Kapitel Sieben

 

Einer der viele war,

jagte seine eigene Stimme

auf dem Blutpfad

Barbarische Morde

Fliegen summen in der Sonne

Er jagte seine eigene Stimme

doch das Einzige, was er hörte,

war die Musik des Vermummten -

jener Sirenengesang

den man Schweigen nennt.

 

Segloras Bericht

       Seglora

 

Der Kapitän hatte zu schwanken begonnen, allerdings nicht im Gleichklang mit dem sich hebenden und senkenden Schiff. Er schüttete Wein sowohl auf den Tisch wie in die vier Kelche, die vor ihm aufgebaut waren. »Dickschädeligen Seeleuten dies und das zu befehlen, macht ganz schön durstig. Ich nehme an, es wird bald etwas zu essen geben.«

Pormquals Schatzmeister, der die Übrigen nicht für wert erachtete, ihnen seinen Namen zu verraten, zog getuschte Augenbrauen hoch. »Aber … wir haben bereits gegessen, Kapitän.«

»Wirklich? Das erklärt die Unordnung, obwohl die Unordnung noch einiges erklären muss, denn sie muss schrecklich gewesen sein. Ihr da«, sagte er zu Kalam, »Ihr seid 30, kräftig wie ein Fenn-Bär  – sagt, hat es geschmeckt? Macht Euch nichts draus, was könnt Ihr denn schon wissen? Ich hab gehört, dass die Leute im Reich der Sieben Städte Früchte pflanzen, nur damit sie die Larven in ihnen essen können. Iss den Wurm und schmeiß den Apfel weg, was? Wenn ihr wissen wollt, wie ihr Leute die Welt seht – dieser eine Brauch sagt schon alles. Und jetzt, wo wir alle dicke Freunde sind … worüber haben wir gesprochen?«

Salk Elan streckte den Arm aus und griff nach seinem Kelch. Er schnüffelte vorsichtig, ehe er einen Schluck nahm. »Der teure Schatzmeister hat uns mit einer Beschwerde überrascht, Kapitän.«

»Hat er das?« Der Kapitän beugte sich über den schmalen Tisch und starrte den Schatzmeister an. »Eine Beschwerde? An Bord meines Schiffes? Die müsst Ihr mir vortragen, mein Herr.«

»Das habe ich gerade getan«, erwiderte der Mann spöttisch.

»Und ich werde mich darum kümmern, so, wie ein Kapitän es tun muss.« Er lehnte sich mit einem zufriedenen Ausdruck zurück. »Nun, worüber sollten wir sonst noch sprechen?«

Salk Elan zwinkerte Kalam zu. »Wie wäre es, wenn wir uns ganz kurz der Kleinigkeit zuwenden würden, dass uns gerade zwei Freibeuter verfolgen?«

»Sie verfolgen uns nicht«, sagte der Kapitän. Er trank seinen Kelch aus, leckte sich die Lippen und schenkte sich aus dem großen Krug nach. »Sie halten mit, mein Herr, und das ist etwas vollkommen anderes, wie Ihr sicherlich begreifen werdet.«

»Nun, ich muss zugeben, dass ich den Unterschied weniger deutlich erkennen kann als Ihr, Kapitän.«

»Wie schade.«

»Ihr könntet«, warf der Schatzmeister mit krächzender Stimme ein, »versuchen, uns zu erleuchten.«

»Was habt Ihr gesagt? Zu erleuchten versuchen? Das ist ja außerordentlich, Mann.« Er ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken, einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht.

»Sie warten auf stärkeren Wind«, wagte Kalam sich zu äußern.

»Sie wollen schneller werden«, sagte der Kapitän. »Oh ja, sie wollen um uns herumtanzen, diese Bier pissenden Feiglinge. Ich mag’s gerne von Angesicht zu Angesicht, aber nein, die spielen lieber Ducken und Ausweichen.« Der Blick seiner Augen richtete sich überraschend fest auf Kalam. »Und darum werden wir sie in der Morgendämmerung überraschen. Angriff! Klar zur Wende! Seesoldaten, macht euch bereit, das feindliche Schiff zu entern! Ich werde an Bord der Lumpenpfropf keine Beschwerden mehr dulden. Nicht eine einzige, verdammt noch mal. Wenn ich das nächste Mal Gemecker höre, verliert der Meckerer einen Finger. Meckert er nochmal, verliert er noch einen. Und so weiter. Und jeder Finger wird aufs Deck genagelt. Klopf, klopf!«

Kalam schloss die Augen. Sie waren jetzt vier Tage ohne Begleitung gesegelt; die Handelswinde hatten sie mit gleichmäßigen sechs Knoten vorangetrieben. Die Matrosen hatten jeden Fetzen Leinwand gesetzt, der sich an Bord befand, und das Schiff knirschte und ächzte beständig, doch die beiden Piratenschiffe konnten die Lumpenpfropf immer noch umkreisen.

Und jetzt will dieser Wahnsinnige sie angreifen.

»Habt Ihr gerade etwas von einem Angriff gesagt?«, flüsterte der Schatzmeister, die Augen weit aufgerissen. »Das verbiete ich!«

Der Kapitän blinzelte den Mann eulenhaft an. »Aber mein Herr«, sagte der Kapitän mit ruhiger Stimme, »ich habe in meinen Blechspiegel gesehen. Er hat seinen Glanz verloren, mein Wort darauf, das hat er. Von gestern auf heute. Ich habe vor, das zu meinem Vorteil zu nutzen.«

Seit die Reise begonnen hatte, war Kalam die meiste Zeit in seiner Kabine geblieben; er hatte es vorgezogen, nur an Deck zu gehen, wenn es an Bord ganz ruhig war – kurz vor Ende der letzten Wache vor der Morgendämmerung. Außerdem hatte er in der Kombüse mit der Mannschaft gegessen und es dadurch vermieden, allzu häufig mit Salk Elan oder dem Schatzmeister zusammenzutreffen. An diesem Abend hatte der Kapitän jedoch darauf bestanden, dass er mit ihnen zu Abend essen sollte. Da der Assassine neugierig war, was der Kapitän wegen der Piraten zu unternehmen gedachte, die um die Mittagszeit aufgetaucht waren, hatte er zugestimmt.

Es war ganz klar, dass Salk Elan und der Schatzmeister eine Art von Burgfrieden geschlossen hatten, da sie sich darauf beschränkten, gelegentlich süffisante Seitenhiebe auszutauschen. Wie viel Anstrengung sie diese Art der Selbstkontrolle letztlich kostete, machte das übertriebene Getue deutlich, mit dem sie sich um zivilisierte Gespräche bemühten.

Doch das eigentliche Geheimnis an Bord der Lumpenpfropf war ihr Kapitän. Kalam hatte genug Gespräche mit angehört – in der Kombüse oder zwischen dem Ersten und dem Zweiten Offizier –, um beurteilen zu können, dass dem Mann sowohl Respekt wie auch eine Art verschrobene Zuneigung entgegengebracht wurde. So ähnlich, wie man mit einem reizbaren Hund umgeht. Tätschele ihn einmal, und er wedelt mit dem Schwanz, tätschele ihn ein zweites Mal, und du bist deine Hand los. Der Mann wechselte munter aufs Geratewohl die Rollen und kümmerte sich nicht um Schicklichkeit. Er bewies einen Sinn für Humor, der jedes Begriffsvermögen auf eine harte Probe stellte. Wenn der Assassine sich zu lange in der Gesellschaft des Kapitäns befand – vor allem, wenn es Wein zu trinken gab –, schmerzte ihm der Kopf von der Anstrengung, den verschlungenen Gedankengängen des Mannes zu folgen. Und was noch schlimmer war, Kalam spürte eine kühle Absicht, eine Art roten Faden in dem wirren Gewebe, als würde der Kapitän zwei Sprachen auf einmal sprechen, die eine derb und eigenwillig, die andere seidig und voller Geheimnisse. Ich könnte schwören, der Bastard versucht, mir etwas zu sagen. Etwas Lebenswichtiges. Er hatte von einer bestimmten Art von Zauberei gehört, aus einem der weniger bekannten Gewirre, die einen Bann über den Verstand eines Menschen legen konnte, eine Art mentalen Block, den das Opfer – sich dessen qualvoll bewusst – umkreisen, jedoch niemals durchdringen konnte. Ah, jetzt wage ich mich in den Bereich des Absurden. Paranoia ist die Bettgefährtin des Assassinen, und im Nest dieser zischelnden Schlange gibt es keine Ruhe. Ich wünschte, ich könnte mit dem Schnellen Ben sprechen -

»Schlaft Ihr mit offenen Augen, Mann?«

Kalam zuckte zusammen, starrte den Kapitän stirnrunzelnd an.

»Der Herr dieses prächtigen Segelschiffs hat gerade gesagt«, säuselte Salk Elan, »dass die Tage auf merkwürdige Art und Weise verstrichen sind, seit wir die offene See erreicht haben. Und er hat das als Frage formuliert, weil er Eure Meinung hören wollte.«

»Es ist vier Tage her, dass wir Aren verlassen haben«, sagte der Assassine grollend.

