürzender Tunnel wurden von albtraumhaften Visionen vom Ertrinken abgelöst.
Er zögerte, bis er eine Schwertspitze an der durchgelaufenen Sohle eines Mokassins spürte. Dann wurde gedrückt, und die Spitze bohrte sich in seine Haut. Wimmernd zog Duiker sich weiter.
Der Tunnel verlief jetzt gerade. Er füllte sich allmählich mit Wasser, das aus den feinen Rissen und Ritzen im Felsgestein strömte. Der Historiker platschte durch ein kühles Rinnsal, als er weiterschlitterte. Er verharrte kurz, nahm vorsichtig einen Schluck; es schmeckte nach Eisen und Sand. Aber es ist trinkbar.
Der Tunnel führte immer noch auf gleicher Höhe weiter. Der Wasserspiegel stieg mit alarmierender Geschwindigkeit. Durchnässt und zunehmend mit dem Gewicht seiner Kleider kämpfend, mühte Duiker sich weiter; er war erschöpft, und seine Muskeln begannen, ihn im Stich zu lassen. Das Einzige, was ihn noch zum Weiterkriechen bewegte, waren die keuchenden, spuckenden Geräusche hinter ihm. Sie ertrinken da hinten, und ich bin der Nächste!
Er erreichte den aufwärts führenden Teil des Tunnels, mühte sich mit bloßen Händen durch Dreck und rieselnde Erde. Eine Sphäre aus grauem Nebel erschien ein Stück voraus – er hatte das andere Ende des Tunnels erreicht.
Hände packten ihn und zogen ihn ins Freie, rollten ihn dann zur Seite, bis er in einem Bett aus scharfblättrigen Gräsern zum Stillstand kam. Leise keuchend lag er da und starrte den Himmel an, der in Wirklichkeit aus tief hängenden Nebelschwaden bestand. Unbewusst nahm er wahr, wie Lulls Soldaten aus dem Tunnel krochen und Verteidigungsstellung bezogen; sie atmeten keuchend, und von ihren Waffen tropfte schlammiges Wasser. Die Sehnen der Armbrüste werden sich dehnen, es sei denn, sie sind mit Öl voll gesogen und gewachst. Natürlich sind sie das – diese Soldaten sind schließlich keine Idioten. Die bereiten sich auf alles vor, selbst darauf, unter einer staubigen Ebene schwimmen zu müssen. Ich habe mal gesehen, wie ein Kamerad mitten in der Wüste Verwendung für eine Angelausrüstung gefunden hat. Was macht einen malazanischen Soldaten so gefährlich? Er darf denken.
Duiker setzte sich auf.
Lull unterhielt sich mit seinen Soldaten in einer ausgefeilten Gebärdensprache. Sie antworteten ihm auf die gleiche Weise und verschwanden danach im Nebel. Nil und der andere Waerloga begannen sich durch das Gras auf einen blassroten Fleck zuzuschlängeln; das musste der vom Nebel gedämpfte Schein eines Lagerfeuers sein.
Stimmen erklangen ringsum; leise gemurmelte Worte im rauen Dialekt der Tithansi, die auf und ab zu tanzen schienen, bis Duiker sich sicher war, dass ein paar Stammeskrieger genau hinter ihm standen und in aller Ruhe darüber diskutierten, wo sie ihre Speere in seinen Rücken stoßen sollten. Was auch immer der Nebel für Spiele mit Geräuschen spielte, der Historiker vermutete, dass Nil und sein Kamerad den Effekt mit magischen Mitteln verstärkt hatten – und dass von dieser akustischen Verwirrung schon bald ihr Leben abhängen würde.
Lull tippte Duiker auf die Schulter, winkte ihn mit einer Geste vorwärts, dorthin, wo die Waerlogas verschwunden waren. Der Nebelfetzen war undurchdringlich; der Historiker konnte nicht weiter als eine Armeslänge sehen. Mit finsterem Gesicht ließ er sich auf den Bauch sinken, schob die Schwertscheide an seiner Hüfte ein Stück nach hinten und begann vorwärts zu robben, dorthin, wo Nil wartete.
Das Feuer war gewaltig, die Flammen wirkten durch die Nebelschleier gespenstisch. Sechs Tithansi-Krieger saßen oder standen in Sichtweite, alle anscheinend in dicke Pelze gehüllt. Ihr Atem bildete Dampfwolken vor ihren Gesichtern.
Duiker, der nun neben Nil lag, konnte jetzt sehen, dass eine dünne Eisschicht den Boden bedeckte. Kalte Luft wehte über sie hinweg, als der leichte Nachtwind einen launischen Haken schlug.
Der Historiker stupste den Waerloga an, nickte in Richtung auf den gefrorenen Boden und hob fragend die Brauen.
Nils Antwort bestand in einem kaum sichtbaren, angedeuteten Achselzucken.
Die Krieger warteten. Rot bemalte Hände waren in dem Versuch, sie warm zu halten, in Richtung der Flammen ausgestreckt. Vielleicht zwanzig Atemzüge lang änderte sich nichts, dann standen die, die sich hingekauert oder hingesetzt hatten, auf und wandten sich wie alle anderen nach links.
Zwei Gestalten traten in den Feuerschein. Der vordere der beiden Männer war gebaut wie ein Bär, und der Vergleich wirkte noch passender, da er ein Bärenfell über die breiten Schultern gelegt hatte. Links und rechts an seinem Gürtel hing jeweils eine einklingige Wurfaxt. Sein Lederhemd stand oberhalb des Brustbeins offen und ließ kräftige Muskeln und dichtes, verfilztes Haar erkennen. Die mit scharlachroter Farbe auf seine Wangen gemalten Streifen zeigten, dass er ein Kriegshäuptling war, wobei jeder Streifen für einen jüngst errungenen Sieg stand. Die Anzahl der frischen Streifen machte deutlich, wie sehr er den Malazanern zusetzte.
Hinter diesem Furcht erregenden Mann kam ein Semk.
Damit wäre eine Annahme also widerlegt. Offensichtlich war der viel beschworene Hass der Semk auf alle, die keine Semk waren, als Huldigung für die Göttin des Wirbelwindes begraben worden. Oder, was es wahrscheinlich besser trifft, als Maßnahme, nun Coltaine zu vernichten.
Der Semk war eine gedrungenere, noch kämpferischere Version des Tithansi-Kriegshäuptlings; er war so behaart, dass er auf ein Bärenfell verzichten konnte. Seine einzigen Kleidungsstücke waren ein lederner Lendenschurz und mehrere Gürtel, die eng um seinen Bauch geschnallt waren. Der Mann war mit schmieriger Asche bedeckt, sein zottiges schwarzes Haar hing in dicken Strähnen herab, und in seinen Bart waren Fetische aus Fingerknochen geflochten. Er trug unentwegt ein verächtliches Grinsen zur Schau.
Als der Semk näher ans Feuer trat, wurde noch eine weitere Einzelheit sichtbar: Sein Mund war mit Darmfäden zugenäht. Beim Atem des Vermummten, die Semk nehmen ihre Schweigegelübde wirklich verdammt ernst.
Die Luft wurde eisig. Irgendwo in Duikers Hinterkopf begannen ganz schwach Alarmglocken zu läuten, und er streckte einen Arm aus, um Nil erneut anzustupsen.
Doch noch bevor er den Waerloga berühren konnte, surrten Armbrüste. Zwei Bolzen ragten aus der Brust des Tithansi-Kriegshäuptlings, während zwei andere Tithansi-Krieger mit einem letzten Grunzen zu Boden sanken. Ein fünfter Bolzen bohrte sich tief in die Schulter des Semk.
Die Erde unter dem Feuer explodierte; glühende Kohlen, brennende Zweige und Äste wurden in die Höhe geschleudert. Ein vielgliedriges Wesen mit teerschwarzer Haut krabbelte aus dem Loch und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Es warf sich auf die noch übrigen Tithansi, und seine Klauen zerfetzten Rüstungen und Haut.
Der Kriegshäuptling sank auf die Knie; er starrte verständnislos auf die mit Lederstreifen befiederten Bolzen, die sich in seine Brust gebohrt hatten. Blut spritzte, als er hustete, sich zusammenkrümmte und dann mit dem Gesicht voran auf die staubige Erde fiel.
Ein Fehler – das war der Falsche …
Der Semk hatte sich den Bolzen aus der Schulter gerissen, als wäre es ein Zimmermannsnagel. Die Luft um ihn herum wirbelte weiß. Seine dunklen Augen richteten sich auf den Erdgeist, und mit einem gewaltigen Satz sprang er auf ihn zu.
Nil lag reglos neben Duiker. Der Historiker wandte sich ihm zu; er wollte ihn schütteln und musste dabei feststellen, dass der junge Waerloga bewusstlos war.
Der andere wickanische Junge war auf die Beine gekommen; er taumelte unter einem unsichtbaren Ansturm magischer Energien zurück. Haut- und Fleischfetzen flogen von dem Waerloga – es dauerte nur wenige Augenblicke, und dort, wo zuvor sein Gesicht gewesen war, gab es nur noch Knochen und Knorpel. Duiker drehte sich weg, als er sah, wie die Augäpfel des Jungen zerplatzten.
Von allen Seiten eilten Tithansi heran. Während er Nil mit sich zerrte, erblickte der Historiker Lull und eine seiner Soldatinnen, die dem Semk aus kürzester Entfernung Armbrustbolzen in den Rücken jagten. Eine Lanze kam von irgendwoher aus der Dunkelheit geflogen und prallte von dem durch einen Kettenpanzer geschützten Rücken der Soldatin ab. Beide Soldaten wirbelten herum, ließen die Armbrüste fallen und zogen ihre Langmesser, um sich den ersten Kriegern zu stellen, die gleich heran sein würden.
Der Erdgeist kreischte jetzt in Agonie; drei seiner Gliedmaßen waren aus seinem Körper herausgerissen worden und lagen zuckend am Boden. Der Semk war ein einziges stummes Gemetzel; er ignorierte die Bolzen in seinem Rücken und ging wieder und wieder auf den Erdgeist los. Kälte strömte in Wogen von ihm aus – eine Kälte, die Duiker wieder erkannte. Der Gott der Semk – ein Stück von ihm hat überlebt, ein Stück von ihm beherrscht einen seiner auserwählten Krieger …
Im Süden erklangen ein paar gewaltige Detonationen. Splitterbomben. Schreie durchschnitten die Nacht. Die malazanischen Sappeure sprengten ein Loch in die Reihen der Tithansi. Und ich hatte gedacht, das wäre eine Selbstmordmission.
Duiker bewegte sich weiter in Richtung Süden – auf die Explosionen zu – und zerrte Nil hinter sich her. Er betete, dass die Sappeure ihn nicht fälschlicherweise für einen Feind hielten.
Hufgetrappel erklang ganz in der Nähe. Stahl klirrte.
Plötzlich war einer der Seesoldaten an seiner Seite. Es war eine der Frauen. Eine Seite ihres Gesichts war blutverschmiert, doch sie warf das Schwert beiseite, packte den Waerloga und warf ihn sich scheinbar ohne Anstrengung über die Schulter. »Zieht das verdammte Schwert und deckt mir den Rücken!«, schnarrte sie, während sie weiterstürzte.
Ohne Schild? Der Vermummte soll mich holen, man kann ein Schwert doch nicht ohne einen Schild benutzen! Doch das Schwert war bereits in seiner Hand, als wäre es aus eigenem Antrieb aus der Scheide dorthin gesprungen. Die schartige eiserne Klinge erschien ihm jämmerlich kurz, als er sich in den Fußstapfen der Soldatin langsam zurückzog und dabei die Waffe ausgestreckt vor sich hielt.
Seine Fersen stießen gegen etwas Weiches, er kam ins Stolpern und fiel fluchend hin.
Die Soldatin warf einen Blick über die Schulter zurück. »Macht, dass Ihr auf die Beine kommt, verdammt! Irgendjemand ist hinter uns her!«
Duiker war über einen Leichnam gestolpert, einen Tithansi-Lanzenreiter, der von seinem Pferd mitgeschleift worden war, bis die blutige Masse, die einmal seine linke Hand gewesen war, endlich die Zügel losgelassen hatte. Ein Wurfstern hatte sich tief in seinen Nacken gebohrt. Der Historiker blinzelte, als er das sah – dieser Stern ist die typische Waffe einer Klaue –, und kam mühsam wieder auf die Beine. Noch mehr unsichtbare Rückendeckung? Kampfgeräusche klangen durch den Nebel, als ob es irgendwo zu einer ausgewachsenen Schlacht gekommen wäre.
Duiker machte sich wieder daran, der Soldatin den Rücken zu decken, während sie weitermarschierte; Nils regloser Körper hing ihr noch immer wie ein Sack Rüben über der Schulter.
Einen Augenblick später tauchten drei Tithansi-Krieger aus dem Nebel auf und schwangen ihre Tulwars.
Jahrzehntelange Übung rettete den Historiker davor, gleich dem ersten Angriff zum Opfer zu fallen. Er duckte sich tief und trat ganz nah an den Krieger zu seiner Rechten heran, grunzte, als der lederumwickelte Unterarm des Mannes auf seine linke Schulter knallte, keuchte auf, als der Tulwar herabschwang – der Tithansi beugte das Handgelenk – und sich tief in Duikers linke Hinterbacke grub. Noch während ihn der Schmerz durchzuckte, hatte er sein kurzes Schwert dem Krieger unterhalb der Rippen aufwärts in den Bauch gerammt und ihm das Herz durchbohrt.
Der Historiker zog die Klinge heraus und machte einen Satz nach rechts. Ein stürzender Körper befand sich nun zwischen ihm und den beiden anderen Kriegern, die beide den Nachteil hatten, Rechtshänder zu sein. Ihre Hiebe verfehlten Duiker um Armeslänge.
