29
Erst durch die Angst vor dem Verlust erkennen wir den wahren Wert der Dinge.
Zwei Tage später fahren wir zu siebt im Jeep zurück in den Moschaw. Mit Spannung fiebere ich dem Wiedersehen mit Ron entgegen. Ich will ihm vorschlagen, dass wir noch mal von vorn anfangen.
Doch als wir das Haus betreten, scheint es so, als hätte sich die gesamte Nachbarschaft dort versammelt. Alle starren gebannt auf den Fernsehbildschirm. Ich sehe meinen kleinen, lockenköpfigen Cousin Matan und Doda Yucky. Ron und Onkel Schleim kann ich nirgends entdecken.
Die Stimmung ist definitiv gedrückt.
»Was ist los?«, frage ich, da ich den Nachrichtensprecher nicht verstehe, der allem Anschein nach etwas sehr Wichtiges zu berichten hat.
Plötzlich reden alle auf Hebräisch durcheinander und erzählen Osnat, Ofra, Avi, Doo-Doo, O’dead und Moron, warum so eine Aufregung herrscht. Bloß ich verstehe mal wieder nur Bahnhof.
»Es gab einen Bombenanschlag«, erklärt Avi mir, nachdem er den anderen zugehört hat. »In Tel Aviv.«
»Wo ist mein Dad?«, frage ich panisch. »Wo ist Ron?« Ich brauche ihn gerade mehr denn je.
Avi zieht mich an sich. »Amy, alles wird gut.«
Tränen schießen mir in die Augen, und ich frage wieder, diesmal an Doda Yucky gewandt: »Wo ist er?«
Doch ich bekomme keine Antwort. Ich merke, wie mir die Galle hochkommt, und löse mich von Avi, weil ich das Gefühl habe, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Dein Aba ist mit Chaim nach Tel Aviv gefahren, um ein paar Restaurants mit Fleisch zu beliefern«, sagt sie zögerlich.
»Es geht ihnen doch gut, Doda Yucky, oder?«, sage ich und weine jetzt laut, aber das ist mir egal.
Auch ihr laufen Tränen übers Gesicht. »Ich weiß es nicht. Dort herrscht das völlige Chaos. Nachdem die erste Bombe explodiert ist, sind viele Leute zu Hilfe geeilt, und dann ist eine zweite Bombe …«
»Ohmeingott«, flüstere ich.
Mag sein, dass ich Ron nicht gut kenne, aber eines weiß ich: Wenn Menschen verletzt wurden, dann ist er einer der Ersten, der an der Unglücksstelle ist. Der zweite Bombenanschlag … ich darf gar nicht daran denken.
»Wir wissen nicht, wo sie sind«, sagt Doda Yucky. »Das Handy geht nicht.«
Ich laufe in Osnats Zimmer und wühle fieberhaft in meinem Rucksack. Aus einer Jeanstasche fische ich den Davidstern, den Safta mir überlassen hat. Die Diamanten funkeln mich an, als wollten sie mir sagen, dass ich jüdisch bin wie der Rest meiner Familie. Obwohl wir viel Leid ertragen mussten, haben wir Tausende von Jahren überlebt, rufe ich mir ins Gedächtnis.
Ich gehe wieder ins Wohnzimmer zurück und bedecke mein Gesicht mit den Händen, weil ich nicht will, dass mich jemand so sieht.
Wie viele Menschen wurden heute verletzt oder sind ums Leben gekommen? Allein beim Gedanken daran wird mir übel. Ich versuche, das Bild von Ron, wie er tot auf der Straße liegt, aus meinem Kopf zu verbannen. Was ist, wenn er tot ist und ich nicht da war, um ihm beizustehen? Ich fühle mich so hilflos, so kraftlos. Als ich die Hände sinken lasse, fällt mein Blick auf Avi.
Ich brauche ihn.
Ich brauche ihn so sehr, denn ich weiß nicht, wie ich alleine klarkommen soll.