»Wirklich?«, fragte der Kapitän. »Seid Ihr Euch da sicher?«

»Wie meint Ihr das?«

»Ihr müsst wissen, dass irgendjemand andauernd den Riesler umwirft.«

»Was?«Oh, das Rieseln von Sand –  ich könnte schwören, dass er die Worte erfindet, noch ehe er sie ausspricht. »Wollt Ihr damit etwa sagen, dass es an Bord der Lumpenpfropf nur ein einziges Stundenglas gibt?«

»Eine ganz bestimmte Sanduhr misst die offizielle Zeit«, sagte Elan.

»Während keine der anderen Uhren an Bord mit dieser übereinstimmt«, fügte der Kapitän hinzu, während er seinen Kelch erneut füllte. »Sind es vier Tage … oder vierzehn?«

»Soll das hier eine Art philosophischer Debatte werden?«, fragte der Schatzmeister misstrauisch.

»Wohl kaum. « Die Worte des Kapitäns gingen beinahe in seinem Rülpser unter. »Als wir den Hafen verlassen haben, war der Mond ein Viertel voll.«

Kalam versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Er hatte auf dem Vorderdeck gestanden, unter einem unglaublich klaren Himmel. War der Mond schon untergegangen gewesen? Nein, er war auf dem Horizont geritten, direkt unter der Spitze jenes Sternbilds, das als Dolch bekannt war. Ein drei viertel voller Mond. Aber das ist unmöglich.

»Zehn Maden sind eine Hand voll«, fuhr der Kapitän fort. »Und genauso gut wie ein Riesler, um die Dauer einer Überfahrt abzuschätzen. In vierzehn Tagen können es schon zehn werden, außer das Mehl war schon zu Beginn der Reise verdorben, nur dass der Koch schwört, dass dem nicht so war – «

»Genauso wie er schwören würde, dass er uns heute Abend ein Abendessen gekocht hat«, sagte Salk Elan mit einem Lächeln, »obwohl unsere Mägen knurren und uns mitteilen, dass das, was wir gerade gegessen haben, alles andere als Nahrung war. Aber wie auch immer, ich danke Euch dafür, die Verwirrung zerstreut zu haben.«

»Nun, mein Herr, da habt Ihr nicht Unrecht; Euer Verstand ist scharf genug, um manche Haut zu durchstechen, obwohl meine dicker ist als die vieler anderer Leute, und ich bin nichts, wenn nicht starrsinnig.«

»Wofür ich Euch wirklich bewundern muss, Kapitän.«

Im Namen des Vermummten – worüber reden die beiden da eigentlich? Oder, anders gefragt: Worüber reden sie nicht?

»Ein Mann kann so werden, dass er nicht einmal mehr dem Pochen seines eigenen Herzens trauen kann – wohlgemerkt, ich kann sowieso nicht weiter als bis vierzehn zählen, also musste ich die Sache aus den Augen verlieren, aber wir reden hier übers Nachspüren, wenn ich nicht irre.«

»Kapitän«, sagte der Schatzmeister, »Eure Worte erfüllen mich mit großer Sorge.«

»Das geht nicht nur Euch so«, fügte Salk Elan hinzu.

»Habe ich Euch gekränkt, mein Herr?« Das Gesicht des Kapitäns rötete sich, während er den Schatzmeister finster anstarrte.

»Gekränkt? Nein. Verwirrt. Ich glaube wohl sagen zu dürfen, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass Ihr nicht mehr Herr Eurer Sinne seid. Um die Sicherheit auf diesem Schiff zu gewährleisten, habe ich daher keine andere Wahl, als – «

»Keine Wahl?«, brach es aus dem Kapitän heraus. Er erhob sich von seinem Stuhl. »Worte wie Sand. Was durch deine Finger rutscht, kann dich umwerfen! Ich werde Euch zeigen, was Sicherheit ist, Ihr verschwitzter Haufen Schweinefett!«

Kalam lehnte sich zurück und hielt Abstand vom Tisch, als der Kapitän zur Kabinentür ging und mit seinem Umhang zu kämpfen begann. Salk Elan hatte sich nicht gerührt; er schaute nur zu, und ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen.

Einen Augenblick später riss der Kapitän die Kabinentür auf und stürmte auf den Gang hinaus, wobei er laut nach seinem Ersten Offizier rief. Als er zur Kombüse marschierte, klangen seine Schritte, als würde er mit den Fäusten gegen die Wand trommeln.

Die Kabinentür schwang ächzend in ihren Angeln.

Der Schatzmeister öffnete den Mund und schloss ihn wieder; dann öffnete er ihn erneut. »Was sollen wir tun?«, flüsterte er, ohne jemand bestimmten anzusprechen.

»Es ist nicht an Euch, das zu entscheiden«, sagte Salk Elan gedehnt.

Der Adlige wirbelte zu ihm herum. »Es ist nicht an mir? Wer soll denn sonst eine solche Entscheidung treffen, wenn nicht der Mann, dem der Schatz von Aren anvertraut wurde – «

»Ach, so wird das also offiziell genannt. Wie wäre es denn stattdessen mit Pormquals unrechtmäßig erworbener Diebesbeute? Die Siegel auf den Kisten da unten tragen das Wappen der Hohefaust, nicht das Zepter des Imperiums – «

Sieh an, dann seid Ihr also im Laderaum gewesen, Salk Elan. Interessant.

»Wer Hand an diese Kisten legt, wird mit dem Tode bestraft«, zischte der Schatzmeister.

Salk Elan grinste höhnisch und voller Abscheu. »Ihr tut die schmutzige Arbeit eines Diebes – was seid Ihr dann wohl?«

Der Adlige wurde bleich. Schweigend stand er auf, stützte sich mit den Händen ab, als das Schiff schwankte, durchquerte den kleinen Raum und verschwand im Korridor. Salk Elan warf Kalam einen Blick zu. »Und was denkt Ihr jetzt von unserem Kapitän, mein widerwilliger Freund?«

»Nichts, was ich mit Euch teilen würde«, gab Kalam zurück.

»Eure fortgesetzten Anstrengungen, mir aus dem Weg zu gehen, sind ziemlich kindisch.«

»Nun, entweder tue ich das auch weiterhin – oder ich töte Euch auf der Stelle.«

»Wie unfreundlich von Euch, Kalam. Nach all dem, was ich für Euch getan habe.«

Der Assassine stand auf. »Seid versichert, dass ich meine Schuld begleichen werde, Salk Elan.«

»Das könntet Ihr schon dadurch tun, dass Ihr mir Gesellschaft leistet – es ist nicht leicht, an Bord dieses Schiffs jemanden zu finden, mit dem sich geistreiche Gespräche führen lassen.«

»Ich werde einen Gedanken voller Sympathie für Euch erübrigen«, sagte Kalam, während er auf die Tür der Kabine zuschritt.

»Ihr schätzt mich falsch ein, Kalam. Ich bin nicht Euer Feind. Ganz im Gegenteil, eigentlich sind wir beide uns ziemlich ähnlich.«

Der Assassine blieb einen Augenblick im Türrahmen stehen. »Wenn Ihr wirklich meine Freundschaft sucht, Salk Elan, dann habt Ihr mit dieser Beobachtung einen großen Schritt in die falsche Richtung gemacht.« Er trat hinaus in den Gang und ging davon.

Als er aufs Hauptdeck hinausstieg, geriet er in einen Strudel wilder Aktivität. Gerät wurde festgezurrt; Seeleute überprüften die Takelage, während andere die Segel einholten. Es war nach der zehnten Glocke und der Nachthimmel war voller Wolken; kein einziger Stern war zu sehen.

Der Kapitän kam an Kalams Seite. »Was habe ich Euch gesagt? Er hat seinen Glanz verloren.«

Eine Sturmböe war im Anzug – der Assassine konnte es im Wind spüren, der jetzt um sie herumwirbelte, als ob die Luft keinen Ort mehr hätte, wohin sie noch ausweichen könnte.

»Aus dem Süden«, lachte der Kapitän und hieb Kalam auf die Schulter. »Wir werden auf die Jäger losgehen, oh ja, das werden wir! Nur mit dem Sturmsegel, und das Vorderdeck voller Seesoldaten! Wir werden ihnen das Maul stopfen! Der Vermummte soll diese einfältigen Jäger holen – wir werden sehen, wie lange sie noch grinsen, wenn sie ein Kurzschwert im Gesicht haben, was?« Er beugte sich nah an Kalam heran; sein Atem roch nach saurem Wein. »Passt auf Eure Dolche auf, Mann, es könnte eine Nacht für Nahkämpfe werden, oh ja, das könnte es!« Plötzlich verzog sich sein Gesicht wie unter Krämpfen, und er wandte sich ab und begann, seine Mannschaft anzubrüllen.

Der Assassine starrte ihm nach. Vielleicht bin ich doch noch nicht paranoid. Den Mann quält etwas.

Das Deck neigte sich, als sie scharf beidrehten. Zum gleichen Zeitpunkt erreichte die erste Windböe die Lumpenpfropf, hob sie höher aus dem Wasser und jagte sie mit prallen Sturmsegeln vor sich her.

Und während die Mannschaft sich um ihre Aufgaben kümmerte, raste sie mit abgeblendeten Laternen nordwärts.

Eine Seeschlacht, während um uns herum ein Sturm tobt; und der Kapitän erwartet, dass die Seesoldaten das Deck des feindlichen Schiffs entern, dass sie auf einem bockenden, von Wogen überspülten Deck stehen und den Kampf zu den Piraten tragen. Das ist mehr als tollkühn.