Der etwas Nähere hatte seine Waffe mit so viel Kraft geschwungen, dass sie sich in den Boden gebohrt hatte. Der Historiker trat fest auf die flache Seite der Klinge, prellte sie dem Angreifer dadurch aus der Hand. Duiker setzte mit einem wilden Hieb nach, der den Mann zwischen Schulter und Hals traf und durch das Schlüsselbein ging.
Er warf sich hinter den Rücken des taumelnden Mannes, um sich den dritten Tithansi vorzunehmen – und stellte fest, dass der Mann mit dem Gesicht auf der Erde lag; zwischen seinen Schulterblättern steckte ein Wurfmesser mit silbernem Knauf. Das Messer einer Klaue – so ein Ding würde ich immer und überall erkennen!
Der Historiker verharrte, blickte sich prüfend um, konnte jedoch niemanden entdecken. Der Nebel wogte noch immer dicht; es roch nach Asche. Ein Zischen der Soldatin ließ ihn herumwirbeln. Sie kauerte an der Innenseite des Grabens, der die Außenposten umgab, und winkte ihn zu sich.
Duiker spürte plötzlich, dass er schweißüberströmt war. Er schauderte und eilte zu ihr hinüber.
Die Frau grinste. »Verdammt eindrucksvoll, wie Ihr da gerade mit dem Schwert umgegangen seid, alter Mann. Ich habe allerdings nicht gesehen, wie Ihr mit dem Dritten fertig geworden seid.«
»Du hast sonst niemanden gesehen?«
»Häh?«
Duiker kämpfte immer noch darum, wieder zu Atem zu kommen, und schüttelte nur den Kopf. Er schaute zu Boden, wo Nil völlig reglos lag. »Was ist eigentlich mit ihm los?«
Die Soldatin zuckte die Schultern. Ihre blassblauen Augen waren noch immer abschätzend auf den Historiker gerichtet. »Wir könnten Euch in unseren Reihen brauchen«, sagte sie.
»Nun, was ich an Geschwindigkeit eingebüßt habe, habe ich an Erfahrung hinzugewonnen, und diese Erfahrung sagt mir, nicht in solche Schweinereien wie diese hier zu geraten. Das ist kein Spiel für alte Männer, Soldat.«
Sie zog eine gutmütige Grimasse. »Das ist auch kein Spiel für alte Frauen. Und jetzt kommt, der Kampf hat sich nach Osten verlagert – wir dürften eigentlich keine Probleme haben, den Graben zu überqueren.« Sie hob Nil mit Leichtigkeit wieder auf ihre Schulter.
»Ihr habt den falschen Mann mit Bolzen gespickt, wisst Ihr das …?«
»Hm, das haben wir auch schon vermutet. Dieser Semk war besessen, nicht wahr?«
Sie erreichten die Böschung und suchten sich vorsichtig einen Weg zwischen den angespitzten Pfählen hindurch, mit denen der Wall bewehrt war. Im Lager der Tithansi brannten Zelte; der Nebel vermischte sich mit Rauch. Aus einiger Entfernung erklangen noch immer Schreie und Waffengeklirr.
»Hast du irgendjemand anderen gesehen, der davongekommen ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
Sie kamen an einem guten Dutzend Leichen vorbei – eine Tithansi-Patrouille, die einer Splitterbombe zum Opfer gefallen war. Die Eisensplitter der Granate hatten sie mit schrecklicher Effektivität niedergemäht. Blutspuren wiesen darauf hin, dass es Überlebende gegeben hatte, die sich mittlerweile davongemacht hatten.
Der Nebel wurde schnell dünner, je näher sie den wickanischen Linien kamen. Ein Trupp Lanzenreiter des Tollhund-Clans, die entlang der Weidenbarrieren patrouilliert hatten, entdeckte sie und kam auf sie zu.
Sie starrten Nil an.
»Er lebt noch, aber es wäre besser, wenn ihr Sormo auftreibt«, sagte die Soldatin.
Zwei Reiter rissen ihre Pferde herum und galoppierten zum Lager.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von den anderen?«, fragte Duiker den Reiter, der ihm am nächsten war.
Der Wickaner nickte. »Der Hauptmann und einer seiner Männer haben es geschafft.«
Ein Trupp Sappeure tauchte in unregelmäßigem leichten Trab aus dem Nebel auf; als sie die Gruppe sahen, wurden sie langsamer. »Zwei Splitterbomben«, sagte einer von ihnen, und Unglaube schwang in seiner Stimme mit, »und dann steht dieser Bastard einfach wieder auf.«
Duiker trat einen Schritt vor. »Wer, Soldat?«
»Dieser haarige Semk – «
»Obwohl er jetzt nicht mehr besonders haarig ist«, warf ein anderer Sappeur ein.
»Wir waren der Aufräum-Trupp«, sagte der erste Mann und zeigte ein blutfleckiges Grinsen. »Coltaines Axt – ihr wart die Schneide, wir waren der Keil. Wir haben dieses Monstrum in Grund und Boden gehämmert, aber es hat nichts genützt – «
»Der Sergeant hat einen Pfeil abbekommen«, sagte der andere Sappeur. »Seine Lunge ist verletzt – «
»Nur ein Lungenflügel, und es ist nur ein Nadelstich«, korrigierte ihn der Sergeant. Er blieb kurz stehen, um auszuspucken. »Der andere ist völlig in Ordnung.«
»Du kannst kein Blut atmen, Sergeant – «
»Ich hab schon Schlimmeres eingeatmet – schließlich hab ich schon ein Zelt mit dir geteilt, Junge …«
Der Trupp marschierte weiter, wobei sich die Männer ununterbrochen stritten, ob der Sergeant einen Heiler aufsuchen sollte oder nicht. Die Seesoldatin schaute hinter ihnen her und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich zu dem Historiker um. »Ich überlasse es Euch, mit Sormo zu sprechen, Historiker – das geht doch in Ordnung, oder?«
Duiker nickte. »Zwei von deinen Freunden haben es nicht geschafft …«
»Aber einer hat’s geschafft. Wenn es wieder mal um eine Übungsstunde im Schwertkampf geht, werde ich nach Euch suchen, Herr.«
»Meine Gelenke werden allmählich steif, Soldat. Du wirst mich stützen müssen.«
Sie ließ Nil sanft ins Gras sinken und ging davon.
Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätte ich vielleicht den Mut gehabt, sie zu fragen … ach, was soll’s. Allein der Gedanke an all die Streitereien am Lagerfeuer …
Die beiden wickanischen Reiter kehrten zurück, und an ihrer Seite lief ein gefährlich aussehender Hirtenhund. Das Tier steckte in einem Geschirr und zog eine Schlepptrage hinter sich her. Irgendwann einmal musste der Kopf des Hundes mit einem Pferdehuf Bekanntschaft gemacht haben; die Knochen waren schief zusammengewachsen, was dem Tier ein manisches Halbgrinsen verlieh, das hervorragend zu dem grausamen Glanz in seinen Augen passte.
Die Reiter stiegen ab und legten Nil vorsichtig auf die Schlepptrage. Ohne weiter auf seine Eskorte zu achten, marschierte der Hund davon, zurück zum wickanischen Lager.
»Das war vielleicht ein hässliches Vieh«, sagte eine Stimme hinter dem Historiker. Hauptmann Lull.
Duiker grunzte. »Das ist der Beweis, dass ihre Schädel nur aus Knochen bestehen und kein Gehirn beinhalten.«
»Immer noch in Gedanken versunken, alter Mann?«
Der Historiker machte ein finsteres Gesicht. »Warum habt Ihr mir nicht erzählt, dass wir verborgene Unterstützung haben, Hauptmann? Wessen Leute waren das? Pormquals?«
»Wovon redet Ihr eigentlich, beim Vermummten?«
Er drehte sich um. »Über die Klaue. Irgendjemand hat unseren Rückzug gedeckt. Und er – oder sie – hat Wurfsterne und -messer benutzt und sich völlig unsichtbar in meinem Rücken gehalten!«
Lulls Augen wurden groß.
»Wie viele Kleinigkeiten hat Coltaine außerdem noch für sich behalten?«
»Es ist völlig unmöglich, dass Coltaine irgendetwas davon weiß, Duiker«, sagte Lull und schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr Euch dessen sicher seid, was Ihr gesehen habt – und ich glaube, das seid Ihr –, dann wird die Faust es wissen wollen – und zwar jetzt gleich.«
Zum ersten Mal seit Duiker ihn kannte, wirkte Coltaine verunsichert. Er stand vollkommen reglos da, als wäre er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sich nicht jemand in seinem Rücken herumdrückte – unsichtbare Klingen, die ihm in den nächsten Sekunden den Todesstoß versetzen würden.
Bult stieß tief aus der Kehle ein Knurren aus. »Die Hitze hat Euren Verstand verwirrt, Historiker.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe, Onkel. Mehr noch – ich weiß, was ich gespürt habe.«
Es wurde lange still in dem Zelt; die Luft war stickig und still.
Sormo betrat das Zelt. Er blieb direkt im Eingang stehen, wo Coltaine ihn mit einem Blick förmlich festnagelte. Die Schultern des Waerloga waren herabgesunken, als könnte er die Last nicht mehr länger ertragen, die er all die vergangenen Monate getragen hatte. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und verrieten seine Müdigkeit.
»Coltaine hat ein paar Fragen an dich«, sagte Bult. »Später.«
Der junge Mann zuckte die Schultern. »Nil ist aufgewacht. Ich habe Antworten.«
»Andere Fragen«, erwiderte der narbige Veteran mit einem düsteren, humorlosen Grinsen.
Coltaine ergriff das Wort. »Erklär uns, was geschehen ist, Waerloga.«
»Der Gott der Semk ist nicht tot«, sagte Duiker.
»Das sehe ich auch so«, murmelte Lull im Hintergrund. Er saß auf einem Stuhl, die abgeschnallten Unterarmschienen im Schoß, die Beine ausgestreckt. Er begegnete dem Blick des Historikers und zwinkerte ihm zu.
»Das ist nicht ganz richtig«, korrigierte Sormo. Er zögerte, dann holte er tief Luft und fuhr fort. »Der Gott der Semk ist tatsächlich vernichtet worden. In Stücke gerissen und verschlungen. Manchmal allerdings kann ein Stück Fleisch so viel Bösartigkeit enthalten, dass es den verdirbt, der es verzehrt …«
Duiker beugte sich vor. Er zuckte zusammen, als sich die hastig geheilte Wunde in seinem Hinterteil bemerkbar machte. »Ein Erdgeist …«
»Ein Geist des Landes, ja. Verborgener Ehrgeiz und plötzliche Macht. Die anderen Geister … hatten nicht den geringsten Verdacht.«
Bults Gesicht verzog sich voller Widerwillen. »Wir haben heute Nacht siebzehn Soldaten verloren, um eine Hand voll Tithansi-Kriegshäuptlinge zu töten und einen aus der Art geschlagenen Geist zu entlarven?«
Der Historiker zuckte zusammen. Er hatte zum ersten Mal gehört, wie hoch die Verluste tatsächlich gewesen waren. Coltaines erster Fehlschlug. Wenn Oponn uns zulächelt, wird der Feind es nicht bemerken.
»Aber mit dem Wissen, das wir dabei gewonnen haben«, erklärte Sormo ruhig, »können in Zukunft Leben gerettet werden. Die Geister sind überaus bekümmert – sie waren überrascht, dass sie die Überfälle und Hinterhalte nicht vorhersagen konnten, und jetzt wissen sie, warum. Sie sind einfach nicht auf die Idee gekommen, dass einer ihrer Art dahinter stecken könnte. Jetzt werden sie ihre eigene Gerechtigkeit üben, zum ihnen genehmen Zeitpunkt.«
»Das heißt, die Überfälle werden weitergehen?« Der Veteran sah aus, als wolle er Feuer speien. »Werden deine verbündeten Geister denn jetzt in der Lage sein, uns rechtzeitig zu warnen – wie sie es anfangs so wirkungsvoll getan haben?«
»Die Bemühungen des Entarteten werden abgeschwächt werden.«
»Sormo«, fragte Duiker, »warum war der Mund des Semk zugenäht?«
Auf dem Gesicht des Waerloga erschien ein schwaches Lächeln. »Diese Kreatur ist überall zugenäht, Historiker. Damit das, was verschlungen wurde, nicht entkommen kann.«
Duiker schüttelte den Kopf. »Sehr seltsame Magie.«
Sormo nickte. »Sie ist alt«, sagte er. »Zauberei der Eingeweide und Knochen. Wir mühen uns ab, um Wissen zu erlangen, das wir einst instinktiv besessen haben.« Er seufzte. »In einer Zeit, bevor es die Gewirre gab, als Magie noch im Innern gefunden wurde.«
Vor einem Jahr wäre Duiker bei derartigen Bemerkungen noch vor Neugier und Aufregung wie elektrisiert gewesen, und er hätte den Waerloga unbarmherzig ausgefragt. Jetzt waren Sormos Worte nur noch dumpfe Echos, die verloren durch die riesigen Gewölbe von Duikers Erschöpfung hallten. Er wollte nur noch schlafen, und er wusste, dass er das erst in zwölf Stunden würde tun können – im Lager draußen regten sich die ersten Lebenszeichen, obwohl es noch ungefähr eine Stunde lang dunkel sein würde.
»Wenn das der Fall ist«, sagte Lull gedehnt, »warum ist der Semk dann nicht wie eine angestochene Blase geplatzt, als wir ihm ein paar Armbrust-Bolzen in den Pelz gejagt haben?«
»Was verschlungen wurde, verbirgt sich tief in seinem Innern. Sagt mir, war der Bauch dieses besessenen Semk besonders geschützt?«
Duiker gab ein Brummen von sich. »Mit Gürteln, dicken Ledergürteln.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Was ist mit Nil geschehen?«
»Es hat ihn erwischt, als er unaufmerksam war, und dann hat er Gebrauch von eben jenem Wissen gemacht, das wir zurückzugewinnen versuchen. Als die magische Attacke erfolgte, hat er sich in sich selbst zurückgezogen. Die Attacke setzte nach, aber er ist immer wieder ausgewichen, bis die böswillige Macht sich selbst verzehrt hatte. Wir lernen.«
Vor Duikers geistigem Auge tauchte der andere Waerloga auf, der einen schrecklichen Tod gestorben war. »Aber ihr bezahlt einen hohen Preis.«
Sormo sagte nichts, doch für einen kurzen Augenblick konnte man den Schmerz in seinen Augen sehen.