»Avi!« Ich laufe zu ihm und klammere mich an ihn. »Bitte lass mich nicht allein. Ohne dich halte ich das, glaube ich, nicht aus.«
»Ich bin ja da«, sagt er mit sanfter Stimme und streicht mir über die Haare. »Ich gehe nicht weg.«
Das ist gut. Bei einem Bombenattentat wie diesem hat er seinen Bruder verloren. Für ihn muss es so sein, als würde er das ganze Grauen noch einmal durchleben, den eigenen Verlust, den Schmerz. Wir können uns gegenseitig helfen, das hier durchzustehen.
Ich halte ihm meine Kette hin. »Legst du mir die an?«
Es ist die längste Stunde unseres Lebens. Avi und ich sitzen bei Safta in ihrem Zimmer – die Berichterstattung wollen wir lieber nicht sehen. Safta erzählt uns von ihrer Kindheit in Israel und wie sie damals ins – wie sie es nennt – »Heilige Land« kam. Sie hat Angst, das merke ich ihr an. Zwei Söhne zu verlieren, das würde sie zu Grunde richten.
Als das Telefon klingelt, springe ich auf und renne in die Küche.
Doda Yucky hat schon abgenommen und sieht mir in die Augen, während sie den Hörer ans Ohr presst.
Mein Herz rast.
»Amy«, sagt sie, und ich lehne mich an Avi, der mich stützt, während ich mich auf das Schlimmste gefasst mache. »Es ist deine Mutter.«
Meine Mutter! Hastig greife ich nach dem Hörer. »Mom!«
»Hallo, mein Schatz. In den Nachrichten haben sie gerade gemeldet, dass es in Israel einen Anschlag gegeben hat. Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht. Jessica hat angerufen, sie macht sich auch Sorgen.«
»Mir … mir geht’s gut«, schluchze ich, kaum in der Lage, die Wörter herauszubekommen. »Aber … ich war ein paar Tage verreist, und Ron war in Tel Aviv … und er hat sich noch nicht gemeldet, und ich halte das nicht mehr aus. Wir warten auf einen Anruf, aber …«
»Oh nein. Das ist ja furchtbar, ich hätte nie gedacht –«
»Mom, ich muss jetzt Schluss machen, damit die Leitung frei ist.«
»Okay, okay«, sagt sie panisch. »Ich lege jetzt auf. Ruf mich an, wenn du … etwas hörst. Okay? Und du bleibst, wo du bist. Ich möchte, dass du in einem Stück zu mir zurückkommst.«
»Mache ich, Mom.«
Als ich auflege, klingelt das Telefon erneut. Ich reiche es Osnat, die genauso durch den Wind ist wie ich.
»Ze Aba!«, schreit sie in die Runde, nachdem sie mit dem Anrufer ein paar Worte gewechselt hat. »Hakol beseder!«
Avi hebt mich hoch und wirbelt mich im Kreis herum. »Es geht ihnen gut!«
Ich kann es gar nicht glauben. Ich gehe zu Safta und überbringe ihr die gute Nachricht. Von Doda Yucky erfahre ich, dass Onkel Chaim und Ron tatsächlich am Unglücksort waren, um den über vierzig Verletzten zu helfen.
Alle fallen sich in die Arme und jubeln, obwohl wir auch um die armen Menschen trauern, die bei dem heutigen Bombenattentat ums Leben gekommen sind. Ein seltsames Gefühl, gleichzeitig glücklich und traurig zu sein. Keine Ahnung, wie die Israelis das schaffen, ständig mit so was umzugehen.
Avi wartet mit mir und Köter am Vordereingang des Moschaws. Der kleine Kerl liegt neben mir, als wäre er mein Bewacher.
»Ich begreife immer noch nicht, was passiert ist. Das war ein Albtraum«, sage ich. »Fast hätte ich meinen Vater verloren. Bevor ich ihn überhaupt richtig kennengelernt habe.« Es ist so furchtbar, dass ich gar nicht daran denken darf.
Avi sieht mich nachdenklich an. »Aber du bekommst eine zweite Chance.«
Ich lehne mich an ihn. »Ja, du hast recht. Und von jetzt an will ich jede Sekunde nutzen.«
»Ich auch«, sagt er und gibt mir zum Beweis einen seiner wunderschönen Küsse.