Zwei große Gestalten tauchten links und rechts hinter dem Assassinen auf. Kalam zog eine Grimasse. Die beiden Leibwächter des Schatzmeisters waren vom ersten Tag an von der Seekrankheit außer Gefecht gesetzt worden, und keiner von beiden sah so aus, als könnte er etwas anderes tun, als dem Assassinen seine Eingeweide auf die Stiefel kotzen; dennoch blieben sie stehen, die Hände an den Waffen.

»Der Herr wünscht mit Euch zu sprechen«, sagte einer von ihnen mit grollender Stimme.

»Zu dumm«, erwiderte Kalam ebenso grollend.

»Sofort.«

»Oder was? Willst du mich anhauchen und dadurch umbringen? Dann kann dein Herr also mit einem Leichnam sprechen, was?«

»Der Herr befiehlt – «

»Wenn er mit mir sprechen will, soll er herkommen. Andernfalls  – wie ich schon gesagt habe: zu dumm.«

Die beiden Stammeskrieger zogen sich zurück.

Kalam bewegte sich auf den Bug zu, am Hauptmast vorbei, wo die beiden Trupps Seesoldaten vor dem Vorderdeck kauerten. Auf den Feldzügen des Imperiums hatte der Assassine mehr als genug Stürme überstanden – in Galeeren, Truppentransportern und Triremen, auf drei Ozeanen und einem halben Dutzend Meeren. Dieser Sturm war – zumindest bis jetzt – vergleichsweise zahm. Die Seesoldaten machten grimmige Gesichter, wie es kurz vor einem Kampf zu erwarten war, abgesehen davon jedoch wirkten sie gelassen, während sie im gedämpften Schein einer abgeblendeten Laterne ihre Armbrüste bereit machten.

Kalam ließ seinen Blick über die Soldaten wandern, bis er den Leutnant gefunden hatte. »Auf ein Wort, Leutnant – «

»Jetzt nicht«, schnappte sie, während sie den Helm aufsetzte und den Wangenschutz zurechtrückte. »Geht nach unten.«

»Er will sie rammen – «

»Ich weiß, was er tun will. Und wenn es danach hart auf hart geht, können wir alles Mögliche gebrauchen – bloß keinen verdammten Zivilisten, beim Vermummten, auf den wir dann auch noch aufpassen müssen.«

»Befolgt Ihr die Befehle des Kapitäns … oder die des Schatzmeisters?«

Bei diesen Worten schaute sie auf, kniff abschätzend die Augen zusammen. Die anderen Seesoldaten hatten plötzlich Besseres zu tun, als sich um ihre Armbrüste zu kümmern. »Geht unter Deck«, sagte sie.

Kalam seufzte. »Ich bin ein Veteran des Imperiums, Leutnant.«

»Von welcher Armee?«

Er zögerte kurz und sagte dann: »Der Zweiten. Neunter Trupp  – die Brückenverbrenner.«

Wie ein Mann fuhren die Seesoldaten zurück. Alle Augen waren jetzt auf Kalam gerichtet.

Der Leutnant machte ein finsteres Gesicht. »Nun, wie wahrscheinlich ist das wohl?«

Ein anderer Seesoldat, ein graubärtiger Veteran, rief mit bellender Stimme: »Wer war Euer Sergeant? Lasst ein paar Namen hören, Fremder.«

»Elster. Noch ein paar andere Sergeanten? Es sind nicht mehr viele übrig. Fahrig. Spindel.«

»Ihr müsst Korporal Kalam sein, stimmt’s?«

Der Assassine musterte den Mann. »Und wer bist du?«

»Niemand, Korporal, und das schon ziemlich lange.« Er warf seinem Leutnant einen Blick zu und nickte.

»Können wir auf Euch zählen?«, fragte sie Kalam.

»Nicht im Voraustrupp, aber ich werde in der Nähe sein.«

Sie schaute sich um. »Der Schatzmeister hat einen Imperialen Erlass – wir sind daran gebunden, Korporal.«

»Ich glaube nicht, dass der Schatzmeister Euch traut; er vermutet wahrscheinlich, dass Ihr Euch für den Kapitän entscheiden werdet, sollte es hart auf hart gehen.«

Sie machte ein Gesicht, als hätte sie plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. »Dieser Angriff ist Wahnsinn, aber es ist verdammt gerissener Wahnsinn.«

Kalam nickte; er wartete.

»Ich schätze, der Schatzmeister hat Grund für seine Vermutung.«

»Wenn es so weit kommen sollte«, sagte der Assassine, »dann überlasst die Leibwächter mir.«

»Beide?«

»Ja.«

Der Veteran meldete sich zu Wort. »Wenn die Haie Magendrücken kriegen, weil sie sich an dem Schatzmeister verschluckt haben, werden wir dafür hängen.«

»Dann solltet ihr irgendwo anders sein, wenn es passiert – und zwar ihr alle.«

Der Leutnant grinste. »Ich glaube, das könnten wir hinkriegen.«

»Nun«, sagte Kalam, laut genug, dass alle Seesoldaten es hören konnten, »ich bin schließlich nichts weiter als ein schwabbelgesichtiger Zivilist, richtig?«

»Wir haben diese ganze Geschichte von wegen abtrünnig und so nie ernsthaft geschluckt«, rief eine Stimme. »Nicht bei Dujek Einarm. Völlig unmöglich.«

Beim Vermummten, nach allem, was ich weiß, könntest du sogar Recht haben, Soldat. Doch er verbarg seine Unsicherheit mit einem halbherzigen Gruß, bevor er sich wieder dem Achterdeck zuwandte.

Die Lumpenpfropf erinnerte Kalam an einen Bären, der durchs Dickicht brach, wie sie sich so schwerfällig, breit und massig in den hoch aufgischtenden Wogen dahinwälzte – ein Frühlingsbär, der seine Höhle erst vor einer Stunde verlassen hat, mit vom Winterschlaf rot geränderten Augen, schlecht gelaunt und voller Hunger, der in seinen Eingeweiden wütet. Ein Stück voraus schleichen zwei Wölfe durch die Dunkelheit … die werden bald eine Überraschung erleben …

Der Kapitän war auf dem Achterdeck und half dem Matrosen, der die Ruderpinne hielt. Sein Erster Offizier stand ganz in der Nähe, den Arm um den Kreuzmast geschlungen. Beide starrten nach vorn in die Dunkelheit, warteten auf den ersten Sichtkontakt mit ihrer Beute.

Kalam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ein Ruf des Ersten Offiziers stoppte ihn.

»Ein Strich Backbord, Kapitän! Beim Atem des Vermummten, gleich haben wir sie!«

Das Piratenschiff, ein niedriges, einmastiges Kaperschiff, das in dem Dämmerlicht kaum zu sehen war, war weniger als hundert Schritte entfernt und hielt einen Kurs, der sich direkt vor der Lumpenpfropf mit dem ihren kreuzen würde. Die Positionierung war atemberaubend perfekt.

»Alle Mann fertig machen zum Rammen!«, bellte der Kapitän durch das Geheul des Sturms.

Der Erste Offizier schoss nach vorn, brüllte seinen Leuten Befehle zu. Kalam sah, dass die Seesoldaten sich ganz flach hinkauerten und sich auf den Aufprall vorbereiteten. Von dem Piratenschiff klangen schwache Schreie herüber. Das sturmfest gemachte, straff angezogene quadratische Segel bauschte sich plötzlich, und der Bug des Schiffs tauchte weg, als die Piraten einen letzen, zum Scheitern verurteilten Versuch unternahmen, den Zusammenstoß zu vermeiden.

Die Götter grinsten auf die Szene herab, doch es war das erstarrte Grinsen auf dem Gesicht eines Toten. Im letzten Moment vor dem Aufprall hob eine Woge die Lumpenpfropf in die Höhe und ließ das Handelsschiff kurz hinter dem zugespitzten Bug von oben auf das niedrige Dollbord des Kaperschiffs krachen. Holz barst, zersplitterte und bebte. Kalam wurde nach vorn gerissen. Er verlor seinen Halt an der Steuerbordseite der Heckreling, wurde vom Achterdeck geschleudert, knallte mit eingezogenen Schultern aufs Hauptdeck und rollte vom Schwung vorwärts getragen noch ein Stück weiter.

Irgendwo über ihm knackten Masten, Segel hingen wie Geisterflügel in der regendurchzogenen Luft.

Die Lumpenpfropf kam zur Ruhe; sie knirschte und knackte und legte sich schwer auf die Seite. Matrosen schrien überall, doch von dort, wo Kalam lag, konnte er nicht erkennen, was geschah. Ächzend mühte er sich auf die Beine. Die letzten Seesoldaten sprangen über die Backbordreling des Vorderdecks hinunter außer Sicht – höchstwahrscheinlich auf das Deck des Kaperschiffs. Oder zumindest auf das, was davon noch übrig ist. Der heulende Wind dämpfte das Waffengeklirr.

Der Assassine drehte sich um, doch der Kapitän war nirgends zu sehen. Es war auch niemand an der Ruderpinne. Auf dem Achterdeck lagen Segelfetzen, Tauwerk und die Überreste einer abgebrochenen Spiere herum.