»Wir werden schneller marschieren«, verkündete Coltaine. »Ein Mund voll Wasser täglich weniger für jeden Soldaten – «
Duiker richtete sich auf. »Aber wir haben doch Wasser.«
Alle Augen wandten sich ihm zu. Der Historiker warf Sormo ein dünnes Lächeln zu. »Ich nehme an, dass Nils Bericht ziemlich … trocken war. Die Erdgeister haben für uns einen Tunnel durch massives Felsgestein geschaffen. Und wie der Hauptmann bestätigen kann, ist der Fels nass.«
Lull grinste. »Beim Atem des Vermummten, der alte Mann hat Recht.«
Sormo starrte den Historiker aus weit aufgerissenen Augen an.
»Wir haben lange und unnötig gelitten – und alles nur, weil wir nicht die richtigen Fragen gestellt haben.«
Plötzlich schien neue Energie in Coltaine zu strömen. Er fletschte die Zähne. »Du hast eine Stunde Zeit«, sagte die Faust zu dem Waerloga, »um den Durst von hunderttausend Kehlen zu lindern.«
Aus verwitterten Felsen, die sich hier und dort über die grasbestandene Ebene erhoben, rannen süße Tränen. Tiefe Gruben waren ausgehoben worden. Die Luft schwirrte von fröhlichen Liedern und dem segensreichen Schweigen der Tiere, die ihre Qual nicht länger hinausschrien. Und unter alldem lag eine warme, verblüffende Unterströmung. Dieses Mal machten die Geister des Landes ein Geschenk, das nichts mit Tod zu tun hatte. Duiker konnte ihre Freude spüren, während er am nördlichen Rand des Lagers stand und schaute und horchte.
Korporal List war an seiner Seite; das Fieber hatte nachgelassen. »Es sickert absichtlich sehr langsam, aber nicht langsam genug … Mägen werden rebellieren … es ist gut möglich, dass die Leichtsinnigen sich umbringen …«
»Hm. Ein paar vielleicht.«
Duiker hob den Kopf, musterte den Grat, der das Tal im Norden begrenzte. Berittene Tithansi-Krieger hatten sich auf seiner ganzen Länge aufgebaut und schauten in ehrfürchtigem Staunen zu; das vermutete der Historiker zumindest. Er zweifelte nicht daran, dass auch Kamist Reloes Armee litt, obwohl seine Männer den Vorteil hatten, dass sie jedes bekannte Wasserloch in der Odhan besetzen konnten.
Noch während er die Reiter musterte, sah er aus den Augenwinkeln etwas Weißes, das die Talseite herunterglitt und dann aus seinem Blickfeld verschwand. Er grunzte.
»Habt Ihr etwas gesehen, Herr?«
»Nur ein paar wilde Ziegen«, meinte Duiker, »die die Seiten wechseln …«
Der unablässig herbeigewehte Sand hatte Löcher in die Seiten der Mesa gebohrt; alles begann harmlos, mit ein paar kleinen Vertiefungen, aus denen Höhlen wurden, dann Tunnel, und schließlich Gänge, die sehr wohl bis zur anderen Seite und dort wieder ins Freie führen mochten. Wie gefräßige Würmer, die altes Holz verwüsteten, verzehrte der Wind die Oberfläche der Klippe; Loch um Loch erschien, die Wände zwischen ihnen wurden immer dünner, einige brachen zusammen, die Tunnel wurden breiter. Der Deckmantel des Plateaus blieb allerdings stehen, eine gewaltige Kappe aus Stein, die auf einem immer schwächer werdenden Fundament thronte.
Kulp hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Als hätte der Wirbelwind es ganz bewusst angegriffen. Aber warum einen Felsen belagern?
Die Tunnel kreischten im Wind, jeder in einer eigenen fiebrigen Tonhöhe, und bildeten gemeinsam einen grellen Chor. Der Sand, der in Wirbeln und Schwaden in den Aufwinden am Fuß der Klippe tanzte, war so fein wie Staub. Kulp warf einen Blick zurück zu jener Stelle, wo Felisin und Heboric warteten – zwei verschwommen sichtbare, vor der unaufhörlichen Wut des Sturms zusammengekauerte Gestalten.
Der Wirbelwind hatte ihnen nun schon seit drei Tagen jede Zuflucht verwehrt, seit er das erste Mal über sie gekommen war. Der Wind zerrte aus jeder Richtung an ihnen – als ob die verrückte Göttin uns ausgewählt hätte. Diese Möglichkeit war gar nicht so unwahrscheinlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mochte. Der bösartige Wille war deutlich zu spüren. Schließlich sind wir immer noch Eindringlinge. Der Brennpunkt des Hasses des Wirbelwinds war immer auf diejenigen gerichtet, die nicht dazugehörten. Armes malazanisches Imperium, dass du auch ausgerechnet über so einen gebrauchsfertigen Rebellionsmythos stolpern musstest …
Der Magier kroch zurück zu den anderen. Er musste sich ganz nahe zu ihnen hinüberbeugen, um trotz des heulenden Windes gehört zu werden. »Da sind Höhlen! Nur, dass der Wind in sie hineinpfeift. Ich vermute, dass sie quer durch den Hügel gehen!«
Heboric zitterte; er litt seit dem Morgen an einem Fieber, das von der Erschöpfung herrührte. Er wurde schnell schwächer. Wir alle werden immer schwächer. Es war schon fast Abend – der gleichmäßig ockergelbe Himmel über ihren Köpfen wurde dunkler –, und der Magier schätzte, dass sie in den vergangenen zwölf Stunden nicht viel mehr als eine Länge zurückgelegt hatten.
Sie hatten kein Wasser und nichts zu essen. Der Vermummte war ihnen dicht auf den Fersen.
Felisin packte Kulps zerrissenen Umhang, zog ihn näher zu sich heran. Ihre Lippen waren aufgesprungen, und Sand klebte in ihren Mundwinkeln. »Wir versuchen es trotzdem!«, sagte sie.
»Ich weiß nicht recht. Der ganze Hügel könnte einstürzen–«
»Die Höhlen! Wir gehen in die Höhlen!«
Ist auch egal, ob wir hier draußen oder da drin sterben. Zumindest geben die Höhlen gute Gräber ab. Er nickte.
Sie zogen Heboric mit. Die Klippe mit ihrem zerklüfteten, durchlöcherten Antlitz bot ihnen ein Dutzend Möglichkeiten. Sie machten sich nicht die Mühe, eine auszusuchen, sondern tauchten einfach in die erste Höhlenöffnung, an der sie vorbeikamen – einen weiten, merkwürdig glatten Tunnel, der zumindest auf den ersten paar Schritten eben zu verlaufen schien.
Der Wind war wie eine Hand in ihrem Rücken, er schob sie pausenlos weiter. Dunkelheit hüllte sie ein, als sie inmitten eines Hexenkessels aus Schreien weiterstolperten.
Auf dem Fußboden hatten sich Kanten gebildet, die das Gehen schwierig machten. Nach vielleicht fünfzehn Schritten kamen sie an eine Stelle, an der Quarz oder ein anderes kristallines Gestein, das dem zerfressenden Wind trotzte, zutage getreten war. Sie suchten sich einen Weg darum herum und fanden auf seiner Windschattenseite den ersten Schutz vor der Gewalt des Wirbelwindes seit über siebzig Stunden.
Heboric sackte in ihren Armen zusammen. Sie setzten ihn in den knöcheltiefen Staub am Fuß des Quarzfelsens. »Ich würde gern vorgehen und mich umsehen«, erklärte Kulp Felisin. Er musste schreien, um sich verständlich zu machen.
Sie nickte, ließ sich auf die Knie sinken.
Weitere dreißig Schritte brachten den Magier zu einer größeren Höhle. Hier gab es noch mehr Quarz. Das kristalline Gestein reflektierte einen schwachen Schimmer, der von einer Decke stammte, die sich fünfzehn Schritt über ihm befand und wie zersprungenes Glas aussah. Der Quarz erhob sich in senkrechten Adern, und die schimmernden Säulen schufen eine Art Galerie von erstaunlicher Schönheit, trotz der Staubschwaden, die der stürmische Wind herantrug. Kulp ging weiter. Das durchdringende, schrille Heulen wurde schwächer, verlor sich in der gewaltigen Höhle.
Dichter beim Zentrum der Höhle erhob sich ein Haufen übereinander gestürzter Steine; sie waren zu regelmäßig geformt – ungefähr rechteckig –, um natürlichen Ursprungs zu sein. An einigen Stellen waren sie von der glitzernden Substanz bedeckt, die die Decke bildete – immer auf einer Seite, wie der Magier nach einem kurzen Augenblick genaueren Hinschauens feststellte. Er hockte sich hin und strich mit einer Hand über eine dieser Seiten, beugte sich dann noch tiefer. Beim Atem des Vermummten, es ist wirklich Glas! Vielfarbig, zerschmettert und zusammengepresst …
Er schaute nach oben. Über ihm klaffte ein großes Loch in der Decke, dessen Ränder in dem merkwürdigen, kalten Licht schimmerten. Kulp zögerte kurz, dann öffnete er sein Gewirr. Nichts. Beim Segen der Königin, keine Zauberei – es ist weltlich.
Tief gebeugt, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten, machte sich der Magier auf den Weg zurück zu den anderen. Als er bei ihnen ankam, schliefen beide oder waren bewusstlos. Kulp musterte sie; er spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief angesichts der gelassen Endgültigkeit, die er in ihren ausgemergelten Gesichtszügen sah.
Es wäre vielleicht barmherziger, sie nicht aufzuwecken.
Felisin öffnete die Augen, als ob sie seine Nähe gespürt hätte. Sie begriff sofort, was er gedacht hatte. »So einfach werden wir es Euch nicht machen«, sagte sie.
»Dieser Hügel ist eine begrabene Stadt, und wir sind unter dem, was da begraben wurde.«
»Also?«
»Der Wind ist zumindest in eines der Zimmer gedrungen und hat den Sand herausgeweht.«
»Unser Grab.«
»Vielleicht.«
»In Ordnung, gehen wir.«
»Es gibt da noch ein Problem«, sagte Kulp. Er machte keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. »Die Öffnung, durch die wir hineinkönnten, ist ungefähr fünfzehn Fuß über unseren Köpfen. Es gibt da auch eine Säule aus Quarz, aber es wird nicht einfach sein, daran hochzuklettern, schon gar nicht in unserer Verfassung.«
»Dann macht Euren Gewirr-Trick.«
»Was?«
»Öffnet ein Tor.«
Er starrte sie an. »So einfach ist das nicht.«
»Sterben ist einfach.«
Er blinzelte. »Dann sollten wir versuchen, den alten Mann auf die Beine zu bekommen.«
Heborics Augen waren von Blasen bedeckt und zugeschwollen; er weinte schmutzige Tränen. Nur langsam kam er zu sich und hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand. Sein breiter Mund öffnete sich zu einem gespenstischen Lächeln. »Sie haben es hier versucht, was?«, fragte er und neigte den Kopf, während sie ihm vorwärts halfen. »Haben es versucht und dafür bezahlt, oh, die Erinnerung an Wasser, all die verschwendeten Leben …«
Sie kamen an die Stelle, über der das Loch in der Decke klaffte. Felisin legte eine Hand auf die Quarz-Säule, die dem Loch am nächsten war. »Ich muss an dem Ding hochklettern wie ein Dosii an einer Kokospalme.«
»Und wie macht er das?«, wollte Kulp wissen.
»Ungern«, murmelte Heboric. Er legte den Kopf schief, als würde er Stimmen hören.
Felisin warf dem Magier einen Blick zu. »Ich brauche Euren Gürtel.«
Mit einem Grunzen begann Kulp, den ledernen Gurt um seine Hüften zu lösen. »Das ist aber kein besonders guter Zeitpunkt, mich ohne Hosen sehen zu wollen, Schätzchen.«
»Sehr witzig, wirklich«, erwiderte sie.
Er gab ihr den Gürtel und schaute zu, wie sie die Lederbänder an den Enden an ihren Knöcheln befestigte. Er zuckte zusammen, als er sah, wie fest sie die Knoten zuzog.
»Und jetzt brauche ich noch das, was noch von Eurem Regenumhang übrig ist. Bitte.«
»Wieso? Was ist denn mit deiner Tunika?«
»Ich lass doch keinen meine Brüste anglotzen – zumindest nicht umsonst. Außerdem ist der Umhang wesentlich fester gewoben.«
»Es wurde Vergeltung geübt«, sagte Heboric. »Eine methodische, leidenschaftslose Säuberungsaktion.«
Während er seinen vom Sand zerschlissenen Umhang ablegte, starrte Kulp mit finsterem Gesicht auf den Ex-Priester hinunter. »Was erzählt Ihr da eigentlich, Heboric?«
»Das Erste Imperium, die Stadt da oben, über uns. Sie sind gekommen und haben die Dinge wieder zurechtgerückt. Unsterbliche Wächter. Was für ein Debakel! Selbst mit geschlossenen Augen kann ich meine Hände sehen – sie tasten so blind, so blind … So leer.« Er sank in sich zusammen, plötzlich von einem Kummer gepeinigt, der ihn bis ins Mark erschütterte.
»Kümmert Euch nicht um ihn«, sagte Felisin. Sie stand auf und trat an die zackige Säule, als wollte sie sie umarmen. »Die alte Kröte hat ihren Gott verloren, und das hat seinen Verstand durcheinander gebracht.«
Kulp sagte nichts.