Als das Tor sich öffnet und ich die Scheinwerfer eines Autos sehe, stehe ich auf. Der Wagen hält an und mein Daddy springt mit blutverschmiertem Hemd heraus und zieht mich in seine Arme.
Ich starre auf sein blutiges Hemd. »Geht’s dir gut?«
»Mach dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ord-nung.«
»Aba«, sage ich auf Hebräisch zu ihm. »Ich hab dich so lieb.«
»Ich dich auch, Amy.«
Ich befreie mich aus seiner Umarmung und wische mir die Tränen mit dem Handrücken weg. »Es tut mir so leid, dass ich dir das noch nie gesagt habe. Ich weiß, dass ich dich mies behandelt habe. Aber jetzt wird alles anders. Ich will dich richtig kennenlernen. Und dem jüdischen Glauben beitreten. Und Hebräisch lernen. Bringst du es mir bei?«
»Langsam, langsam. Sonst komme ich nicht mehr mit. Ich bin immer noch hin und weg von deinem Ich hab dich lieb, Aba.« Ich sehe, dass seine Augen rot und feucht werden. »Du darfst niemals denken, ich hätte nicht um dich gekämpft, mein Schatz. Auch wenn ich viel falsch gemacht habe.«
Er wischt sich eine Träne weg, die ihm übers Gesicht rinnt, und ich bringe keinen Ton heraus.
»Ich habe so gehofft, dass durch diese Reise nach Israel alles anders wird. Ich will dich nicht an Marc verlieren. Du bist meine Tochter, nicht seine«, sagt er und umarmt mich noch einmal.
Er weint wie ein Baby. Und ich auch.
»Ich habe gedacht, ich hätte dich verloren«, flüstere ich, als wir zusammen zurück zum Haus laufen. Onkel Chaim ist alleine vorgefahren, und auch Avi hat sich verdrückt, damit mein Dad und ich uns in Ruhe unterhalten können.
»Ich habe dich vor langer Zeit verloren, meine Tochter. Und ich bin froh, dass wir uns doch noch wiedergefunden haben.«
»Meinst du, du hättest in deinem Apartment Platz für mich?«
»Ist das dein Ernst? Ich würde mich sehr freuen, wenn du bei mir einziehst. Für ein Jahr. Für die Wochenenden. Für immer. Ich nehme es, wie’s kommt.«
»Also, wenn das Ministerium für Innere Sicherheit dich nicht allzu sehr in Beschlag nimmt.«
Er grinst und legt mir den Arm um die Schulter. »In meinem Haus ist immer Platz für die wichtigste Frau in meinem Leben, merk dir das.«
»Bist du dir sicher, dass du keine Freundin hast?«, frage ich.
»Zumindest niemanden, der mir so viel bedeuten würde, dass ich ihn nach Hause zu meiner Tochter mitnehme.«
»Ich finde, eine Freundin würde dir nicht schaden. Dadurch sieht man vieles mit anderen Augen.«
»Und bei wem muss ich mich bedanken, dass er meiner Tochter die Augen geöffnet hat? Obwohl – vielleicht will ich das lieber gar nicht wissen.«
»Er war durch und durch ein Gentleman.«
»Wer? Doo-Doo?«
»Kannst du dir ernsthaft vorstellen, dass ich auf einen Typ abfahre, der nach Fäkalien benannt ist?«
»Sein richtiger Name ist David.«
»Hä?«
»Doo-Doo ist die Koseform von David.«
Ein dummer Kosename, wenn ihr mich fragt. »Es ist Avi.«
Rons Miene verdüstert sich. »Er ist achtzehn, Amy. Und er hat seinen Brudder verloren …«
»Weiß ich. Auf unserem Zeltausflug haben wir uns gegenseitig beigestanden und ich … ich liebe ihn.«
Mein Dad beißt die Zähne zusammen und die Muskeln in seinem Unterkiefer zucken.
»Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Er respektiert mich und ich respektiere ihn. Vielleicht sogar zu sehr.«
»Ich muss mich erst daran gewöhnen, eine fast erwachsene Tochter zu haben«, sagt er.
Ich sehe ihm in die Augen. »Nein, du musst dich an mich gewöhnen.«