Kalam machte sich auf den Weg nach achtern.

Die ineinander verkeilten Schiffe waren steuerlos. Wellen schlugen an Steuerbord gegen den Rumpf der Lumpenpfropf, jagten Gischtfahnen über das Hauptdeck. Ein Mann lag im Wasser, mit dem Gesicht nach unten; er blutete, und das Blut verteilte sich wie Spinnenfäden im hin und her schwappenden Wasser.

Kalam drehte den Mann auf den Rücken. Es war der Erste Offizier; sein Schädel war eingeschlagen. Das Blut lief ihm aus der Nase und Kehle; das Wasser hatte die tödliche Wunde ausgewaschen, und der Assassine starrte den Leichnam wohl ein halbes Dutzend Herzschläge lang an, ehe er sich erhob und über den Toten hinwegstieg.

Sie sind wohl doch nicht ganz so seekrank.

Er kletterte zum Achterdeck hinauf und begann, die umherliegenden Teile zu durchwühlen. Der Mann an der Ruderpinne hatte den größten Teil seines Kopfes verloren, und nur ein paar dünne Fäden aus Haut und Sehnen verbanden das, was noch davon übrig war, noch mit seinem Körper. Kalam untersuchte die Stelle im Nacken, wo der Kopf vom Rumpf getrennt worden war.

Ein Zweihandhieb; er hat einen Schritt hinter ihm und etwas nach links versetzt gestanden. Die Spiere hat nur noch einen Toten durchbohrt.

Unter dem Segel fand er den Kapitän und einen der Leibwächter. Holzsplitter ragten aus Kehle und Brust des riesigen Stammeskriegers. Er hielt noch immer seinen zweihändigen Tulwar umklammert. Der Kapitän hatte die Hände um die Spitze der Klinge geschlossen; sie sahen fürchterlich aus – ihr Blut vermischte sich mit dem über das Deck wirbelnden Meerwasser. Seine Stirn war ein einziger, dunkel verfärbter Fleck –  eine gewaltige Prellung –, doch sein Atem ging gleichmäßig.

Kalam löste die Finger des Kapitäns von der Tulwar-Klinge und zog den Mann aus dem Durcheinander.

Zur gleichen Zeit kam die Lumpenpfropf von dem Kaperschiff frei, sackte tief in ein Wellental ab und neigte sich stark zur Seite, als die Wogen gegen ihren Rumpf brandeten. Gestalten erschienen auf dem Achterdeck. Eine von ihnen übernahm die Ruderpinne, die andere kauerte sich neben dem Assassinen nieder.

Als er aufschaute, blickte Kalam in das nasse Gesicht Salk Elans.

»Lebt er noch?«

»Hm.«

»Der Ärger ist noch nicht vorbei«, sagte Elan.

»Zum Vermummten damit! Wir müssen zusehen, dass wir diesen Mann unter Deck bringen.«

»Wir haben Lecks im Bugbereich – die meisten Seesoldaten bedienen im Moment die Pumpen.«

Gemeinsam hoben sie den Kapitän hoch. »Und was ist mit dem Kaperschiff?«

»Das, das wir gerammt haben? Es ist hinüber.«

»Mit anderen Worten«, sagte der Assassine, während sie den Kapitän über die schlüpfrigen Stufen nach unten schleppten, »es ist nicht ganz so gelaufen, wie es der Schatzmeister geplant hatte.«

Salk Elan blieb stehen; der Blick aus seinen Augen wurde durchdringend. »Sieht so aus, als wären wir den gleichen Pfad entlanggeschlichen – hätten den gleichen Gedankengang gehabt.«

»Wo ist der Bastard?«

»Er hat das Kommando übernommen … zumindest für den Augenblick. Anscheinend sind sämtlich Offiziere einem unglücklichen Unfall zum Opfer gefallen –  aber wie auch immer, das andere Piratenschiff kommt auf uns zu … wie ich schon gesagt habe, der Spaß ist noch längst nicht vorbei.«

»Alles zu seiner Zeit«, grunzte Kalam.

Sie schleppten den Bewusstlosen weiter, durchquerten die Kombüse und erreichten den Niedergang. Das Wasser schwappte knöcheltief um ihre Beine, und der Assassine konnte spüren, wie schwerfällig die Lumpenpfropf geworden war.

»Ihr habt den Seesoldaten gegenüber auf Euren Rang verwiesen, stimmt’s?«, fragte Elan, als sie die Tür der Kapitänskajüte erreichten.

»Der Leutnant ist ranghöher als ich.«

»Und wenn. Nennt es meinetwegen die Macht des Berühmt-Berüchtigt-Seins – sie hat schon ein paar deutliche Worte mit dem Schatzmeister gewechselt.«

»Warum?«

»Weil der Bastard natürlich will, dass wir uns ergeben.«

Sie schleppten den Kapitän zu seiner Koje. »In diesem Sturm soll die Fracht umgeladen werden?«

»Nein; sie werden abwarten, bis er abgeflaut ist.«

»Dann haben wir Zeit genug. Hier, helft mir, ihn auszuziehen.«

»Seine Hände sehen schlimm aus.«

»Stimmt. Wir werden sie gleich verbinden.«

Salk Elan starrte auf den Kapitän hinunter, während Kalam die Decke hochzog und den Mann darin einwickelte. »Glaubt Ihr, dass er es überleben wird?«

Der Assassine antwortete nicht, zog nur die Hände des Kapitäns unter der Decke heraus, um sich die Schnittwunden anzusehen. »Er hat damit einen Schwerthieb abgewehrt.«

»Nun, das ist alles andere als leicht. Hört zu, Kalam, wo stehen wir in dieser ganzen Angelegenheit?«

Der Assassine zögerte einen Augenblick. »Wie habt Ihr es genannt?«, fragte er dann. »›Den gleichen Pfad entlangschleichen?‹ Scheint so, als wollte keiner von uns im Magen eines Hais enden.«

»Was wohl bedeuten soll, dass wir besser zusammenarbeiten sollten.«

»Stimmt. Aber erwartet nicht, dass Ihr jetzt einen Gutenachtkuss von mir bekommt, Elan.«

»Wirklich keinen einzigen?«

»Ihr solltet lieber an Deck gehen und sehen, was da oben los ist. Ich kann das hier allein erledigen.«

»Lasst Euch nicht zu viel Zeit, Kalam. Blut ist schnell vergossen.«

»Ich weiß.«

Als er mit dem Kapitän allein war, fand Kalam Nähzeug und begann, die Schnittwunden des Mannes zu nähen. Er war gerade mit einer Hand fertig und hatte mit der anderen angefangen, als der Kapitän aufstöhnte.

»Beim Atem des Vermummten«, murmelte Kalam. »In knapp zehn Minuten wäre ich fertig gewesen.«

»Doppeltes Spiel«, flüsterte der Kapitän, die Augen fest zugekniffen.

»Das haben wir auch schon vermutet«, sagte der Assassine und nähte die nächste Wunde. »Und jetzt seid still und lasst mich meine Arbeit tun.«

»Der Schatzmeister des armen Pormqual ist ein Schurke.«

»Gleich und gleich gesellt sich gern, sagt das Sprichwort.«

»Ihr und dieser warme Schleicher … ihr seid beide von der gleichen Art.«

»Vielen Dank. Das höre ich immer wieder.«

»Jetzt ist es an euch beiden.«

»Und an dem Leutnant.«

Der Kapitän brachte ein Lächeln zu Stande. Seine Augen waren immer noch geschlossen. »Gut.«

Kalam lehnte sich zurück, griff nach dem Verbandsmaterial. »Bin fast fertig.«

»Ich auch.«

»Ihr werdet vielleicht erfreut sein zu hören, dass der Leibwächter tot ist.«

»Stimmt. Hat sich selbst umgebracht, der Idiot. Ich hab mich unter dem ersten Hieb weggeduckt, und die Klinge hat die falschen Taue durchtrennt. Spürt Ihr das, Kalam? Wir schwanken gleichmäßig – irgendjemand da oben an Deck weiß, was er zu tun hat, den Göttern sei Dank. Obwohl sie immer noch viel zu schwerfällig ist … aber sie wird durchhalten.«

»Schließlich haben wir genügend Lumpen.«

»Das haben wir.«

»In Ordnung, ich bin fertig«, sagte Kalam und stand auf. »Versucht zu schlafen, Kapitän. Wir brauchen Euch gesund. Und das schnell.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Der andere Leibwächter wird die erste Gelegenheit nutzen, um die Geschichte zu Ende zu bringen. Der Schatzmeister will mich aus dem Weg haben.«

»Darum werden wir uns kümmern, Kapitän.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, blieb Kalam kurz stehen und lockerte das Langmesser in der Scheide. Einfach so, Kapitän.

 

Der Sturm war vorüber, und im Osten wurde der Himmel heller, klarte golden auf. Die Lumpenpfropf hatte sich gedreht, als der Handelswind zurückgekehrt war. Das Durcheinander auf dem Achterdeck war beseitigt worden, und die Mannschaft schien die Dinge in der Hand zu haben, doch Kalam konnte sehen, wie angespannt die Seeleute waren.