Felisin schlang den Umhang um die Säule, packte die beiden Enden mit den Händen und zog sie straff. Der Gürtel zwischen ihren Füßen befand sich auf dieser Seite der Säule.
»Ah«, sagte Kulp. »Ich verstehe. Schlaue Kerle, diese Dosii …«
Sie hakte den Umhang auf der gegenüberliegenden Seite so hoch sie konnte fest, lehnte sich zurück und sprang mit angezogenen Knien ruckartig ein kleines Stück aufwärts – die Knie angezogen; der Gürtel klatschte gegen die Säule. Kulp konnte sehen, wie der Schmerz sie durchzuckte, als die Lederriemen sich tief in ihre Knöchel gruben.
»Ich bin überrascht, dass die Dosii Füße haben«, sagte Kulp.
»Ich vermute, ich habe irgendeine Kleinigkeit falsch gemacht«, gab sie ihm keuchend zur Antwort.
Wenn der Magier ehrlich war, glaubte er nicht, dass sie es schaffen würde. Noch bevor sie sechs Fuß hoch war – und noch mehr als eine Körperlänge von der Decke entfernt –, waren ihre Knöchel blutüberströmt. Sie zitterte am ganzen Körper, benutzte ungeahnte, jedoch schnell schwindende Kraftreserven. Aber sie gab dennoch nicht auf. Das ist eine verdammt harte Kreatur. Sie übertrifft uns alle, und das immer und immer wieder. Der Gedanke brachte ihn auf Baudin – den Verbannten, der jetzt irgendwo da draußen war und unter dem Sturm litt. Auch so ein harter Bursche, dickköpfig und stur. Wie geht es dir, Kralle?
Felisin kam schließlich in Reichweite des Lochs. Doch kurz vor dem zackigen Rand zögerte sie.
Tja, und was jetzt?
»Kulp!« Ihre Stimme erzeugte schaurige Echos, die jedoch schnell vom Wind davongetragen wurden.
»Ja?«
»Wie weit ist es von dir bis zu meinen Füßen?«
»Vielleicht zehn Fuß. Warum?«
»Lehn Heboric gegen die Säule. Klettere auf seine Schultern – «
»Wozu, im Namen des Vermummten?«
»Du musst irgendwie an meine Knöchel kommen, und dann über mich hinwegklettern … Ich kann nicht loslassen … hab keine Kraft mehr!«
Bei den Göttern, ich bin nicht so hart wie du, Mädchen. »Ich glaube–«
»Tu es, verdammt noch mal! Wir haben keine andere Wahl!«
Zischend drehte Kulp sich zu Heboric um. »Alter Mann, kannst du mich verstehen? Heboric!«
Der Ex-Priester streckte sich; er grinste. »Erinnert Ihr Euch an die Hand aus Stein? An den Finger? Die Vergangenheit ist eine fremde Welt. Unvorstellbare Mächte. Sie zu berühren heißt, die Erinnerungen von jemand anderem wieder lebendig zu machen – von jemandem, der so anders denkt und fühlt als du, dass dich diese Erinnerungen in den Wahnsinn treiben können …«
Was für eine Hand aus Stein? Der Bastard fantasiert. »Ich muss auf deine Schultern klettern, Heboric. Das heißt, du musst fest und sicher stehen – wenn wir erst mal oben sind, werden wir einen Tragegurt zusammenbauen, um dich hochzuziehen. In Ordnung?«
»Auf meinen Schultern. Ein Berg aus Steinen, jeder einzelne von einem Leben geformt und gezeichnet, das schon lange für den Vermummten verloren ist. Wie viele Sehnsüchte, Wünsche, Geheimnisse? Wohin verschwindet das alles? Die ungesehene Energie der Gedanken des Lebens ist Nahrung für die Götter – hast du das gewusst? Darum müssen sie – müssen sie wirklich – wankelmütig sein!«
»Magier!«, heulte Felisin auf. »Beeil dich!«
Kulp trat hinter den Ex-Priester und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Dann steh jetzt fest – «
Stattdessen drehte der alte Mann sich um und schaute ihn an. Er hielt die beiden Handgelenke nebeneinander, ließ zwischen ihnen Platz, wo die Hände sein sollten. »Tritt hinein, ich werde dich direkt zu ihr hochwerfen.«
»Heboric – du hast keine Hände, um meinen Fuß festzuhalten …«
Das Grinsen des alten Mannes wurde breiter. »Lass mir doch meinen Spaß.«
Irgendetwas ließ Kulp seine Verwunderung überwinden, als er seinen Fuß in den festen Steigbügel aus ineinander verschränkten Fingern stellte, die er nicht sehen konnte. Erneut legte er dem Ex-Priester die Hände auf die Schultern.
»Du wirst direkt nach oben geworfen«, sagte Heboric. »Ich bin blind. Du musst mir sagen, wo ich mich hinstellen soll, Magier.«
»Einen Schritt zurück, noch ein bisschen. Ja, so.«
»Fertig?«
»Ja.«
Doch er war nicht auf den enormen Kraftausbruch vorbereitet, der ihn hochhob und anscheinend ohne Anstrengung senkrecht nach oben schleuderte. Kulp versuchte, instinktiv nach Felisin zu greifen, und verfehlte sie – zum Glück, denn er flog an ihr vorbei, durch das Loch in der Decke. Fast wäre er genauso senkrecht wieder hinuntergefallen. In panischer Hast warf er den Oberkörper herum, knallte schmerzhaft auf die Kante. Sie ächzte, sackte ein Stück ab.
Die Finger in unsichtbare Bodenfliesen gekrallt, zog der Magier sich auf den Fußboden hinüber.
Felisins Stimme drang schrill von unten herauf. »Magier, wo bist du?«
Kulp, auf dessen Gesicht sich ein fast schon hysterisches Grinsen festgesetzt hatte, antwortete ihr. »Ich bin hier oben. Ich ziehe dich gleich hoch, Mädchen.«
Heboric benutzte unsichtbare Hände, um geschickt an dem behelfsmäßigen Seil aus Leder und Stoff hochzuklettern, das Kulp ihm keine zehn Minuten später hinunterließ. Nicht weit von ihm saß Felisin in dem kleinen, düsteren Zimmer und schaute schweigend zu, während die Furcht ungehemmt in ihrem Innern tobte.
Ihr Körper schmerzte, und es wurde noch schlimmer, als das Gefühl in ihre Füße zurückkehrte. Feiner weißer Staub bedeckte das Blut an ihren Knöcheln und die Stellen, an denen die kristallenen Kanten der Säule ihr die Handgelenke aufgescheuert hatten. Sie zitterte wie Espenlaub. Der alte Mann hat eigentlich schon tot ausgesehen. Tot. Er hat vor Fieber gebrannt, aber sein Geschwätz war nicht nur leeres Gerede. In seinen Worten war Wissen, Wissen, das er unmöglich besitzen konnte. Und jetzt sind seine Geister-Hände wirklich geworden.
Sie warf Kulp einen Blick zu. Der Magier starrte stirnrunzelnd die zerrissenen Fetzen seines Regenumhangs an, den er in der Hand hielt. Dann seufzte er und richtete den Blick auf Heboric, der wieder in seine fiebrige Benommenheit zurückgefallen zu sein schien; er musterte ihren Gefährten schweigend.
Kulp hatte einen magischen Lichtschimmer heraufbeschworen, in dessen schwachem Glanz kahle Wände sichtbar wurden. An einer Wand führten ausgetretene Stufen zu einer stabil aussehenden Tür hinauf. Am Fuß der gegenüberliegenden Wand verlief eine Reihe runder Kerben entlang des Fußbodens, jede von ihnen groß genug, dass ein Fass hineingepasst hätte. Rostfleckige Haken hingen am hinteren Ende des Raums an Ketten von der Decke. In Felisins Augen wirkte alles stumpf; entweder war es auf eine merkwürdige Weise abgenutzt, oder der Effekt hatte etwas mit Kulps magischem Licht zu tun.
Sie schüttelte den Kopf, schlang die Arme um den Oberkörper, um das Zittern zu unterdrücken.
»Das war eine tolle Leistung, da hochzuklettern, Mädchen«, sagte Kulp.
Sie grunzte. »Und wie’s aussieht völlig sinnlos.« Dafür wird es mich wahrscheinlich umbringen. Ich habe mehr als nur Muskeln und Knochen gebraucht, um hier hochzuklettern. Ich fühle mich … ausgelaugt, leer. Es ist nichts mehr übrig, woraus ich neue Kraft schöpfen könnte. Sie lachte.
»Was ist?«
»Wir haben einen Keller gefunden, der sich als Grab eignet.«
»Ich bin noch nicht bereit zu sterben.«
»Schön für dich.«
Sie schaute ihm zu, wie er sich auf die Beine mühte. Er blickte sich um. »Der Raum war einst überflutet. Hier ist Wasser durchgeflossen.«
»Von wo nach wo?«
Er zuckte die Schultern und schlurfte langsam und schwerfällig zu den Stufen hinüber.
Er sieht aus, als ob er hundert Jahre alt wäre. So alt wie ich mich fühle. Zusammen sind wir noch nicht mal so viel wie ein Heboric. Nun, immerhin lerne ich allmählich Ironie zu schätzen.
Nach einigen Minuten erreichte Kulp die Tür. Er strich mit einer Hand darüber. »Bronzebeschläge – ich kann die kleinen Dellen fühlen, die der Hammer hinterlassen hat, als die Bronze glatt gehämmert wurde.« Er klopfte mit dem Knöchel gegen das dunkle Metall. »Das Holz dahinter ist verrottet.«
Der Riegel brach in seiner Hand ab. Der Magier murmelte einen Fluch, dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür.
Die Bronze knackte, bog sich nach innen. Einen Augenblick später fiel die Tür nach hinten, riss Kulp in einer Staubwolke mit.
»Barrieren sind niemals so stabil, wie man glaubt«, sagte Heboric, als die Echos des Krachs verklungen waren. Er stand da und hielt seine verstümmelten Arme vor sich ausgestreckt. »Ich verstehe das jetzt. Für einen blinden Mann ist sein ganzer Körper ein Geist. Er fühlt ihn, kann ihn aber nicht sehen. Also hebe ich unsichtbare Arme, bewege unsichtbare Beine, und meine unsichtbare Brust hebt und senkt sich mit Atemzügen voller unsichtbarer Luft. Also strecke ich jetzt die Finger, mache eine Faust. Ich bin überall fest – und bin es immer gewesen –, es war alles nur die Täuschung meiner Augen.«
Felisin wandte den Blick von dem ehemaligen Priester ab. »Vielleicht verschwindest du, wenn ich taub werde.«
Heboric lachte.
Vom Treppenabsatz erklangen stöhnende Geräusche von Kulp, dessen Atemzüge merkwürdig schwer und mühsam klangen. Sie stemmte sich in die Höhe, stolperte, als der Schmerz sich wie ein eisernes Band um ihre Knöchel legte. Mit zusammengebissenen Zähnen hinkte sie zur Treppe.
Die elf Stufen brachten sie an den Rand der Erschöpfung. Sie fiel neben dem Magier auf die Knie und musste eine lange Minute warten, bis ihre Atmung sich wieder beruhigt hatte. »Bist du in Ordnung?«
Kulp hob den Kopf. »Ich glaube, ich hab mir meine verdammte Nase gebrochen.«
»So wie du dich anhörst würde ich sagen, du hast Recht. Aber ich gehe davon aus, dass du es überleben wirst.«
»Und dabei ziemlich laut schnaufen.« Er erhob sich auf Hände und Knie; dicke, staubige Blutfäden hingen von seinem Gesicht. »Kannst du sehen, was da vorn ist? Ich hatte noch keine Möglichkeit nachzusehen.«
»Es ist dunkel. Und die Luft riecht.«
»Wonach?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Kalk? Ja, so ähnlich wie Kalkstein.«
»Keine bitteren Früchte? Ich bin überrascht.«
Schlurfende Schritte auf den Stufen kündeten von Heborics Ankunft.
Vor ihnen begann es heller zu schimmern; es bildeten sich verschwommene Schlaglichter, die die Szene vor ihnen langsam der Dunkelheit entrissen. Felisin starrte nach vorn.
»Du hast angefangen, schneller zu atmen, Mädchen«, sagte Kulp, der den Kopf noch immer nicht heben konnte oder wollte. »Erzähl mir, was du siehst.«
Heborics Stimme erklang hinter ihnen; er war ungefähr auf halber Höhe der Treppe. »Sie sieht die Überreste eines Rituals, das schiefgegangen ist, das sieht sie. Erstarrte Erinnerungen an altes Pathos.«
»Skulpturen«, sagte Felisin. »Überall auf dem Boden verteilt – es ist ein großer Raum. Sehr groß – das Licht reicht nicht bis zum hinteren Ende.«
»Warte mal. Skulpturen hast du gesagt? Was für Skulpturen?«
»Menschen. Sie sehen aus, als würden sie herumliegen. Zuerst habe ich gedacht, sie wären echt.«
»Und warum glaubst du das jetzt nicht mehr?«
»Nun …« Felisin kroch ein Stück vorwärts. Die vorderste Skulptur war ein Dutzend Schritte entfernt, eine nackte Frau im fortgeschrittenen Alter; sie lag auf der Seite, als wäre sie tot oder schliefe. Der Stein, aus dem sie gemeißelt worden war, war von einem stumpfen Weiß, und mit Moos gesprenkelt. Jede Falte ihres verwelkten Körpers war kunstvoll abgebildet, keine Einzelheit weggelassen worden. Felisin schaute hinunter in das friedliche, gealterte Gesicht. Lady Gaesen – diese Frau könnte ihre Schwester sein. Sie streckte eine Hand aus.
»Denk daran, nichts anfassen«, sagte Kulp. »Ich sehe immer noch Sterne, aber mir sträuben sich die Haare – in diesem Raum riecht es gewaltig nach Zauberei.«
Felisin zog die Hand zurück. »Es sind nur Statuen …«
»Auf Podesten?«
»Na ja, äh, nein; sie stehen einfach auf dem Fußboden.«
Das Licht wurde plötzlich heller, leuchtete jetzt das ganze Zimmer aus. Felisin drehte sich um. Kulp war wieder auf den Beinen; er lehnte am zerborstenen Türrahmen. Der Magier blinzelte kurzsichtig, während er versuchte, die Szene in sich aufzunehmen. »Skulpturen, Mädchen?«, sagte er grollend. »Aber nicht doch. Hier ist ein Gewirr durchgefetzt.«
»Es gibt Tore, die sollten niemals geöffnet werden«, sagte Heboric und schritt vergnügt an dem Magier vorbei. Er kam zielsicher an Felisins Seite, wo er stehen blieb, den Kopf zur Seite legte und lächelte. » Ihre Tochter hat den Pfad der Wechselgänger gewählt; das war eine schlimme Reise. Das war nicht weiter ungewöhnlich, der verdrehte Weg war eine beliebte Alternative zum Aufsteigen. Sie haben behauptet, er wäre … irdischer. Und älter. Und das, was alt war, stand in den letzten Tagen des Ersten Imperiums in hohem Ansehen.« Der Ex-Priester machte eine Pause; plötzlich zog er ein bekümmertes Gesicht. »Es ist verständlich, dass die Alten jener Tage versucht haben, den Pfad, den ihre Kinder gewählt hatten, leichter zu machen. Dass sie versucht haben, eine neue Version des alten, risikobeladenen Weges zu schaffen – denn der war zusammengebrochen, geschwächt, war von einem Krebs befallen. Zu viele junge Leute aus dem Imperium gingen verloren – gar nicht zu reden von den Kriegen im Westen – «
Kulp legte Heboric eine Hand auf die Schulter. Es war, als hätte die Berührung ein Ventil geschlossen. Der ehemalige Priester hob eine seiner Geisterhände zu seinem Gesicht, seufzte. »Es ist viel zu leicht, sich zu verlieren …«
»Wir brauchen Wasser«, sagte der Magier. »Hat sie auch Erinnerungen, die uns in dieser Frage weiterhelfen?«
»Dies war eine Stadt der Quellen, Springbrunnen, Bäder und Kanäle.«
»Die jetzt wahrscheinlich alle mit Sand gefüllt sind«, warf Felisin ein.
»Vielleicht auch nicht«, sagte Kulp, während er sich mit blutunterlaufenen Augen umschaute. Die gebrochene Nase sah ziemlich schlimm aus; die Schwellung hatte die viel zu trockene Haut auf beiden Seiten aufplatzen lassen. »Dieser Raum hier ist erst kürzlich geleert worden. Spürst du nicht, wie die Luft sich noch bewegt?«
Felisin starrte die Frau zu ihren Füßen an. »Dann hat sie einmal richtig gelebt, war Fleisch und Blut.«
»Ja; das gilt für alle, die hier sind.«
»Alchemistische Mittel, die das Altern verlangsamen«, sagte Heboric. »Eine Lebenszeit von sechs, sieben Jahrhunderten für jeden Bürger, jede Bürgerin. Das Ritual hat sie getötet, doch die Alchemie ist wirksam geblieben – «
»Dann hat Wasser die Stadt überflutet«, sagte Kulp. »Überaus mineralhaltiges Wasser.«
»Das nicht nur Knochen in Stein verwandelt hat, sondern auch Fleisch und Blut.« Heboric zuckte die Schultern. »Die Flut hatte etwas mit Ereignissen zu tun, die weit weg von hier stattgefunden haben. Die unsterblichen Wächter waren schon da gewesen und bereits wieder weg.«
»Was für unsterbliche Wächter, alter Mann?«
»Es könnte hier noch eine Quelle geben«, sagte der Priester. »Ganz in der Nähe.«
»Dann führe uns, blinder Mann«, forderte Felisin ihn auf.
»Ich habe noch ein paar Fragen«, sagte Kulp.
Heboric lächelte. »Später. Wenn wir jetzt ein Stück gehen, wird das viel erklären.«
Die versteinerten Menschen in dem Raum waren alle schon älter. Es mussten Hunderte sein. Sie schienen allesamt friedlich gestorben zu sein – etwas, das Felisin irgendwie ein bisschen beunruhigte. Nicht jeder Tod ist schmerzhaft. Dem Vermummten ist das Mittel egal. Zumindest behaupten das die Priester. Doch seine größte Ernte hält er im Krieg, bei Seuchen und Hungersnöten. Die unzähligen Zeitalter der Befreiung müssen den Hochkönig des Todes ganz sicher gezeichnet haben. Aufruhr verstopft sein Tor und hat einen eindeutigen Beigeschmack. Ein heimlicher Völkermord muss sehr unterschiedliche Glocken zum Klingen bringen.
Sie spürte, dass der Vermummte in diesen Stunden sehr nah bei ihr war – eigentlich schon, seit sie auf diese Welt zurückgekehrt waren. Sie stellte fest, dass sie über ihn nachsann, als wäre er ihr Geliebter, als wäre er tief in ihrem Innern und würde einen Anspruch erheben, der dauerhaft und merkwürdig beruhigend war.
Und jetzt fürchte ich nur Heboric und Kulp. Man sagt, die Götter fürchten die Sterblichen mehr als einander. Ist das die Quelle meines Entsetzens? Halte ich ein Echo des Vermummten in meinem Innern gefangen? Der Gott des Todes träumt bestimmt von Strömen aus Blut. Vielleicht bin ich schon die ganze Zeit sein gewesen.
Und so bin ich gesegnet.
Plötzlich drehte Heboric sich um, schien sie aus seinen sonnenverbrannten, zugeschwollenen Augen zu betrachten.
Kannst du jetzt meine Gedanken lesen, alter Mann?
Heborics breiter Mund öffnete sich zu einem schiefen Lächeln. Nach einem Augenblick drehte er sich wieder um und ging weiter.
Das Zimmer endete an einer Türöffnung, durch die sie in einen Tunnel mit niedriger Decke gelangten. Wasser, das in der Vergangenheit hier entlanggeflossen sein musste, hatte die schweren Steine auf beiden Seiten glatt geschliffen. Kulp sorgte weiterhin für das diffuse Licht, das keine bestimmte Quelle zu haben schien, während sie vorwärts stolperten.
Wir schleppen uns dahin wie wiederbelebte Körper, verflucht zu einer Reise, die kein Ende hat. Felisin lächelte. Die besonderen Schützlinge des Vermummten.
Sie erreichten etwas, das früher einmal eine Straße gewesen sein musste, eng und gekrümmt, die Pflastersteine hatten sich zum Teil gehoben und aufgewölbt. Niedrige Wohngebäude drängten sich an den Seiten unter einem Dach aus verkrustetem, dickem Glas. Entlang aller Wände in Sichtweite verliefen schmale Streifen aus einem ähnlichen Material, als würden sie Wasserstände oder Schichten im Sand anzeigen, der einst alles ausgefüllt hatte.
Auf den Straßen lagen noch mehr Leichen, doch diese machten – verdreht und missgestaltet, wie sie waren – einen alles andere als friedlichen Eindruck. Heboric blieb stehen und legte den Kopf schief. »Ah, jetzt stoßen wir auf ganz andere Erinnerungen.«
Kulp kauerte sich neben einer der Leichen hin. »Ein Wechselgänger … er ist genau in dem Augenblick gestorben, da er sich verwandelt hat … in eine Art Reptil.«
»Wechselgänger und Vielwandler«, sagte der Ex-Priester. »Das Ritual hat Mächte entfesselt, die dann unkontrolliert zugeschlagen haben. Wie eine Seuche ist das Gestaltwandeln über Tausende gekommen – unerwartet, ohne Einweihung; viele wurden wahnsinnig. Der Tod hat reiche Ernte in der Stadt gehalten, in jeder Straße, in jedem Haus. Familien wurden von den Ihrigen in Stücke gerissen.« Er schüttelte sich. »Und all das binnen weniger Stunden«, flüsterte er.
Kulp hatte den Blick auf eine andere Gestalt gerichtet, die fast verloren inmitten eines Haufens von versteinerten Leichen lag. »Nicht nur Wechselgänger und Vielwandler …«
Heboric seufzte. »Nein.«
Felisin näherte sich dem Leichnam, auf den die Aufmerksamkeit des Magiers gerichtet war. Sie sah kräftige, nussbraune Gliedmaßen – einen Arm und ein Bein, die sich noch an einem ansonsten verstümmelten Torso befanden. Vertrocknete Haut bedeckte die kräftigen Knochen. Solche Wesen habe ich schon einmal gesehen. An Bord der Silanda. Ein Tlan Imass.
»Das sind also deine unsterblichen Wächter«, sagte Kulp.
»Stimmt.«
»Sie haben hier Verluste erlitten.«
»Oh ja, das haben sie«, sagte Heboric. »Entsetzliche Verluste. Es gibt ein Band zwischen den T’lan Imass und den Wechselgängern und Vielwandlern, eine mysteriöse Verwandtschaft, von der die Bewohner dieser Stadt nichts geahnt haben – obwohl sie für sich selbst den stolzen Titel des Ersten Imperiums in Anspruch genommen haben. Es könnte die T’lan Imass verärgert haben – wenn man davon ausgeht, dass diese Kreaturen überhaupt so etwas wie Ärger empfinden können –, dass sich die Bewohner dieser Stadt so dreist einen Titel zugelegt haben, der in Wirklichkeit den Imass gebührte. Doch was sie wirklich angezogen hat, war das Ritual – und das Bedürfnis, die Dinge in Ordnung zu bringen.«
Kulp legte sein zerschlagenes Gesicht in nachdenkliche Falten. »Unsere Scharmützel mit Wechselgängern … und dann die Imass. Was beginnt da aufs Neue, Heboric?«
»Ich weiß es nicht, Magier. Eine Rückkehr zu jenem alten Tor? Eine weitere Entfesselung ungeahnter Kräfte?«
»Der Wechselgänger-Drache, dem wir gefolgt sind … er war untot.«
»Es war ein T’lan Imass«, erklärte der Ex-Priester. »Ein Knochenwerfer. Vielleicht der Wächter des alten Tores, der noch einmal heraufbeschworen wurde, als Antwort auf eine bevorstehende Katastrophe. Sollen wir weitergehen? Ich kann Wasser riechen – die Quelle, die wir suchen, gibt es noch immer.«
Der Teich lag in der Mitte eines Gartens. Blasses Unterholz bildete eine Art Teppich über den zerborstenen Fliesen, mit denen der Fußboden bedeckt war; weiße und rosafarbene Blätter, die an Fleischstücke erinnerten, farblose Kugeln, eine Art von Früchten, die an Weinreben wuchsen, welche sich um steinerne Säulen und versteinerte Baumstümpfe wanden. Ein Garten, der in der Dunkelheit blühte.
Blinde weiße Fische flitzten durch den Teich; sie suchten nach Schatten, als das magische Licht über ihnen erstrahlte.
Felisin fiel auf die Knie, streckte zitternde Arme aus, tauchte die Hände ins kühle Wasser. Das Gefühl, das sie durchzuckte, war beinahe ekstatisch.
»Die Überreste alchemistischer Mittel«, sagte Heboric hinter ihr.
Sie drehte sich um. »Was meinst du?«
»Es wird … einen zusätzlichen Nutzen haben … diesen Nektar zu trinken.«
»Ist diese Frucht genießbar?«, wollte Kulp wissen und wog bei diesen Worten eine der blassen Kugeln in der Hand.
»Das war sie, als sie noch leuchtend rot war – vor ungefähr neuntausend Jahren.«
Dicke Aschewolken hingen bewegungslos hinter ihnen über dem Pfad, so weit Kalam sehen konnte – was nicht viel bedeuten musste, da es im Imperialen Gewirr alles andere als leicht war, Entfernungen abzuschätzen. Ihre Spur schien so gerade zu verlaufen wie ein Speerschaft. Sein Stirnrunzeln wurde heftiger.
»Wir haben uns wirklich verirrt«, sagte Minala und lehnte sich im Sattel nach hinten.
»Das ist immer noch besser, als tot zu sein«, murmelte Keneb und bekundete dem Assassinen mit diesen Worten zumindest etwas Sympathie.
Kalam spürte den Blick aus Minalas harten grauen Augen auf sich ruhen. »Schaff uns aus diesem vom Vermummten verfluchten Gewirr raus, Korporal. Wir haben Hunger, wir haben Durst, und wir haben keine Ahnung, wo wir sind. Schaff uns hier raus!«
Ich habe Aren vor meinem geistigen Auge heraufbeschworen, ich habe mir eine ganz bestimmte Stelle ausgesucht – eine unauffällige Nische am Ende der letzten Biegung der Keine-Hilfe-Gasse … nicht weit von der Neige, diesem Schuppen im Hafenviertel, wo die ausgebürgerten Malazaner immer herumhängen. Ich habe mir alles vorgestellt, bis hin zu den Pflastersteinen unter meinen Füßen. Warum kommen wir also nicht hin? Was blockiert uns? »Noch nicht«, erwiderte Kalam. »Es ist ein weiter Weg nach Aren, auch wenn man mittels eines Gewirrs reist.« Das klingt doch wirklich vernünftig. Warum dann all dieses Unbehagen?
»Irgendwas stimmt nicht«, ließ Minala nicht locker. »Ich kann es an deinem Gesicht sehen. Wir müssten inzwischen längst da sein.«
Der Geschmack von Asche, ihr Geruch, wie sie sich anfühlte – all das war inzwischen zu einem Teil von ihm geworden, und er wusste, dass es den anderen genauso ging. Das leblose Zeug schien selbst seine Gedanken zu beflecken. Kalam hatte einen bestimmten Verdacht, was die Asche früher einmal gewesen war – der Knochenhaufen, über den sie bei ihrem Eintritt in das Gewirr gestolpert waren, war nicht der einzige geblieben –, doch er scheute davor zurück, diesen Verdacht sich selbst gegenüber einzugestehen. Die Möglichkeit war zu grässlich, zu überwältigend, um länger darüber nachzudenken.