Der Schatzmeister und sein letzter Leibwächter standen in der Nähe des Hauptmasts. Ersterer starrte ununterbrochen zu dem Kaperschiff hinüber, das auf parallelem Kurs und mit angepasster Geschwindigkeit an Steuerbord dahinglitt. Es war nahe genug, dass man die Gestalten auf seinem Deck erkennen konnte, die ihrerseits herüberstarrten. Die Aufmerksamkeit des Leibwächters hingegen war auf Salk Elan gerichtet, der in der Nähe der Stufen zum Vorderdeck herumschlenderte. Kein einziges Mitglied der Mannschaft schien die freie Fläche von zehn Schritt, die die beiden Männer trennte, durchqueren zu wollen.

Kalam begab sich an die Seite des Schatzmeisters. »Dann habt Ihr also das Kommando übernommen?«

Der Mann nickte heftig; allerdings konnte man sein mangelndes Selbstvertrauen daran erkennen, dass er es vermied, dem Assassinen in die Augen zu schauen. »Ich habe vor, uns den Weg freizukaufen – «

»Euch Euren Anteil zu nehmen, meint Ihr. Und wie viel wird das sein? Achtzig, neunzig Prozent? Und natürlich werdet Ihr als Geisel mit an Bord gehen.« Er sah, wie dem Mann alles Blut aus dem Gesicht wich.

»Das geht Euch nichts an«, sagte der Schatzmeister.

»Da habt Ihr Recht. Aber es geht mich etwas an, wenn jemand den Kapitän und seine Offiziere tötet, denn das gefährdet unsere Reise. Auch wenn die Mannschaft es nicht ganz genau weiß – seid versichert, dass sie Verdacht geschöpft hat.«

»Wir haben die Seesoldaten, die sich darum kümmern können. Haltet Euch raus, und Euch wird nichts geschehen. Mischt Euch ein, und Ihr werdet niedergehauen.«

Kalam musterte das Kaperschiff. »Und wie viel Prozent bekommen die da drüben? Was sollte sie daran hindern, Euch die Kehle durchzuschneiden und mit der ganzen Beute davonzusegeln?«

Der Schatzmeister lächelte. »Ich bezweifle sehr, dass mein Onkel und meine Vettern das tun würden. Und jetzt schlage ich vor, dass Ihr Euch unter Deck – in Eure Kabine – begebt und dort bleibt.«

Ohne diesen Ratschlag zu beachten, ging Kalam los, um nach den Seesoldaten zu suchen.

Der Kampf mit den Piraten war kurz und heftig gewesen. Nicht nur, dass ihr Schiff unter ihren Füßen auseinander gebrochen war  – die von Panik erfüllte Piratenmannschaft hatte auch nicht viel Kampfgeist gezeigt.

»Das war schon mehr ein Abschlachten«, murmelte der Leutnant, als sich Kalam gegenüber der jungen Frau hinhockte. Die beiden Trupps saßen im vorderen Laderaum; um sie herum rieselte Wasser an den Planken herab, und sie waren eifrig damit beschäftigt, Lumpen in alle mögliche Löcher und Risse zu stopfen. »Wir haben keinen einzigen Kratzer abgekriegt.«

»Was habt Ihr bis jetzt für Pläne?«, fragte Kalam leise.

Sie zuckte die Schultern. »So viele wie wir brauchen, Korporal. Was sollten wir denn Eurer Meinung nach tun?«

»Der Schatzmeister wird euch befehlen, euch ruhig zu verhalten. Dann werden euch die Piraten die Waffen abnehmen – «

»Woraufhin sie uns die Kehlen aufschlitzen und über Bord werfen werden – Imperialer Erlass oder nicht, der Mann begeht Verrat.«

»Nun, er bestiehlt einen Dieb, aber ich verstehe, was Ihr meint.« Kalam stand auf. »Ich werde mit der Mannschaft sprechen und dann wieder zu Euch kommen, Leutnant.«

»Und warum nehmen wir uns den Schatzmeister und seinen Leibwächter nicht jetzt gleich vor, Kalam?«

Der Assassine sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Haltet Euch an die Regeln, Leutnant. Überlasst das Morden denen, deren Seelen sowieso schon befleckt sind.«

Sie biss sich auf die Lippen, musterte ihn mehrere Herzschläge lang und nickte schließlich langsam.

 

Kalam fand den Seemann, mit dem er gesprochen hatte, als der Frachtraum am Pier von Aren gefüllt worden war. Der Mann schoss auf dem Achterdeck Taue auf; er machte den Eindruck, als wäre es für ihn wichtig, irgendetwas zu tun zu haben.

»Hab gehört, Ihr habt den Kapitän gerettet«, sagte der Seemann.

»Er lebt, aber sein Zustand ist nicht besonders gut.«

»Hm. Der Koch steht vor der Kabinentür Wache, Herr. Mit ’nem Schlachterbeil, und er kann damit umgehen, da könnt Ihr jedes Schwein fragen. Bei Berus Gnade, ich hab ihn mal eins damit rasieren sehen, und hinterher war’s so glatt wie die Titten einer Jungfrau.«

»Wer springt für die Offiziere ein?«

»Wenn Ihr wissen wollt, wer dafür sorgt, dass hier alles klar Schiff ist und alle Männer auf ihren Posten sind – das bin ich, Herr. Unser neuer Kommandant ist allerdings nicht besonders interessiert daran, mit mir zu quatschen. Nur sein Schwertschwinger ist zu mir rübergekommen und hat mir gesagt, dass ich alles zum Beidrehen klar machen soll, wenn die See ein bisschen ruhiger geworden ist.«

»Um die Fracht umzuladen.«

Der Mann nickte.

»Und was dann?«

»Nun, wenn der Kommandant sein Wort hält, lassen sie uns dann abziehen.«

Kalam grunzte. »Und warum sollten sie so nett sein?«

»Tja, auf der Frage hab ich auch schon rumgekaut. Wir haben gute Augen – zu gut für die Burschen, um unbeschwert weiterleben zu können. Und dann ist da noch die Sache mit dem Kapitän. Das, was ihm zugestoßen ist, hat uns schon ein bisschen verärgert. Oh ja, das hat es.«

Von mittschiffs erklang Stiefelgetrampel, und als die beiden Männer sich umdrehten, sahen sie, wie der Leibwächter die Seesoldaten aufs Hauptdeck führte. Das Gesicht des Leutnants war alles andere als glücklich.

»Es ist, als ob um uns rum die Götter kotzen, Herr«, murmelte der Seemann. »Das Kaperschiff kommt näher.«

»Dann sind wir also angekommen«, flüsterte Kalam. Er schaute zu Salk Elan hinüber, der ihm seinerseits einen Blick zuwarf. Der Assassine nickte, und Elan drehte sich beiläufig zur Seite; er hatte die Hände unter seinem Umhang verborgen.

»Auf dem Deck dieses Kaperschiffs wimmelt es von Bewaffneten, Herr. Fünfzig oder mehr, und alle kampfbereit.«

»Überlasst sie den Seesoldaten. Die Mannschaft soll sich zurückhalten – sag das deinen Leuten.«

Der Seemann verschwand. Kalam machte sich zum Hauptdeck auf. Der Schatzmeister befand sich mitten in einer Kraftprobe mit dem Leutnant.

»Ich habe gesagt, Ihr sollt die Waffen niederlegen, Leutnant – Ihr und Eure Leute«, schnappte der Schatzmeister.

»Nein, Herr. Das werden wir nicht tun.«

Der Schatzmeister zitterte vor Wut. Er winkte seinem Leibwächter.

Der große Stammeskrieger kam nicht sehr weit. Er gab ein keuchendes Geräusch von sich, und seine Hände zuckten nach oben und umklammerten die Messerspitze, die aus seiner Kehle ragte. Dann ging er in die Knie und fiel vornüber.

Salk Elan trat ein paar Schritte vor. »Der Plan ist ein klein wenig geändert worden, mein werter Herr«, sagte er und bückte sich, um sich sein Messer zurückzuholen.

Der Assassine trat hinter den Schatzmeister und presste ihm die Spitze seines Langmessers ins Kreuz. »Keinen Laut«, knurrte er. »Und keine Bewegung.« Dann wandte er sich an die Seesoldaten. »Leutnant, macht Euch bereit, Enterkommandos zurückzuschlagen.«

Das Kaperschiff kam längsseits. Die Piraten drängelten und schubsten, als sie sich anschickten, den Zwischenraum zwischen den beiden Schiffen zu überwinden. Der Höhenunterschied bedeutete, dass sie ein bisschen klettern mussten – und außerdem konnten sie nicht sehen, was sie auf dem Deck der Lumpenpfropf erwartete. Ein einzelner Seemann auf dem Kaperschiff hatte träge begonnen, zu dem winzigen Krähennest an der Spitze des einzigen Mastes hochzusteigen.

Zu spät, ihr Narren.

Der Piratenkapitän – der Onkel des Schatzmeisters, wie Kalam vermutete – rief einen Willkommensgruß herüber.

»Sag hallo«, knurrte der Assassine. »Wer weiß, wenn deine Vettern gut genug sind, könnt ihr am Ende immer noch die Nase vorn haben.«

Der Schatzmeister hob eine Hand, rief eine Antwort.