Keneb grunzte, dann seufzte er. »Also, Korporal, sollen wir weitergehen?«
Kalam warf dem Hauptmann einen Blick zu. Das Fieber, das von »einer Kopfwunde hergerührt hatte, war verschwunden, doch seine Bewegungen waren kaum merklich verlangsamt, seine Sprechweise leicht schleppend – beides Hinweise darauf, dass er noch nicht vollständig geheilt war. Der Assassine wusste, dass er nicht auf den Mann zahlen konnte, sollte es zu einem Kampf kommen. Und mit dem augenscheinlichen Verlust von Apt hatte er das Gefühl, sein Rücken sei ungedeckt. Minalas Unfähigkeit ihm zu trauen verringerte das Vertrauen, das er in sie setzte; sie würde tun, was notwendig war, um ihre Schwester und die Kinder zu schützen – mehr jedoch auch nicht.
Es wäre besser, wenn ich allein wäre. Er trieb sein Pferd vorwärts. Nach einem Augenblick folgten ihm die anderen.
Das Imperiale Gewirr war eine Sphäre, in der es weder Tag noch Nacht gab; es herrschte ein ständiges Zwielicht, dessen schwacher Schein nirgendwo herzukommen schien – ein Ort ohne Schatten. Sie maßen das Verstreichen der Zeit an den zyklisch wiederkehrenden Bedürfnissen ihrer Körper. Der Notwendigkeit zu essen und zu trinken. Der Notwendigkeit zu schlafen. Und als Hunger und Durst immer stärker an ihnen nagten und nicht mehr zu besänftigen waren, als Erschöpfung jeden Schritt mühsam machte, versank die Vorstellung von Zeit in der Bedeutungslosigkeit; tatsächlich entpuppte sich die Zeit dabei als etwas, das aus dem Glauben geboren wird, nicht aus Tatsachen.
»Die Zeit macht Gläubige aus uns. Zeitlosigkeit macht uns zu Ungläubigen.« Noch ein Sprichwort des Narren, ein weiteres schlaues Zitat, das die Weisen meines Heimatlandes gern von sich geben. Es wird zumeist dann benutzt, wenn man sich über das, was vorher war, hinwegsetzt, wenn man die Lektionen, die uns die Geschichte lehrt, höhnisch verspottet. Die wichtigste Behauptung der Weisen war die, nichts zu glauben. Mehr noch, diese Behauptung war einer der wichtigsten Lehrsätze für diejenigen, die zu Assassinen wurden.
»Meuchelmorde beweisen, dass das Gerede von Konstanten eine Lüge ist. Zwar ist der erhobene Dolch selbst eine Konstante, doch eure Freiheit, euch euer Opfer und den Zeitpunkt der Tat auszuwählen, ist die dunkle Lüge der Konstante. Ein Assassine ist das entfesselte Chaos, Schüler. Doch bedenkt: Der erhobene Dolch kann Feuerstürme ebenso leicht zum Verlöschen bringen wie er sie entzünden kann …«
Und da, wie mit einer Dolchspitze in seine Gedanken eingeritzt, erstreckte sich der schmale, gerade Pfad, der ihn direkt zu Laseen bringen würde. Jede Rechtfertigung, die er benötigte, ritt unbeirrbar innerhalb jener Spalte. Der Pfad führt durch Aren, doch er scheint nicht zu bemerken, dass mich etwas von ihm abgebracht hat, mich über diese Ebene aus Asche wandern lässt.
»Ich kann da vorne Wolken sehen«, sagte Minala, die an seiner Seite ritt.
Kämme aus tief hängendem Staub zogen sich kreuz und quer über das Gebiet vor ihnen. Kalam kniff die Augen zusammen. »Genauso gut wie Fußspuren im Schlamm«, murmelte er.
»Was?«
»Dreh dich um – wir hinterlassen genau die gleiche Spur. Wir haben Gesellschaft im Imperialen Gewirr.«
»Und jegliche Gesellschaft ist unwillkommen«, sagte sie.
»Hm.«
Kalams Unbehagen wuchs, als sie die erste zackige Furche erreichten. Mehr als einer. Tiere. Diese Fußspuren hat niemand hinterlassen, der der Imperatrix die Treue geschworen hat …
»Da«, sagte Minala und streckte den Arm aus.
Dreißig Schritt voraus war etwas, das wie ein Loch oder ein dunkler Fleck auf dem Boden aussah. Schwebende Aschefahnen hüllten den Abgrund in einen bewegungslosen, halb durchsichtigen Vorhang.
»Bilde ich mir das nur ein«, grollte Keneb hinter ihnen, »oder liegt wirklich ein neuer Geruch in dieser verdammten Luft?«
»Es riecht nach Wald«, stimmte Minala zu.
Während sich seine Nackenhärchen aufstellten, löste Kalam seine Armbrust aus ihrer Halterung am Sattel, kurbelte den Haken zurück, bis er einrastete, und schob dann einen Bolzen in den Schlitz. Die ganze Zeit spürte er Minalas Blicke auf sich gerichtet und so war er nicht überrascht, als sie sprach.
»Dieser Geruch ist dir vertraut, stimmt’s? Aber nicht, weil du die Truhe irgendeines Kaufmanns ausgeplündert hast. Also, wonach sollten wir Ausschau halten, Korporal?«
»Nach allem Möglichen«, sagte er und trieb sein Pferd weiter.
Die Grube hatte mindestens einhundert Schritt Durchmesser, und am Rand lag hier und dort aufgeschüttete Erde aus dem Innern. Knochen ragten aus diesen Haufen heraus.
Kalams Hengst blieb ein paar Schritte vor dem Rand stehen. Der Assassine, der noch immer die Armbrust in den Händen hielt, schwang ein Bein über das Sattelhorn und ließ sich zu Boden gleiten; er landete in einer Wolke aus grauem Staub. »Bleibt lieber hier«, sagte er zu den anderen. »Wir wissen nicht, wie fest der Rand ist.«
»Und warum willst du dann überhaupt hingehen?«, wollte Minala wissen.
Ohne ihr zu antworten, tastete Kalam sich vorsichtig vorwärts. Er näherte sich dem Rand bis auf zwei Schritte – nahe genug, um zu sehen, was auf dem Grund der Grube lag. Zunächst jedoch galt seine Aufmerksamkeit der gegenüberliegenden Seite. Jetzt weiß ich, worauf wir hier herumlaufen, und es hat überhaupt nichts geholfen, nicht darüber nachzudenken. Beim Atem des Vermummten! Die Asche hatte sich in mehreren Schichten abgelagert, und diese Schichten zeigten, dass das Feuer dieses Land einst mit unterschiedlichen Temperaturen und unterschiedlicher Wildheit verbrannt hatte – und alles, was sich darauf befunden hatte. Die Schichten waren auch unterschiedlich dick. Eine der dicksten lag eine Armlänge tief und wirkte fest, was sicher auch auf die verdichteten, zerschmetterten Knochen darin zurückzuführen war. Direkt darunter lag eine dünnere, rötliche Schicht, die aussah wie Ziegelstaub. Andere Schichten zeigten nur verbrannte Knochen, die mit schwarzen, weiß umrandeten Flecken gesprenkelt waren. Die wenigen Knochen, die er identifizieren konnte, schienen menschlich zu sein – wenn auch die Gliedmaßen vielleicht etwas länger waren. Die gestreifte Wand, die ihm gegenüberlag, war mindestens vierzig Fuß hoch. Wir stehen auf uraltem Tod, den Überresten von … Millionen von Lebewesen.
Langsam glitt sein Blick hinunter zum Boden der Grube. Dort standen dicht gedrängt rostige Mechanismen, alle identisch und mehr oder weniger gleichmäßig verteilt. Jeder hatte ungefähr die Größe eines Händlerwagens, und tatsächlich waren auch große, eiserne Speichenräder zu sehen.
Kalam musterte sie lange, dann drehte er sich um und kehrte zu den anderen zurück, wobei er die Armbrust entspannte.
»Und?«
Der Assassine zuckte die Schultern, zog sich wieder in den Sattel. »Am Grund liegen alte Ruinen. Merkwürdige Ruinen – ich habe bisher nur ein einziges Mal etwas Ähnliches gesehen, in Darujhistan, in dem Tempel, der Icariums Kreis der Jahreszeiten beherbergt, von dem man sich erzählt, dass er das Verstreichen der Zeit messen soll.«
Keneb grunzte.
Kalam warf dem Mann einen Blick zu. »Ist irgendwas, Hauptmann?«
»Nur ein Gerücht, sonst nichts. Und es ist auch schon mehrere Monate alt.«
»Was für ein Gerücht?«
»Oh, dass Icarium gesehen wurde.« Keneb runzelte plötzlich die Stirn. »Was weißt du von den Drachenkarten, Korporal?«
»Genug, um einen großen Bogen um sie zu machen.«
Keneb nickte. »Damals ist ein Seher bei uns durchgekommen. Ein paar Mitglieder meiner Truppe wollten sich die Karten legen lassen. Es hat damit geendet, dass sie ihr Geld zurückbekommen haben, denn der Seher ist nie über die erste Karte hinausgekommen. Er war nicht sonderlich überrascht, wenn ich mich recht entsinne. Hat gesagt, das wäre schon seit Wochen so, und dass es nicht nur ihm so ginge, sondern allen, die versuchen, die Drachenkarten zu lesen.«
Leider habe ich dieses Glück nicht gehabt, als ich die Drachenkarten das letzte Mal gesehen habe. »Welche Karte war es denn?«
»Ich glaube, es war eine von den neutralen. Wie heißen die noch mal …?«
»Auge, Thron, Zepter, Obelisk – «
»Obelisk! Das war die Karte! Der Seher hat gesagt, es läge an Icarium, und dass er in der Pan’potsun-Odhan gesehen worden wäre, zusammen mit seinem Freund, dem Trell.«
»Spielt irgendwas davon eigentlich eine Rolle?«, wollte Minala wissen.
Obelisk … Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Zeit – und die Zeit hat keine Verbündeten … »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte der Assassine.
Sie ritten weiter, umgingen die Grube in sicherem Abstand. Noch mehr Spuren im Staub kreuzten ihren Weg; nur die wenigsten sahen so aus, als hätten Menschen sie verursacht. Obwohl es schwer zu sagen war, schienen sie doch in eine Richtung unterwegs zu sein, die genau entgegengesetzt zu jener lag, die Kalam gewählt hatte. Wenn wir uns tatsächlich Richtung Süden bewegen, dann sind die Wechselgänger und Vielwandler alle nach Norden unterwegs. Das ist einerseits beruhigend, andererseits – wenn noch mehr Gestaltwandler unterwegs sind, werden wir genau in sie hineinlaufen.
Tausend Schritte später stießen sie auf eine abgesunkene Straße. Wie die Mechanismen in der Grube lag sie ungefähr vierzig Fuß unter Oberflächenniveau. Zwar wogte Staub über den Pflastersteinen und ließ sie verschwommen erscheinen, doch die steilen Böschungen waren noch nicht zusammengesackt. Kalam stieg ab, band ein langes, dünnes Seil am Sattelhorn seines Hengstes fest, packte das andere Ende und machte sich an den Abstieg. Zu seiner Überraschung sank er nicht in die Böschung ein. Seine Stiefel knirschten auf dem Untergrund. Irgendwie war der Hang verfestigt worden. Und er war auch nicht zu steil für die Pferde.
Der Assassine schaute zu den anderen hoch. »Diese Straße hier führt mehr oder weniger in die gleiche Richtung, in die wir unterwegs waren. Ich schlage vor, wir benutzen sie – wir werden viel schneller vorankommen.«
»Und kommen viel schneller nirgendwohin«, sagte Minala.
Kalam grinste.
Als alle ihre Pferde nach unten geführt hatten, fragte der Hauptmann: »Warum können wir hier nicht ein Weilchen lagern? Man kann uns nicht sehen, und die Luft ist ein bisschen … sauberer.«
»Und es ist kühler«, fügte Selv hinzu; sie hatte die Arme um ihre viel zu stillen Kinder gelegt.
»In Ordnung«, stimmte der Assassine zu.
Die Wasserblasen für die Pferde wurden allmählich bedrohlich leicht – Kalam wusste, dass die Tiere einige Tage mit nur etwas Futter überstehen konnten, obwohl sie schrecklich darunter leiden würden. Die Zeit läuft mir davon. Während er die Pferde absattelte, fütterte und tränkte, rollten Minala und Keneb die Decken aus und suchten dann die spärlichen Vorräte zusammen, aus denen ihr eigenes Mahl bestehen würde. Die Vorbereitungen liefen in völligem Schweigen ab.
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass dieser Ort mir Mut macht«, sagte Keneb beim Essen.
Kalam grunzte. Er freute sich, dass der Hauptmann allmählich seinen Sinn für Humor wieder fand. »Hier könnte mal wieder vernünftig gefegt werden«, stimmte er zu.
»Stimmt. Außerdem habe ich schon früher Lagerfeuer gesehen, die außer Kontrolle geraten sind …«
Minala nahm einen letzten Schluck Wasser und setzte dann die Blase ab. »Ich bin fertig«, verkündete sie. »Ihr beide könnt euch jetzt in aller Ruhe übers Wetter unterhalten.«
Sie sahen ihr nach, wie sie zu ihren Decken hinüberging. Selv packte die übrig gebliebenen Nahrungsmittel wieder ein und zog sich dann ebenfalls mit den Kindern zurück.
»Es ist meine Wache …«, erinnerte Kalam den Hauptmann.
»Ich bin nicht müde – «
Der Assassine stieß ein bellendes Lachen aus.
»Schon in Ordnung, ich bin müde. Wir alle sind müde. Es ist nur, dass der Staub uns alle so laut schnarchen lässt, dass wir sogar brünftige Hirsche übertönen würden. Und so kommt’s, dass ich schließlich mit offenen Augen daliege und das anstarre, was eigentlich der Himmel sein sollte, was aber eher wie ein Leichentuch aussieht. Die Kehle brennt, die Lungen schmerzen, als wären sie voller Schlamm, die Augen sind trockener als ein vergessener Glücksstein. Wir werden nicht mehr vernünftig schlafen, so lange wir diesen Ort nicht aus unseren Körpern raus haben …«
»Dafür müssen wir hier erst mal wieder rauskommen.«
Keneb nickte. Er warf einen Blick zu der Stelle, von der bereits Schnarchen herüberdrang, und senkte die Stimme. »Kannst du irgendwas darüber sagen, wann das sein wird, Korporal?«
»Nein.«
Der Hauptmann schwieg längere Zeit; schließlich seufzte er. »Du hast irgendwie mit Minala die Klingen gekreuzt. Würdest du nicht auch sagen, dass das für unwillkommene Spannungen in unserer kleinen Familie sorgt?«
Kalam sagte nichts.
Nach einem kurzen Augenblick fuhr Keneb fort. »Oberst Tras wollte eine stille, gehorsame Frau, eine Frau, die sich an seinen Arm hängt und hübsche Geräusche von sich gibt – «
»Er war wohl kein besonders guter Beobachter?«
»Nun, er war eher dickköpfig. Man kann jedes Pferd brechen, so lautete seine Philosophie. Und genau das hat er versucht.«
»War der Oberst ein feinsinniger Mann?«
»Er war noch nicht einmal ein kluger Mann.«
»Aber Minala ist beides – was, im Namen des Vermummten, hat sie sich dabei gedacht?«
Keneb starrte den Assassinen aus zusammengekniffenen Augen an, als wäre ihm gerade etwas klar geworden. Dann zuckte er die Schultern. »Sie liebt ihre Schwester.«
Kalam schaute weg; ein humorloses Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Ist das Leben im Offizierskorps nicht wunderbar?«
»Tras wäre nicht lange in dieser hinterwäldlerischen Garnison geblieben. Er hat seine Boten benutzt, um ein großes Netz zu weben. Es hätte allenfalls noch eine Woche gedauert, und er hätte einen neuen Posten bekommen – mitten im Zentrum des Geschehens.«
»Das heißt in Aren.«
»Stimmt genau.«
»Und dann hättet Ihr das Kommando über die Garnison gehabt.«
»Und zehn Imperials mehr pro Monat. Genug, um gute Lehrer für Kesen und Vaneb anzuheuern und nicht mehr auf diese alte Kröte von einem Mann mit den zitternden Händen zurückgreifen zu müssen, dem der Wein den Verstand verwirrt hat und der dem Stab der Garnison zugeteilt ist.«
»Minala sieht aber nicht so aus, als wäre sie gebrochen«, sagte Kalam.
»Oh, sie ist gebrochen. Beschleunigte Heilung war das, worauf der Oberst sich verlassen hat. Es ist eine Sache, einen Menschen so zu prügeln, dass er das Bewusstsein verliert, und dann einen Monat oder länger warten zu müssen, bis er wieder in Ordnung ist und man es von neuem tun kann. Mit dem Heiler eines Trupps an deiner Seite, dem seine Spielschulden über den Kopf wachsen, kannst du ihr vor dem Frühstück die Knochen brechen, und beim nächsten Sonnenaufgang ist sie schon wieder bereit für die nächste Tracht Prügel.«
»Während du die ganze Zeit zackig grüßt …«
Keneb zuckte zusammen, blickte weg. »Du kannst nicht gegen etwas protestieren, von dem du nichts weißt, Korporal. Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht gehabt hätte …« Er schüttelte den Kopf. »Es geschah alles hinter verschlossenen Türen. Selv hat es herausgefunden, durch einen Wäscher, der nicht nur für uns, sondern auch für den Haushalt des Oberst gearbeitet hat. Blut auf den Laken und solche Dinge. Als sie es mir gesagt hat, bin ich hingegangen und wollte ihn mir auf dem Hof der Garnison vorknöpfen.« Er zog eine Grimasse. »Die Rebellion ist mir dazwischengekommen – ich bin unterwegs in einen Hinterhalt marschiert, und danach war meine einzige Sorge, uns alle am Leben zu erhalten.«
»Und wie ist der gute Oberst gestorben?«
»Du bist gerade an eine geschlossene Tür gekommen, Korporal.«
Kalam lächelte. »Das ist schon in Ordnung. In Zeiten wie diesen kann ich ziemlich gut durch geschlossene Türen hindurchschauen.«
»Dann brauche ich ja nichts mehr zu sagen.«
»Wenn ich mir Miriala so ansehe, ergibt das alles aber keinen rechten Sinn«, sagte der Assassine.
»Ich vermute, dass es sehr unterschiedliche Arten von Stärke gibt. Und unterschiedliche Arten, sich zu verteidigen. Früher hat sie Selv und den Kindern sehr nahe gestanden. Jetzt legt sie sich um die drei wie eine Rüstung, genauso kalt und genauso hart. Aber mit dir hat sie Probleme, Kalam. Denn du hast dich auf die gleiche Weise um sie – um uns alle herumgelegt.«
Und jetzt fühlt sie sich überflüssig? Nun gut, vielleicht sieht es für Keneb wirklich so aus. »Das Problem, das sie mit mir hat, ist, dass sie mir nicht traut, Hauptmann.«
»Und warum nicht, im Namen des Vermummten?«
Weil ich verborgene Dolche besitze. Und sie weiß es. Kalam zuckte die Schultern. »Nach dem, was Ihr mir gerade erzählt habt, würde ich annehmen, dass sie niemandem mehr so leicht Vertrauen schenkt, Hauptmann.«
Keneb dachte ein Weilchen über diese Worte nach. Schließlich seufzte er und erhob sich. »Nun, genug davon. Ich muss ein Leichentuch anstarren und Schnarchgeräusche zählen.«
Kalam blickte dem Hauptmann nach, als er hinüber zu seiner Frau ging und sich neben ihr hinlegte. Der Assassine holte langsam tief Luft. Ich nehme an, dass du schnell gestorben bist, Oberst Tras. Sei doch wankelmütig, werter Vermummter, und spuck den Bastard noch einmal aus. Ich werde ihn noch einmal töten. Und die Königin möge sich abwenden, ich werde es nicht schnell tun.
Flach auf dem Bauch schlängelte sich Fiedler den von Felsen übersäten Hang hinab, und er achtete nicht darauf, dass er sich die Fingerknöchel dabei aufscheuerte, weil er die ganze Zeit seine gespannte Armbrust vor sich her trug. Dieser Bastard von Diener ist doch garantiert schon in einem Dutzend Mägen verschwunden. Entweder das, oder sein Kopf ziert die Spitze einer Pike – das heißt natürlich abzüglich der Ohren, die an irgendeinem Gürtel baumeln.
Icarium und Mappo hatten all ihr Geschick bis zum Äußersten einsetzen müssen, um sie alle einfach nur am Leben zu halten. Der Wirbelwind mit all seiner Gewalt war nicht länger ein leerer Sturm, der über ein totes Land hinwegfegte. Die Spur, die Diener zurückgelassen hatte, hatte die Gruppe in ein zielgerichteteres Gemetzel geführt.
Eine weitere Lanze kam aus dem wirbelnden, ockergelben Vorhang zu seiner Linken geflogen und landete klappernd zehn Schritt entfernt von der Stelle, wo der Sappeur lag. Der Zorn eurer Göttin macht euch genauso blind wie uns, ihr Narren!
Sie befanden sich in einem hügeligen Gebiet, in dem es von Sha’iks Wüstenkriegern nur so wimmelte. Diese mörderische Konvergenz war einerseits Zufall, doch da war auch noch etwas anderes. In der Tat, eine Konvergenz. Die Gefolgsleute suchen die Frau, der zu folgen sie geschworen haben. Es ist Pech, dass der andere Pfad sich dummerweise auch genau hier befindet.
Weit entfernte Schreie übertönten das kehlige Heulen des Sturms. Sieh an, in den Hügeln gibt’s jede Menge Bestien – furchtbar schlecht gelaunte Bestien, um genau zu sein. In der letzten Stunde hatte Icarium sie drei Mal um einen Wechselgänger oder Vielwandler herumgeführt. Es gab da so eine Art gegenseitiges Sich-aus-dem-Weg-Gehen – die Gestaltwandler wollten mit dem Jhag nichts zu tun haben. Aber Sha’iks Fanatiker … ah, die sind jetzt leichte Beute. Ein Glück für uns.
Andererseits erschien die Möglichkeit, dass Diener immer noch am Leben war, zumindest nach Fiedlers Ansicht sehr gering. Er machte sich auch Sorgen um Apsalar, und irgendwann wurde ihm bewusst, dass er – ironischerweise – darum betete, dass die Fähigkeiten eines Gottes sich der Aufgabe als gewachsen erweisen mochten.
Zwei Wüstenkrieger in ledernen Rüstungen tauchten ein Stück vor und unterhalb von ihm auf; sie rannten in panischer Hast auf den Grund der Schlucht zu.
Fiedler zischte einen Fluch. Er war der Flankenschutz der Gruppe auf dieser Seite. Wenn sie an ihm vorbeikamen …
Der Sappeur hob die Armbrust.
Schwarze Umhänge legten sich über die beiden Gestalten. Sie kreischten auf. Die Umhänge breiteten sich aus, krabbelten. Spinnen – und sie waren so groß, dass er selbst auf diese Entfernung einzelne Tiere erkennen konnte. Fiedlers Haut prickelte. Ihr hättet Besen mitbringen sollen, Freunde.
Er schob sich aus der Felsspalte, in die er sich gezwängt hatte, hielt sich rechts, als er den Hang entlangrobbte. Und wenn ich nicht bald wieder in Icariums Einflussbereich bin, werde ich mir wünschen, ich hätte auch einen dabei.
Die Schreie der Wüstenkrieger erstarben, was entweder an der Entfernung lag, die der Sappeur zwischen sie und sich legte, oder an ihrer glücklichen Erlösung – er hoffte Letzteres. Direkt vor ihm wuchs die Seite des Kamms in die Höhe, auf dem bisher die Spuren von Apsalar und ihrem Vater verlaufen waren.
Der Wind zerrte an ihm, als er zum Grat hochkletterte. Sobald er oben war, sah er auch schon die anderen, die keine zehn Schritte von ihm entfernt waren. Alle drei beugten sich über eine leblose Gestalt. Fiedler wurde kalt. Oh Vermummter, lass es einen Fremden sein …
Es war ein Fremder. Ein nackter junger Mann, dessen Haut zu blass war, als dass er einer von Sha’iks Wüstenkriegern sein konnte. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden, und die Wunde klaffte bis zur abgeflachten Innenseite seiner Wirbelsäule. Es war kein Blut zu sehen.
Als Fiedler sich langsam hinkauerte, warf Mappo dem Sappeur einen Blick zu. »Wir nehmen an, dass er ein Wechselgänger ist«, sagte er.
»Sieht nach Apsalar aus«, sagte Fiedler. »Seht nur, wie der Kopf nach vorne und unten gestoßen wurde, das Kinn angezogen, um die Klinge darin zu verankern – ich habe das schon früher gesehen.«
»Dann ist sie also am Leben«, meinte Crokus.
»Wie ich gesagt habe«, knurrte Icarium mit grollender Stimme. »Sie leben beide, sie und ihr Vater.«
So weit, so gut. Fiedler streckte sich. »Kein Blut«, sagte er. »Hat irgendjemand eine Idee, wie lange es her sein könnte, dass er getötet wurde?«
»Nicht mehr als eine Stunde«, sagte Mappo. »Und was das fehlende Blut angeht …« Er zuckte die Schultern. »Der Wirbelwind ist eine durstige Göttin.«
Der Sappeur nickte. »Ich glaube, ich werde von jetzt an ein bisschen mehr in eurer Nähe bleiben, wenn ihr nichts dagegen habt … Ich glaube nicht, dass wir mit Sha’iks Kriegern noch viel Ärger haben werden – zumindest sagt mir das mein Bauch …«
Mappo nickte. »Im Augenblick schreiten wir selbst auf dem Pfad der Hände.«
Und warum tun wir das, frage ich mich?
Sie nahmen ihre Reise wieder auf. Fiedler dachte über die Wüstenkrieger nach, die er in den letzten zwölf Stunden mehrfach gesehen hatte. In Wahrheit waren es verzweifelte Männer und Frauen gewesen. Die Raraku war das Zentrum der Apokalypse, doch die Rebellion war ohne Führung, und das schon seit einiger Zeit. Was ging in der Heiligen Wüste jenseits des Rings aus Felsenklippen vor?
Ich wette, dass dort Anarchie herrscht. Gemetzel und Wut. Herzen aus Eis und die Barmherzigkeit von kaltem Stahl. Selbst wenn die Illusion von Sha’ik aufrecht erhalten wird – indem ihre höchstrangigen Gefolgsleute jetzt Befehle erteilen –, so hat sie ihre Armee doch nicht hinausgeführt, um als Magnet der Rebellion zu wirken. Es macht sich nicht gut, einen Aufstand zu verkünden und dann nicht aufzutauchen, um ihn anzuführen …
Apsalar würde alle Hände voll zu tun haben, falls sie ihre Rolle tatsächlich akzeptieren sollte. Die Fertigkeiten eines Assassinen würden ihr helfen, am Leben zu bleiben, doch sie hatten nichts mit jener schwer fassbaren Anziehungskraft zu tun, die man benötigte, um eine Armee zu führen. Eine Armee zu befehligen war einfach genug – dafür sorgten schon die traditionellen Strukturen, wie die teilweise kaum als kompetent zu bezeichnenden Fäuste des malazanischen Imperiums eindeutig bewiesen –, eine Armee jedoch wirklich zu führen war etwas völlig anderes.