Der Abstand zwischen den beiden Schiffen war mittlerweile auf weniger als zehn Schritte zusammengeschrumpft. Salk Elan trat zu den Matrosen der Lumpenpfropf hinüber, die in der Nähe der Seesoldaten standen. »Wenn sie nah genug heran sind, nehmt die Enterhaken. Sorgt dafür, dass unsere beiden Hübschen schön nah beieinander bleiben, denn wenn sie abhauen können, werden sie uns von hier bis Falar jagen.«

Der Pirat, der den Mast hochkletterte, war inzwischen halb oben; er drehte sich bereits um, weil er nachsehen wollte, wie es auf dem Hauptdeck der Lumpenpfropf aussah.

Die Mannschaft des Kaperschiffs warf Leinen herüber. Der Zwischenraum zwischen den Schiffen schloss sich.

Der Warnschrei des Ausgucks wurde von einem Armbrustbolzen abgewürgt. Der Mann stürzte in die Tiefe und landete mitten unter seinen Gefährten, die sich auf dem Deck des Kaperschiffs drängten. Wütende Schreie waren die Antwort.

Kalam packte den Schatzmeister am Kragen und zerrte ihn zurück, als die ersten Piraten die Lücke überwanden und über die Reling der Lumpenpfropf schwärmten.

»Ihr habt einen furchtbaren Fehler gemacht«, zischte der Schatzmeister.

Die Seesoldaten beantworteten die Attacke mit einem mörderischen Hagel von Armbrustbolzen. Die vorderste Reihe der Piraten wich zurück.

Ein Warnruf von Salk Elan ließ Kalam herumwirbeln. An Backbord schwebte gleich hinter der Stelle, wo sich die Seesoldaten gruppiert hatten, eine Erscheinung, die allmählich Gestalt annahm -Schwingen von zehn Schritten Spannweite, schimmernde, hellgelbe Schuppen, die im Licht des neuen Tages leuchteten, ein langer, vor Zähnen starrender Echsenkopf.

Beim Atem des Vermummten – ein En’karal – so weit von der Raraku entfernt!

»Ich hatte Euch gewarnt«, sagte der Schatzmeister grinsend.

Die Kreatur bewegte sich so schnell, dass sie nur schemenhaft zu erkennen war. Sie stürzte sich mitten unter die Seesoldaten; Krallen fetzten durch Kettenhemden und Helme.

Kalam wirbelte erneut herum und schmetterte dem grinsenden Schatzmeister die Faust ins Gesicht. Der Mann stürzte bewusstlos auf das Deck; Blut lief ihm aus Nase und Augen.

»Kalam!«, brüllte Salk Elan. »Überlasst den Magier mir – helft den Soldaten!«

Der Assassine schoss vorwärts. En’karal waren sehr wohl sterblich, sie waren nur furchtbar schwer zu töten; und sie waren selbst in ihrer heimatlichen Wüste selten – der Assassine hatte es noch nie mit einem solchen Wesen zu tun gehabt.

Sieben Soldaten lagen auf dem Deck. Die Schwingen der Kreatur peitschten dröhnend die Luft, während sie über den restlichen Soldaten schwebte; ihre beiden Vorderpranken zuckten vorwärts, schlugen auf Schilde ein.

Piraten strömten auf die Lumpenpfropf; nur ein halbes Dutzend Seesoldaten – unter ihnen der Leutnant – stellten sich ihnen entgegen. Kalam hatte wenig Zeit, darüber nachzudenken, wie er vorgehen sollte  – und erst recht keine nachzusehen, wie Salk Elan vorankam. »Haltet die Schilde fest!«, bellte er, und dann warf er sich vorwärts, kletterte auf die Schilde. Der En’karal drehte sich um, rasier messerscharfe Klauen zuckten auf Kalams Gesicht zu. Der Assassine duckte sich und stieß sein Langmesser zwischen den Beinen gegen den Bauch der Kreatur.

Die Messerspitze traf auf Schuppen, zerbrach wie ein trockener Zweig.

»Beim Vermummten!«

Kalam ließ die Waffe fallen und sprang in die Höhe, kletterte an der rissigen, schuppigen Haut hoch. Kiefer schnappten nach ihm, konnten ihn jedoch nicht erreichen. Der Assassine zog sich herum, auf den Rücken der Bestie.

Vom Deck des Kaperschiffs drangen magische Erschütterungen an sein Ohr.

Ein Messer in der einen Hand, den anderen Arm um den schlangenartigen Hals des En’karal geschlungen, begann Kalam auf die peitschenden Schwingen einzuschlagen. Die Klinge glitt durch die Flughäute, riss große, klaffende Wunden. Der En’karal stürzte aufs Deck hinunter, mitten zwischen die Seesoldaten, die noch am Leben waren; sofort stürmten sie auf ihn ein, stießen und schlugen mit ihren kurzen Schwertern zu.

Den schwereren Waffen gelang, woran das Langmesser gescheitert war, sie durchdrangen den Schuppenpanzer. Blut spritzte. Die Kreatur schrie, schlug in ihren Todeszuckungen um sich.

Mittlerweile wurde überall gekämpft; Piraten strömten zusammen, um die letzten Seesoldaten niederzuhauen. Kalam kletterte von dem sterbenden En’karal herunter, nahm das Messer in die linke Hand und fand neben einem toten Soldaten ein kurzes Schwert – gerade noch rechtzeitig, um der Attacke zweier Piraten zu begegnen, die von zwei Seiten mit schweren Krummsäbeln auf ihn eindrangen.

Der Assassine sprang zwischen die beiden, stieß blitzschnell mit beiden Waffen zu und schob sich dann an den beiden Männern vorbei; er drehte die Klingen, als er sie herauszog.

Dann wurde alles zu einem einzigen Durcheinander, als Kalam sich durch ein Gewühl aus Piraten drängte und dabei nach allen Seiten zuschlug und zustach. Er verlor sein Messer, als es zwischen jemandes Rippen stecken blieb, benutzte die freie Hand, um einem zusammenbrechenden Krieger den Helm vom Kopf zu reißen und ihn sich selbst aufzusetzen – er war zu klein, und als ein Krummsäbel heranpfiff und ihn streifte, wirbelte er davon. Doch im gleichen Augenblick ließ Kalam das Gewühl hinter sich. Er schlitterte noch über das blutgetränkte Deck, als er sich schon wieder herumwarf.

Ein halbes Dutzend Piraten kamen heran, um sich auf ihn zu stürzen.

Salk Elan griff die Gruppe von der Seite her an, in jeder Hand ein Langmesser. Schon beim ersten Angriff gingen drei Piraten zu Boden. Kalam warf sich nach vorn, schlug eine Klinge beiseite und stieß steif ausgestreckte Finger in die Kehle des Mannes, der sie geschwungen hatte.

Einen Augenblick später verstummte das Waffengeklirr. Überall lagen Menschen herum; einige stöhnten, einige schrien gellend und zitterten vor Schmerzen, die meistens lagen jedoch reglos und stumm da.

Kalam ließ sich auf ein Knie sinken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»Was für eine Sauerei«, murmelte Salk Elan, während er sich hinhockte, um seine Klingen abzuwischen.

Der Assassine hob den Kopf und starrte ihn an. Elans feine Kleider waren verschmort und blutgetränkt. Sein Gesicht war zur Hälfte knallrot, von einem Blitz verbrannt; die Augenbraue war auf dieser Seite nur noch ein schmieriger Aschefleck. Er atmete schwer, und jeder Atemzug bereitete ihm ganz offensichtlich Schmerzen.

Kalam blickte an ihm vorbei. Kein einziger Seesoldat war mehr auf den Beinen. Eine Hand voll Seeleute bewegte sich zwischen den hingestreckten Leibern, zogen die beiseite, die noch lebten. Bis jetzt hatten sie zwei gefunden, doch der Leutnant war nicht dabei.

Der Erste Maat trat an die Seite des Assassinen. »Der Koch will was wissen.«

»Und was?«

»Kann man die große Echse da essen?«

Salk Elans Auflachen wurde zu einem Husten. »Es ist eine Delikatesse«, murmelte Kalam. »In Pan’potsun kostet ein Pfund davon hundert Jakatas.«

»Haben wir die Erlaubnis, zu dem Kaperschiff überzusetzen?«, fuhr der Seemann fort. »Wir könnten unsere Vorräte auffüllen.«

Der Assassine nickte.

»Ich gehe mit euch«, brachte Salk Elan heraus.

»Ich weiß das zu schätzen, Herr.«

»He«, rief einer der Soldaten. »Was sollen wir mit dem Schatzmeister machen? Der Bastard ist noch am Leben.«

»Überlasst ihn mir«, sagte Kalam.

Der Schatzmeister war bei Bewusstsein, als sie ihm die Untergewänder und die Taschen mit Münzen voll stopften; seine Augen waren weit aufgerissen, und hinter seinem Knebel drangen dumpfe Geräusche hervor. Kalam und Salk Elan trugen ihn zur Reling und warfen ihn ohne jegliches Zeremoniell über Bord.

Haie strömten an der Stelle zusammen, wo der Mann mit einem lauten Klatschen ins Wasser gefallen war, doch da die Tiere bereits satt waren, machten sie keine Anstalten, ihm zu folgen, als er in die Tiefe sank. Das ausgeplünderte Kaperschiff brannte immer noch und schickte eine mächtige Rauchsäule gen Himmel, als es hinter dem Horizont verschwand.

 

Der Wirbelwind formte eine hoch aufragende Mauer rund um die Heilige Wüste Raraku; sie war höher, als das Auge reichte, und mehr als eine Meile breit. Im Herzen des Ödlands war alles ruhig, und die Luft erstrahlte in einem goldenen Licht.

Zerklüftete Felsgrate erhoben sich ein Stück voraus wie geschwärzte Knochen aus dem Sand. Leoman, der ein halbes Dutzend Schritte voranging, blieb stehen und drehte sich um.

»Wir müssen einen Ort der Geister durchqueren«, sagte er.

Felisin nickte. »Sie sind älter als diese Wüste … sie sind erwacht und beobachten uns jetzt.«

»Wollen sie uns schaden, Wiedergeborene Sha’ik?«, fragte der Toblakai und griff nach seiner Waffe.

»Nein. Sie mögen neugierig sein, aber sie kümmern sich um nichts mehr.« Sie drehte sich zu Heboric um. Der ehemalige Priester war noch immer in sich selbst zurückgezogen, versteckte sich unter seinen Tätowierungen. »Was spürst du?«

Er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte, als wäre jedes Wort, das sie an ihn richtete, ein spitzer Pfeil. »Man muss kein unsterblicher Geist sein, um sich um nichts mehr zu kümmern«, murmelte er.

Sie musterte ihn. »Du kannst nicht ewig vor der Freude, wieder geboren zu sein, davonlaufen, Heboric. Was du fürchtest, ist, wieder menschlich zu werden – «

Sein Lachen war bitter, sardonisch.

»Du hast nicht erwartet, von mir solche Gedanken zu hören«, stellte sie fest. »Denn so wenig du das, was ich war, auch gemocht hast, so bist du doch nicht willens, jenes Kind aufzugeben.«

»Du spürst immer noch die Macht in dir, Felisin, und das verleitet dich zu glauben, dass diese Macht dir auch Wissen gebracht hat. Es gibt Geschenke, und dann gibt es auch noch das, was man sich verdienen muss.«

»Er ist wie eine Kette für Euch, Wiedergeborene Sha’ik«, grollte der Toblakai. »Tötet ihn.«

Sie schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Heboric abzuwenden. »Da mir Weisheit nicht geschenkt werden kann, bin ich gern mit einem weisen Mann beschenkt. Mit seiner Gesellschaft, seinen Worten.«

Bei diesen Worten blickte der ehemalige Priester auf; er kniff die Augen unter den dichten Brauen zusammen. »Ich dachte, du würdest mir keine Wahl lassen, Felisin.«

»Vielleicht hat es nur so ausgesehen, Heboric.«

Sie beobachtete ihn, beobachtete den Kampf, der in seinem Innern tobte, der dort schon immer getobt hatte. Wir haben ein vorn Krieg zerrissenes Land durchquert, und die ganze Zeit haben wir mit uns selbst gekämpft. Dryjhna hat nichts weiter getan, als einen Spiegel hochzuhalten … »Eines habe ich von dir gelernt, Heboric«, sagte sie.

»Und das wäre?«

»Geduld.« Sie drehte sich um, winkte Leoman weiterzugehen.

Sie näherten sich den aufgefalteten, narbigen Felsen. Wenig wies darauf hin, dass an diesem Ort einst heilige Riten stattgefunden hatten. Das harte Basalt-Grundgestein hatte es nicht zugelassen, dass hier solche Löcher oder Rillen gebohrt worden waren, wie fleißige Hände sie normalerweise an heiligen Stätten in den Stein ritzten, und auch die verstreut herumstehenden Felsblöcke wiesen keinerlei Muster auf.

Und doch konnte Felisin die Präsenz von Geistern spüren – von Geistern, die einst stark gewesen, jetzt jedoch nur noch Echos waren; unsichtbare Augen folgten ihnen mit matten Blicken. Jenseits der Erhebung breitete sich die Wüste aus und senkte sich leicht zu einem gewaltigen Becken, auf dessen Grund das schwindende Meer vor langer, langer Zeit schließlich gestorben war. Schwebender Staub verhüllte die riesige Senke.

»Die Oase liegt in der Nähe des Zentrums«, sagte Leoman neben ihr.

Sie nickte.

»Es sind keine sieben Längen mehr.«

»Wer trägt Sha’iks Habseligkeiten?«, fragte sie.

»Ich.«

»Ich werde sie jetzt nehmen.«

Schweigend setzte er sein Bündel ab, öffnete die Verschnürung und begann, Dinge herauszunehmen. Ein paar Kleidungsstücke, ein bisschen Schmuck – Ringe, Armreifen und Ohrringe –, dem man ansah, dass er einer armen Frau gehört hatte, ein Langmesser, dessen schmale Klinge mit Ausnahme der Schneide von schwarzen Flecken überzogen war.

»Ihr Schwert wartet im Lager auf uns«, sagte Leoman, als er fertig war. »Sie hat die Armreifen nur ums linke Handgelenk getragen, die Ringe nur an der linken Hand.« Er deutete auf ein paar Lederriemen. »Die hat sie sich um ihr rechtes Handgelenk und den Unterarm geschlungen.« Er hielt inne und warf ihr einen Blick zu. Seine Augen waren hart. »Es wäre am besten, wenn Ihr ihren Aufzug übernehmen würdet. Und zwar ganz genau.«

Sie lächelte. »Um die Täuschung zu vervollständigen, Leoman?«

Er senkte den Blick. »Es ist gut möglich, dass es … Widerstände gibt. Die Hohemagier – «

»Würden sich das Ganze so zurechtlegen, wie es ihnen am besten passt, dadurch Gruppierungen im Lager schaffen und schließlich gegeneinander kämpfen, um zu entscheiden, wer über alle herrschen wird. Bis jetzt haben sie es noch nicht getan, weil sie nicht feststellen konnten, ob Sha’ik noch am Leben ist. Doch sie haben den Boden bereitet.«

»Seherin – «

»Ah, das zumindest akzeptierst du.«

Er beugte den Kopf. »Niemand könnte die Macht leugnen, die zu Euch gekommen ist – aber …«

»Und doch habe ich das Heilige Buch nicht selbst geöffnet.« Er blickte ihr in die Augen. »Ihr habt es nicht getan.«

Felisin schaute auf. Der Toblakai und Heboric standen ein paar Schritte entfernt; sie schauten und hörten zu. »Was ich öffnen soll, liegt nicht zwischen diesen beiden Buchdeckeln. Es liegt in mir. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.« Sie sah Leoman erneut an. »Du musst mir vertrauen.«

Die Haut um die Augen des Wüstenkriegers spannte sich kaum merklich.

»Aber das konntest du noch nie – jemandem vertrauen. Stimmt’s, Leoman?«

»Wer spricht jetzt?«

»Wir.«

Er schwieg.

»Toblakai.«

»Ja, Wiedergeborene Sha’ik?«

»Was würdest du mit einem Mann machen, der an dir zweifelt?«

»Ich würde ihn mein Schwert spüren lassen«, antwortete er.

Heboric schnaubte.

Felisin drehte sich zu ihm um. »Und du? Was würdest du tun?«

»Nichts. Ich wäre so, wie ich immer bin, und wenn ich mich seines Vertrauens würdig erweise, wird der Mann es mir eines Tages auch entgegenbringen.«

»Es sei denn …?«

Er machte ein finsteres Gesicht. »Es sei denn, der Mann hat kein Vertrauen zu sich selbst, Felisin.«

Sie drehte sich wieder zu Leoman um und wartete.

Heboric räusperte sich. »Du kannst niemandem befehlen, Vertrauen zu haben, Schätzchen. Gehorsam, das schon, aber keinen Glauben.«

Sie wandte sich an Leoman. »Du hast mir von einem Mann im Süden erzählt. Einem Mann, der die Überreste einer geschlagenen Armee und Zehntausende von Flüchtlingen anführt. Sie tun, was er befiehlt, ihr Vertrauen ist absolut – wie hat dieser Mann das geschafft?«

Leoman schüttelte den Kopf.

»Bist du jemals einem Anführer gefolgt, Leoman?«

»Nein.«

»Dann weißt du es also wirklich nicht.«

»Ich weiß es nicht, Seherin.«

Ohne sich um die Blicke der drei Männer zu kümmern, zog Felisin sich aus und schlüpfte in Sha’iks Kleider. Sie legte den fleckigen Silberschmuck mit einem merkwürdigen Gefühl langer Vertrautheit an und warf dann die Lumpen beiseite, die sie zuvor getragen hatte. Sie warf einen langen Blick in das Wüstenbecken und sagte dann: »Kommt. Die Hohemagier fangen an, die Geduld zu verlieren.«

 

»Laut dem Ersten Maat sind wir nur wenige Tage von Falar entfernt«, sagte Kalam. »Und alle reden über diese Handelswinde.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte der Kapitän grollend. Er sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Der Assassine füllte ihre Krüge nach und lehnte sich zurück. Was auch immer den Kapitän noch quälen mochte und ihn nun schon seit Tagen an seine Koje fesselte, ging über die Verletzungen hinaus, die ihm der Leibwächter zugefügt hatte. Natürlich können Kopfwunden Komplikationen verursachen. Aber selbst dann … Der Kapitän zitterte, wenn er sprach; er redete jedoch nicht undeutlich oder eigenartig. Die Schwierigkeit schien eher darin zu bestehen, die Worte auszustoßen, sie zu etwas zu verbinden, das irgendwie einem Satz ähnelte. Doch in seinen Augen konnte Kalam einen Verstand erkennen, der noch genauso scharf war, wie er gewesen war.