Fiedler fielen nur eine Hand voll Menschen ein, die über diese magnetische Anziehungskraft verfügten. Dassem Ultor. Fürst K’azz D’Avore von der Karmesin-Garde. Caladan Bruth. Dujek Einarm. Flickenseel, wenn sie es wirklich gewollt hätte. Wahrscheinlich Sha’ik selbst. Und Elster.
So verführerisch Apsalar auch sein mochte, so hatte der Sappeur doch nichts von einer solchen Kraft in ihrer Persönlichkeit erkennen können. Kompetenz, daran gab es keinen Zweifel. Und auch ein ruhiges Selbstvertrauen. Doch sie zog es ganz eindeutig vor, das Geschehen zu beobachten anstatt daran teilzunehmen – zumindest bis die Zeit kommt, den Dolch zu ziehen. Assassinen machen sich nicht die Mühe, ihre Überzeugungskraft zu schulen – warum sollten sie auch? Sie wird die richtigen Leute um sich herum brauchen …
Fiedler starrte mit finsterem Gesicht vor sich hin. Er nahm es bereits als gegeben hin, dass das Mädchen den Mantel Sha’iks überstreifen würde, der mit dem zentralen Faden dieses von einer Göttin gewobenen Teppichs verschlungen war. Und hier sind wir nun, jagen durch den Wirbelwind … weil wir rechtzeitig ankommen wollen, um Zeugen der prophezeiten Wiedergeburt zu werden.
Die Augen zum Schutz vor dem in der Luft herumwirbelnden Dreck eng zusammengekniffen, warf der Sappeur Crokus einen Blick zu. Der Bursche marschierte ein halbes Dutzend Schritte vor ihm, direkt hinter Icarium. Selbst jetzt, wo er sich in den beißenden Wind lehnte, offenbarte seine Körperhaltung etwas Bedrücktes und Zerbrechliches. Sie hat nichts zu ihm gesagt, bevor sie gegangen ist – sie hat ihn und seine Sorgen ebenso leicht beiseite geschoben wie uns alle. Pustl hat ihr ihren Vater angeboten, um den Pakt zu besiegeln. Aber er hat ihn zuerst hier hinausgeschickt. Das deutet daraufhin, dass der alte Mann dieses Spiel freiwillig mitgespielt hat, dass er ein Mitverschwörer war. Wenn ich das Mädchen wäre, dann würde ich meinem alten Paps ein paar verdammt unangenehme Fragen stellen, wenn ich ihn eingeholt hätte …
Rund um ihn schien im Heulen des Wirbelwinds Gelächter mitzuschwingen.
Der Fleck hatte ungefähr die Form einer Tür und war doppelt so hoch wie ein erwachsener Mann. Perl marschierte vor ihm auf und ab und murmelte dabei unentwegt vor sich hin, während Lostara Yil mit einer Geduld zusah, die nicht zuletzt auf ihre Müdigkeit zurückzuführen war.
Endlich drehte er sich um, als ob ihm plötzlich eingefallen wäre, dass sie auch noch da war. »Es gibt Komplikationen, meine Liebe. Ich bin … hin und her gerissen.«
Die Rote Klinge betrachtete das Portal. »Hat der Assassine das Gewirr verlassen? Dies hier sieht nicht so aus wie das andere …«
Die Klaue wischte sich Asche von der Stirn; ein grauer Streifen blieb zurück. »Ah, nein. Dies hier steht für ein … für einen Umweg. Schließlich bin ich der letzte Agent, der noch am Leben ist. Die Imperatrix verachtet müßige Hände …« Er lächelte sie schief an und zuckte dann die Achseln. »Doch dies ist leider nicht meine einzige Sorge. Wir werden verfolgt.«
Bei diesen Worten rieselte ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. »Dann sollten wir kehrt machen und uns in einen Hinterhalt legen …«
Perl grinste und wedelte mit einem Arm. »Dann sucht uns bitte einen geeigneten Platz …«
Sie blickte sich um. Wohin sie auch schaute, überall war der Horizont flach. »Was ist mit den kleinen Hügeln, an denen wir vor einiger Zeit vorbeigekommen sind?«
»Vergesst die Hügel«, sagte die Klaue. »Wir haben beim ersten Mal sicheren Abstand gehalten, und wir werden auch jetzt nicht näher rangehen.«
»Dann diese Grube …«
»Mechanismen, mit deren Hilfe man die Sinnlosigkeit messen kann. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, meine Liebe. Ich fürchte, für den Augenblick müssen wir das Wesen, das uns verfolgt, ignorieren …«
»Und was ist, wenn es Kalam ist?«
»Er ist es nicht. Dank Eurer Tat haben wir ihn immer im Auge. Der Geist unseres Assassinen wandert, und aus diesem Grund wandert auch sein Pfad. Ein peinlicher Mangel an Disziplin für jemanden, der so gewichtig ist. Ich muss zugeben, dass ich von ihm enttäuscht bin.« Er drehte sich um und blickte das Portal an. »In jedem Fall sind wir hier ein ziemlich großes Stück vom Weg abgekommen. Ein geringes Maß an Unterstützung ist gefordert – es wird nicht lange dauern, das versichere ich Euch. Die Imperatrix teilt meine persönliche Einschätzung, dass Kalams Reise auf … persönliche Risiken ihrerseits hindeutet und aus diesem Grunde ultimativen Vorrang haben muss. Nichtsdestotrotz …«
Der Agent der Klaue löste seinen kurzen Umhang; er faltete ihn sorgfältig zusammen, ehe er ihn auf den Boden legte. Über seine Brust verlief ein Gurt mit Wurfsternen. Ein Messerpaar ragte – die Griffe voraus – unter seinem linken Arm hervor. Perl überprüfte jede einzelne Waffe sorgfältig. Es wirkte fast wie ein Ritual.
»Soll ich hier warten?«
»Ganz wie Ihr wollt. Falls Ihr mich allerdings begleiten solltet, kann ich für Eure Sicherheit nicht garantieren. Ich werde mich nämlich an einem Scharmützel beteiligen.«
»Und wer sind die Feinde?«
»Gefolgsleute des Wirbelwinds.«
Lostara Yil zog ihren Tulwar blank.
Perl grinste, als wäre er sich der Wirkung, die seine Worte haben würden, nur zu bewusst gewesen. »Dort, wo wir auftauchen, wird es Nacht sein. Und außerdem ziemlich neblig. Unsere Feinde sind Krieger der Semk und Tithansi, und unsere Verbündeten – «
»Unsere Verbündeten? Dieses Gefecht findet also bereits statt?«
»Oh ja, natürlich. Also, unsere Verbündeten sind Wickaner und Seesoldaten der Siebten Armee.«
Lostara bleckte die Zähne. »Coltaine.«
Während sein Grinsen noch breiter wurde, streifte Perl sich ein paar dünne Lederhandschuhe über. »Es ist am besten«, fuhr er fort, »wenn uns niemand zu sehen bekommt.«
»Warum?«
»Wenn einmal Hilfe auftaucht, wird sogleich erwartet, diese Hilfe könnte es noch einmal geben. Das Risiko besteht darin, Coltaines Scharfsinn zu betäuben – und bei den Verborgenen, der Wickaner wird seinen Scharfsinn in den kommenden Wochen brauchen.«
»Ich bin bereit.«
»Eines noch«, sagte die Klaue gedehnt. »Es gibt da auch einen Dämon der Semk. Haltet Euch von ihm fern, denn wenn wir auch noch so gut wie nichts über seine Kräfte wissen, so deutet das, was wir wissen, auf eine beängstigend schlechte Laune hin.«
»Ich werde direkt hinter Euch sein«, sagte Lostara.
»Hm. In diesem Fall haltet Euch links, wenn wir durch sind. Ich werde nach rechts gehen. Es wäre kein besonders verheißungsvoller Auftritt, wenn ich niedergetrampelt werden würde.«
Das Portal flackerte. In einer einzigen blitzschnellen Bewegung glitt Perl vorwärts und verschwand. Lostara trat ihrem Pferd die Fersen in die Flanken. Das Tier setzte durch das Portal - und seine Hufe dröhnten auf hartem, fest getrampeltem Boden. Nebel wirbelte wild um sie herum, durch eine Dunkelheit, in der Schreie und Detonationen widerhallten. Lostara hatte Perl bereits aus den Augen verloren, doch diese Sorge schob sie schnell beiseite, als vier Tithansi-Krieger in ihr Blickfeld stolperten.
Eine Splitterbombe hatte sie übel zugerichtet, und keiner von ihnen war darauf vorbereitet, als Lostar sie mit blitzendem Tulwar angriff. Sie verteilten sich, aber ihre Wunden machten sie langsam. Zwei fielen bei ihrem ersten Ausfall. Sie wendete ihr Pferd, um sich für einen zweiten Angriff bereit zu machen.
Die anderen beiden Krieger waren nirgends zu sehen; der Nebel sank immer dichter herab, wie langsam tanzende Betttücher. Unruhe zu ihrer Linken ließ sie das Pferd erneut herumreißen – gerade rechtzeitig, um Perl auftauchen zu sehen. Er drehte sich im Laufen um und schleuderte einen aufblitzenden Wurfstern hinter sich.
Der Kopf des riesigen, tierischen Mannes, der in ihr Blickfeld getrampelt kam, wurde nach hinten geschleudert, als der eiserne Stern sich in seine Stirn bohrte. Der Einschlag bremste ihn kaum.
Lostara schnaubte. Sie ließ blitzschnell den Tulwar fallen, der – von der Schlinge an ihrem Handgelenk gehalten – in einem weiten Bogen herumschwang, als sie ihre Armbrust nach vorn riss.
Ihr Schuss saß zu tief; der Bolzen bohrte sich knapp unterhalb des Brustbeins und oberhalb der merkwürdigen, dicken Ledergürtel, die seinen Bauch schützten, in den Körper des Mannes. Er erwies sich als weitaus effektiver als Perls Stern. Als der Mann grunzte und einknickte, sah sie voller Entsetzen, dass sein Mund und seine Nasenlöcher zugenäht waren. Er holt keine Luft! Hier haben wir unseren Dämon!
Der Semk straffte sich, streckte die Arme aus. Die Kraft, die von ihnen ausging, war unsichtbar, doch sowohl Perl wie Lostara wurden davongeschleudert, wirbelten durch die Luft. Das Pferd wieherte schrill in tödlicher Agonie, während man ein schnelles Knirschen und Knacken von Knochen hören konnte.
Die Rote Klinge landete auf ihrer rechten Hüfte. Der Aufprall ließ den Knochen vibrieren wie eine zerbrochene Glocke. Dann schlossen Wogen aus Schmerz eine krallenbewehrte Hand um ihr Bein. Ihre Blase entleerte sich, und ein heißer Schwall ergoss sich in ihre Unterwäsche.
In Mokassins steckende Füße landeten neben ihr. Der Griff eines Messers wurde in ihre Hand geschoben. »Kümmert Euch um Euch selbst, wenn ich erledigt werde! Hier kommt es!«
Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sich Lostara Yil herum.
Der Semk-Dämon war zehn Schritte entfernt, riesig und unaufhaltsam. Perl kauerte zwischen ihr und dem Dämon. Rotes Feuer troff von den Messern, die er in der Hand hielt. Lostar wusste, dass er bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Das Ding, das den Dämon urplötzlich von links angriff, war der reinste Albtraum. Schwarz, dreigliedrig, ein wie eine Kapuze vorstehendes Schulterblatt hinter einem schmalen Kopf auf einem langen Hals, ein grinsender Kiefer voller Reißzähne, und ein einziges schwarzes Auge, das feucht glänzte.
Vielleicht noch entsetzlicher war die menschliche Gestalt, die hinter dem vorspringenden Schulterblatt saß; ihr Antlitz war eine groteske Nachbildung des Gesichts des Wesens, auf dem sie ritt – mit zurückgezogenen Lippen, die dolchgleiche Fänge enthüllten, die so lang waren wie die Finger eines Kleinkinds, und mit einem einzigen, blitzenden Auge.
Die Erscheinung rammte den Semk-Dämon wie ein gepanzerter Wagen. Das einzelne Vorderglied zuckte vor und wühlte sich tief in den Bauch des Dämons, wurde dann in einer Fontäne hervorschießender Flüssigkeit zurückgezogen. In seinem Griff befand sich etwas, das in fühlbaren Wellen Wut abstrahlte. Die Luft wurde eisig kalt.
Perl wich zurück, bis seine Fersen gegen Lostara stießen, dann griff er mit einer Hand nach unten – die Augen immer noch auf die Szene vor ihm gerichtet – und packte sie am Harnisch.
Der Körper des Semk schien in sich zusammenzufallen, während er rückwärts stolperte. Die Erscheinung bäumte sich auf; noch immer hielt sie das fleischige, tropfende Objekt in ihrer Klaue.
Das Wesen auf ihrem Rücken wollte danach greifen, doch die Kreatur zischte und drehte sich weg, um es außerhalb seiner Reichweite zu halten. Stattdessen schleuderte sie das Ding weit in den Nebel hinein.
Der Semk torkelte in die Richtung, in die das Ding geflogen war.
Der lange Kopf der Erscheinung schwang herum, und sie starrte Lostara und Perl mit jenem gespenstischen Grinsen an.
»Danke«, flüsterte Perl.
Ein Portal erblühte um sie herum.
Lostara blinzelte in einen matten, aschefarbenen Himmel hinauf. Außer ihren Atemzügen war kein Laut zu hören. Wir sind in Sicherheit. Einen Augenblick später hüllte die Bewusstlosigkeit sie wie ein Schleier ein.