Der Assassine stand vor einem Rätsel, doch er spürte instinktiv, dass seine Gegenwart den Anstrengungen des Kapitäns mehr Kraft verlieh. »Der Ausguck hat gestern kurz vor Sonnenuntergang ein Schiff in unserem Kielwasser gesehen. Er glaubt, dass es ein malazanisches schnelles Handelsschiff war. Wenn es wirklich eines war, muss es uns während der Nacht ohne Laternen und ohne Anruf passiert haben. Zumindest haben wir heute Morgen keine Spur mehr von ihm gesehen.«

Der Kapitän grunzte. »Wir sind noch nie schneller gesegelt. Ich wette, auch ihre Augen sind weit aufgerissen, und sie werfen bei jeder verdammten Glocke einen kopflosen Hahn über die Steuerbordreling in Berus lächelnden Rachen.«

Kalam nahm einen Schluck von dem mit Wasser verdünnten Wein; er musterte den Kapitän über den verbeulten Rand des Kruges hinweg. »Die letzten beiden Seesoldaten sind vergangene Nacht gestorben. So allmählich fange ich an, mir Gedanken über den Heiler dieses Schiffs zu machen.«

»Der ist wohl ein bisschen zu viel von Oponn angeschoben worden. Sieht ihm gar nicht ähnlich.«

»Nun, im Moment ist er gerade bewusstlos. Zu viel Piratenbier.«

»Er trinkt nicht.«

»Jetzt schon.«

Der Blick, den der Kapitän ihm zuwarf, war wie ein helles, fernes Licht; ein Leuchtturm, der vor Untiefen warnte.

»Ich nehme an, dass durchaus nicht alles in Ordnung ist«, knurrte der Assassine.

»Im Kopf des Kapitäns ist allerhand schräg, das ist eine Tatsache. Eine Zunge voller Dornen, nahe bei Ohren wie Eicheln unter dem Mulch, bereit, heimlich zu brüten. Zu brüten …«

»Wenn Ihr könntet, würdet Ihr es mir sagen.«

»Was sagen?« Der Mann griff mit einer zitternden Hand nach dem Krug. »Ich kann nicht festhalten, was nicht da ist, sage ich immer. Und siehe da – in einem Sturm kann ich’s auch nicht festhalten. Die Eichel ist weggerollt, total weg.«

»Eure Hände sehen aus, als ob sie ziemlich gut verheilt sind.«

»Ja, ziemlich gut.« Der Kapitän wandte den Blick ab, als würde ihm die Anstrengung, sich zu unterhalten, schließlich zu viel.

Der Assassine zögerte. Dann sagte er: »Ich habe von einem Gewirr gehört …«

»Kaninchen«, murmelte der Kapitän. »Ratten.«

»In Ordnung«, sagte Kalam seufzend und stand auf. »Wenn wir nach Falar kommen, werden wir Euch einen richtigen Heiler suchen, einen Denul-Heiler.«

»Wir sind bald da.«

»Ja, das stimmt.«

»Die Handelswinde treiben uns schnell voran.«

»Ja.«

»Aber … so dicht bei Falar gibt es keine Handelswinde.«

 

Kalam stieg auf das Deck; er wandte das Gesicht kurz dem Himmel zu, dann machte er sich zum Vorderdeck auf.

»Wie geht es ihm?«, fragte Salk Elan.

»Schlecht.«

»Bei Kopfverletzungen ist das häufig so. Ein falscher Schlag, und du fängst an, deinem Schoßhund ewige Treue zu schwören.«

»Wir werden es in Falar sehen.«

»Wir werden ein wenig Glück brauchen, um in Bantra einen guten Heiler zu finden.«

»In Bantra? Beim Atem des Vermummten, warum denn in Bantra, wenn die Hauptinseln nur ein paar Längen weiter liegen?«

Elan zuckte die Schultern. »Es sieht so aus, als ob das der Heimathafen der Lumpenpfropf wäre. Nur, falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet: Unser amtierender Erster Maat lebt in einer Welt wirrer abergläubischer Vorstellungen. Er ist eine ganze Legion verrückter Seeleute auf einmal, Kalam, und in dieser Angelegenheit lässt er absolut nicht mit sich reden – der Vermummte weiß, ich habe es versucht.«

Ein Ruf des Ausgucks unterbrach ihr Gespräch. »Segel! Zwei Strich Backbord voraus! Sechs … sieben … zehn – bei Berus Gnade, eine ganze Flotte!«

Kalam und Elan traten an die Backbordreling. Bis jetzt konnten sie jedoch außer Wellen noch nichts sehen. Der Erste Maat rief vom Hauptdeck herauf: »Wie ist ihr Kurs, Maus?«

»Richtung Norden. Und etwas westlich. Sie werden unser Kielwasser kreuzen, Maat!«

»In ungefähr zwölf Stunden«, murmelte Elan. »Und dabei die ganze Zeit gegen den Wind ankreuzen.«

»Eine Flotte«, sagte Kalam.

»Eine Imperiale Flotte. Mandata Tavore, mein Freund.« Elan drehte sich zur Seite und warf dem Assassinen einen Blick zu. Sein Lächeln wirkte angespannt. »Wenn Ihr gedacht haben solltet, dass schon genug Blut den Boden Eurer Heimat getränkt hat … nun, den Göttern sei Dank, dass wir in die andere Richtung unterwegs sind.«

Mittlerweile konnten sie das erste Segel sehen. Tavores Flotte. Transportschiffe für Pferde und Truppen; im Kielwasser die übliche, meilenlange Schleppe aus Müll und Abwasser und menschlichen und tierischen Kadavern – und Haie und Dhenrabi, die die „Wogen durchpflügen. Am Ende einer langen Seereise haben die Soldaten immer schlechte Laune und sind wild darauf, endlich loslegen zu können. Und zweifellos haben sie bis dahin auch mehr als genug Schauergeschichten gehört, um jeglichen Gedanken an Gnade aus ihren Seelen auszubrennen.

»Der Kopf der Schlange«, sagte Salk Elan leise, »auf dem langen, ausgestreckten Hals des Imperiums. Sagt mir, Kalam, gibt es in Euch einen Teil – einen alten Soldaten –, der sich danach sehnt, auf einem der Decks da drüben zu stehen und mit geringem Interesse einen Blick auf ein einzelnes Handelsschiff zu werfen, das unterwegs nach Falar ist, während sich tief in eurem Inneren jene ruhige, tödliche Entschlossenheit aufbaut? Während Ihr unterwegs seid, um in Laseens Auftrag die Feinde zu bestrafen, so, wie eine Imperatrix strafen muss – indem sie zehnfach Rache nimmt. Seid Ihr gerade jetzt zwischen zwei einander widersprechenden Gefühlen hin und her gerissen, Kalam?«

»Ihr werdet meine Gedanken niemals kennen, Elan, ganz egal, wie wild Eure Fantasie auch wuchern mag. Ihr kennt mich nicht, und Ihr werdet mich auch niemals kennen.«

Elan seufzte. »Wir haben Seite an Seite gekämpft, Kalam. Wir haben bewiesen, dass wir ein tödliches Gespann sind. Unser gemeinsamer Freund in Ehrlitan hatte einen ganz bestimmten Verdacht, was Ihr planen würdet – denkt darüber nach, wie viel größer Eure Chancen wären, wenn ich an Eurer Seite wäre …«

Kalam drehte sich langsam um und blickte Elan an. »Meine Chancen, was zu tun?«, fragte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Salk Elan zuckte die Schultern, die Geste wirkte leichthin und unbeschwert. »Was auch immer. Ihr seid nicht grundsätzlich abgeneigt, mit einem Partner zu arbeiten, stimmt’s? Da war der Schnelle Ben … und vorher, in Euren frühen Tagen, bevor Ihr in den Dienst des Imperiums getreten seid, gab es einen Mann namens Porthal K’nastra in Karaschimesh. Der Vermummte weiß, jeder, der sich Eure persönliche Geschichte anschaut, Kalam, könnte behaupten, dass Ihr besonders gute Erfolge gehabt habt, wenn Ihr einen Partner hattet. Also, Mann, was sagt Ihr?«

Der Assassine antwortete mit einem langsamen Blinzeln. »Was bringt Euch eigentlich auf die Idee, ich wäre im Augenblick allein, Salk Elan?«

Für einen sehr kurzen, nichtsdestotrotz jedoch überaus befriedigenden Augenblick sah Kalam einen Ausdruck der Unsicherheit über das Gesicht Elans huschen; dann verzog es sich zu einem sanften Lächeln. »Und wo versteckt sich Euer Partner? Oben im Krähennest, zusammen mit diesem Ausguck mit dem fragwürdigen Namen?«

Kalam wandte sich zum Gehen. »Wo sonst?«

Der Assassine spürte, dass ihm Salk Elans Blicke folgten, als er langsam davonschlenderte. Ihr tragt die gleiche Maske der Arroganz wie alle anderen Magier, mein Freund. Ihr müsst schon entschuldigen, dass es mir Spaß macht, ihr ein paar Sprünge zu verpassen.